Von der Macht der Ziele

Warum erringt der eine Athlet einen Platz auf dem Treppchen, der andere, ähnlich leistungsfähige dagegen nicht? Hat der Sieger mehr, intensiver, findiger, letztlich effizienter trainiert und sich auf diese Weise einen körperlichen Vorteil gegenüber der Konkurrenz gesichert? Wird er vielleicht besser, massiver von Sponsoren, Trainern, seiner medizinischen Abteilung, kurz: dem heute unabdingbaren Stab von Helfern im Spitzensport, unterstützt? Oder entschied die Tagesform? jene nicht messbare Größe, zu deren unbestrittenem Einfluss Aktive und Trainer immer dann Zuflucht suchen, wenn unerklärliche Niederlagen die zuvor hohen Erwartungen enttäuschen. Fest steht: Für den ganz großen Erfolg muss alles passen! Keiner stößt in die Spitze vor und hält sich dort, wenn Trainingsinhalte, Unterstützung und Tagesform nicht stimmen. Aber das ist nicht alles. Für Läufer gilt:

           Gewonnen wird nicht mit den Beinen, gewonnen wird mit dem Kopf!

Ein Sieger muss daran glauben, dass er siegen kann und siegen wird. Und er muss sich am Tag X auf seine Fähigkeiten konzentrieren können, wenn ringsum fiebrige Erwartung alle in ihren Bann schlägt. Sieger haben ihren Triumph in Gedanken auch schon hundertmal erlebt, bevor sie ihn tatsächlich realisieren. Am Anfang steht das Ziel, schneller zu laufen, höher zu springen oder mehr Punkte zu erringen als jeder andere Wettbewerber. Und während jeder Trainingseinheit, vor ihrem geistigen Auge, sehen sich die späteren Gewinner in Front, als Erster im Ziel, ganz oben auf dem Podest.

Kann man aus den Höhen des Spitzensports einen Bogen in die Niederungen breitensportlichen (Wett-) Eiferns schlagen und auch dort Erfolge mit mentalen Befindlichkeiten begründen? Man kann nicht nur, man muss! Dabei geht es nicht um Raffinessen. So braucht es - um Beispiele zu bemühen - weder autogenes Training, noch teure Motivationsseminare, um mit Freude auf ansprechendem Ausdauerniveau zu laufen. Allerdings existiert ein entscheidender mentaler Faktor, von dessen Kraft viele Aktive zu wenig profitieren, weil sie seinen Einfluss nicht kennen oder unterschätzen. Sehnsucht, Traum oder Wunsch nennen das viele, bevor sie es mit Zahlen und Zeiten in Worte fassen. Geschieht das, schlägt sich der wolkige Wunsch als konkretes Ziel nieder.

Läuferische Ziele beschreiben eine Strecke und nennen eine Zeit, um diese Distanz zu überwinden. Darüber hinaus sind sie - und das unterscheidet sie wesentlich von Träumen oder Sehnsüchten - in einem absehbaren, exakt festgelegten Zeitraum tatsächlich erreichbar. Das soll nicht heißen Läufer bräuchten keine Träume. Wer anfängt zu laufen, hat vielleicht den Traum eines ferneren Tages auch einmal die aus seiner Sicht unglaubliche Distanz eines Marathons zu schaffen. Ein solcher Traum vermag manche anzuziehen, wie Motten das Licht. Sie werden jedoch den allerersten von Millionen nötiger (Lauf-) Schritte in Richtung Traum nicht setzen, wenn sie nicht wissen wie. Was sie brauchen ist eine Trainingsanweisung, einen Trainingsplan. Doch ein Trainingsplan setzt das exakt beschriebene Ziel voraus: Wie weit, in welcher Zeit und zu welchem Datum? Wie soll ich trainieren, Ausdauer entwickeln und verbessern, wenn ich nicht weiß, was ich wann erreichen will?

Höre ich ich Widerspruch? Etwa so: Aber ich kann doch einfach loslaufen! - Kannst du das wirklich? Oder besser: Wirst du es tatsächlich tun? Steht nicht am Anfang jedes Erfolges ein Motiv, ein anderes Wort für Ziel? Mich schickte dereinst ein Internist auf die Piste, der mir als Fußballer und nach einem Belastungs-EKG gute Kraft- aber miserable Langzeitausdauer bescheinigte. Nach seiner ärztlichen Überzeugung hatte mein Magenproblem, das mich in seine Praxis trieb, auch mit dieser Unausgewogenheit meiner konditionellen Fähigkeiten zu tun. Also begann ich zu laufen. Mein Ziel war klar, wenngleich nicht exakt beschrieben und ich habe auch nie in der Form "mein Ziel ist ..." daran gedacht. Immerhin war mir klar: Etwa zwei-, dreimal die Woche würde ich etwa eine halbe Stunde laufen müssen, um eine verträgliche Langzeitausdauer für meine Zwecke zu gewährleisten. Mein Ziel war also eine bestimmte "Menge" Langzeitausdauer als Grundlage fürs Fußballtraining.

Erfolgversprechender sind konkret formulierte Ziele. Zunächst bilden sie die Grundlage für einen Trainingsplan. Nur wenn feststeht zu welchem Zeitpunkt, welche Strecke in welcher Zeit absolviert werden soll, kann man Trainingseinheiten fixieren, deren Umsetzung zum Ziel führt. Ziel und Trainingsplan entfalten danach eine Antriebskraft, die nicht unterschätzt werden sollte. Wer anfänglich kaum ein paar Minuten laufend zu Wege bringt, wird sein Ziel immer wieder in Gedanken vorweg nehmen, wird sich laufen sehen, länger und immer weiter ... Ziele treiben Menschen auf allen Feldern menschlichen Wirkens an. Warum sollte das im Laufsport anders sein? Und dabei ist vollkommen gleichgültig auf welchem läuferischen Niveau sich jemand bewegt. Fehlt ein konkretes Ziel, werden Möglichkeiten und Chancen verschenkt. Auch wenn der Laufsport für dich pure Nebensache sein sollte: Länger und weiter zu laufen bedeutet mehr sehen, hören, riechen, spüren - schlicht einen höheren Erlebniswert. Mehr Schönes erleben bedeutet auch ein Quantum mehr Lebensqualität ...

Ich formulierte diese Gedanken erstmals im Jahresrückblick 2013. Ein Laufjahr war vorüber, in dem es weder Ines noch mir an Lauferlebnissen mangelte. Zum Beispiel waren wir zum zweiten Male innerhalb weniger Monate auf Marathondistanz Seite an Seite unterwegs gewesen. Welches Paar kann sich schon solcher Zweisamkeit rühmen? Und was mich angeht, so durfte ich wieder 18 Marathons oder Ultras meiner Liste anfügen. Es sprach keine Undankbarkeit aus den Worten, wenn ich dennoch feststellte: Wir wurden unter Wert geschlagen, das Jahr 2013 hätte uns läuferisch mehr Zufriedenheit bringen können ... Diese Einschränkung hatte mit falsch gesetzten oder gar fehlenden Zielen zu tun!

Ines und das falsch gesetzte Ziel ...

Wer häufiger unser läuferisches Wohl und Wehe verfolgte, wird von der New York Marathon-Pleite des Jahres 2012 wissen. Desgleichen, dass und wie wir uns schlussendlich doch noch ein Happy End in Santa Barbara, Kalifornien, bescherten. Kaum wieder zurück aus USA, erfuhr ich von einem großzügigen Angebot: Hundert "New York Marathon Geschädigte" erhielten einen Freistart für den Münster Marathon 2013. Da der schon lange auf meiner Agenda stand und man allenthalben nur Schwärmerisches von der Veranstaltung zu hören bekam, meldete ich Ines und mich kurzerhand an. Was Ines betrifft, verknüpfte ich mit dieser Anmeldung kein Fixum. Wohl aber die Hoffnung, sie werde sich im Laufe des Jahres an diesem Ziel orientieren, was sie dann "zwangs-läufig" auch tat. Denn, wie weiter oben bereits postuliert, Ziele motivieren nicht nur, sie üben auch einen gewissen Zwang auf einen aus. Im heißen Sommer 2013 quälte sich Ines durch die anspruchsvollen Einheiten ihres Trainingsplans. Nie zuvor hörte ich meine mental ziemlich belastbare Frau so oft klagen, meckern oder stöhnen. Ich nahm die Dauerhitze als Quelle ihres Unmuts. Eine Annahme, die ein paar Sätze aus Ines' Mund nach dem Finish im verregneten Münster als fatalen Irrtum demaskierten. Das Ziel war falsch gesetzt! Im Gegensatz zu mir, bedeutete ihr Münster gar nichts. Sie war damals, 2006 vor ihrem Marathondebüt, von der Aussicht begeistert in Venedig zu laufen und auch New York spornte sie mächtig an. Ihrem Empfinden nach würde sich die läuferische Schinderei eines Marathontrainings auch für Hamburg oder Dresden lohnen, um zwei ihrer innerdeutschen (Lauf-) Traumziele zu nennen. Aber Münster? Wo und was bitte schön ist Münster? Sie gestand mir im Nachhinein, dass sie gar keine rechte Lust hatte in Münster Marathon zu laufen. Sie hat es gepackt und hatte wohl auch Spaß dabei. Das steht außer Frage. Aber ein Marathon an verlockendem Ort oder ein Halbmarathon in "Kleinkleckersdorf" hätte die ganze Mühe mehr gelohnt und - entscheidend - das Training wäre ihr wesentlich leichter gefallen.

Von Udos Zielverlusten ...

2013 sollte erneut ein Hunderter meine Ultralaufsaison krönen. Dafür war der "Mozart 100" in und um Salzburg als "Spielwiese" ausersehen. In die Planung von Training und Aufbauwettkämpfen vor einem solch anspruchsvollen Ziel muss man eine Menge Zeit investieren. Weder hat man Lust die aufgewendete Mühe einfach so "in die Tonne zu treten", noch dieselbe Arbeit ein weiteres Mal zu erledigen. Genau das wäre aber notwendig gewesen, als mir ein Freund von "Mozart 100" abriet: Er selbst und Laufkameraden seines Vereins hatten sich auf der miserabel markierten Strecke anlässlich der Austragung 2012 verlaufen. Dergleichen stört mich weniger, wenn es sich um einen Aufbauwettkampf handelt. Aber beim Saisonhöhepunkt verlaufen und monatelange Aufbauarbeit in den Sand setzen? Also kein "Mozart 100". Aber auch kein Bock auf Neuplanung. Was dann? Ich legte mich alternativ, zum fast identischen Zeitpunkt, auf einen 12 Stundenlauf fest, kam also ohne Neuplanung zurecht. Dummerweise stand dieser 12 Stundenlauf jedoch wochenlang auf der Kippe. In dieser Zeit waren die Veranstalter auf der Suche nach einem Sponsor ...

Unterdessen spulte ich mein Training und die ersten Aufbauwettkämpfe ab. Alles stand im Zeichen des elend langen, elend schneereichen, elend eisigen Winters. Noch Anfang April, beim Zürich Marathon, lieferte der Winter letzte Nachhutgefechte und verdarb mir die Lauflaune. Es lief überhaupt nicht gut. Zu jenem Zeitpunkt führte ich dafür einzig die schlechten Trainingsbedingungen ins Feld. Nachdem die Welt endlich wieder schneefrei und aufgetaut war, meine Form jedoch weiterhin schwächelte, fahndete ich nach ergänzenden Erklärungen. Inzwischen war ich sicher, dass ich meine Ausdauer im Vorjahr auf ein zu tiefes Niveau hatte sinken lassen (3 Wochen USA-Urlaub und Umzug als Ursachen). Auf diese ungenügende Ausdauergrundlage setzte ich zu Beginn des Jahres 2013 einen zu fordernden Marathontrainingsplan. Wochenlang zog ich einen Rattenschwanz fehlender Regeneration hinter mir her - mit den entsprechenden Folgen: Ständig müde, verletzungs- und krankheitsanfällig.

Parallel zu meiner Formschwäche ging mir dann neuerlich das Ziel verloren: Der 12 Stundenlauf wurde endgültig abgesagt. Für eine Um- bzw. Neuplanung war es jetzt zu spät. Alternative Hunderter oder ähnlich anspruchsvolle Veranstaltungen standen termingerecht nicht zur Verfügung. Möglich waren nur noch ein 24 Stundenlauf oder 80 km von Karlsruhe aus durch den Schwarzwald. Festlegen wollte ich mich erst kurz vorher, im Grunde reizte mich jedoch keine der beiden Aufgaben. Der Lauf im Schwarzwald nicht, weil ich die Veranstaltung schon kannte. Der 24 Stundenlauf nicht, weil ich mich einer so schweren (weiten) Aufgabe nicht gewachsen fühlte.

Das Training ging weiter, Aufbauwettkampf folgte auf Aufbauwettkampf. Im Grunde meines Läuferherzens war ich jedoch ständig unzufrieden mit der Ausdauerentwicklung. Ein Meilenstein in dieser Hinsicht war mein missglückter Auftritt beim Supermarathon am Rennsteig. Ich unterstellte mir eine Leistungsfähigkeit, die ich auch nicht annähernd an jenem Tag bedienen konnte und quälte mich über die "letzten" 50 km ins Ziel. Zudem musste ich mir eingestehen, dass mir das Training noch in keinem meiner Wettkampfjahre zuvor so schwer gefallen war. Aber das - so meine Überlegung - ist wohl zwangsläufig so, wenn sich der Fortschritt nicht wie erhofft (und auch gewohnt) einstellt.

Ein paar Wochen vor dem Tag X hatte ich dann ein Einsehen (mit mir) und machte einen fetten Strich durch den Ultrasaisonhöhepunkt. Stattdessen hielt ich mich mit ein paar Marathons schadlos ...

Monate vergingen, in denen ich meiner Sammlung weitere Marathons hinzufügte. Ziemlich gegen Ende der Laufsaison, den Zeitpunkt weiß ich nicht mehr, stand mir dann die Erkenntnis so plötzlich und klar vor Augen, dass es mich fast umgehauen hätte: Alle für meine Formschwäche, für das nicht wie üblich anschlagende Training bezeichneten Gründe waren sicher mitverantwortlich. Doch eine der wichtigsten Ursachen hatte ich übersehen: Nur anfänglich, in den ersten Wochen des Jahres, hatte ich ein fixes Ziel, dann nur noch ein "etwaiges", "verschwommenes", "undeutliches". Man kann sich nicht wirklich erfolgreich schinden, ohne zu wissen wofür! Vor meinem ersten Marathon 2002 hatte ich das Finish wohl hundert Mal in Gedanken vorweg erlebt. Auch vor meinem ersten Hunderter 2007 in Biel war das so und vor vielen anderen anspruchsvollen Zielen. 2013 sah ich mich nicht einmal vorweg irgendeine Ziellinie überqueren. Ich hätte ja auch nicht gewusst, welche das sein sollte.

Dass sowohl Ines als auch ich selbst 2013 unter misslungenen Zielvorgaben zu leiden hatten, ist Zufall. Nichtsdestoweniger wird deutlich, wie wichtig es für den Lauferfolg ist, ein Ziel festzulegen und dieses Ziel den eigenen Neigungen entsprechend richtig zu formulieren.