Sonntag, 12. März 2017

Zahltag?   -   Bienwald Marathon 2017

Unterdessen haben meine Beine bereits sechs Kilometer Bienwald Marathon abgemessen. Die Ortschaft Minfeld weiß ich hinter meinem Rücken und vor mir, beidseits der brettebenen, s-förmig geschwungenen Straße, erstreckt sich die bekannte südpfälzische Wiesenlandschaft. Den Palisaden einer Wehrburg ähnlich, erkennt man ein paar hundert Meter voraus bereits die dunkle Mauer des Bienwaldes. Überraschendes erwarte ich von dieser Strecke nicht mehr, immerhin nehme ich sie heute zum siebten Mal unter die Füße. Obwohl: Bisher erfolgte der Start immer auf der Straße vor dem Stadion. Heute erstmals vom Parkplatz vor der Bienwaldhalle aus. Ein- bis zweihundert Meter wurde die Startlinie auf diese Weise zurückverlegt. Also habe ich ein klein wenig „Spannung“ an Bord, an welcher der beiden Wenden man die Mehrmeter durch Verkürzen wohl einsparen wird …

Die Morgensonne scheint aus wolkenfreiem Himmel und in meinem Kopf formen sich Ansätze guter Laune. Beides nicht selbstverständlich in diesen Tagen. Zuletzt zeigte sich Petrus hierzulande extrem miesepetrig, wovon just an dieser Stelle, rechts der Straße, ausgedehnte Wasserflächen zeugen. Tümpel und Sumpf, wo eigentlich Wiesen die Augen mit erstem Frühlingsgrün verwöhnen sollten. Sei’s drum: Heute Sonne und erträgliche Temperaturen, augenblicklich, kurz nach 10 Uhr, etwa 6 bis 8 Grad. Blauer Himmel und Sonnenschein tun mir gut und schwebte dort oben, direkt über meinem Kopf, nicht dieses Damoklesschwert, ich wüsste mein Glück nicht zu beschreiben …

Ganz ohne Metapher: Ich habe eine ziemlich unangenehme Woche hinter mir, orthopädisch und deshalb auch mental. Drei Monate Regeneration gönnte ich mir nach dem Spartathlon, begann erst wieder im neuen Jahr leistungsorientiert zu trainieren. Jedenfalls versuchte ich das, allein mein Körper schaltete auf stur. Infolge Erkältung musste ich erstmals pausieren, ein zweites Mal, um einen erneuten Infekt zu vermeiden. Orthopädisch fühlte ich mich instabil und anfällig. Meine Füße schmerzten „unspezifisch“ nach jedem Training, unabhängig von Inhalt und Dauer. Mal an der Sohle, dann seitlich, an der Ferse oder nicht zu lokalisieren „irgendwo im inneren Gefüge“. Erfahrung sagt: Fußsohlen mit dem Igelball ausrollen, ansonsten ignorieren. Nicht mehr zu ignorieren vermochte ich den Schmerz in der Pobacke links, ganz tief drin, der sich bis in den hinteren Oberschenkel zog. Nach einem langen Lauf war es so schlimm, dass ich tags drauf kaum gehen konnte.

Auf- und abschwellender Verlauf dieser „Sache“, parallel dazu meldeten sich die Achillessehnen. Ach, sollen sie doch, dachte ich, immerhin sind die chronisch geschädigt, muckten im vergangenen Jahrzehnt immer mal wieder auf, gaben aber alsbald wieder Ruhe. Erfahrung sagt: Ignorieren und nix tun. Schließlich, vorletzte Woche, nach einem langen Lauf, verdrängte aufkeimende Panik die Ignoranz. Ich begann die in der A-Sehne links aufgeflammte Entzündung zu kühlen und bekämpfte sie fortan mit Quarkpackungen. Orthopädisch Grund genug für eine ziemlich unangenehme Woche. Und im Kopf klapperten die Relais als litten sie unter einem Wackelkontakt: Lauf ich im Bienwald? … Lauf ich nicht? … Ich laufe … ich laufe nicht …

… ich laufe … Am Freitag war ich weitestgehend beschwerdefrei und ein Testlauf über acht Kilometer ließ sich überraschend gut an. Zumindest was die Sache in der Pobacke und meine entzündete Sehne angeht. Trotz zweier Ruhetage hinterließ mich das lächerliche Testläufchen allerings müde und ausgelaugt. Ein weiteres Indiz für die höchst miserable Ausdauerverfassung in den letzten Wochen ... ich laufe nicht ... Nach jedem langen Lauf fühlte ich mich einem Schwächeanfall nahe. Kein Wunder, denn höhere Intensitäten - Intervalle, Fahrtspiele, Tempoläufe, so was - konnte ich kaum trainieren.

Ein ums andere Mal betrachtete ich die „Heldenfotos“ vom Spartathlon und meinte meinen Doppelgänger zu sehen. Auf keinen Fall konnte ich das gewesen sein, der noch vor fünf Monaten 246 km nonstop über 3.000 Höhenmeter von Athen nach Sparta gelaufen war. Wahrscheinlich joggt ein zweiter Udo durch ein Paralleluniversum, mir äußerlich extrem ähnelnd und fähig ultraweit zu laufen. Der hier auf den Bienwald zutrabende Udo ist nicht mal sicher an diesem Tag marathonweit laufen zu können. Okay, irgendwie kriege ich die Distanz schon rum! Aber wie werden Sehne und Pobacke auf 50.000 Schritte am Stück reagieren? - ... ich laufe ... Die Entscheidung pro Bienwald Marathon fiel gestern, also auf den letzten Drücker. Ausschlaggebend war die Gewissheit, dass ich heute auch zu Hause meiner Sehne einen langen Lauf über mindestens 30 km zugemutet hätte. Dann, so meine Überlegung, kann ich auch „offiziell“ und ein bisschen weiter im Bienwald joggen ... - Kannst du es jetzt sehen, das Damoklesschwert über meinem Kopf?

Die Läuferschlange biegt von der gesperrten Staatsstraße ab und erreicht den Saum des Bienwaldes. Der gleichgesinnten Meute um mich her bringe ich heute gleichermaßen spärliches Interesse entgegen, wie der vorbei ziehenden Landschaft. Okay, das bunte Gewimmel ist mir vertraut und die Umgebung sowieso. Aber das ist es nicht. Ich überwache praktisch pausenlos meine innere Sensorik. Meldungen von der Sehne? Äußerungen der Pobacke? - Bisher Fehlanzeige. Die A-Sehne bekundet lediglich schon mal gesünder gewesen zu sein, gibt sich „präsent“, den Ausdruck „Beschwerden“ hielte ich jedoch für überzogen. Gut so! Kann so bleiben!

Kilometer 7, 8, 9: Erst Wald, nochmal ein paar hundert Meter Wiese, dann endgültig Wald. Der Bienwald. Oben lichte Kronen, darunter ein Zaun aus nackten Stämmen, in der bodennahen Etage wechselweise dicht verwobenes, braunes Dickicht oder ein Teppich aus toten Blättern. Laubbäume und Gestrüpp beidseits des Sträßchens sehnen den Frühling sicher ähnlich inständig herbei, wie dieser blau-schwarz bedresste Läufer namens Udo. Wie habe ich die kalte Jahreszeit satt!

Zauberhafter Bienwald: Beim ersten Mal begegnete ich der weitgehend erhaltenen Ursprünglichkeit dieses Forstes mit grenzenloser Begeisterung. Die schleift sich natürlich mit jeder Marathon-Wiederholung ab. Dennoch ließ ich meine Augen Mal um Mal gerne schweifen. Auch, um vielleicht doch noch eine der Wildkatzen zu erspähen, die in diesen Wäldern heimisch sein sollen. Pures Wunschdenken! Die scheue, getigerte Verwandte der Hauskatze flieht unter Garantie vorm Remmidemmi trappelnder Füße und fröhlicher Läufergespräche. Inzwischen bin ich fast so weit unter Verleugnung jeglicher Vernunft den Anblick eines fetten, abseits streunenden Hauskaters als Wildkatzensichtung zu akzeptieren.

Ich habe mich der Tempomäßigung verpflichtet (!!) und sprach im Vorfeld gegenüber Freunden von 4:30 h als Zielzeit. Furcht vor der orthopädischen Katastrophe diktiert diese Vorgabe und mutmaßlich fehlende Marathonreife - zumindest für Zeiten um die vier Stunden - fördert solche Bescheidenheit. In der bereits verstrichenen Dreiviertelstunde war ich etwas schneller unterwegs, halte mit durchschnittlich 6:10 min/km auf eine Endzeit um die 4:20 h zu. Ich habe einen brauchbaren Laufrhythmus gefunden und will aus diesem Grund meine Schritte nicht weiter zügeln. Ob ich über ausreichend Kraft verfüge, dieses Tempo über die volle Distanz zu halten, werden die nächsten Stunden zeigen …

Kann man passabel „drauf sein“ und es trotz konzentrierter Selbstüberwachung nicht merken? - Offensichtlich bin ich dazu imstande und klar wird es mir, da mich ein Augsburger am Vereinstrikot als „Nachbarn“ erkennt und anspricht. Als hätte er einen Damm zum Bersten gebracht, sprudelt ihm auf den nächsten zehn Kilometern, die wir gemeinsam bestreiten werden, aufgestauter Redefluss entgegen. Dergleichen passiert mir nur ausnahmsweise, in gelöster Stimmung und netter Gesellschaft und meist auch nur, wenn einer das Wort an mich richtet - eine seltene Koinzidenz. Vielleicht muss ich mir auch nur nach längerer Wettkampfabstinenz einfach mal alles von der Seele reden. Wer, wie, wo, was, warum und wieso, woher und wohin, wann und wann nicht … Rasch skizziere ich mit Worten ein Bild von mir und in der Gegenrede gewinnt mein Nebenmann gleichermaßen an Kontur. Ein erfahrener Läufer, der in zwei Wochen seinen einhundertsten Marathon in Orlando/Florida zelebrieren wird …

Noch bevor wir auf die den Bienwald von Ost nach West schneidende, breite Straße einbiegen, ungefähr bei Kilometer neun, fliegen uns die ersten Halbmarathonis entgegen. Der führenden dunkelhäutigen Gazelle - hat der eigentlich Bodenhaftung oder schwebt er? - entbiete ich mit hochgerecktem Daumen Achtung und Gruß.

Plaudernd summieren sich Minuten zu Viertelstunden. Erst in Höhe der Halbmarathonwende werfe ich wieder mal einen Blick auf den Entfernungsmesser: Bereits mehr als 12 Kilometer liegen hinter mir. Die Selbstbeobachtung hat geprächsbedingt ein wenig gelitten, ebenso die Tempoüberwachung. Check: Nach wie vor keine Warnsignale seitens der fraglichen Körperbaustellen und die Pace ist konstant geblieben. Hinter der Halbmarathonwende kehrt wie erwartet Ruhe ein. Schätzungsweise zwei Drittel der Mitläufer kehrten um. Das solchermaßen ausgedünnte Feld weist bereits große Lücken auf.

Zuweilen muss ich mich des Eindrucks erwehren, mein Begleiter zügele mir zuliebe sein Tempo: „Wenn du schneller laufen willst - nur zu. Ich werde wahrscheinlich bald einen weiteren Gang zurückschalten müssen.“ Er spricht von seinem kürzlich in Kiel in 4:25 h gefinishten Marathon. Mit seiner Antwort scheint er mir signalisieren zu wollen, unser bisheriges Tempo komme seiner Tagesform und Ambition entgegen …

Kilometer 14, bald 15. Wir passieren den Abzweig der Strecke von der Hauptstraße in Richtung der späteren Wende 2. Cirka in einer Dreiviertelstunde, auf dem Rückweg von Wende 1, werden auch wir an dieser Stelle ins Waldesinnere abbiegen. Die Stelle gilt mir nicht erst seit heute als Monitor schwindender Leistungsfähigkeit. Anlässlich meines ersten Bienwald Marathons war ich noch so flott unterwegs, dass die Spitze des Marathons erst Minuten nach diesem Abzweig auf mich zu rannte. Das war vor ziemlich genau 10 Jahren und sicherte mir eine nie wieder auf diesem Kurs erreichte 3:27:13 h. Die übrigen Male hatte der Führende den Abzweig längst passiert und heute streben mir sogar schon Grüppchen schnellerer Marathonis entgegen.

Ich trag’s mit Fassung. Als alternder Ultraläufer bin ich es gewohnt zwischen seltenen Höhenflügen in läuferischer Bedeutungslosigkeit einher zu traben. Offen gestanden fand ich es sogar einigermaßen amüsant nach unbestritten großen Erfolgen unerkannt in der Masse dahin zu schlappen. Oder genauer: Fast unerkannt. Dann und wann grüßt mich jemand aus dem Gegenstrom der Läufer, schenkt mir ein „Hallo Udo!“ Vertraute Gesichter halten sich dabei mit jenen die Waage, die mir fremd sind. Vor Jahren war mir dieses Defilee noch eher gleichgültig. Inzwischen genieße ich es, beinahe überall im deutschsprachigen Raum auf Bekannte zu treffen.

Laaaaaaaaaange Rechtskurve im Bienwald, dann wieder geradeaus. In der Ferne sind bereits die ersten Häuser eines Dorfes auszumachen. Auf das, was mir Minuten später dort zustößt, bin ich vorbereitet, weil sich manche Dinge im Läuferleben nie ändern, vor allem ungeliebte. „Tschingderassa Bumm Bumm Bumm“, trötet, klappert und trommelt es auf mich ein. Zum siebten Mal derselbe, mir tief verhasste Spielmannszug. Den intonierten Lärm, die groteske Adaption ansonsten durchaus erträglicher Musikstücke, lehnt mein Musikgeschmack eruptiv ab. Wäre mir auch nur ansatzweise übel, ich übergäbe mich augenblicklich und just vor der Front der Bläser und Trommler …

Rechts ab, Lärm im Rücken, dem Waldrand folgend, noch etwa ein Kilometer bis zur Wende 1. Ein Blick auf den Entfernungsmesser bescheinigt mir mehr als siebzehn Kilometer und einen Anfall von Vergesslichkeit: Nach 15 km wollte ich eine Gelration schlucken, um dem Kräfteverfall mit ein paar Zuckerkalorien zu begegnen. Fünf Gelpäckchen habe ich an Bord: Drei im Gürtel, eins in der Gesäß-, ein weiteres in der Handgelenktasche. Vorbei die Zeiten, da ich Aufbau-/Trainingsmarathons mit nichts weiter als Wasser im Bauch bestritt. Aber ich will darob nicht ins Lamentieren verfallen, auch mir selbst gegenüber nicht. Für aktive, der Leistung verpflichtete Läufer zählt nur die Gegenwart. Und in der wäre unter den gegebenen Umständen „heil und laufend ankommen“ ein Erfolg, der mir Mut machen würde.

Zwischen meinem Augsburger Begleiter und mir herrscht inzwischen weitestgehend Schweigen. Es ist alles gesagt. Im rechten Winkel streben wir vom Waldrand weg, mit Sicht bis zur ersten Wende. Ich mag mich irren, verorte sie allerdings an derselben Stelle wie all die Jahre zuvor. Also werden die Mehrmeter anlässlich vorverlegter Startlinie wohl an Wende 2 eingespart werden …

Kilometer 19: Schon vorm unausweichlichen zweiten „Tschingderassabum“ hat sich der Augsburger einige Meter Vorsprung erlaufen. Wurde er schneller oder ich langsamer? Ich kontrolliere die Zeit für den letzten Kilometer und finde meine Tempokonstanz bestätigt. Offenbar bin ich ihm nun doch zu langsam. Nach und nach vergrößert er den Abstand.

Udo Jürgens - der Allmächtige hab’ ihn selig! - erzitterte in seinem Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof, wandelte fortan als Untoter durch die Nächte, brächte ihm die Kapelle dortselbst ihre Täterätä-Klapper-Bumm-Version seines gesellschaftskritischen „Aber bitte mit Sahne!“ zu Gehör. Bin ich wirklich der Einzige allhier, der diese Art der Orchestrierung als überaus abstoßend empfindet?

Nur fünfhundert Schritte weiter umfängt mich wohltuende Stille. Stille, wenn man von Vogelgezwitscher und meinen Schritten auf dem Asphalt einmal absieht. Zum sicher hundersten Mal horche ich in mich hinein: Für erarbeitete fast 20 km fühlt sich mein Bewegungsapparat erstaunlich frisch an. Weder empfinde ich die im Training nach solcher Distanz bereits einsetzende Ermüdung, noch mucken Sehne und Hinterbacke links. Natürlich spüre ich „dort“ etwas, habe auch Schiss, dass mehr daraus wird. Doch auf einer Skala von 1 (= sehr wenig) bis 10 (= Höllenqual) würde ich für das leichte „Bizzeln“ allenfalls eine 0,5 vergeben.

Unwillkürlich schweifen die Gedanken ab, kreisen - wie so oft in letzter Zeit - um die Frage: Warum bin ich zu Beginn dieser Saison so anfällig? - Es gibt auf solche Fragen selten definitive Antworten, meist finden sich nicht einmal klare Indizien. In diesem Fall bin ich jedoch sicher, jetzt und in den Monaten zuvor, den Preis für meine größte läuferische Sternstunde, das erfolgreiche Finish beim „Spartathlon“, entrichten zu müssen. Im Gebein Jüngerer mag so ein Mammutprojekt folgenlos bleiben, nicht bei einem über Sechzigjährigen. Und deshalb halte ich mit bangem Herzen auf die Beantwortung der entscheidenden Frage zu: Ist heute Zahltag? Bewege ich mich Schritt um Schritt auf die Katastrophe zu? Oder war es richtig im Bienwald an den Start zu gehen?

Stimmen hinter meinem Rücken beenden die Grübelei. Ende der Waldesruhe. Drei nicht mehr ganz taufrische Herren tauschen sich aus. Thema: Ihre jeweilige Familie sowie die Erziehung von Söhnen und Töchtern. Ich lausche nicht absichtlich, kann mich phonetischer Aufdringlichkeit aber nicht erwehren. Einen Kilometer weiter, in Höhe des Abzweiges Richtung Wende 2 und beim Passieren der Halbmarathonmarke (2:11:09 h), verfüge ich bereits über eine reichhaltige Fallsammlung. Es wäre mir somit ein Leichtes ein Brevier zu verfassen, das der Frage auf den Grund geht: „Wie gehe ich als Vater mit pubertierenden Kindern um?“ Übereinstimmende Väter-These übrigens: Töchter wickeln dich um den Finger und Söhne gehen aus Prinzip zu allem in Opposition.

Nachdem ich mannhaft (und aus Angst vor körperlichen Konsequenzen) meinem Wunsch widerstand, dem unablässig quasselnden Trio per Zwischenspurt zu entkommen, müssen sie das Tempo gedrosselt oder in Höhe einer Verpflegungsstelle den Anschluss verloren haben. Jedenfalls genieße ich nun wieder die sonntägliche Stille des Bienwaldes. Ich hake Kilometer ab, 22, 23, 24, und grüße bisweilen bekannte Gesichter im Gegenstrom der Läufer. Eckard „Rumläufer“, den ich vorm Start schon in der Halle traf, wecke ich bei unserer Begegnung aus tiefer Versunkenheit ... Das Wetter hält, was es vorm Start versprach: Sonne von Pol zu Pol, bisweilen eine eisige Bö, wenn der Ostwind eine entsprechende Schneise dafür findet.

Links - rechts - links - rechts im Bienwald, dazwischen schnurgeradeaus. Diszipliniert kontrolliere ich nach jedem Kilometer mein Tempo. Nach wie vor pendelt es um die Marke 6:10 min/km. Zeit verliere ich nur bei den gelegentlichen Trinkstopps und einmal, um mich hinter einem Holzstoß zu erleichtern. Ich spüre die zurückgelegte Strecke deutlich in den Beinen, empfinde aber keine Ermüdung. Glück und Staunen, ob dieser Tatsache, konkurrieren in meinem Kopf. Dort macht sich Optimismus breit und ich unternehme nicht den Versuch ihn zu stoppen. Vielleicht geht mein Wagnis auf der verbleibenden Strecke doch noch in die orthopädische Hose. Kann sein. Inzwischen schließe ich das jedoch aus und fürchte mich auch nicht mehr davor. Den heutigen langen Trainingslauf auf Marathondistanz auszudehnen und „offiziell“ im Bienwald zu absolvieren, war eine gute Entscheidung!

Vor Wende 2 weist der Weg ziemlich lange, minimalst und konstant Gefälle auf, zum Schluss ein paar hundert Meter ganz sachte hinan. „Up and down“ teilt sich einem nur optisch mit und einzig deshalb, weil auf der kilometerlangen Sichtachse außer Läufern nichts den Blick verstellt. Ich mag mich auch diesmal irren, habe jedoch Wende 2 an derselben Stelle in Erinnerung, wo ich heute meinen 180°-Haken schlage. Seltsam … Wo wurden oder werden die Mehrmeter des Anfangs eingespart? Ab hier geht es ohne weitere Wende- und Wegkapriolen, folglich ohne Möglichkeit der Verkürzung, zurück zum Stadion. Und im Stadion ist eine Verkürzung kaum realisierbar. Oder doch? Meine Spannung in dieser Frage steigt …

Kilometer 27 liegt hinter mir und einen Steinwurf voraus erspähe ich meinen vormaligen Augsburger Begleiter. Er geht. Als wir uns vor der Wende mit Handzeichen grüßten, trabte er noch und besaß einen Vorsprung von grob geschätzt zwei Minuten. Offensichtlich hat er das Tempo überzogen und zollt diesem Frevel nun Tribut. Es ist mir immer unangenehm Mitläufer, die ich kenne, zu überholen. Fühle mich in solchen Fällen verpflichtet zu … keine Ahnung zu was. Irgendwie verpflichtet eben. Die verbleibenden Sekunden nutze ich zur Beobachtung und Einschätzung: Stabile Gangart. Falls er Schwierigkeiten haben sollte, dann keine, bei denen ich ihm helfen könnte. Also beschränke ich mich beim Überholen auf ein laxes, als Frage formuliertes Sprüchlein: „Hast du ein Gehpäuschen eingelegt?“ Ich lasse es aufmunternd und selbstverständlich klingen und ernte dafür eine unverständlich gemurmelte Bestätigung.

Bienwald-Zickzack Ende, Kilometer 31 im Rücken und nun wieder zurück auf die lange, inzwischen noch viel läääääääängere Hauptstraße. Ab hier gut fünf Kilometer fast stur geradeaus und ohne Abwechslung. Ich habe diesen Abschnitt als mental härtesten des Bienwald Marathons im Kopf. Befände sich einer, was durchaus normal wäre, nach 32, 33, 34 Kilometern, in physischer Not, die weitgehende Einsamkeit im hinteren Teil des Läuferfeldes zöge ihn unweigerlich runter. Zum Beweis meines Solodaseins fotografiere ich die fast ausgestorbene Fahrbahn vor mir und fange in einem Selfie die Leere hinter meinem Rücken ein.

Mich ficht dieser in Ost-West-Richtung verlaufende Abschnitt nicht im Mindesten an. Nicht heute. Sogar der hier vielfach wehende kalte Ostwind ist mir egal. Ich bin einfach nur zufrieden! Nach wie vor reicht die Kraft, um das Tempo zu halten und der zuletzt so schmerzende Bewegungsapparat ist kaum zu vernehmen. Was will ich mehr? - Eine reichliche halbe Stunde später, in dieser Zeit nur vom Tapptapp der eigenen Füße und gelegentlichen Vogelrufen unterhalten, biege ich im rechten Winkel ab und erreiche alsbald die erste Wiesenaue. Willkommene Abwechslung für die Augen. 37, dann 38 Kilometer und ein letztes Waldstück … Alles wird gut! Ich bin unglaublich froh mir den ganzen Frust der letzten Wochen aus den Beinen und der Seele laufen zu können. Frust und Zweifel - ich stampfe euch in den Boden!

Wenn du 63 Jahre alt bist und Ultraläufer, dir Füße und Beine nach jedem Jogg aus unerfindlichen Gründen schmerzen, dich ein Zipperlein nach dem anderen nervt und selbiges just in der Zeit geschieht, da du wieder Gas geben willst, dann gewinnen Unsicherheit und Skepsis die Oberhand: Stehe ich vor dem Ende des leistungsorientierten Laufens? Kann ich mir Ultra- und Marathonstrecken bald abschminken? - Auf Kandel zu und die letzten Kilometer am Ortsrand entlang laufend verklappe ich den ganzen Bedenkenmüll im Wassergraben neben der Strecke. Freude erfüllt mich stattdessen, es wieder einmal geschafft zu haben. Im 181. Marathon bin ich orthopädisch noch lange nicht übern Berg, glaube mich aber auf dem richtigen Weg.

Der letzte Kilometer: Aufs Stadion zu und nun bin ich gespannt, wo und wie die Vorverlegung der Startlinie kompensiert werden wird. Außen am Stadion entlang, dann rein und auf die Tartanbahn … Mit einem Blick erfasse ich die völlige Übereinstimmung meiner Erinnerung mit dem heutigen Zieleinlauf … Als nach 4:11:37 h die Uhr für mich stoppt habe ich gar kein Auge dafür. Ersatzweise brüte ich über dem Mysterium der vorverlegten Startlinie und der ansonsten - augenscheinlich - unveränderten Streckenführung …

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Nicht, dass darin irgendwelche Beweiskraft läge, doch mein Forerunner hat die Strecke an diesem Tag mit 42,800 km ausgemessen. 2015 standen beim selben Gerät noch 42,577 km in der Anzeige, 2012 waren es 42,497 km.

Ergebnis: 1. Hälfte: 2:11:09 h, 2. Hälfte: 2:11:37 h, Gesamt: 4:22:36 h.

 

Fazit zur Veranstaltung

Keine Änderung gegenüber den Vorjahren. Siehe also Berichte aus 2015, 12, 11, 9, 8, und 2007.

 

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