Samstag, 20. Juli 2019

Von Krieg und Frieden  -  24 Stundenlauf Dettenhausen 2019

Oder:  Wie ein Klappstuhl Schuld auf sich lädt.

Auch wenn er heitere Momente nicht aussparen wird, dieser Laufbericht fällt mir nicht leicht. Er erzählt von einer Niederlage. Keiner offensichtlichen zwar, doch von Geschehen, das ich als Niederlage verbuche. Auch von einem Sieg wird die Rede sein, den ich jedoch nicht als solchen empfinde. Vielleicht täte ich besser daran das Stundenglas noch hundert bis tausend Mal umzudrehen, bevor ich zu schreiben beginne. Vielleicht sähe ich dann klarer, was war und was nicht. Was objektiv Bestand hat und was ich mir nur einbilde. Vielleicht ist den Stift sofort in die Hand zu nehmen aber auch das Richtige. Immerhin zwingt es mich teils widersprüchliche Gedanken und Empfindungen zu sortieren. Drauflos schreiben, die Wahrheit herausschälen, bevor die Zeit verklären, verzerren oder vertuschen kann …

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Dettenhausen, Samstag, 20. Juli, vor 10 Uhr …

Ich habe meinen Claim abgesteckt: Klapptisch und -stuhl aufgestellt, Kühltasche dahinter. An der Laufstrecke, im Schatten versteht sich. Einiges Mobiliar und Ausrüstung, vor allem der Bequemlichkeit dienend. Eine Voraussetzung für bestmögliche Laufleistung bildet das „Equipment“ nicht unbedingt, steigert über die Faktoren „Wohlgefühl“ und „Motivation“ aber deren Erreichungsgrad. Zu meinem ersten, zugleich besten 24-Stundenlauf im Jahr 2008 erschien ich mit einer alten, ausrangierten Tennistasche. Darin wenig mehr als ein paar Gelbeutel - lächerlich wenige Gels, wenn ich heutige Maßstäbe zugrunde lege - und eine Garnitur Wechselklamotten. Dergestalt „unterversorgt“ erlief ich mir einen vierten Platz in der deutschen Meisterschaft. Im Grunde wusste ich weder, was auf mich zukommt, noch so ganz genau, was ich da eigentlich tue. Vielleicht lief es ja gerade deshalb so gut, damals.

Das ist 11 Jahre her, in denen ich in 6-, 12- und 24-Stundenläufen Erfahrungen sammelte. Erfahrungen, die mich bisweilen diesen oder jenen Gegenstand vermissen ließen. Darüber hinaus legte ich von Mal zu Mal mehr Wert auf Bequemlichkeit.* So umfangreich wie heute war meine Ausrüstung allerdings noch nie. Gemessen an dem, was manche Mitläufer so „herbei karren“ und errichten, immer noch eher spartanisch, für meine Verhältnisse hingegen „exorbitant“. Alles da, was ich brauche oder eventuell brauchen könnte. Von der Taschenlampe, um im Dunkeln nicht unnütz suchen oder tasten zu müssen, bis hin zum Handtuch … Ich hatte Glück und fand einen Parkplatz gerade mal zwanzig Meter von meinem „Claim“ entfernt. Überlegungen, wo oder wie ich warme Sachen für die Nacht und Wechselkleidung möglichst regensicher deponieren soll, erübrigen sich hierdurch. Puren Genuss verwahrt meine Kühlbox: Neun Flaschen alkoholfreies Weizenbier. Ein Luxus, der mir schon jetzt das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt.

*) Eine Entwicklung, die vermutlich dem voranschreitenden Lebensalter geschuldet ist. Wiewohl mir auch andere lästige Kröten, die es im Ultralaufsport immer wieder zu schlucken gilt - nächtliches Aufstehen etwa oder ausgedehnte Planungen/Vorbereitungen -, zunehmend im Hals steckenbleiben.

Letzter Schrei und Gipfel der Bequemlichkeit ist ein Klappstuhl. Womit ich gefühlt sehr dicht an die Feldlager-Mentalität meiner Mitjogger mit ihren Zelten oder Wohnmobilen und tausend anderen Utensilien heranrücke. Den Klappstuhl habe ich nicht „ausgegraben“ wie einst die Schoschonen im „Schuh des Manitu“, sondern schlicht dem heimischem Keller entnommen. Das ist insofern erstaunlich, da mir so ein Utensil bisher reichlich nutzlos erschien. Schließlich will ich 24-Stunden ununterbrochen laufen. Im Drehbuch des bevorstehenden Dramas (ich fürchte, es wird eines werden) kommt Hinsetzen somit gar nicht vor. Schon deshalb nicht, weil ich danach wieder aufstehen muss, was zu vorgerückter Stunde „schweineweh“ tut und entsetzliche Überwindung kostet.

Warum isser dann dabei, der Klappstuhl? - Diffus und im Konjunktiv gedacht: Falls ich mich mal hinsetzen müsste … etwa, um einen Stein aus dem Schuh zu entfernen oder etwas anderes an der Ritterrüstung zu korrigieren … Konkret gedacht: Keine Ahnung, weswegen mobile Sitzmöbel bisher nicht zu meiner Ausstattung gehörten. - Ich reite ein wenig herum auf diesem Stuhl, weil ihm eine gewisse Bedeutung im späteren Geschehen zukommen wird. Wie viel Bedeutung und welche genau, vermag ich zu diesem Schreib-Zeitpunkt noch gar nicht abzuschätzen. Lasse mich in dieser Hinsicht selbst ein bisschen überraschen. Gemeint ist das im Sinne von: Menschen verarbeiten Erlebtes, indem sie es in Sätze packen und niederschreiben. Dabei kann sich die Bedeutung von Teilen des Erlebten verändern.

Ich stehe neben der Strecke und unterhalte mich mit zwei Läufern. Franz, 69 Jahre alt und mir bestens bekannt. Dem Dritten im Bunde begegnete ich mehrfach, kenne ihn jedoch nicht mit Namen. Zuletzt traf ich beide anlässlich der 50 km von Ebershausen im April (siehe Laufbericht). Worüber wir reden, ist im Grunde ohne Belang. Dass wir reden dagegen schon, weil auf diese Weise Zeit vergeht. Ich war im Grunde viel zu früh vor Ort, was ich jedoch erst so empfinde, nachdem ich den Löwenanteil meiner Vorbereitungen abgeschlossen habe. Andererseits ist viel Zeit zu haben ein Wert an sich. Keinerlei Hetze, jeden Handgriff mit Bedacht ausführen. Es bleibt sogar noch Zeit einen Kaffee zu trinken. Der Tag wird gut!

Der wird schon deshalb gut werden, weil er mir mein Wetter schenkt. Blauer Himmel, Sonne, Wärme. Am Nachmittag soll das Quecksilber laut Vorhersage die 30°C knacken. Schreckt mich nicht. Ich mag Hitze. Und falls sie mir wider Erwarten zusetzen sollte, kommt die Spartathlon-erprobte Geheimwaffe „Kappe-Windel“ zum Einsatz. Unter dauerfeucht gehaltenem, an die Kopfbedeckung von Beduinen erinnerndem Schirm überlebte ich in jeder Wüste. Aber so weit ist es noch nicht. Derzeit, im Schatten, wenn eine gelegentliche Brise über blanke Haut streicht, muss ich mich sogar noch einer Gänsehaut erwehren.

Ich setze mich auf meinen Klappstuhl und genieße minutenlang die Ruhe vor dem Sturm im Streckenrund, das übrigens alles andere als rund ist. Die kleinere Schleife von insgesamt etwa 1,65 km (eine Meile) bedient sich des asphaltierten Vierecks um den Fußballplatz. Eine Laufbahn gibt es nicht. Ab- und Zulauf zum Sportgelände bilden einen engen Flaschenhals. Nach Passieren der Zeitmessung und Verlassen des Sportgeländes rechts auf eine Sackgasse abbiegen und leicht bergan auf den Waldrand zuhalten. Beinahe unmerklich aufwärts, was sich allerdings nur zu Beginn harmlos anfühlen dürfte. Schließlich nach links auf einen Fußweg und am (vormittags) schattigen Waldrand entlang. Hier endet der Asphalt und in merklichem Gefälle traben die Füße auf staubtrockenem, festem Erdreich (beim Überholen auf gemähter Grasnarbe). Schon auf einem der ersten Umläufe kommt mir in den Sinn, wie radikal Regen die erdige Pfadspur in eine tiefe Schlammsuhle verwandeln würde … An der tiefsten Stelle des Kurses links abbiegen, wieder auf Asphalt am Rand eines Wohn- und Gewerbegebiets entlang, moderat aber „unüberspürbar“ aufwärts, zurück zum Sportgelände. Kaum dort angekommen, werde ich auch schon vor meinem Tisch stehen. Um die Runde zu vollenden, muss ich noch das erwähnte Rechteck des Sportplatzes abmessen …

An Start und Ziel steht der Monitor der Zeitmessung/Rundenzählung. Außerdem gibt es dort Trinkwasser. Darüber hinaus mag sich ein jeder selbst mit dem versorgen, was seinem Magen-Darmtrakt wohltut. Vom üppigen Büffet, das für gewöhnlich anlässlich von Stundenläufen bereitgestellt wird, nasche ich ohnehin nicht oder nur ausnahmsweise. Schwäbische Sparsamkeit, die sich in Heller und Pfennig auszahlt: Der als Ausrichter fungierende Sportverein erhebt kein Startgeld. Richtig gelesen: 0,00 Euro Startgeld. Trotz Zeitmessung mit Transponder und einer rundum abgesicherten, nachts beleuchteten Strecke. Man erhofft sich Spenden, die in bereitstehende Boxen eingeworfen oder überwiesen werden können. Ein Ansinnen, dem sich sicher nur ein paar Geizkrägen verweigern werden.

Ein paar Minuten gönne ich mir noch auf meinem Stuhl, halte nach bekannten Gesichtern Ausschau; nach den „üblichen Verdächtigen“, wie ich sie gerne nenne, deren Namen oder Beschreibungen manche meiner Laufberichte bereichern. Klaus, Spartathlon-Finisher aus dem letzten Jahr, habe ich schon entdeckt und kurz gegrüßt. Davon abgesehen kommen mir ein paar Gesichter bekannt vor. Meine Gels würde ich allerdings nicht darauf verwetten, ihnen schon einmal begegnet zu sein. Insgesamt scheinen vergleichsweise wenige Ultra-Hardcore-Läufer teilzunehmen. Am Start wird von 600 Teilnehmern die Rede sein, in der Mehrheit natürlich Mitglieder einer der zahlreichen Staffeln. Wie denn auch der Mannschaftsbewerb in Dettenhausen das meiste Interesse genießt. Darüber hinaus - so merkwürdig das im Zusammenhang mit einem 24 Stundenlauf auch klingen mag - stehen Freizeit- oder Gelegenheitsläufer im Fokus des Ausrichters. Eine Klientel, die naturgemäß keinen kompletten Tag lang wird zirkulieren können. Im Rahmen der 24 Stunden sind jedoch Abholung der Startnummer oder Nachmeldung jederzeit möglich. Wer genug hat, hört auf. In meinen Augen ein gelungener Beitrag zum Breitensport. Da Kinder und Jugendliche ausdrücklich erwünscht sind, gleich, ob als Staffel oder Einzelläufer, kommt auch die Nachwuchsförderung nicht zu kurz. Ebenfalls ein Ansinnen, dem ich applaudiere, auch wenn es mir selbst das Rundendrehen erschweren wird. Erfahrungsgemäß kommt es auf einer Stundenlaufstrecke gehäuft zu „Friktionen“, wenn viele „laufende Meter“ mitmischen.*

*) Meine „Sorge“ wird sich - warum auch immer - als weitgehend unbegründet herausstellen.

Gedanken kommen und gehen in diesen letzten Minuten auf dem Klappstuhl, streifen auch meine Absichten. Die Vokabeln „streifen“ und „Absichten“ deuten bereits an, dass ich die Sache ohne strenge Zielvorgabe angehe. Viele Wochen war ich auch nur halbherzig entschlossen mir diese 24 Stunden „anzutun“. Letztlich war der Lauf von ohnehin spärlichen Alternativen die am wenigsten „unsympathische“. Was ich im Hinblick auf die 100 Meilen in Berlin, Mitte August, eigentlich bräuchte, wäre eine Veranstaltung, die mich über etwa 12 bis 14 Stunden fordert. Und das auch eher am nächsten Wochenende, das jedoch nicht zur Verfügung steht. Im Rahmen der 24 Stunden heute bietet sich mir immerhin die Möglichkeit die erwähnten 12 bis 14 Stunden Langdistanztraining zu absolvieren. Ein denkbarer Verlauf sieht demnach so aus: Nach 100 plus x Kilometern - irgendwann in der Nacht - die Segel streichen und heimfahren.

Im Innersten - und dafür bin ich ausgerüstet - gehe ich allerdings davon aus, meine Beine bis zum bitteren Ende zu fordern. „Bitter“ ist dabei keineswegs optional sondern zu nahezu hundert Prozent wahrscheinlich. Zwei Wochen nach der Quälerei beim Thüringen Ultra (100 km, siehe Laufbericht) und mit immer noch eklatantem Trainingsrückstand infolge Südafrika-Urlaubs muss mich ein 24 Stundenlauf überfordern. Was also soll der Unfug in unzureichender Verfassung einen vollen Tag Laufarbeit anzupeilen? - Das ist zunächst eine Frage meiner Einstellung zu Stundenläufen: Wenn X Stunden „angeboten“ werden und ich mich entschließe daran teilzunehmen, dann drängt mich eine Art „Pflichtgefühl“ den Zeitraum bis zur letzte Sekunde zu nutzen. Obwohl ich ein aus Trainingsabsicht resultierendes, vorzeitiges Ende vor mir selbst ohne Bauchschmerz werde rechtfertigen können. Im Grundsatz habe ich eine solche Option schon vorzeiten für mich als „zulässig“ erklärt (andere dürfen ohnehin tun, wonach ihnen der Sinn steht).

Und dann gibt es da die „vage Chance“ auf eine gute Platzierung: Ich beging den Fehler mir die Ergebnisse des letzten Jahres anzusehen. Ein Udo in Normalform - Achtung Konjunktiv! - wäre in der Lage gewesen unter die ersten drei zu laufen. Auch wenn Platzierungen in meinen Planungen selten eine Rolle spielen - sitzt so eine Laus erst mal im Pelz, vermag ich sie nicht wieder auszumerzen … Also ein Konglomerat unscharfer Zielvorstellungen in meinem Kopf. Nicht zu verstehen und wohl auch nicht unter einen Hut zu bringen. Ergebnis widerstreitender Gefühle und der Tatsache, dass ich die Trainingsplanung zwischen Ende des Südafrikaurlaubs und 100 Meilen Berlin sträflich vernachlässigte.

Das „Herumeiern“ mit Worten über drei Absätze will dir vor allem eines vermitteln: Was ich heute anstrebe ist nicht glasklar definiert. Weder mein (gedanklich fixierter) Trainingsplan, noch die Regeln des Stundenlaufes geben mir eine feste Distanz oder Zeit vor. Zudem spukt die Absicht einen vollen Tag lang im Orbit zu kreisen durch meinen Kopf.

 

Der Beginn

Countdown, schließlich der Startschuss, den die „Schaichtal Schützen“ zelebrieren. Eine Serie von Böllern, abgefeuert aus Geräten, die wie eine missratende Kreuzung aus Handfeuerwaffe und Kanone aussehen. Dazu haben die Schützen in der dem Starttor gegenüber liegenden Wiese Position bezogen. Parallel zum Laufweg und mit einigem Abstand zueinander. Welche Form der Signalgebung die Böllermänner tatsächlich im Schilde führen, vermag ich nicht genau zu sagen. Vermutlich eine Knallserie, vielleicht aber auch einen Riss im Raum-Zeit-Gefüge, infolge Böllersummation. Was auch immer hinter viel Pulverdampf Absicht war: Es geht schief. Sie böllern schon irgendwie nacheinander, jedoch mit uneinheitlicher Verzögerung. Und einer entlässt seinen Bumms infolge Ladehemmung mit mehrsekündiger Verspätung in den Morgenhimmel. Kein gutes Omen so eine Panne - nur für was oder für wen?

Auf dem ersten, kurzen Stück zum Waldrand hin brennt die Sonne unbarmherzig aus dem Morgenhimmel. Petrus scheint die Hitzedrohung meiner Wetter-App einlösen zu wollen. Eine Wahrnehmung, die mich nicht nur nicht beunruhigt, sondern meine Laufbereitschaft eher steigert. Hauptsache warm und Sonne! Hitze senkt natürlich auch meine Leistungsparameter. Aber eben nur die physiologischen. Mental ist sie mir willkommen. Das Gegenteil von Optimismus löst dagegen aus, was meine Beine signalisieren: Sie fühlen sich schwer und müde an. ‚Du bist nicht eingelaufen und dann sofort bergauf!?‘ lautet in etwa die Beruhigungspille, mit der ich mein Stirnrunzeln einstweilen glätte …

Am kühlen Waldrand und bergab verdränge ich meine Bedenken, achte auf erdigem, unbekanntem Geläuf vordringlich auf Stolperfallen. Die es abgesehen von einer Wurzel, kurz vorm Einschwenken auf den nächsten Straßenabschnitt, nicht gibt. Auf meiner mentalen Risikokarte setze ich ein rotes Ausrufezeichen in Höhe der Wurzel! - „Im kalten Loch“ lautet die Inschrift einer Tafel, die der Streckenverantwortliche am Übergang von Erde auf Asphalt, dem offensichtlich tiefsten Punkt des Kurses, aufstellte. Ein paar Meter weiter steckt die nächste Tafel: „Schinderbuckel“ - Unschwer nachzuvollziehen, was die Schöpfer dieser Bezeichnungen einst bewegte. „Im kalten Loch“ ist noch ein Rest Morgenfrische verblieben und der „Schinderbuckel“ will mit spürbarem Mehraufwand an Kraft „erobert“ werden. Besser nicht dran denken, wie steil sich diese Passage anfühlen wird, wenn die Nacht ihre dunklen Flügel über die Strecke legt …

Das mit dem Einlaufen sollte nach längstens einer Viertelstunde erledigt sein. Länger brauchte ich nie, um in die Gänge zu kommen. Mein Körper gibt sich jedoch weiterhin störrisch, wie ein alter, erschöpfter Esel. Es gebricht mir an Unbeschwertheit, die mich auch bei unvollendeter Regeneration in den Stunden eins und zwei begleiten müsste. Im Grunde jogge ich gleichermaßen „behindert“ durch die Dettenhausener Runde wie vorgestern im Training … Den Tempodauerlauf über 10 km am Dienstag lieferten meine Beine noch wie gewünscht und erwartet ab. Mittwoch Ruhetag, Donnerstag war dann unerklärlicherweise die Luft raus, so dass ich froh war ohnehin nicht mehr als ein „Durchbewegen“ der Beine im Sinn gehabt zu haben. Gestern ein weiterer Ruhetag, der die Fesseln um meine Ausdauer offenbar nicht lösen konnte.

 

Stunde zwei

Was kann ich tun? Wie könnte ich mir auf die Sprünge helfen? - Zunächst bleibt kein anderer Weg als der, den ich eingeschlagen habe: Handeln, wie ich auch unter „normalen“ Umständen, mit tragfähiger Tagesform, handeln würde. Unentwegt traben. Langsam, Tempo etwa bei 6:20 bis 6:35 min pro Kilometer. Gel nach Plan konsumieren, das erste nach einer Stunde, von da ab jede halbe ein weiteres. Viel trinken, schon jetzt nicht mehr auf Vorrat, weil der Schweiß vom ersten Moment an in Strömen rann. Nach jeder Runde, also jeweils nach etwa 10 Minuten, wehre ich der Austrocknung. Anfangs in Höhe meines Tisches mit einer mitgebrachten Iso-Mischung. Irgendwann suche ich probehalber auch die Wasserstation des Veranstalters auf.

Dort gilt es zunächst einen farbigen Kunststoffbecher zu „personalisieren“. Ich wähle einen quietschgrünen, auf den ich mit fettem, bereit liegendem Filzstift meine Startnummer schreibe. Trinke zwei Füllungen und stelle ihn zur bunten, desorganisierten Armee unübersehbar vieler Plastikgefäße. Ans Ende des dafür vorgesehenen Biertisches, weil ich ihn nur dort auf Anhieb wiederfinden werde. Überlegen und Handeln zur Vermeidung von Zeitverlusten. In Fleisch und Blut übergegangene Routinen. Und zu diesem Zeitpunkt glaube - hoffe? - ich sogar noch, dass ihnen auch heute Bedeutung zukommen wird.

Dennoch opfere ich der Rundenanzeige kurz hinter dem Ziel ein paarmal Zeit. Es geht mir weniger um die Gewissheit von der Rundenzählung korrekt erfasst zu werden. Zu eindeutig konnte ich mir jeweils einen doppelten „Pieps“ beim Überlaufen der Messschleifen zuordnen. Ich erhoffe mir ein bisschen Motivation von dem auf dem Monitor angezeigten Zwischenstand - den ich beim ersten Zwischenstopp allerdings nicht kapiere. Wie anderenorts erlebt, erwarte ich mein eingeblendetes Ergebnis vom einen Ende der Liste zum anderen „auswandern“ zu sehen. Erst beim zweiten, ausgedehnteren Verweilen vorm Bildschirm durchschaue ich den Anzeigemodus. Alle Einzelläufer werden in einer Liste in der Reihenfolge ihrer Platzierung eingeblendet. Da mehr Läufer unterwegs als auf dem Bildschirm darstellbar sind, muss ich im ungünstigsten Fall drei Bildwechsel abwarten, bis mein Name erscheint. Anfangs finde ich mich überraschenderweise auf Platz 24 wieder. Nach verhaltenem Beginn hätte ich mich viel weiter hinten erwartet.

 

Der Pfad der Erkenntnis (1)

Was kann ich sonst noch unternehmen, um diesen Trainingslauf wenigstens auf niedrigem Niveau zum Erfolg werden zu lassen? - … … … Nichts! Die Antwort ist ebenso einfach wie niederschmetternd. Gäbe es ein - erlaubtes - Mittel, um schlummernde Ausdauer zu wecken oder fehlende zu ergänzen, jedermann wendete es vorbeugend an. Also kreise ich. Lustlos. Womit das eigentliche Problem in einem Wort zusammengefasst wäre. Mit Schwierigkeiten umzugehen und Schwächephasen zu überstehen habe ich vor langer Zeit gelernt. Wer das nicht zuwege bringt, kann nicht Ultra laufen. Schon gar nicht so oft, so weit und in vorgerücktem Lebensalter. Auch zeitweiligen Verlust der Freude am Laufen halte ich aus. Das kommt immer wieder vor, in Schwächephasen oder regelmäßig auf dem letzten, von Schmerzen und Qual begleiteten Abschnitt langer Kanten. Das ist normal, gehört dazu.

Heute war jedoch von Beginn an der Wurm drin und der Laufspaß hatte keine Chance. Eine unvermeidliche Erkenntnis, die beim Kennenlernen der unbekannten Veranstaltung und Strecke nur langsam durchsickert. Unlust, die nicht als klar formulierter Gedanke geboren wird, sich eher mit der Maske wachsender Miesepetrigkeit tarnt. Die ich nun Stunde um Stunde ignoriere. Mich stattdessen mit dem beschäftige, was im Orbit und in mir drin geschieht.

Erstaunlicherweise bleiben „Friktionen“ der miteinander um Raum konkurrierenden Disziplinen weitgehend aus. Schnelle Staffel- und schneckengleich trabende, oft sogar gemütlich gehende Einzelläufer kommen sich nicht ins Gehege. Nehmen Rücksicht aufeinander. Da habe ich schon ganz andere, rüde Erfahrungen bei Stundenläufen machen müssen. Sogar die „Nordic Walker“ bleiben meist „unauffällig“. Meist heißt allerdings nicht immer. Dass Stockträger zum Quatschen paarweise nebeneinander gehen „müssen“, lässt sich noch verschmerzen. Die Strecke ist für weiträumiges Ausholen fast durchgängig breit genug und glücklicherweise hält sich die Zahl der Walker in Grenzen. Eine Stöcklerin bringt mich dann aber doch in Gefahr und damit auf die Palme. Unvermittelt stößt sie ihre Stockspitze seitwärts nach hinten, etwa in Kniehöhe und in meine Laufrichtung. Wäre ich einen Schritt früher dran … Mein grimmiges „He! Vorsicht!“ enthält mehr Zurechtweisung und vernichtende Missbilligung, als eine noch so geharnischte Rede transportieren könnte. In solchen unvorhersehbaren Momenten vorhersehbaren Fehlverhaltens wurzelt meine strikte Ablehnung von „Nordic Walkern“ auf Laufstrecken. Vor allem auf vergleichsweise kurzen Rundkursen! Dabei tut es mir Leid um disziplinierte Könner, die ihr Sportgerät jederzeit unter Kontrolle haben. Zwischen ihnen tummeln sich aber leider gefährliche Dilettanten wie die oben beschriebene Frau.

Stunde um Stunde werde ich langsamer. Nicht erheblich aber stetig, um jeweils ein paar Sekunden. Ich wehre mich nicht dagegen. Schwere, müde Beine raten zu einem noch wirtschaftlicheren Umgang mit den Ausdauerreserven. Dieser Tempoverschleppung zum Trotz rücke ich im Klassement jedoch weiter nach vorne. Bin mal auf Platz 17, irgendwann sogar auf Platz 10. Ein Schub Motivation geht davon aus. Hoffnungen werden von der Leine gelassen. Hoffnungen, denen jedoch die Grundlage fehlt. Nach etwa 20 Kilometern unfrohen Rundendrehens lasse ich eine erste Wahrheit zu: ‚Du wirst in dieser Verfassung keine 24 Stunden durchhalten können!’ Kein Zweifel möglich: Meine Kraft ist heute endlich und auch nicht mit Gel über einen vollen Tag zu strecken. Also werde ich mein Trainingsziel 100+ erfüllen und anschließend heimfahren …

 

Warm oder heiß?

Später wird man mir versichern, dass am Nachmittag auf dem Sportgelände in Dettenhausen 33°C gemessen wurden! Meine subjektive Wahrnehmung zu dieser Zeit: In praller Sonne rinnt der Schweiß in Strömen und ich empfinde tatsächlich einen Anflug von Hitze. Kein erwähnenswert unangenehmes und schon gar kein konstantes Gefühl. Spätestens am Waldrand erscheint mir die Luft dann wieder angenehm temperiert. Auch auf der Straße zwischen Waldrand und Stadion hat sich der Asphalt aufgeheizt und kostet mich manchen Schweißtropfen. Insgesamt käme ich jedoch zu keinem Zeitpunkt auf die Idee Temperaturen von über 30°C zu vermuten. Gelegentlich versteckt sich die Sonne sogar hinter Schleier-, später hinter flächigen Wolken. Außerdem weht ein böiger Wind durchs Rund, den ich meist als angenehm kühlend empfinde. Nein!, es ist mir zu keinem Zeitpunkt zu heiß.

 

Der Stuhl

oder: Der Anfang vom Ende

Nach jeder Runde verharre ich vor meinem Tisch und trinke. Unmengen an Flüssigkeit. Eine mitgebrachte Iso-Mischung und alkoholfreies Weizenbier, beides gut gekühlt. Da verschwindet schon mal eine halbe Flasche Bier auf einmal in meinem Magen. Eine, zwei, irgendwann drei leere Flaschen trollen sich unterm Tisch im Gras. Neun Flaschen habe ich mitgebracht. Absehbar, dass die allenfalls bis zum Abend reichen werden. Und wenn schon: Sobald die Sonne untergeht, werde ich weniger trinken und in der Nacht mache ich ohnehin Schluss.

Die Pausen am Tisch werden von Mal zu Mal länger. Während ich mir zu Anfang allenfalls drei, vier Sekunden zum Trinken oder Gelverzehr gestattete, lasse ich mir unterdessen alle Zeit der Welt … Die nutzlos verstreichende Zeit ist mir piepegal! - Mir ist inzwischen so ziemlich alles egal. Ich trachte einzig danach mein Pensum irgendwie „abzureißen“ und dann von hier zu flüchten. Bisher und weiterhin ein zäher,überaus quälender Prozess - ich kratze 30, dann 35, schließlich 40 Kilometer zusammen …

Was dieser Text als „vollendete Tatsache“ oder „gewonnene Erkenntnis“ beschreibt, vollzieht sich in Wahrheit schleichend, manches über Stunden. Auch wenn es der Bericht Distanzen oder Zeitpunkten zuordnet. Und so ringe ich mich über viele Runden dazu durch, das eigentlich Undenkbare in Erwägung zu ziehen: Vorzeitig - demnächst - abzubrechen. In meinem Empfinden ein Sakrileg, als wäre der Ultralaufsport eine Religion und die Zielerreichung das Tor zum Paradies … Ich will ins Paradies, aber zu welchem Preis? - Weitere sechs, sieben, acht Stunden saft- und kraftlose Tortur lägen vor mir …

Mal wieder vor Box und Tisch. Ich greife nach der Flasche. Dabei fällt mein Blick auf den Stuhl. Mehr versehentlich, wie vom Unterbewussten gesteuert, setze ich mich hin. Augenblicklich sollten Blitz und Donner auf mich hernieder fahren. Ein unerhörter Tabubruch. Den nur wird nachvollziehen können, wer mich und meine - das Laufen betreffende - Einstellung kennt. Wie ich da so sitze müsste ich vor mir selbst erschrecken. Wie von der Tarantel gestochen aufspringen, sofort weiterlaufen, eifrig bemüht die Schandtat zu sühnen. Nichts dergleichen geschieht. Ich sitze mir auf diesem verdammten, unter fadenscheinigem Vorwand mitbrachten Stuhl den Hintern platt und nehme es schamlos einfach so hin. Eine rotzfreche Demonstration fortgeschrittener Gleichgültigkeit, mich selbst und niemanden sonst brüskierend. Eine Auslegung des Geschehens, die sich mir erst nachträglich erschließen wird. Hier und jetzt bin ich mir der „Tragweite des Hinsetzens“ nicht bewusst: Es ist der Anfang vom Ende.

 

Der Pfad der Erkenntnis (2)

Irgendwann stehe ich wieder auf und trabe weiter. Als Buße für meinen Sündenfall werden mir greinende, im Wiederanlaufschmerz gefangene Beine auferlegt. Ganz allmählich weicht die physische Pein während des Umrundens - eher: „Umeckens“ - des Rasenplatzes. Nicht jedoch die Sorge: Erst 30 (35, 40?) Kilometer und schon peinigende Schmerzen in Gesäßmuskulatur, Füßen, Fußgelenken und vor allem im rechten Knie? - Patellaspitzensyndrom - die Neuerwerbung des Jahres. Anfangs nicht wirklich ernst genommen. Schmerzen im Bewegungsapparat kommen und gehen. Diese kamen und gingen nicht. Und heute kommt es mir vor, als zeigten sie mir gar den Mittelfinger.

Hinsetzen und Wiederanlaufschmerz wiederholen sich ein paarmal. Wie kann es sein, dass heute alle Symptome läuferischer Gebrechlichkeit so zeitig über mich herfallen? - Weder die sich weiter vertiefende Schwäche, noch die verfrühte, markante Schmerzkulisse kann ich mir auch nur ansatzweise erklären. Nicht mit den Gesetzen der Trainingslehre, noch über ständiges Grübeln komme ich weiter. Auch mit dem mir an diesem Tage beschiedenen Läuferschicksal zu hadern wäre sinnlos. Seit ich leistungsorientiert trainiere und laufe, musste ich lernen, dass der menschliche Körper keine Maschine ist. Dass sich das Zusammenspiel von Biochemie und Biophysik geradliniger Logik allzu oft entzieht. Meist ohne dafür eine Kante zu liefern, an der der Hebel des Verstehens ansetzen könnte.

Bei etwa vierzig absolvierten Kilometer kippt die innere Waage von „Weitermachen!“ nach „Abbrechen?“. Selbstverständlich weiterhin begleitet von Schritten, Schritten und noch mehr Schritten. Begleitet auch von endlosen inneren Wortgefechten, die nun wirklich keinen Aspekt der sich anbahnenden Entscheidung auslassen. Vordringlich auch nicht die Frage, ob ich damit meinen bisherigen „Nimbus der Unbesiegbarkeit“ - mehr als 250 Langdistanzläufe und nicht einmal aufgegeben!!! - ohne ausreichende Gegenwehr preisgebe. Marathondistanz liegt hinter mir, dokumentiert durch den am Kontrollmonitor eingeblendeten Zwischenstand. Und ich laufe weiter. Ein Ultra muss es mindestens werden, um mir nicht Totalversagen attestieren zu müssen. Damit die Wunde in meiner Läuferseele, die ich zweifelsohne davontragen werde, rascher ausheilen kann … Um den Lauf später in meiner bei der „DUV“ (Deutsche Ultramarathon-Vereinigung) geführten Statistik wiederzufinden, muss ich mindestens 45 Kilometer erbringen.

 

Rückzugsgefechte

Nein, leicht mache ich es mir wahrlich nicht. Auch „45“ reichen nicht, um die widerstreitenden Parteien in meinem Kopf zu befrieden. „45“ klingt nicht eindeutig genug nach „Ultra“. Also weiter, noch eine Runde und noch eine … Schließlich, nach mehr als 6:23 Stunden, habe ich mir 50 Kilometer abgetrotzt. Ich setze mich auf meinen Stuhl und verharre unbeweglich. Minute um Minute. Als wollte ich nie wieder aufstehen. Gelegentlich trinke ich. In mir drin tobt derweil die Entscheidungsschlacht. Oder genauer gesagt, da die Entscheidung eigentlich schon steht und, um im Bild zu bleiben: Es vollzieht sich ein Rückzugsgefecht. Der ehrgeizige Gralswächter und Lordsiegelbewahrer sieht sich von Fakten umstellt und in die Enge getrieben. Lässt sich überreden, schlussendlich von der Notwendigkeit überzeugen vorzeitig den Wettkampf zu beenden! Seine Lordschaft besteht allerdings auf einer Sprachregelung: Strikt zu vermeiden ist die Vokabel „Abbruch“! „Vorzeitig beenden“ klingt weniger nach Niederlage und mehr nach freier Entscheidung.

Ist es eine freie Entscheidung? - Ja und nein. Natürlich MUSS ich nicht aufhören, tatsächlich WILL ich aufhören. Könnte mich weiter durch die Runden prügeln, auch wenn meine körperliche Verfassung eine eindeutige Sprache spricht. Den Ausschlag geben mentale Faktoren. Da ist diese entsetzliche Lustlosigkeit seit Anbeginn. Dazu das Fehlen einer klipp und klar definierten Absicht. „100+“ und „mal sehen, was geht“ ist zu schwach. Morgen schon werde ich diesen Fehler einsehen: Ich hätte das Ziel unverrückbar festlegen müssen. Etwa so: 12 Stunden, basta! Oder: 100 Kilometer, keinesfalls weniger. Unter Garantie schleppte ich mich weiter voran hätte ich auf einer Punkt-zu-Punkt-Strecke bereits 50 Kilometer erstritten und „erlitten“. Weil nur das Ziel mich „erlösen“ könnte. Weil nur der Zieldurchlauf zur Wertung führt und meinen Anspruch an mich selbst erfüllt. Heute und hier lasse ich zu, dass dieser Anspruch über die Stunden schrumpft. Wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht. Weil ich auch mit den jetzt erreichten „50+“ meine Wertung bekomme. Unbesiegt bleibe!, obschon es sich wie eine herbe Niederlage anfühlt.

Franz biegt um die Ecke, sieht zu mir herüber. Mit dem schicksalsschweren Satz „Ich breche ab!“ verwickele ich ihn in ein Gespräch, missachte zugleich die Sprachweisung des Gralswächters. Dass ich mich ausgerechnet jetzt mitteile, wortgewaltig und redselig, hat seinen Grund. Es verlangt mich nach Bestätigung, nach moralischer Unterstützung. Und so sicher wie auf den Tag die Nacht folgt wird Franz meine Absicht gutheißen. Also erkläre ich, was mit mir los ist. Erläutere das Fehlen von Kraft seit der ersten Minute, den nun bereits überbordenden Schmerz, die mutmaßlich daher rührende, alles erdrosselnde Lustlosigkeit. Franz versteht und spricht Sätze, die ich hören will. Tenor: Kenne ich - kommt vor - nicht jeder Tag ist gleich - Aufhören kann die bessere Alternative sein.

Franz hat sich verabschiedet, trabt davon. Ich bleibe sitzen. Noch eine ganze Weile. Auf eine Viertelstunde schätze ich die Pause später, tatsächlich sind es sogar zwanzig Minuten. Die Pause selbst liefert ein weiteres Argument, das mir die Fortsetzung des Wettkampfs absurd erscheinen lässt: Für so lange Unterbrechungen im laufenden Wettkampf gibt es keinen Grund. Gemäß Paragraph 0815 meines Läufergesetzbuches sind sie inakzeptabel und mindestens mit zeitweiligem Verlust der Selbstachtung bedroht. Also muss Schluss sein. Ein paar Runden vielleicht noch?

 

Auf den Anfang vom Ende folgt das Ende vom Ende

Schließlich erhebe ich mich von meinem Stuhl, stehe kurz auf wackligen Beinen, marschiere los, überrede mich in eine Art Trab zu wechseln, warte auf das Abklingen der Schmerzen … Aufhören! Der Schrei ist unüberhörbar. Hätte es eines weiteren Argumentes bedurft, die nächsten hundert Schritte lassen es an Eindeutigkeit nicht fehlen. Um den Rasenplatz herum bis vor den Monitor muss ich mindestens noch laufen. Nachsehen, ob auch wirklich „50+“ Kilometer zu Buche stehen. Und hier treffe ich einen Bekannten, den ich in Dettenhausen, unweit seines Wohnortes, erwartet hatte. Ich treffe Volker, vor nicht allzu langer Zeit Veranstalter der Marathonläufe im idyllischen Schaichtal, das unweit von hier im angrenzenden Wald seinen Anfang nimmt.

Ein zehnminütiges (!) Gespräch entspinnt sich, dessen Inhalt - so weit er Volker betrifft - infolge selbst auferlegter „nichtärztlicher Schweigepflicht“ dem verehrten Leser verborgen bleiben muss. Früher nannte man dergleichen Diskretion, heute fällt einem eher die Vokabel „Datenschutz“ dazu ein. Meine Seite des Dialogs gilt es dagegen auszuwalzen, weil sie beweist, wie einschneidend mein läuferisches Wohl und Wehe von unterbewussten Motiven und Emotionen bestimmt wird: „Ich werde abbrechen!“ Wahrscheinlich verpackte ich meine Absicht in mehr als diese drei Wörter. Die schauerliche, die verpönte Vokabel „abbrechen“ war jedoch dabei. Was ich meiner Rede dann anfüge, lauerte als Idee sicher irgendwo im Hinterstübchen. Dass ich sie spontan einem mir bekannten Zuhörer vortrage, überrascht mich selbst am meisten: „Ich werde abbrechen! Ich überlege allerdings, ob ich sofort heimfahren oder die 60 Kilometer noch vollmachen soll!?“

Ein weiteres Scharmützel im Rahmen des inneren Rückzugsgefechts. 60 km läse sich in meiner Statistik „ansprechender“ als 51,xx, die mir der Monitor bereits zubilligt. Ansprechender für wen? - Außer meiner Frau und ein paar Lauffreunden, wird sich kein Mensch für mein Dettenhausener Abenteuer interessieren. Letztlich geht es mir einzig um mich selbst! Nach lange schwelendem, innerem Krieg wünsche ich mir Frieden. Besiegelt durch einen Vertrag, den mein ehrgeiziges Selbst und der „Lordsiegelbewahrer“ zwar nur mit Murren unterzeichnen werden, weil er dem Eingeständnis einer Niederlage gleichkommt. Aber sie werden akzeptieren. Frieden im Geiste auf der Basis achtbarer Konditionen, der die Heimfahrt und das Morgen übersteht. Konditionen, die mein läuferisches Selbstverständnis und den Nimbus bisheriger „Unbesiegbarkeit“ weitgehend unangetastet lassen. Einzig aus diesem Motiv heraus erwäge ich weitere sechs Runden Selbstquälerei bis „60+“. Und ich spreche diese Absicht aus, weil ich hören will, was Volker höchstwahrscheinlich sagen wird: „Mach die 60 noch voll! Sonst ärgerst du dich schon auf dem Heimweg, dass du es unterlassen hast!“ - Bingo!

Bis fast zum Waldrand hin marschiere ich noch an Volkers Seite, dann ertrage ich das Gehen nicht mehr und verabschiede mich. Auch jetzt, da die Würfel gefallen sind, gilt mein „Gesetzbuch“, das Gehschritte nur ausnahmsweise erlaubt. Sechs weitere Runden muss ich mir abringen. Sechsmal noch zum Tisch, sechsmal trinken. Köstliches, noch immer kaltes Weizenbier. Kein Gel mehr. Warum Gel an eine Sache verschwenden, die schon verloren ist? - Trinken, lostraben, um den Sportplatz, vorm Monitor wieder eine kurze Infopause. Schon die zweite der im „Friedensvertrag“ als „Kontributionszahlung“ festgelegten Zusatzrunden fällt mir unerwartet leicht. Ein dauerhaftes Gefühl, während der weiteren Umläufe, das meinen Entschluss - wie könnte es anders sein - mehrfach ins Wanken bringt. Vielleicht doch weiterkämpfen und auf Besserung am Abend und in kühler Nacht hoffen? - Immerhin weiß ich, dass ich genügend Leidensfähigkeit und Willenskraft besitze, um so etwas durchzuziehen …

Dass ich es dann doch lasse, hat wahrscheinlich mehrere Gründe. Einen Entschluss setze ich für gewöhnlich wortgetreu um. Erstens. Und hat nicht - zweitens - mein Körper über mehrere Stunden absolut unmissverständlich erklärt, was er braucht? - Außerdem darf ich das derzeit „bessere Laufgefühl“ nicht überbewerten. Schließlich empfinde ich nur „minimale“ Erleichterung, der eine lange Pause vorausging; insgesamt 30 Minuten am Tisch und vorm Monitor. Es bleibt beim Sieg der Vernunft über den Starrsinn. Ein Sieg, den ich als solchen begreife, jedoch als Niederlage empfinde.

Die letzte Runde. Ich fühle kein Bedauern, nur Erleichterung. Trabe sie zu Ende, überzeuge mich am Monitor, dass mein „Ziel“ erreicht ist: 61,198 Kilometer. Ich wende mich dem Tisch der Offiziellen zu, will mich abmelden. „Nicht nötig“ gibt man mir zu verstehen. Also verlasse ich die Laufstrecke und gehe - durch den Flaschenhals abkürzend - die paar Schritte zu meinem Tisch. Demonstrativ löse ich das Startnummernband von den Hüften. Sichtbar für jeden, dass hier nicht „betrogen“, sondern „beendet“ wird. Ich räume meine Siebensachen zusammen, trage sie zum Auto. Auch den Stuhl, dessen unrühmliche Rolle im nun vollendeten Drama mir dabei erstmals in den Sinn kommt. Warum habe ich den Sch … stuhl mitgebracht? - Wie wäre die „Sache“ ausgegangen - pardon: verlaufen -, wenn ich mich nicht hätte hinsetzen können?

 

Fazit zum Wettkampfverlauf

Über die eigentlichen, physischen Ursachen für meine „unterirdisch“ schlechte Tagesform beim 24-Stundenlauf in Dettenhausen kann ich nur spekulieren. Ich weiß ein paar Mosaiksteine zu legen - wie etwa die hohen Temperaturen oder Restermüdung -, sie ergeben jedoch kein klares Bild. Da war „etwas“ ganz gewaltig nicht in Ordnung - nicht wie gewohnt und erwartbar! -, wofür es - wie so oft - keine Erklärung gibt.

Dass ich mich dazu durchringen konnte, den Wettkampf vor dem Erreichen des Tageszieles zu beenden, lag vor allem daran, dass dieses Ziel nicht strikt formuliert war. Mal dachte ich an „100+“, vielfach an 12 Stunden oder 120 bis 140 Kilometer und - als wäre es ein Leichtes - auch daran die 24 Stunden komplett auszunutzen. Um Leidensfähigkeit und Willenskraft über viele Stunden abrufen zu können, muss ich stets das Ziel vor Augen haben. Ziel erreichen oder Scheitern - vor diese Wahl gestellt, werde ich immer „Ziel erreichen“ wählen und nicht aufgeben. Wenn „vorzeitig aufhören“ nicht auch das Scheitern impliziert, bringe ich die Motivation zu leiden nicht auf. Nicht übermäßig lange jedenfalls. Aus diesem Zusammenhang erwuchs die Entscheidung. Andere Faktoren unterstützten mich dabei, hätten letztlich jedoch nicht zum vorzeitigen Aussteigen führen können.

Nicht die Tatsache der Lustlosigkeit, auch nicht die Aussicht das Leiden beim Thüringen Ultra, zwei Wochen zuvor, wiederholen zu müssen. Der Stuhl hätte mich verführen, letztlich aber nicht an sich binden können. Dass ich meiner physischen Gesundheit damit Schaden zufüge - mehr oder weniger, wahrscheinlich: weniger - hätte mich gleichfalls nicht davon abhalten können das Ziel zu erreichen. Die Erkenntnis wie wichtig ein eindeutig formuliertes Ziel für erfolgreiches Laufen ist, war mir keineswegs neu. „Von der Macht der Ziele“ lautet der Titel eines Essays, das ich zum Thema verfasste und vor Jahren online stellte. Nun hat mir genau diese „Macht“ eine Niederlage beigebracht.

 

Fazit zur Veranstaltung

Der 24-Stundenlauf in Dettenhausen ist - auch wenn das widersinnig klingt - im besten Sinne eine Breitensportveranstaltung. Jeder kann jederzeit ein- und auch wieder aussteigen. Kinder und Jugendliche sind ebenso willkommen wie Staffeln, die über besagte 24 Stunden das „Staffelholz“ in Bewegung halten. Wider Erwarten ergaben sich aus dem Sammelsurium unterschiedlichster Laufabsichten, von ein paar Kilometern als Einzelläufer bis hin zur schnellen Staffel, keine (erwähnenswerten) gegenseitigen Störungen.

Ausdrücklich davon ausnehmen möchte ich allerdings die Nordic Walker. Gehende Menschen mit „Spießen“, deren Handhabung viele nicht beherrschen und mangels Aufmerksamkeit auch mal gefährlich in den Laufweg halten, gehören nicht auf eine Laufstrecke!

Der Kurs in Dettenhausen (eine Meile lang) gehört sicher nicht zu den „reizvollen“ Stundenlaufstrecken, wie sie mir bereits mehrfach unterkamen. Er bietet jedoch genug Abwechslung, um optische Langeweile in Schach zu halten. Mein Höhenmesser (Kombi aus Barometer und GPS) attestierte jeder der 37 Runden 10 Meter Höhenunterschied. Abwärts auf einem Geläuf aus Erde und Gras, aufwärts jeweils auf Asphalt. Um 100 Meilen zu laufen - kein außergewöhnliches Ergebnis in 24 Stunden - muss man in Dettenhausen beispielsweise 1.000 Höhenmeter überwinden. Die Steigung der Strecke limitiert folglich die mögliche Leistung.

Strecke und Abläufe waren bestens vorbereitet, die Helfer sehr zuvorkommend und superfreundlich. Das Ganze dann auch noch „gratis“ gereicht zu bekommen, ließ mich vordergründig an der sprichwörtlichen „Sparsamkeit der (Dettenhausener) Schwaben“ zweifeln. Doch Schwaben sind listige Gesellen: Da außer Trinkwasser keine Verpflegung bereitgestellt wurde (was total in Ordnung geht!), fielen nur überschaubare Kosten an. Und die dürften durch Hinweis auf erwünschte und sicher reichlich geflossene Spenden mehr als wettgemacht worden sein.

Fazit: Durchaus wieder, wenn möglich und nötig!

 

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