10. März 2019

Mit Eckhard gegen Eberhard  -  Bienwald Marathon 2019

Es beginnt so grässlich wie befürchtet. Wenn ich mir ausmalte zwischen Kandel und Minfeld gen Westen zu traben, stellte ich mir unter anderem das vor: Mit Kraft gegen den Wind stemmen. Allerdings betrachtete ich nur die weniger drastischen Exponate aus reichem Bilderfundus. Wirklich Übles blieb außen vor, denn: „Keine Lust zum Laufen“ habe ich schon und weniger als null wäre fatal … Wer mag schon rückwärts oder davonlaufen? - Alles in dieser Welt besteht aus den Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer lehrten die alten Griechen. Moderne Wissenschaft mag ob dieser archaisch-naturalistischen Seinslehre verächtlich die Nase rümpfen, mir leuchtet sie ein. Mit nur zaghaft züngelndem inneren Feuer trete ich dem wütenden Element Luft entgegen. Setze Laufschritte auf nasser Erde, über die sich alsbald noch mehr Wasser ergießen wird.

Beinkraft und Taktik. Ich suche den Windschatten hinter der Gruppe um ein Pacer-Duo. Eine Chance, die ich nutze, weil der Zufall sie arrangierte. Meine (Ultra-) Lauffreundin und Vereinskameradin Sybille - sie rennt irgendwo weiter vorne, bescheidet sich nach Laufpause mit dem Halbmarathon - wollte wissen, was ich heute zeitlich anstrebe. „Gar nichts. Es (laufend) hinter mich bringen!“ gab ich in miesepetriger Laune ertappt von mir. „Loslaufen und schauen. Möglichst gleichmäßiges Tempo, weil es das ist, was ich als Ultra brauche!“ reichte ich, ein bisschen von eigener Schroffheit erschreckt, nach. Grundehrlich diese Aussage, weil ich es nicht mag irgendwem, am wenigsten mir selbst, Laufspaß einzureden, wo keiner ist. Der wird schon kommen - oder auch nicht. Also joggte ich los, stückweit einher, schwamm in bunter Menge mit, und finde mich nun hinter den 4:14-Pacern wieder. Vermutlich im 6er-Schnitt, was mir gegenwärtig jedoch egal ist. „Egal“ in seiner höchsten Steigerungsform, die es Deutschlehrern zufolge gar nicht gibt; mir selbst als inoffizieller, der Fäkalsprache entlehnter Superlativ aber durchaus geläufig ist …

Die Wohnbebauung von Minfeld (Kilometern vier und fünf) zügelt die Macht des Windes. Dafür wirbelt der jetzt umher, nervt mal von dieser, bald von jener Seite. Relevanz für den Wettkampfverlauf? - Keine. Eine andere Beobachtung nährt schon eher Bedenken auf den glücklichen Ausgang meines sonntäglichen Laufausfluges ins südliche Rheinland-Pfalz, unweit westlich von Karlsruhe: Zwischen den Pacern und mir tut sich eine Lücke auf, die zuzulaufen mir nicht ratsam erscheint. Nur so ein Gefühl. Ich nehme es als Indiz, dass mir Tagesform und äußere Bedingungen den sparsamen Umgang mit meinen Energiereserven nahelegen. Heute, da ich ohnehin nichts riskieren will und darf …

Seit Mitte der Woche liegt ein (Lauf-) Freund daheim im Bett, überwiegend jedenfalls. Hexenschuss. In unangemessener Solidarität setzte meine Lendenwirbelsäule am Freitag ein Zeichen und blockiert seitdem schmerzfreies Aufrichten zu voller Udo-Länge. Gestern war’s schon besser, heute früh nur noch ein Rest spürbar. Nichts, was mich in Panik versetzen könnte. Schon sehr lange lebe ich mit LWS-Attacken, früher oft in Form eines Messers, das mir der Teufel in den verlängerten Rücken rammte. Seit ich vor Jahren begann den Dämon mit gezieltem Krafttraining in Schach zu halten, gehen die Attacken im Kreuz eher so aus wie die jüngste. „Ich habe Rücken!“ wie Millionen anderer Menschen auch. Mein Vorteil: Ich litt stets nur unter einer laufbejahenden Form von „Rücken-haben“. Selbst in den schlimmsten Zeiten galt: Du musst es schaffen dich tief genug zu bücken, Udo, um deine Laufschuhe zuzubinden. Und dann die ersten höllischen 5 Minuten überstehen, während der Schmerz Schritt um Schritt zurückweicht, bis er schließlich - Oh Wunder! - vollständig verschwindet (auch wenn er in Ruhe, nach Erschlaffen der Rückenmuskulatur, wiederkehrt).

Ungefähr in den Straßen von Minfeld, nach etwa einer halben Stunde, habe ich mir den Rest von „Rücken-haben“ rausgelaufen. Zuletzt spürte ich nur noch ein schwaches Ziehen im Kreuz, nun gar nichts mehr. Zwei Kilometer vom Ortsrand bis zum Wald, auf denen ich erneut gegen Böen anstürme, obschon wir nun in südöstlicher Richtung unterwegs sind. Standardwahrnehmung des Läufers bei Wind: Irgendwie kommt er immer von vorne.

Hätte man heute einen Kostümwettbewerb ausgelobt, der den am winterlichsten gekleideten Teilnehmer prämierte, ich hängte die Konkurrenz um Meilen ab. Weil ich nicht riskieren darf, auch nur den Hauch eines Lüftchens an meine lädierte LWS zu lassen, von Kälte gar nicht zu reden. Totally overdressed! Lange Lauftight, Mütze, dünne Handschuhe und dann der Panzer: Dickes Unterhemd, darüber eine wärmende Hüftmanschette, als oberste Schicht eine Winterlaufjacke. - „Ein kluger Mann meinte mal, man solle leicht frierend loslaufen, dann ist man für den Wettkampf richtig angezogen! So eingepackt wie „der da“ könnte ich nicht laufen! Aber vielleicht braucht er das …?“ - Menschen unterschätzen in der Regel, wie weit das Medium Luft Schallwellen trägt. Darum verstehe ich glasklar jedes der weisen, hinter meinem Rücken ausgesprochenen Worte. Und risse mir nicht just in diesen Augenblicken eine herbe Windbö den Satz quasi von den Lippen, ich hätte ihm bestätigt, dass „er“ in der Tat heute diese Vermummung braucht …

… braucht, auch wenn „er“ tierisch schwitzt. Was „er“ aber nur weiß und nicht spürt, weil der textile Schwamm einstweilen alles aufsaugt. „Er“ weiß es, weil „ihm“ - unterdessen im Bienwald abgetaucht - warm und wärmer wird. „Er“ sich alsbald, sodann spontan entschließt die dünnen Handschuhe auszuziehen, den Reißverschluss der Jacke auf Halbmast zu zippen und auch am Kopf mehr Luft zuzulassen. - Kilometer sieben: Von Wiesen bedeckte, weiträumige Lücke im Wald, der Wind brandet heftig von der Seite, in Teilen auch von vorne an. Zum neunten Mal nehme ich Kurs Bienwald Marathon. Vielleicht wäre es besser gewesen diesmal fernzubleiben, was ich ursprünglich zur Tiefenregeneration in ebendieser Weise plante. Ich revidierte meine Absicht relativ kurzfristig. Hauptsächlich deshalb, weil ich den in weniger als zwei Wochen beginnenden Etappenlauf um den Balaton mit noch mehr Langdistanzläufen vorbereiten wollte.

Wieder zwischen Bäumen unterwegs fliegt uns der führende Halbmarathoni entgegen. Polizeieskorte auf Motorrad vorneweg, mit Trillerpfeife eine Hälfte des asphaltierten Waldweges frei-pfeifend. Dahinter der Vornewegradler und schließlich in Kenianer-Manier vorbei huschend das überschlanke Nichts eines Läufers. Stil und Figur kenianisch. Zum Afrikaner fehlen ihm lediglich schwarze Haut, negroide Gesichtszüge und höchstwahrscheinlich auch jenes Quantum Ausdauer, das die nationale von der Weltklasse trennt. Dennoch ein über die Maßen beeindrucktes Sekundenschauspiel.

Wie das passieren konnte weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich die Pacemaker inzwischen hinter mir gelassen. Wurde womöglich von zeitweise günstig einfallendem Wind unterstützt. Ich achte kaum darauf, registriere nur dann und wann Zwischenzeiten. Kein Planen, Erwägen, Kalkulieren. Ich lasse es laufen wie es läuft. Offenbar war mein Eindruck mangelnder Tagesform und/oder Regeneration verfrüht. Vielleicht musste ich erst dem Dämon in meinem Rücken davonlaufen!? Wer könnte schon all die vielen inneren und äußeren Einflüsse, die in manchmal widerstreitenden Allianzen das spätere Finish ausmachen, quali- und - noch schwieriger - quantifizieren?

Von Ost nach West auf breiter (gesperrter) Straße durch den Bienwald. Bis hinter Kilometer 12 defilieren in steigender Dichte Halbmarathonis vorbei. Überwiegend angestrengte, ernste, wenig amüsiert wirkende Gesichter. War das achtmal zuvor, bei jeweils brauchbarem bis sehr gutem Märzwetter, auch so? - Nur noch selten verwickelt mich der Wind in belanglose Scharmützel. Meist dort, wo sich die von der Straße in den Forst geschlagene Schneise verbreitert. An einer Kreuzung etwa oder bei abschnittsweise jungem, niedrigem Baumbestand. Kaum noch Windlast, dafür regnet es. Mehr als ein Schauer, weniger ergiebig als Landregen. Ich achte nicht darauf, fühle mich nicht belästigt, da ohnehin schon durchnässt. Meine Augen hangeln sich an der Flut mir entgegen brandender Läufer entlang. Keinesfalls will ich Sybille verpassen; hoffe einschätzen zu können, ob ihr Laufexperiment gelingt. Als wir uns schließlich im (von mir) erwarteten Zeitrahmen abklatschen, lacht sie als eine der wenigen sonnenfroh in den grauen Tag: Alles scheint zu passen!

Wie achtmal vordem und übergangslos ergreift mich hinter der Halbmarathonwende ein Empfinden von Verlassenheit. Nahezu leergefegt liegt die Strecke vor mir. Ansonsten ändert sich innen und außen wenig, auch nicht auf den folgenden Kilometern: Zuweilen Gegenwind, begleitet von abklingendem Regen. Dass es so kommen wird, habe ich nicht vorhergesehen, absolut logisch ist es dennoch: Ich habe Durst! Schon vorhin in Höhe der zweiten Tränke hätte ich mir gerne mehr hinter die Binde gekippt als zwei im Vorübereilen erhaschte Becher Iso. Inzwischen triefen meine Klamotten vor Nässe, die mit Regen allein nicht erklärbar ist. Keine Ahnung wie viele Liter Schweiß mich die Wärmeverpackung schon gekostet hat. Muss ich halt mehr trinken, demnächst …

Was dem Marathoni nicht widerfährt, vermag er in der Regel schwerlich zu kommentieren. Schließlich ahnt er nicht, welche Unbill ihm erspart blieb. Für mich und an diesem Ort, jetzt, ist das - juchhu! - ausnahmsweise anders: In Höhe der ersten Häuser des am Waldrand liegenden Dorfes, vor denen der Kurs 90° nach rechts verzweigt, lauerte mir achtmal zuvor die Geißel des Bienwald Marathons auf. Ein Spielmannszug. Meine ganz persönliche Heimsuchung, widerwärtig Rhythmisches, meine Ohren Beleidigendes ins unschuldige Element Luft entsendend. Könnte das Ausbleiben infernalischen Lärms karnevalistischen Nachwehen geschuldet sein? Immerhin starb Fastnacht erst vor wenigen Tagen den verdienten Aschermittwochstod. Vielleicht auch ein witterungsbedingtes Fernbleiben!? Wie auch immer: Was für ein Segen!

Nach Linksschwenk zum ersten Wendepunkt, drum herum, zurück, ein zweites Mal hoch erfreut vorbei am heute lärmfreien Ort, zurück in den Wald … 18, 19, dann 20 Kilometer. Seltene Kontrollblicke attestieren mir dasselbe Tempo wie vor einer Woche am Neckarufer. Anscheinend auch mit derselben Stabilität. Abweichungen ergeben sich höchstens auf Abschnitten mit Windunterstützung oder solchen mit Behinderung. Auch die Beschwerdelage am/im Bewegungsapparat erweist sich bislang als nahezu identisch: Kein Muckser von der Achillessehne, in deren Richtung ich noch immer argwöhnisch spüre, obwohl sie mich nun schon seit Wochen mit Schweigen beglückt. Meine Gesäßmuskulatur gebärdet sich dagegen moderat beleidigt. Beginnend ab Kilometer 15 etwa und nun schon intensiver. Das wird sie aber irgendwann wieder lassen. Kein Hellsehen meinerseits, so war es noch jedes Mal.

Lange Straße durch den Bienwald, erster Teil des Rückweges geschafft, nun der Abzweig zum zweiten Wendepunkt. Der beginnt mit der Halbmarathonzeitnahme: Flugs im Kopf verdoppelt ergibt sich eine Endzeit von 4:12 Stunden. Bloß ein Reflex diese Kalkulation und ihr Produkt erhebe ich keinesfalls zum Ziel. Erste Hälfte geschafft, mehr nicht. Die mit Kurs Finish entgegen eilenden Sub3Stunden-Läufer sind bereits seit mehr als 31 Kilometer auf den Socken. 31 minus Halbmarathon geteilt durch 2 ist gleich: Gut fünf Kilometer bis zum Wendepunkt. Dazu muss ich tief in den Bienwald vordringen und vierfach die Richtung wechseln. Aus der Draufsicht der Landkarte mutet die Wegführung an wie ein aufs Laufvolk niederfahrender, von zürnenden Göttern geschleuderter Blitz. Er trifft die miserabel Vorbereiteten, lähmt ihre Schritte. Woran man die in Ungnade Gefallenen erkennt? - Statt zu laufen gehen sie, weit, sehr weit vor dem Ziel …

Als ich das erste Mal in diesen Teil des Bienwaldes eintauchte, schlug er mich in seinen Bann, schien sogar etwas Geheimnisvolles an sich zu haben. Vielleicht auch, weil darin Wildkatzen leben, angeblich, die natürlich nie eines Läufers Auge sehen wird. Zu selten, zu scheu, zu wenig tagaktiv. Mit den Wiederholungen hatte Udo, der Waldenthusiast, die Entmystifizierung des Forstes hinzunehmen. Schwärmerische Hinwendung ist keine Option, wenn du alterst und bereits auf diesem Abschnitt das Verblassen deines läuferischen Sterns zur Kenntnis nehmen musst. Von Jahr zu Jahr schwindende Ausdauer, heute multipliziert mit miesem Wetterkoeffizienten. Witterung, die mich zwingt eine doofe Schildkappe zu tragen, überdies den Blick gesenkt zu halten, damit die Brille trocken bleibt. Der alte Gaul trabt mit Scheuklappen durch den Wald. Sichtfeld beschränkt. Auf den Boden vor mir und ein paar Meter Gestrüpp seitlich davon. Nur ab und zu ein Blick nach vorn, um … keine Ahnung wozu … eigentlich nur um eines der seltenen Fotos zu schießen und Eckhard nicht zu verpassen.

Eine knappe Viertelstunde vor der Wende begegne ich Eckhard. Eine mehrjährige Lauffreundschaft verbindet uns, vielfaches, gemeinsames „Pferdestehlen“ auf denselben Strecken. Wie schon vorhin nach Wende eins grüßen wir uns. Eckhard mit Wort und Geste, mein Erkennen bleibt auf mundfaules Winken beschränkt. Erfreulicherweise hat er seine Position, stückweit vor den 3:44-Pacemakern, halten können. Wie Sybille nutzt auch Eckhard den Bienwald zur Standortbestimmung nach längerer Pause. Und wie es aussieht, wird auch er die Prüfung zur eigenen Zufriedenheit bestehen …

Bis zur Wende Tempokonstanz, obschon das Wetter inzwischen eine unschöne Metamorphose hinter sich hat. Kein feuchter Atem mehr, dafür braust Petrus furios durch die Kronen der Bäume. Mehrmals boxt mir auffrischender Wind vor die Brust. Vielfach schubst er, leider nur selten direkt von hinten in erwünschter Richtung. Nach Umlaufen der Wende halte ich weiterhin eisern mein Tempo, erarbeite mir zeitweilig sogar mehr als eine Minute Vorsprung auf den 6er-Schnitt. Natürlich muss ich seit geraumer Zeit einigen Willen investieren, um dieses Niveau zu konservieren. Noch immer zu fast hundert Prozent spaßbefreiter Griesgram, gibt es eigentlich keine Veranlassung für selbstquälerische Spielchen. Meine Unnachgiebigkeit ist der Überzeugung geschuldet, dass 10 oder 20 Sekunden pro Minute langsamer zu laufen die „Sache“ nur verlängern aber nicht erträglicher gestalten würde. Quälen muss ich mich so oder so. Und - Hand aufs Herz - quälen will ich mich. Wäre es anders, fristete ich mein Leben als Couchpotatoe, huldigte auf ebenjenem Möbelstück verweilend dem süßen Nichtstun, triebe mich nicht auf Marathon- und Ultrastrecken herum.

Der zunehmend unter Energiemangel leidende Stoffwechsel erinnert mich von Zeit zu Zeit an den prallvollen Gelbeutel in meiner Jackentasche. Notration. Wir - also das Weichei und ich - sind derzeit allerdings weit vom Ausrufen eines Notstandes entfernt. Einstweilen verhandeln wir die Notstandsgesetze, stecken aber noch in Definitionsversuchen fest: Wie fühlt sich ein Katastrophenfall an, der den Tabubruch „Gel-100-kcal-rein-damit“ rechtfertigen würde? Außerdem: Soll es genügen, wenn der Notstand zweifelsfrei und unmittelbar bevorsteht? Oder muss er schon eingetreten sein? - Schwierig. Schließlich ziehe ich - der Tapfere - einen Trumpf aus dem nassen Ärmel und spiele ihn aus. Konfrontiere den „Schlappschwanz“ mit der Tatsache mehrfachen „Genusses“ von Iso, zuletzt gar pappsüßer Cola. Zucker im Getränk, das wird reichen - oder etwa nicht?

Ich sehne mich. Nach Kilometer 30, weil der mir seit Langem schon als Schlussgeläut vorm nahen Finish gilt (manchmal pure Illusion, wie ich nur zu gut weiß) … Die Tafel mit der „30“ bleibt hinter mir zurück. Mein Sehnen sucht sich ein neues Ziel. Bald, sehr bald, kaum mehr als ein Kilometer noch, dann darf ich die Pendelstrecke verlassen. Ich werde auf die gen Osten führende Straße einbiegen und eine lange Passage mit Rückenwind genießen!

Genauso kommt es: Wind im Rücken! Und der scheint immer heftiger zu werden. Wie stark er tatsächlich bläst, ist hier unten, zehn, fünfzehn oder mehr Meter unterhalb der Baumkronen schwer einzuschätzen. Aus lautem, bisweilen anschwellendem Grundrauschen trifft mich Schubser um Schubser. Vorzeiten schon formierte sich der Himmel. Dann und wann riss der Sturm sogar Löcher ins flüchtende Gewölk, brach sich die Sonne Bahn, ließ für Minuten Hoffnungen auf einen verträglichen Ausgang des Wettkampfs aufglimmen. Letzteres bleibt Wunschdenken. Binnen kurzer Zeit verdüstert sich die Szenerie, fortan bestürmt mich beides: Böiger Wind und Regen.

Der Durst bringt mich buchstäblich um den Verstand! An der Tränke gibt es kein Iso mehr, dafür Cola bis zum Erbrechen. Drei knapp randvolle Becher schütte ich in mich rein, bis die Kohlensäure fast die Bauchdecke sprengt. Am liebsten bliebe ich hier stehen und ertränke in Cola. Mit einem Rest von Besinnung reiße ich mich zusammen und falle in mühsamen Trab. Ganz und gar geblähter Luftballon kurz vorm Platzen. Und wenig später - zu meiner grenzenlosen Erleichterung - rülpsend wie der prolligste Proll …

Ich zähle jeden Kilometer zweimal: Erst vorwärts … 34, dann 35, auch 36 … und rückwärts … noch 8, noch 7, jetzt nur noch 6 … Ist Einstelligkeit erst mal erreicht, klingen beide Zählweisen mit ermutigendem Echo nach! - Ein Feuerwehrauto brummt an mir vorbei. Kein Sanitätsfahrzeug, ein ausgewachsener Löschzug. Um zu spekulieren, welchem Einsatz die Mannschaft entgegen fährt, müsste ich denken. Erwägungen anstellen. Bringe ich im Zustand energetischer Bedrängnis aber nicht mehr über mich. Und als ich den Ort mutmaßlichen Geschehens passiere, kommt es mir vor, als narrte mich ein Trugbild. Ich sehe: Sägespäne auf der Straße, ein in mächtige Teile zerlegter Baum neben der Straße, zwei schwere Lkw der Feuerwehr am Straßenrand. Ich denke: Baum vom Wind gefällt, quer über die Straße gefallen, von Feuerwehr aus dem Weg geräumt. Die Indizienlage ist erdrückend, die Schlussfolgerung absolut logisch. Windbruch! Echt jetzt? Kann das sein?

Ich tippele weiter, ohne mir die Dramatik des Geschehens im Detail auszumalen. Ohne die unmittelbare Gefahr zu bedenken, die bestanden haben muss, als der Baum fiel. Noch weniger kommt mir das unveränderte Risiko in den Sinn, dem selbstverständlich auch ich unterliege. Bäume stehen weiterhin zu Tausenden beidseits der Straße und der Sturm nimmt an Stärke eher noch zu. Nicht einen Gedanken verschwende ich an den Schrecken jener Mitläufer, die den Baum in mehr oder weniger geringem Abstand vor sich fallen sahen und dachten: Mein Gott, nur ein paar Schritte flotter und … ! Vernehme auch nicht das Aufatmen derjenigen, die sich nach dumpfem Aufprall umwanden und ihrem Schicksal für die entscheidenden Sekunden dankten, die sie nirgendwo liegenließen … Nichts davon bewegt mich. Nicht jetzt. Bin zu müde, zu sehr mit mir selbst beschäftigt …

… weil ich zu handeln versäumte und der Notstand nunmehr eingetreten ist. So kann’s gehen, wenn Koalitionen ihren aus Hassliebe geborenen Zwist zu lange austragen, sich gegenseitig in Untätigkeit fesseln. Noch fünf Kilometer. Da käme jedes Gel zu spät. Also aushalten. Binnen weniger Minuten nehmen meine Beine drastisch an Gewicht zu. Nur mit geballter Willensanstrengung lassen sie sich überhaupt noch anheben. Ein Übel kommt auch beim Marathon selten allein: Ich muss den Wald verlassen und ein von Wiesen dominiertes, weites Areal überwinden. Zunächst scheint alles nicht so schlimm, bis mich die erste Bö erwischt und einen platzierten Treffer landet. Ob Boxer, von linken oder rechten Haken voll auf die Zwölf getroffen, ähnlich weiche Knie bekommen? Kann sein. Doch Boxer können sich wenigstens wehren, ihre Deckung verbessern, ausweichen. Mich dagegen beutelt eine Bö nach der anderen. Ein übles Schauspiel, von tosendem Wind akustisch untermalt. Kilometer 38 vorbei, noch etwa 200 Meter freie Fläche. Ich flüchte in den Schutz der Bäume …

Die letzte Verpflegungsstation. Will wie üblich vorbei, schaffe es aber nicht. Durst. Ganz schlimmer Durst. Ich kratze den Rest verbliebener Vernunft zusammen und bescheide mich mit zwei Bechern Cola. Gebläht und rülpsend weiter, auch objektiv nun langsamer als zuvor. Was mich dann erwartet, ahne ich zwar voraus. Schrecke dennoch halbwegs entsetzt vor der Furie zurück, die über mich herfällt. Den schützenden Bienwald zurücklassend werde ich von Sturmtief „Eberhard“ auf unsägliche Weise verdroschen. Mit einer Kadenz und Wucht, als wollte der Wüterich in diesen finalen Laufminuten jedwede Schuld sühnen, die ich je auf meine Schultern lud. Unglücklicherweise beschreibt die Strecke dann auch noch einen Bogen gen Westen … Ab da bringen mich Eberhards gewaltige Schläge beinahe zum Stehen. Ein verheerender, letzte Kraftreserven absaugender Kampf. Was ich dabei vollführe ist nicht länger Laufen, eher gerade noch kontrolliertes Taumeln. Vermutlich keuche ich wie ein Walross. Schnaufen, das im Toben des Windes untergeht, nicht mal das eigene Ohr erreicht.

Ich fixierte den Ort vorläufiger Rettung schon Minuten vorher mit den Augen: Am Ortsrand von Kandel ostwärts abbiegen, eine Weile mit dem Wind im Rücken laufen. Irgendwann Kilometer 40: Wie ein welkes Blatt trudele ich vorwärts, energetisch ausgelutscht, vom Wind in den Allerwertesten getreten, in der Hoffnung meine Beinkraft möge sich stückweit erneuern. Die Hoffnung wird gleich mir vom Wind verweht als ich südwärts auf die Stadionstraße einbiege. Kilometer 41. Kraftlose, entsetzlich quälende Schritte. Noch 200, dann 100 mal die Füße heben, bis der Sturm mir wieder nützt. Und wenn nicht nützt, mich wenigstens nicht mehr bremst. Ich folge der Außenmauer des Stadions, glaube nun allem Übel entronnen zu sein, noch 600 Meter. Der Glaube hält bis ich einen Fuß auf die Tartanbahn setze … Genau in diesem Moment verpasst mir Eberhard den bisher heftigsten Rempler, bringt mich für einen Augenblick zum Stehen … Gegengerade im Gegenwind … der bläst, bläst, bläst, bläst … unter Aufbietung letzter Kräfte komme ich voran … lege mich in die Kurve … langsam weicht der Druck … wandelt sich zum Schub … treibt mich schlussendlich ins Ziel. Geschafft und vorbei! Gott sei Dank, vorbei!

Ergebnis: 4:13:25 Stunden, Platz 344 gesamt von 487, Platz 7 von 17 in M65

 

Fazit zur Veranstaltung

Strecke und Organisation:

Keine Änderung gegenüber den Vorjahren. Siehe also Berichte aus 2018, 17, 15, 12, 11, 9, 8, und 2007.

Zur Sturmsituation in diesem Jahr:

Nach Zielschluss wurde mir zugetragen die Verantwortlichen hätten erwogen den Marathon wegen des zu erwartenden Sturms abzusagen. Der vom Wind gefällte Baum hätte diese Maßnahme nachträglich gerechtfertigt, auch wenn der Unmut hunderter Marathonis mutmaßlich heftig ausgefallen wäre. Unterwegs im Wald beschlich mich zu keiner Zeit das Gefühl in Gefahr zu sein, obwohl diese latent bestand. Das zeigt wie wenig objektiv man als betroffener Läufer bestehende Risiken einschätzen kann. Hätte ein Läufer Schaden genommen - das Wehklagen wäre groß gewesen, der Shitstorm hätte den Veranstalter mit der Stärke eines Hurrikans erfasst. Die menschliche Tragik und juristische Konsequenz eines solchen Unfalls mag ich mir gar nicht erst vorstellen …

 

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