11. März 2018

Mehr geht nicht  -  Bienwald Marathon 2018

Seit 2007 zum achten Mal auf Kurs Bienwald. Eine Marathonstrecke misst zwar mehr als 40 lange Kilometer, wenn man sie jedoch bereits so oft unter den Füßen hatte, kann sie einem nichts wirklich Neues mehr erzählen. Den Bienwald-Novizen schlug einst der ausgedehnte Forst in seinen Bann. Damals meinte ich sogar unentdeckt Geheimnisvolles hinter unzähligen Bäumen, Farnen, im Unterholz, zwischen Gräben und Tümpeln zu ahnen. Und obschon - nüchtern betrachtet - die Wahrscheinlichkeit ihrer ansichtig zu werden mit null komma null ziemlich genau beziffert ist, hielt ich Ausschau nach geduckt schleichenden, im Bienwald beheimateten Wildkatzen …

Diese Zeiten sind lange vorbei. Genauso unwiederbringlich wie meine seinerzeitige Ausdauer, die mich - vergleichsweise - hurtig über brettflache Wege dem Ziel zufliegen ließ. Auch Lampenfieber, in den ersten Jahren Dauergast vor jedem Marathonstart, will angesichts einer Aufgabe, deren Lösung nicht grundsätzlich infrage steht, keines mehr aufkommen. Nicht, wenn einer die Übung „Marathon und weiter“ zum 220. Mal wiederholt. Womit also soll ich in von mir gewohnter (gefürchteter?) Üppigkeit die folgenden Zeilen füllen? - Ich nehme mir vor mich diesmal „kurz“ zu fassen (argwöhne jedoch, dass es nicht gelingen wird). Will Streckengestaltung und Landschaft allenfalls mit Worten streifen, denn …

… einen speziellen Bienwald-Marathon-Rekord reklamiere ich für mich! Zwar stehen keine Siege, noch Bestzeiten, ja nicht einmal außergewöhnlich schnelle Ergebnisse zu Buche. Und es wird eine Heerschar von Läufern und Läuferinnen geben, die häufiger hier unterwegs waren als ich. Meinem Fundus von bisher sieben, sehr ausführlichen Laufberichten dürfte jedoch schreiberisch keiner das Wasser reichen können. Und wenn doch, dann mag er sich melden, mir Gelegenheit geben meinen Irrtum einzusehen.

Kurze Streckenbeschreibung: Anfänglich durch die Ortschaft Kandel (Südpfalz, unweit von Karlsruhe), einer Ausfallstraße folgend, einen Kilometer weit nach Minfeld, dem Nachbarort. Dort eine Schleife im Wohngebiet, alsbald zwischen Wiesen Richtung Bienwald. Nach etwa sechs Kilometern verschluckt der Forst die Läuferschlange und gibt sie erst drei Kilometer vor dem Ziel wieder frei. Dann allerdings von langer Laufdauer stark ausgedünnt. Zudem machen die zur selben Zeit gestarteten Halbmarathonis (etwa drei von vier Läufern) lange vorher an ihrer Wendemarke kehrt.

Im Bienwald angekommen steuert der Marathoni auf zwei Wenden zu. Wende eins nach etwa 18 Kilometern. Von dort zurück und von der Hauptstrecke/-straße ein weiteres Mal abbiegen und Wende zwei in einer Art Zickzackkurs erlaufen. Nach Wendeschleife zwei hat man fast 32 Kilometer in den Beinen und darf seine restlichen Körner zunächst auf der breiten Hauptstrecke, einem Waldweg und abschließend in Kandel verbrauchen. Der Rückweg deckt sich bis auf die letzten knapp vier Kilometer mit dem Hinweg (Link zum Streckenplan).

Straßenläufern kommen drei Eigenschaften der Route entgegen: Sie ist zu hundert Prozent asphaltiert, ziemlich flach, vergleichsweise wenig windanfällig und deshalb schnell. Bremsen kann dich folglich nur fehlendes Training, womit viele Anfang März, noch vor der eigentlichen Marathonsaison, zu kämpfen haben dürften.

In meinem Fall stellt paradoxerweise zu viel Training den Lauferfolg in Frage. Anzukommen ist kein Problem, wohl aber, ein für meine Verhältnisse hohes Tempo gleichmäßig zu halten. Mit bereits 90 Wochenkilometern in den Beinen und gestern lediglich einem Ruhetag mache ich mir in dieser Hinsicht keine übertriebenen Hoffnungen. Tapering und sinnvolle Marathonvorbereitung sieht wahrlich anders aus. Einerlei, denn letztlich ist mein „Auftritt“ hier nur eine von vielen (Trainings-) Stationen auf dem Weg nach Griechenland. Zum Saisonziel, dem sich wie jedes Jahr alles unterzuordnen hat. Dennoch möchte ich heute nach Möglichkeit hohes Tempo gehen, um meinen Energiestoffwechsel in diesem Bereich etwa vier Stunden lang massiv zu belasten. Gemessen an meinen Umfängen und der dabei häufig und notgedrungen praktizierten Gemächlichkeit, fast ein „Tempotraining“. Zumindest, wenn man die langen Ultras, auf die ich mich vorbereite, dazu in Relation setzt …

Mit irgendwas um die vier Stunden wäre ich zufrieden. Eckhard, den ich im Startbereich treffe, fragt und bekommt diese ehrliche Antwort. Ob er’s mir abnimmt? - Doch exakt dieses Ziel peile ich an, halte mich deshalb nach dem Start erst einmal hinter den Vier-Stunden-Pacemakern. Nach Kaltstart und als Teil einer kompakten Läuferherde ist eine genaue Tempojustierung ohnehin illusorisch. Ein- und freigelaufen werde ich mein Schicksal dann selbst in die Hand nehmen. Mein „Fahrplan“ ist denkbar einfach: Mit 5:40 min/km (entspricht vier Stunden Laufzeit) beginnen und die weitere Tempogestaltung meinen Beinen überlassen. Sie werden signalisieren, was heute geht.

Siebenmal Bienwald bescherte mir auch massenhaft Fotos. Im Grunde könnte ich meinen Laufbericht aus diesem Reservoir heraus bebildern. Mein Ringen um Authentizität lässt dergleichen natürlich nicht zu. Also knipse ich munter drauflos, was einem Nebenmann auffällt. Der spricht mich auf Englisch an. Vermutlich kenne ich die Bedeutung der verwendeten Vokabeln, nur „verstümmelt“ sie das Getrappel hunderter Füße, bevor sie die für englische Konversation zuständige Region meines Hirns erreichen. Gesten deuten ist einfacher: Er will mich mit meiner Kamera ablichten. Wozu lange wehren, noch dazu fremdsprachig - also reiche ich ihm die Digicam …

Gute Absicht, missglückte Durchführung: Erst „fummelt“ er ein bisschen dran rum, dann erkläre ich ihm, wo man das Elektronikwunder einschaltet und welchen „button“ man „pushen“ muss, um ein „picture“ zu „taken“. Dass er fummelnd von „Bild“ auf „Video“ umgeschaltet hat, entgeht mir. Außerdem peilt er mich seitlich von hinten an, weswegen ich mich halb umwenden und merkwürdige Schrittkombinationen vollführen muss. Leider verliere ich dabei die beiden Gels, die unterm Saum meiner Kompressionsstulpen deponiert waren. „Flapp“ macht’s und die süße Power landet hinter mir auf dem Asphalt. Natürlich mache ich nicht den Fehler auf den Hinweis eines aufmerksamen Läufers zu reagieren: „Du hast ein Gel verloren!“ In der Flut nachdrängender Läufer plötzlich stehen bleiben? … das von einem derartigen Manöver initiierte Chaos zischt als unscharfes Katastrophenbild durch meinen Kopf. Dann eben: Gel ade!

Prompt reicht mir der freundliche Engländer nicht nur meine Kamera zurück. Auch er hat meinen Verlust beobachtet und drückt mir ersatzweise eines seiner Gelpäckchen in die Hand. Ziemlich verdattert bringe ich keinen Satz dankender Ablehnung zustande, beschränke mich auf ein simples „Thank you!“, denn das geht immer. Immerhin verfüge ich nun wieder über vier Gels, zwei weitere stecken sicher verwahrt in der Gesäßtasche, ein zusätzliches im Täschchen am Handgelenk.

Kilometer eins: 5:42 Minuten. Das ist zwar ein wenig zu langsam, im Gewühl und Geschiebe des Auftakts aber immer noch flott. Mein englischsprachiger Wohltäter - mittlerweile habe ich ihn als Teil einer kleinen Gruppe ausgemacht - läuft weiterhin in Sprechweite. Dann und wann tauschen wir Bemerkungen aus. So erfahre ich, dass er als Halbmarathoni unterwegs ist und die Gels - zwei weitere lugen unter seinem Gürtel hervor - eigentlich gar nicht braucht …

Ich halte mich noch immer dicht hinter den beiden Vier-Stunden-Pacemakern. Kilometer zwei: 5:20 Minuten, Kilometer drei, nachdem ich etwas Tempo rausgenommen habe, 5:30 Minuten. Schauen die Hasen eigentlich nicht auf ihre Uhr? - „These guys run too fast! They’ll kill their clients!“ raune ich meinem Nebenmann zu. Der antwortet mir anscheinend mit einer Grundsatzbemerkung zu „Pacern“, die ich jedoch leider nicht verstehe. Und dann … in der nächsten Ortschaft … verliere ich ihn endgültig - und gleichfalls „leider“ - aus den Augen.

Ein bisschen unentschlossen dümple ich im Kielwasser der Zugläufer. Langsamer? Schneller? Tempo halten? - Den Ausschlag geben schließlich vorm inneren Auge vorbei ziehende „Schlachtengemälde“ früherer Tage, wenn ich als Teil oder kurz hinter einer Gruppe die Tränke erreichte. Vor der ersten Verpflegungsstelle schiebe ich mich am Vier-Stunden-Tross vorbei, will mich nicht um Becher balgen müssen …

Der optische Wechsel „Ortschaft - freies Feld - nächste Ortschaft - Wiesen“ liegt hinter mir. Sieben Kilometer gelaufen. Ich habe am flotten Tempo nach Überholen der Pacemaker festgehalten. Natürlich horche ich in mich rein, lausche auf Signale des Körpers, die mir Aufschluss über meine Tagesform geben könnten. Wirklich Eindeutiges vernehme ich nicht. Die Laufgeschwindigkeit fordert mich, allerdings nicht übermäßig.

Kaum in den Bienwald eingedrungen, kündigt die Trillerpfeife eines entgegen kommenden Polizisten auf dem Motorrad auch schon die Halbmarathonspitze an. ‚Hier schon!?’ - ein Gedanke, dem die Einsicht in die Vergänglichkeit alles Irdischen folgt. Ganz ohne Niedergeschlagenheit oder Trauer stelle ich fest: Ich werde alt und meine Ausdauer schwindet. Im Verlauf meiner ersten Bienwald-Abenteuer schaffte ich es wenigstens bis zur Hauptstraße, also ein bis zwei Kilometer weiter, bevor der erste Halbmarathoni vorbei zischte. - In der Gegenwart erinnert sich der Mensch, vergleicht, schlussfolgert, bewertet. Leider versagt mein Geist mir die Gnade sich auf die Auseinandersetzung mit Vergangenem zu beschränken. Spekuliert darüber hinaus, glaubt die Zukunft zu kennen: Vielleicht noch mal acht Bienwald Marathons - wer weiß? -, aber höchstwahrscheinlich nie mehr schneller … Tatsächlich könnte mir diese superflache Strecke sogar dereinst verlässlich Auskunft geben, wann es Zeit ist die Marathonschuhe an den Nagel zu hängen: Sobald ich es nicht mehr schaffe jeden Meter Bienwald laufend zu bewältigen ist Schluss! Schluss mit Marathons, mit Wettkämpfen generell, aber natürlich nicht Schluss mit dem Laufen!

Hauptstraße, rechts und links zieht der Bienwald vorbei. Dessen Beschreibung spare ich mir heute. Sieben ältere Berichte künden von meiner Begeisterung für diesen abschnittsweise noch „urwäldlich“ wirkenden Forst. Überschwang, der sich nicht zuletzt aus meiner grundsätzlichen Waldverliebtheit speist. Heute halten sich die „warmen Gefühle“ in Grenzen. Meine Liebe zum Bienwald ist in die Jahre gekommen, außerdem fehlt ein wichtiger, meine Daseinsfreude regelmäßig befeuernder Faktor: Die Sonne! Zwölf Grad unter grauem Himmel sind okay aber eben auch nicht mehr als das. In Bälde wird sogar ein Viertelstündchen Sprühregen meine Brille benetzen. Aber das weiß ich natürlich jetzt noch nicht …

Die plötzliche Stille ist ebenso auffällig wie wohltuend! Gerade eben, nach etwas mehr als zwölf Kilometern, habe ich die Halbmarathonwende hinter mir gelassen. Drei von vier LäuferInnen machten kehrt. Gespräche und das Getrappel zahlloser Schuhe im hin- und rückflutenden Lindwurm sind Vergangenheit. Eine dünne Kette Marathonis hält weiter Kurs … Ist auch das ein Zeichen wachsender Vergreisung? - Die übergangslos einsetzende Stille fiel mir in den vergangenen Jahren gleichfalls auf. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, diesen Umstand als „angenehm“ empfunden zu haben. Und auch dies: In letzter Zeit ertappe ich mich ständig dabei alles und jedes zu hinterfragen und dabei nicht selten Erlebnisse aus dem Bodensatz meiner läuferischen Vergangenheit auszugraben.

Es fühlt sich an wie der Anfang vom Ende meiner heutigen Zielzeitträume. Auf inzwischen schwerer gewordenen Beine verliere ich ein bisschen an Fahrt. Bisher hielt ich mich stetig knapp unter 5:30, nun pendelt die Tachonadel um 5:40 Minuten pro Kilometer. Auf den Kilometern 14 und 15, wo die Hauptstraße durch den Bienwald eine ausladende Rechtskurve beschreibt, probe ich Einsicht ins scheinbar Unausweichliche, lasse erst 5:45 dann 5:42 Minuten zu ... Doch so leicht ist mein Ehrgeiz offenbar nicht kleinzukriegen! Der wehrt sich, erhöht das Tempo wieder! - Wovon ich hier berichte, das Gerangel zwischen Laissez faire und Aufbäumen, vollzieht sich mehr oder weniger unbewusst. Ich entscheide nichts, folge einfach dem Auf und Ab meiner Empfindungen, überlasse den Beinen die Regie …

‚Geht doch!’ könnte ich denken, nachdem eine weitere halbe, wieder mit vormalig flotter Pace gelaufene Stunde verstrichen ist. Denke ich aber nicht. Wenn schon denken, dann wenigstens strategisch: Inzwischen bin ich fest entschlossen dieses Tempo auf Biegen und Brechen so weit wie möglich zu halten. Auch wenn ich später einbrechen und für meine Vermessenheit büßen sollte. Ich stelle die Trainingswirkung des Laufs in den Mittelpunkt meiner Überlegungen. Je länger ich mich in diesem Bereich meines Energiestoffwechsels halte, umso besser die Grundschnelligkeit für künftige, sehr langsam gelaufene Ultras. Es mag für dich seltsam klingen, wenn angesichts meiner mäßigen Laufgeschwindigkeit der Begriff „Grundschnelligkeit“ fällt. Doch bedenke mein Alter und vor allem die Bedingungen von Ultrawettkämpfen über 15, 20, 25 Stunden, auf die sich meine Mühe letztlich richtet!

Ich hab sie hinter mir, die Klapper-Tschingderassa-Bumm-Kombo. Gottlob. Was für eine abscheuliche Form von Musik. Vermutlich hat meine Abneigung bemerkt, wer mir in Höhe des Dorfeingangs, vor dem sie mich nun bereits zum achten Mal vergraulten, ins Gesicht blickte. Schluss mit Tiraden, lieber auf den Lauf konzentrieren, auf die Kilometer 20 und 21, schließlich auf die Zeitmessung in Höhe des Halbmarathons, kurz nachdem ich von der Hauptstraße Richtung Wende zwei abgebogen bin. - 1:56:xx zeigt meine Uhr. Schlechter als erhofft, aber eindeutig auf Sub4Kurs. Was im Hinblick auf ein späteres Finish unter vier Stunden jedoch kaum Aussagekraft besitzt. Ein paar Sekunden Guthaben sind ratzfatz aufgebraucht, sollte der Einbruch kommen. Und ob der kommt, weiß hier auf Erden derzeit niemand.

Bienwald rechts, Bienwald links. Gut fünf Kilometer begleitet er nun mit weniger Abstand meinen Weg bis hin zu Wende zwei. Der Waldweg ist schmäler als die Hauptstraße, aber gleichfalls asphaltiert. Gelegentliche Tümpel auf dem Waldboden künden von reichlich Regen in den letzten Tagen - wie auch die Wiesen zu Beginn. Nichts Neues, das war, so weit ich mich erinnere, noch in jedem Jahr so. Tempo halten! Schon vorzeiten habe ich mit dem Einsammeln vorfristig ausgebrannter Mitläufer begonnen. Und die Rate steigt. Für die Bedauernswerten ist es unausweichlich. Folglich belastet mich darüber zu freuen nicht mein Gewissen. Jeder Überholte bildet ein Mosaiksteinchen meines Erfolges - so er denn bis zum Schluss anhalten sollte.

Zeit von jenen zu reden, die mir begegnen und Notiz von mir nehmen: Unbekannte, Bekannte und Freunde! Unterwegs werde ich mehrfach mit Namen angesprochen. Nicht die Tatsache an sich ist ungewöhnlich, wohl aber die Häufigkeit mit der es heute geschieht. Meist trabe ich in Gedanken versunken vor mich hin, registriere ein Gesicht oder den zum Gruß erhobenen Arm gerade noch aus dem Augenwinkel. Erkennen schwierig bis unmöglich und nur in einem Fall kann ich das Konterfei sicher zuordnen. Über Jahre hinweg versuchte ich Vergessen oder Nichterkennen peinlich berührt zu überspielen. Inzwischen wuchs die Zahl derer, die ich zwar (er-) kennen müsste, denen ich bestenfalls ein-, zweimal flüchtig begegnete, jedoch ins Uferlose. Vielleicht leben auf dem Planeten Erde Menschen mit einem in dieser Hinsicht absoluten Gedächtnis. Ich gehöre eher zu den „selektiven Lauf-Alzheimern“ und bitte um Absolution. - Einigen, unter Ausdauererbringung schnaufenden Menschen bin ich es wert im Vorbeilaufen gegrüßt zu werden. Ausnahmsweise widerstehe ich dem Grübeln, welche Bedeutung dieser Umstand haben könnte. Stattdessen überlasse ich mich der Freude darüber und spüre jeden Gruß als antreibendes Moment.

Mit Kraxi, meinem steiermärkischen Freund (auch Veranstalter des „Sommeralm Marathons“) und Thomas reiste ich gemeinsam an. Kraxi, mit dem mich viele gemeinsame Unternehmungen verbinden, meinen Lesern vorstellen zu wollen, hieße Wasser in den nur wenige Kilometer entfernten Rhein zu schütten … Thomas stammt gleichfalls aus Österreich und ist mir seit letztem Jahr als Läufer kein Unbekannter mehr. Gemeinsam kämpften wir beim „10in10“ (10 Marathons in 10 Tagen) gegen den täglich wachsenden Stress in unseren Beinen. Thomas gewann damals den Bewerb. Auf der Wendestrecke kommen mir die „Össis“ entgegen. Routiniert und exakt - seine Laufzeit belegt es - erledigt Kraxi seinen Job als Pacemaker; noch immer umgeben von einer ansehnlichen Schar an Klienten, die auf eine Zielzeit knapp unter 3:30 Stunden hoffen. Dem an Kraxis Seite gestarteten Thomas winkte ich bereits Minuten davor zu, gespannt, wie eindeutig er schlussendlich unter dreieinhalb Stunden finishen wird.

Nun warte ich auf Eckard, den Unaufmerksamkeit mir vordem, im Anlauf zu Wende eins, unterschlug … Auch mit Eckard war ich diverse Male zum „Pferde stehlen“ unterwegs. Heute peilt er eine Zeit unter 3:45 Stunden an, was ihm offenbar spielend vom Fuß geht. Nur ein paar Minuten nach Kraxi und lange vor den 3:45-Stunden-Hasen lachen wir uns entgegen. Und gerade dieses Lachen samt seinem zum Ansporn himmelwärts erhobenen Finger künden von verbliebener Lockerheit nach (für ihn) inzwischen schon mehr als 25 Kilometern …

Bekannte und Freunde in kurzer Folge „abgehakt“ - rasch falle ich ins gewohnte, leistungsfördernde Brüten zurück. Läufer gleichen sich nur oberflächlich. In Wahrheit geht jeder mit den Folgen und Empfindungen stundenlanger Belastung anders um. Mein Erfolgsrezept könnte man mit dem Schlagwort „Fokussierung durch Abschottung“ zusammenfassen. Immer wenn es hart wurde, war ich mit mir ganz allein. Gewollt allein! Zuspruch dann und wann ist natürlich willkommen, aber Härten, wirklich Unerbittliches, ertrage ich am besten im stillen, inneren Dialog, mentale Rituale vollziehend: Unhörbar jammern, fluchen, mich anmotzen, anspornen, stereotype Formeln vielfach wiederholen und - so die Qual nur lange genug währt - in gedankliches Brabbeln verfallen, unweit tatsächlicher „Gedanken-Losigkeit“ …

Doch wirklich hart ist es heute nicht. Wird es vielleicht noch!? Derzeit wundere ich mich allerdings darüber nach wie vor eine Pace von durchschnittlich unter „5:30“ halten zu können. 25 Kilometer weit, 30, schließlich, nach Ende der zweiten Wendeschleife, auf den Kilometern 32, 33, 34 … Da ist nichts vom ziehenden Schmerz und der Schwere, mit denen meine Beine mich auf diesem Abschnitt bei früheren Läufen belästigten. Nichts von der Hoffnungslosigkeit, die bei jedem Blick voraus, die schiere Endlosigkeit der Straße erfassend, aufkeimte. Es strengt mich gewaltig an, die Gesäßmuskulatur gibt sich verhärtet widerspenstig, vor allem auf der linken Seite - das ist aber schon alles. Vom befürchteten Einbruch dürfte ich noch ein ganzes Stück entfernt sein …

Unter vier Stunden zu finishen ist mir gewiss. Unklar ist allein wie deutlich. Dies genauso zu denken ist Ansporn und Versuchung zugleich. Freude darüber fließt den Beinen zu, unterstützt sie in der Bewegung. Aber dann ist da auch noch einer, der mir süße Worte der „Beliebigkeit“ einflüstert. Dass es doch völlig egal sei, ob ich zwei oder fünf Minuten unter vier Stunden bleibe und somit die restliche Distanz genüsslich zu Ende traben dürfe … Ich studiere diesen ehrgeizlosen Mistkerl nun schon seit vielen Jahren. Anfänglich wischte ich seinen Sermon sofort und verächtlich zur Seite. In letzter Zeit redet er eindringlicher auf mich ein und findet zumindest Gehör. Noch widersetze ich mich seinen feigen Ideen, doch: Wie lange noch?

Selbst im Regenwald des Amazonas wären mir unter ähnlichen Umständen die Bäume „schnurz“: Fast ständig geradeaus auf breiter, vom Wald eingerahmter Straße, Sichtweite strebt gegen unendlich. Dem Trostlosen entkommt nur, wer stur die paar Quadratmeter Asphalt drei Meter vor seinen Füßen fixiert. Der kleine Mann im Ohr konnte meinen Ehrgeiz nicht brechen. Im Gegenteil. Wenn nichts Gravierendes mehr geschieht, werde ich den zweiten Halbmarathon schneller laufen als den ersten. „Negativer Split“ heißt so was im Fachjargon. Unter Marathonis eine Art Gütesiegel für sehr ausdauernde und gut kalkulierende Sportler. Den Orden werde ich mir allerdings nicht anheften, weil mein Ergebnis heute nicht cleverer Kalkulation, sondern großenteils dem Zufall entspringt. Nach umfangreichem Ultratraining weiß ich selten, was geht und was nicht … Ich hatte einfach Glück, das Tempo richtig zu treffen.

Die letzten Kilometer: Dreieinhalb noch, als ich den Bienwald hinter mir lasse und in nördlicher Richtung auf Kandel zuhalte. Meine Laufbewegungen fühlen sich schon eine Weile „zäher“ und damit langsamer an als in den Stunden davor. Völliger Trugschluss sagt meine Uhr! Mit dem Ziel so dicht vor der Nase hole ich sogar noch ein paar Sekunden zusätzlich pro Kilometer raus … Im Grunde unbegreiflich mit so vielen Wochenkilometern in den Beinen. Heute ist einer der Tage, an denen ich mich selbst angenehm überrasche. Aber das ist noch nicht alles: Meine Achillessehne gab und gibt nicht den leisesten Mucks von sich! Dabei meckert die im Training eigentlich ständig. Was will sie mir damit sagen? Etwa dies: Lauf schneller, fordere mich, das tut mir gut!?? Zu verstehen ist das nicht, zumindest nicht mit geradliniger Logik. Also genieße ich es einfach: Alles geben, bis ans Limit schinden und keinerlei Beschwerden.

Ich umkurve eine vornehm damenhaft gekleidete Spaziergängerin. Unter schweißtreibenden Sportlern, zwischen Wald und Wiese wirkt sie ziemlich deplatziert. Alles erwarte ich angesichts ihrer „marathon-fernen“ Aufmachung, nur nicht die Begeisterung, mit der sie mir applaudiert und mich anfeuert. Weiter. Am Rand des Ortes entlang, auf einem Radweg. Noch zwei Kilometer. Hier habe ich noch in jedem Jahr leiden müssen und 2018 macht da keine Ausnahme. Ich verausgabe mich und das tut weh. Schließlich aufs Stadion zu, Tafel mit der „41“, an der Stelle, wo sie immer stand, ich erinnere mich … der letzte Kilometer. Ich fixiere die Hacken eines Vordermannes, etwa 30 Meter voraus. Obwohl ich noch ein paar Kohlen nachlege, komme ich ihm nicht näher. Der gibt nun auch Fersengeld, riecht das Zielbier …

Außen an der Längsseite des Stadions vorbei, um die Ecke, kurze Seite bis zur Mitte, durchs Tor und auf die Tartanbahn. Die letzten 300 Meter geraten mir halbwegs zum Sprint. Meter um Meter verkürze ich den Abstand zum starr anvisierten Vordermann. Natürlich zielt so ein Manöver nicht auf den Sieg. Weder heute, noch allgemein. Es geht nicht darum schneller zu sein als der Mann - irgendein Mann - vor mir. Vollkommen unwichtig. Ich will mich verausgaben, mich spüren! Leben spüren! Suche einen Rausch in mir zu entfachen, weil ich auf dem letzten von 132 Wochenkilometern noch dieses höllische Tempo halten kann. Und deshalb sprinte ich dann tatsächlich auf den finalen 50 Metern, fliege an dem Läufer vorbei und Sekunden später über die Ziellinie …

Mein Tag im Bienwald endet so, wie er begann. Bereits vorm Start wurde ich von einem gänzlich Unbekannten angesprochen, der mein läuferisches Wohl und Wehe schon lange verfolgt und deshalb überraschende Details parat hatte. Der sogar nach unserer Hündin Roxi fragte, die mich beim ein oder anderen Marathon- oder Ultralauf begleitete. Ehrliches, mehr als nur wohlwollendes Interesse, das mir Freude bereitet. Und jetzt, reichlich dem alk-freien Zielbier zusprechend, werde ich erneut auf meine Laufberichte angesprochen. Von einem der anscheinend alle liest und das mit offensichtlicher Begeisterung. Der mich mit Lob geradezu überschüttet. Wäre mein Kreislauf von fast vier Stunden Laufen nicht erschöpft, ich müsste erröten! Lob von einem, der überdies andeutet, mein Beispiel habe ihn dazu ermutigt nun bald selbst den ersten Ultralauf zu wagen …

So viel Bestätigung wurde mir schon lange nicht mehr zuteil. Allein dafür hat sich die Fahrt nach Kandel gelohnt. Warmherziger Zuspruch und ein in dieser Eindeutigkeit unerwarteter Lauferfolg. Mehr geht nicht und darum fahre ich rundum glücklich wieder heim …

 

Ergebnis Thomas Lanz: 3:27:14 h

Ergebnis Kraxi, alias Hannes Kranixfeld: 3:29:17 h (sowas nenne ich zielgenaues Arbeiten eines Pacemakers!)

Ergebnis Eckhard Herwig: 3:36:38 h

Mein Ergebnis: 1. Hälfte: 1:56:54 h, 2. Hälfte: 1:54:22 h, Gesamt: 3:51:16 h.

 

Fazit zur Veranstaltung

Keine Änderung gegenüber den Vorjahren. Siehe also Berichte aus 2017, 15, 12, 11, 9, 8, und 2007.

 

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