Sonntag, 11. August 2019

Unangemessen  -  Allgäu Panorama Marathon 2019

Mein Wetter. Tiefblauer, von keinem Wölkchen belästigter Himmel. Daraus strahlend eine Sonne, die mich morgens um acht schon wohlig warm umschmeichelte. Sogar in der noch recht frischen Luft, auf dem ersten flachen Kilometer entlang der Iller. Dort unten im Tal, wo allmorgendliche Verschlafenheit, in der ich seit Jahren fast jeden Wettkampf beginne, noch offen ließ, wie sich mein Marathonsonntag physiologisch entwickeln würde.

Unterdessen - über eine Stunde, mehr als acht Kilo- und einige hundert Höhenmeter später - steht fest, dass sich das Training der Vorwochen, zu dem auch zwei Bergläufe gehörten, auszahlt. Ströme von Schweiß, davon ausgelöst unablässiges Wischen über die Stirnpartie, mögen lästig sein. Der immense Kraftaufwand des bisherigen Aufstieges ohnehin. Grenzwertig insbesondere an Steilstellen. Weil ich natürlich wieder jeden Flecken Weges auf dem Weg über die Hörnerkette irgendwie laufend, trabend, tippelnd, steppend überstehen will. Doch die Kraft fließt stetig, meine Ausdauer erweist sich als stabil. Kein Vergleich zum Desaster vor drei Wochen, an das ich mich nur ungern erinnere (siehe Laufbericht). Also alles wieder gut?

Mitnichten! Vielleicht war ich schon lange fällig. Vielleicht ignorierte ich Signale fehlender Motivation über Monate hinweg, wollte sie einfach nicht wahrhaben. Vielleicht peitschte ich mich in all der Zeit ein paarmal zu oft in der mir eigenen gnaden- und kompromisslosen Weise über lange Strecken. Vielleicht. Kann sein. Womit auch immer der Dämon Unlust sich tarnte, die Pleite von Dettenhausen riss ihm den Schleier von seiner hässlichen Fratze. Seitdem muss ich mich zu jedem Trainingsmeter überwinden. Oder knallhart und unmissverständlich ausgedrückt: Ich habe keine Lust zum Laufen. Nicht die mindeste. Schon gar nicht zu längeren Läufen. Also auch nicht zum Allgäu Panorama Marathon.

Die Wiedersehensfreude, das Eingebettetsein im Kreis von Freunden und guten Bekannten, vorm und am Start übertünchte die missliche Lage. Drängte die Wahrheit in den Hintergrund. Dass ich nun lieber zu Hause am Frühstückstisch säße und den Tag „bewegungsarm“ begänne. Da sind mein Freund Kraxi, Robert und Ernst, zu dritt aus Österreich angereist. Auch Sybille, die heute ihren 100. Marathon laufen wird, begegnete mir im Startbereich. Mehrmals empfing ich ein fröhliches Hallo von Vereinskameraden. Auch wieder von Menschen in Laufmontur, die ich (wahrscheinlich) kennen müsste, die mir dennoch fremd vorkommen. Ich bin eben Teil des Laufzirkus'. Nur fühlt es sich derzeit nicht so an. Als wäre ich nicht Akteur in, sondern passiver Zuschauer neben der Manege.

Das war „da unten“ in der Miniaturwelt des Tales so und hat sich bis „hier oben“ auf Bergeshöh’ nicht geändert. Ich laufe nicht, weil ich dazu Lust verspürte. Ich laufe, weil ich angemeldet war und weil ich „muss“. Das „Muss“ ergibt sich aus der Tatsache in nur sechs Tagen die 100 Meilen Mauerweg rund ums einstige Berlin laufen zu „wollen“. Ich brauche ein paar Stunden Schufterei heute, um meiner Ausdauer noch einen Schuss Nachhaltigkeit zu verleihen. Eventuell denkst du, was ich denke: Extrem schlechtes Timing! Ein aberwitzig blöder Zeitpunkt für eine läuferische Krise, nur eine Woche vor der härtesten „Prüfung“ des Jahres. Ganz sicher ist das so. Es hat aber keinen Sinn sich etwas vorzumachen. Nie und unter keinen Umständen. Also habe ich die Unlust ins Kraut schießen lassen. Je freier und unbotmäßiger sie sich austoben darf, umso eher bin ich den grässlichen, ungebetenen Gast wieder los. In dieser und ähnlicher Weise doziert der Hobbypsychologe in mir.

Dass alle im steilen Gelände gehen und nur der übellaunige Udo aufwärts tippelt, verbissen und trotzig wie eh und je, das hilft ein bisschen. Überzieht die verwirrte Seele mit dem Balsam des Gewohnten, Normalen. Seht her: Eigentlich hab’ ich heut’ keine Lust hier rauf zu laufen, aber ich kann’s. Immerhin und wenigstens das. Auch wenn ich mir dadurch noch ausgestoßener, abgesonderter, außenstehender vorkomme als ohnehin schon. Sieht man mir an, dass ich keinen Spaß habe? - Wahrscheinlich nicht. Nicht in der Härte des Anstieges, die auch in den Gesichtern der zügig Gehenden Spuren hinterlässt. Alle sind sie mit sich selbst beschäftigt, keiner nimmt Notiz von mir …

Immer höher hinauf. Vom Asphalt auf geschotterte Almwege, ab Kilometer 10 auch über Wanderwege. Sogar eine technisch fordernde, von blockigen Steinen und Wurzeln durchsetzte Passage ist dabei. Schaff’ ich, kann ich, überwinde ich tippelnd. Gehschritte bleiben die Ausnahme. Bleiben hohen Tritten vorbehalten oder auf Hindernisse im Laufweg beschränkt. Ein quer liegender Baumstamm etwa oder mehrfach zu überwindende Gatter auf den Almwiesen.

Immer höher hinauf und von einer Aussicht begleitet, vor der jedes noch so überschwängliche Prädikat als zu schwach im Ausdruck versagen muss. Atemberaubend, wunderschön, grandios - das alles zusammen und noch mehr. Gemeint ist der Blick übers Oberstdorfer Tal zur wild gezackten Kette der Allgäuer Gipfel im Süden. Auch die Aussicht gen Nordosten, am Klotz des Sonthofener Hausberges „Grünten“ vorbeischauend, ins von hier oben flach anmutende Ober- und Unterallgäu. Kaum Dunst in der Luft nach dem vielen Regen von gestern. Wenig, das den Blick trüben könnte. Auch meinen nicht. Nur schaue ich kaum hin. Und wenn, dann flüchtig oder, um, dem antrainierten Automatismus gehorchend, Schnappschüsse einzusammeln. Kurz innehaltend. Für Sekunden stehend. Meist dann, wenn das Herz im brutal Steilen mal wieder bis zum Halse schlägt und Sturzbäche von Schweiß die Gesichtskonturen fortzuschwemmen drohen.

Unangemessen. Irgendwann kommt mir das Wort in den Sinn. Mein Verhalten und Hiersein ist vor allem das: Dem Tag, dem Anlass, der Aussicht, dem Kaiserwetter, der wunderschönen, im Sonnenschein leuchtenden Welt unangemessen. Dreimal zuvor demselben Weg folgend empfand ich unbändige Freude. Konnte mich kaum sattsehen am Panorama. Heute erreicht und berührt mich dieses Wunder der Natur nicht wirklich.

Rein physisch ist alles in Butter. Meine Ausdauer scheint sogar stabil genug, sich vom mentalen Durchhänger nicht zerfleddern zu lassen. Inzwischen setzen mir die unablässigen Buckel natürlich zu. Das liegt auch am jetzt anspruchsvolleren Geläuf. Wanderpfade, die von Kilometer 10 bis 17 zusätzlich Kraft einfordern. Und meine wahrhaft hirnlose, völlig unüberlegte Ernährungstaktik sattelt noch eins drauf. Vier Gels habe ich dabei, wollte das erste bei Kilometer 20 nehmen. Wie gesagt: Hirnlos! Immerhin kenne ich die Strecke und ein Blick aufs Laufprofil hätte ausgereicht mich zu erinnern, dass fast drei Viertel der insgesamt 1.400 Höhenmeter bereits bis Kilometer 17 zu erklimmen sind …

Lasse ich mir eben Zeit. Einen Blumentopf werde und darf ich ohnehin nicht gewinnen. Nichts wäre fataler als sich heute völlig zu verausgaben. Bis kommenden Samstag muss mein Körper die investierte Energie ersetzt und sich regeneriert haben. Lasse mir Zeit auf den Wegen und vor den Verpflegungsstationen. Trinke ausgiebig, getrieben nicht zuletzt von Durst, der heute schon früh einsetzt.

In Steilstücken, wenn Herz und Lunge gerade mal wieder heillos überfordert sind, provoziert meine miese Grundstimmung häufiger die Sinnfrage. Warum ich mir Marathonläufe wie diesen immer noch zumute. Obwohl ich - infolge massiger Statur seit jeher und vom Lebensalter inzwischen zusätzlich gehandicapt - kaum ungeeigneter dafür sein könnte. ‚Nie wieder - nie wieder - nie wieder …’ pocht es im Rhythmus des schlagenden Herzens in meinem Kopf. Aber nur für die Dauer weniger Sekunden. Sobald die körperliche Not abklingt, ist das bereits wieder vergessen. Auch, weil mir ein Rest Objektivität verblieben ist: Im Grunde bewältige ich die vielen Höhenmeter bis zum letzten Joch unweit des Riederberger Horns (Kilometer 18) ohne ernsthafte Probleme. Auf ähnliche Weise also, wie bereits dreimal zuvor …

Hinterm letzten Joch beginnt, wovor ich heute ein bisschen Manschetten habe: Bergablaufen. Die Patellasehne im rechten Knie gebärdet sich derzeit noch zickiger als ihr Besitzer. Der „mediziniert“ mit allem gegen den sehnigen Unwillen an, was der Sport-Doc ihm an Mittelchen und Maßnahmen verordnete. Nicht ohne Teilerfolge übrigens. Bergablaufen nimmt die Sehne trotzdem übel. Also lasse ich es vorsichtig und zurückhaltend angehen, wo immer der Weg sich talwärts wendet. So wie jetzt, vom Joch hinunter zur Talstation der Grasgehren-Lifte. Ich entscheide mich für kurze, schnelle Schritte, um die Kraftimpulse zum Abfangen des Körpergewichts zu begrenzen. Es zieht trotzdem im Knie. Aber nur unangenehm, lästig, unterhalb der Schwelle, wo der wirkliche Schmerz beginnt.

Auch zur Schonung verbliebener Ausdauer halte ich mich abwärts zurück. Ein paar Anstiege kommen noch. Im Vergleich zu dem, was bereits hinter mir liegt, eigentlich kaum der Rede wert. Und doch: Seit ich unterwegs bin, erinnere ich mich an immer mehr Details vergangener Jahre. Wie Blasen perlen sie aus dem Sumpf des Vergessens an die Oberfläche. Unter anderem eben auch, wie schwer mir die paar Höhenmeter auf dem zweiten Halbmarathon fielen, wie weitgehend ich mich vorher bereits verausgabt hatte. Am Verpflegungspunkt Grasgehren überfällt mich erneut heftiger Durst. Ich befülle meinen Magen. Mit einem weiteren Gel und Unmengen an Iso. Ich stehe und saufe. Rasch und „eimerweise“ wie Kühe und Pferde saufen. Und als ich da so stehe und saufe, fällt mein Blick auf ein am Boden liegendes Gelpäckchen. Hat jemand verloren. Verlust nicht bemerkt. Weitergelaufen. Kurzer Blick in die Runde: Niemand zu sehen, dem es gehören könnte. Also nehme ich es in Besitz und verleibe es mir ein. Dank sei dem unbekannten „Spender“ fürs unfreiwillige Opfer.

Grasgehren: Liftanlagen, Hütten, riesiger Parkplatz. Infrastruktur für den Winter. Im Sommer potthässlich. Ich setze mich wieder in Bewegung und blende das Scheußliche aus. Unter anderem zwei wahre Monster von Pistenraupen. Seit Monaten stehen sie unbeweglich an Ort und Stelle. Alles hier wartet auf Kälte, Schnee, auf den Winter. Bloß weg. Zurück in den angenehmen Sommer. Obschon: Der hat hier auch seine Schattenseiten. Zumindest am Wochenende, wenn Deutschland freihat. Ich jogge auf einem Waldweg unweit einer stark befahrenen Straße. Sie verbindet das Oberstdorfer Tal mit Balderschwang und Österreich. Unaufhörlich Motorenlärm. Vor allem von Motorrädern, die bei gutem Wetter wie Heuschrecken über die Bergstrecken des Alpenraums herfallen. Kaum habe ich die Straße lebend überquert, röhrt wieder eine Armada Bikes heran, donnert, braust, blubbert, sägt vorbei. Allesamt bayerische Kennzeichen. Fahren um des Fahrens Willen fand ich als Kind schon unnütz. Wenn meine Eltern, stolze Besitzer eines Nachkriegs-VW-Käfers, ihre Söhne in die Blechkiste packten und mit ihnen stundenlang durch die Gegend knatterten. „Spazierenfahren“ nannten sie das. Woran genau sie dabei Spaß hatten blieb mir verborgen.

Ich wende mich vom Lärmteppich ab und einer Alpe zu. Drei, vier Schlenker des Weges im und hinterm Wald, dann wird es stiller. Nicht still. Dafür sind diese Täler zu eng. Schall fängt sich in ihnen, wird reflektiert. Alpe am tiefsten Punkt, dahinter ein Anstieg. Geht. Kraft ist da. Auch als sich der Weg übel holprig als Bergpfad im Wald fortsetzt. Ein einsamer Wanderer mit gigantischem Rucksack kommt mir entgegen. Barfuß? - Barfuß! Auf einem Geläuf, das meine Füße schon in Laufschuhen menschenrechtswidrig foltert. Barfuß! Unglaublich. - Auf und ab, mehrheitlich ab. Steiniger Pfad, mal fest, mal mit Schutt jedweder Körnung gefüllt, der die Widerstandsfähigkeit meiner „Haxen“ auf eine harte Probe stellt. Jammern lohnt aber nicht. Schon nach ein paar Minuten mündet die steinige Plage in ein für den öffentlichen Verkehr gesperrtes Almsträßchen. Meine Erinnerung beeilt sich mir zu versichern: Fast schon das Ende jeglicher Fußtortur, auch wenn erst 23 Kilometer hinter mir liegen.

Eine Viertelstunde sanfte Steigung auf bestem Asphalt. Hinter einem Wolkenschleier macht die Sonne Mittagspause. Ihrer wärmenden Strahlen beraubt spüre ich wie kühl die Luft in diesem Hochtal und kurz vor Mittag noch immer ist. „Wischfrequenz“ einstweilen stark reduziert. Mein kuhmäuliges Trinkgebaren behalte ich trotzdem bei. In längstens einer Dreiviertelstunde und ein paar hundert Meter tiefer wird’s wieder wärmer, wird der Saft wieder in Strömen rinnen …

Und nun runter. Gelenkschonend auf Asphalt. Mit ihren Gelenken hat die junge Amazone in meinem Windschatten sicher noch keine Probleme. Sie überholt rechts, auf dem schmalen, unbefestigten, bisweilen grasigen Streifen zwischen Straßenrand und eingezäunter Wiese. Fühlt sich auf zweifelhaftem „Polster“ anscheinend wohler. Ich spüre mein rechtes Knie. Noch immer kein „richtiger“ Schmerz. Eher eine Warnung die Schussfahrt nicht zu übertreiben. Müsstest mich nicht ermahnen, liebes Knie. Übertreibungen oder Experimente jedweder Art habe ich heute am allerwenigsten im Sinn. Ich will einfach nur ankommen. Möglichst ungeschoren in allen Belangen. Einigermaßen deprimierend der Blick zur Uhr: Schon vier Stunden um und noch mehr als 15 Kilometer bis ins Ziel. Dort angekommen wird an sechs Stunden nicht mehr viel fehlen. Sechs Stunden … grottenschlecht … ‚Was hast du denn erwartet? Lustlos unterwegs und wieder ein paar Jahre älter?’

Das Gefälle der Straße nimmt nach und nach zu. Die Beschwerden im Knie gottlob nicht. Lauftaktisch geboten wären nun lange, raumgreifende Schritte. Um das Knie zu schonen, entscheide ich mich für kurze, schnelle Schritte, wie vorhin hinterm Joch. Ein Kompromiss. Kurz, um den beim Aufsetzten des Fußes einwirkenden Impuls zu begrenzen. Schnell, um nicht unnütz Haltearbeit beim Abfangen des Körpergewichts investieren zu müssen. Das kostet Zeit und fühlt sich auch nicht wirklich gut an, bringt mich aber weitgehend beschwerdefrei ins Tal. Zweck erfüllt, 30 Kilometer liegen nun hinter mir.

Radweg parallel zur Straße, beinahe unmerklich ansteigend, nicht mal tausend Meter weit. Der Abschnitt ließ mich noch jedes Mal Schwäche fühlen. Eine Schwäche, die sich nach mehr Müdigkeit anfühlt als tatsächlich schon von den Beinen Besitz ergriffen hat. Sie ist dem abrupten Übergang nach fünf Kilometern heftiger Talfahrt geschuldet, in der ausschließlich exzentrische - bremsende, verzögernde - Muskelarbeit gefordert war. Nun wieder konzentrisch - anspannend, beschleunigend - Kraft in der Vorwärtsbewegung entwickeln zu müssen täuscht Erschöpfung vor.

Ein paar hundert Meter in dichtem, dunklem Wald. Kühle, feuchte Luft. Kühl, obwohl die Sonne ihren Mittagsschlaf längst beendet hat. Feucht, weil es gestern im Allgäu Bindfäden regnete. Erst abwärts, alsbald wieder hinan, auf barbarisch steilen dreißig Metern meine Sturheit sogar grenzwertig fordernd. Im Spitzentanz steppe ich zentimeterweise und nach kurzer Zeit schnappatmend bergwärts. Vorbei an Wanderern und gehenden Mitläufern. Letztere werden mich in Bälde wieder überholen. Kommen von läuferischer Vernunft profitierend „ausgeruhter“ oben an, während ich noch eine Weile pumpe wie der sprichwörtliche Maikäfer.

Der Waldrand liegt ein paar Minuten hinter mir. Sonne und Wärme auf jedem Fleckchen nackter Haut. Schweiß rinnt ohne Ende. Patschnass, beinahe schon triefend kleben die Klamotten am Körper. Mein Scheibenwischer kommt nicht mehr zur Ruhe. „Letzter Anstieg! Auf geht’s!“ Der Streckenposten versprüht Motivation, widmet den Satz jedem der mehrheitlich gehenden Läufer. Lange her, dass Sprüche bei mir verfingen, mehr bewirkten als bloßes Hinhören oder eine Dankesgeste. Als Ultra bist du notwendigerweise abgebrüht. Gewohnt dein eigenes Ding zu machen, dich nicht von fremden Emotionen zu Unüberlegtem hinreißen zu lassen. Aber vielleicht hilft sein Sprüchlein den beiden Damen vor mir. Eine von beiden wird nicht mal verstehen, was er ruft. Sie ist Griechin, ersichtlich am Fähnchen, das ihren Laufrucksack ziert. Fast fühle ich mich zu einer Übersetzung genötigt: ‚Last hill before finish!’ Wäre das korrekt? Denken kostet keine, Sätze auszusprechen dagegen ungemein viel Kraft. Außerdem hat sich ihr Abstand zu mir vergrößert … also schweige ich.

Dieser letzte Buckel hat’s gewaltig in sich. Das war noch jedes Mal so. Keine hundert Meter Höhenunterschied, die mir vorkommen wie tausend. Warum? - Steil aufwärts unter sengender Sonne. Ermüdete Beine, die zwar noch vorwärts wollen, aber nicht mehr bergauf. Den beiden Frauen geht es nicht anders, nur in anderem Rhythmus. Sie nehmen den Hügel gehend. Ich tippele und bleibe kurz stehen, wenn die Anstrengung zu eklig wird. Überhole eine der Damen, nicht die Griechin. Tauche schließlich in kühlen Wald ein und konzentriere mich auf die letzten, nochmal zum Trail ausartenden Meter der Strecke. Ein paar Stufen führen himmelwärts. Himmel, der in dunklem Tann nur zu ahnen ist. Vor mir eine weitere Frau, von der Griechin überholt. Ein Moment mangelnder Konzentration. Natürlich stolpere ich über eine der Treppenstufen. Was sonst? - Kann mich aber mit den Händen abfangen. Mache mit einem unwillkürlich ausgestoßenen „Hoppla!“ auf mein Missgeschick aufmerksam. „Alles gut?“ fragt meine Vorderfrau. „Alles okay! Danke!“ tue ich zur allgemeinen Entspannung kund. Auch zur Beruhigung der Griechin, die ein paar Treppenstufen höher postiert verharrt und den Tolpatsch ihrerseits ins Visier genommen hat.

Oben. Mit Aussicht übers Oberstdorfer Tal. Berückend schöne Aussicht. Sattgrünes Allgäu. Weiß-blau der Himmel über den Bergen. Bilder wie diese drucken sie auf Ansichtskarten. Ein paar Läufer hier oben. Handys in Augenhöhe. Handys werden übergeben, Posen vorm Grün-Blau-Weiß eingenommen. Auch die Griechin lässt sich ablichten. Ich gönne mir gleichfalls einige Sekunden Pause. Weniger der Aussicht wegen. Atem- und Herzfrequenz normalisieren sich … „Eleni“ heißt die Griechin. Lese es von ihrer Startnummer. Weiß nicht, warum ich sie anspreche. Vielleicht, um schöne Erinnerungen heraufzubeschwören, die dem Dämon in den Hintern treten. Wie dem auch sei: Auf Englisch lasse ich sie wissen, wie sehr ich ihr Heimatland mag. Und selbstverständlich halte ich mit dem größten meiner Lauferfolge nicht hinterm Berg. Das Wort „Spartathlon“ entfaltet die erhoffte Wirkung, zumindest bei der sichtlich beeindruckten Eleni … An meinem Tag ändert es nichts.

Was mich heute am meisten rührt sind Tiere. Zwei Vierbeiner zum Beispiel, die ihre Frauchen auf der Marathonstrecke begleiten. Ich sah das Quartett am Start, ließ die vier auf Bergeshöh’ passieren und werde sie in ein paar Minuten, kurz vorm Ziel, wieder überholen. Auch die vielen Rindviecher auf den Almen, oft nur Zentimeter neben, manchmal sogar auf dem Laufweg, erfreuten mein Herz. Wie alle Nutztiere, denen ein möglicherweise kurzes, jedoch artgerechtes und damit schönes Leben unter freiem Himmel gegönnt ist. Auch eine Gruppe Haflinger, entspannt in der Sonne grasend, fing ich mit der Kamera ein. Und nun der Höhepunkt in der Ortschaft Obermaiselstein. Ein sicher höchst seltener, für mich sogar erst- und einmaliger Anblick: Esel in einem mit Holzzaun umfriedeten Pferch. Zwei Mutterstuten mit Eselfohlen. Zum Ausflippen putzig, niedlich, entzückend, herzig. Es dauert eine Minute und mehrere Fotos mich meiner eigentlichen Bestimmung zu entsinnen und schweren Herzens von diesem Bild loszureißen.

Der Rest - keine zehn Kilometer mehr - ist flach. Hat scheinbar für die von imposanten Bergpanoramen verwöhnten Augen wenig zu bieten. Dass das so nicht stimmt, kommt sicher den Wenigsten in den Sinn. Naturschönheiten finden sich auch hier unten. Sie fallen nur nicht so ins Auge. Wollen, dass man nach ihnen Ausschau hält oder auch andere Sinne bemüht. Nebenan, gelegentlich zwischen Uferbewuchs sichtbar, kann man einem Bergbach beim Plätschern und Stürzen über gemauerte Wehre zuhören. Blumen, Büsche, Bäume - alles da, was Spaziergänge lohnt. Schließlich an der (leider und notwendigerweise) gezähmten Iller entlang. Immerhin hat man dem Fluss zwischen hohen Dämmen beidseits der Ufer einen Teil seiner „kiesbettigen“ Ursprünglichkeit gelassen. Und Bergansichten gibt’s hier auch wieder zu sehen, du musst nur den Kopf ein bisschen drehen.

Du, nicht ich. Nicht heute. Ich will ins Ziel. Nur das. Bald. Den Tag mit einem erfolgreichen Finish verschönern. Na ja, so ganz kann ich es dann doch nicht lassen. Teste meine Form ein wenig auf den letzten Kilometern. Halte das Tempo bei knapp über 6 Minuten pro Kilometer, dann und wann für 'ne Minute auch mal schneller. Spüre in mich rein, wie sich das anfühlt. Nach vierzig Kilometern fällt es mir nicht schwer diese Pace zu halten. Könnte durchaus weiter laufen, als die zwei noch ausstehenden Kilometer. Eine Beruhigungspille im Hinblick auf die in nur sechs Tagen bevorstehenden 100 Meilen von Berlin. Wie lange und wie nachhaltig sie wirken wird, bleibt abzuwarten.

Zieleinlauf: Kraxi und Robert stehen vor der Einlaufgasse. Kraxi fotografiert. Ich überwinde die letzten Meter. Geschafft. Geschafft in mäßigen 5:50:11 Stunden. Der Empfang ist kühl und warm zugleich. Kühl das Zielbier, warm und herzlich der Händedruck von Freunden, Bekannten, Vereinskameraden. Kraxi konnte trotz Trainingsrückstandes einen fantastischen 11. Gesamtplatz erlaufen. Auch alle anderen blicken zufrieden drein. Nicht zuletzt Sybille, die nun genau 100 Mal marathon- und ultraweit unterwegs war. Der Erfolg steht ihr ins glückliche Gesicht geschrieben. Umso mehr, als ihr Start infolge Oberschenkelverletzung heute fraglich und mit Risiko behaftet war.

Alle zufrieden, alle glücklich. Und was ist mit mir? - Zufrieden bin ich auch, immerhin baumelt eine Medaille um meinen Hals. Wirkliche Befriedigung empfinde ich allerdings keine. Vom Trainingseffekt abgesehen würde mir nur die Begegnung mit den Freunden fehlen, wäre ich heute daheim geblieben. Es gibt da ein für sich genommen unbedeutendes, jedoch untrügliches Indiz, das über meine gegenwärtige mentale Verfassung mehr sagt als tausend Worte: Zum ersten Mal in meinem Läuferleben weiß ich nicht, den wie vielten Marathon ich gerade erfolgreich beendete …

Fazit zur Veranstaltung

Siehe meine Kommentare in den Laufberichten der Jahre 2012 und 2013 (Ein weiterer Laufbericht zum APM stammt aus dem Jahr 2017).

 

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