Samstag, 11. August 2018

Ein ganz simpler Trick  -  100 Meilen Berlin, der Mauerweglauf 2018

Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, Kilometer 0

Die letzten Minuten verrinnen. Läufer und viele Begleiter haben sich auf der Tartanbahn hinterm Starttransparent versammelt. Von der fiebrigen Aufregung, die mir aus manchen Gesichtern entgegen blickt, verspüre ich nicht mal einen Anflug. Um diese Uhrzeit, kurz vor sechs Uhr morgens, ein Ding der Unmöglichkeit. 3:45 Uhr aufgestanden, 4 Uhr gefrühstückt, anschließend „gerüstet und gegürtet“, zum Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark gefahren und entlang dieser vorbedacht fixen Prozesskette stufenlos weiter erwacht. Grässlich. Ein „Frühstarter“ war ich zeitlebens nicht. Seit ein paar Jahren fällt es mir jedoch von Mal zu Mal schwerer, nach vorzeitig abgebrochenem Nachtschlaf Tatkraft zu entwickeln.

Entsprechend surreal wirkt die Vorstartszene auf mich. Mein Freund Mike redet auf Peter ein, dessen Name ich erst später erfahre. Kenne ihn zwar, weiß aber wie so oft nicht, wo und wann ich ihm in der Manege des Laufzirkus’ schon mal begegnete. Die Zwillinge Frank und Rüdiger verstopfen mir unbekannte Ohren mit einem Schwall fränkischer Sätze. Obwohl noch etliche andere Laufbekannte zugegen sind, bleiben mir Gespräche erspart. Dafür bin ich meinem Laufschicksal dankbar.

Ich fühle mich nicht gut. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Minuten vorm Aufbruch zu kolossalen läuferischen Herausforderungen fühlte ich mich noch immer schwach, klein und allen Mitstreitern unterlegen. Und in keinem Fall waren rationale Argumente geeignet diesem Umstand abzuhelfen. Meine Frau Ines, von der ich mich in diesen Sekunden verabschiede, ist bei mir. Das hilft. Außerdem Mike, der sich jetzt neben mich stellt. Das hilft auch. Vermutlich werden wir ein paar Kilometer gemeinsam laufen, bis uns Rennverlauf und/oder Ausdauerunterschiede trennen.

Am Ende des Feldes verschlafen wir den Beginn, starten unsere Uhren erst als die Führenden schon der Stadionkurve zustreben. Endlich in Bewegung bremst uns der Pulk von 450 hoffnungsvoll gestarteten Ultras eine Weile aus. Geduldig hinterher tippelnd harren wir der Transformation vom Schwarm zur Schlange. Das Dreiviertelrund auf der Tartanbahn, an dessen Ende ich Ines ein letztes Mal zuwinke, reicht dafür nicht.

Der Jahn-Sportpark liegt hinter, das Trottoir der Bernauer Straße, im Ortsteil Prenzlauer Berg, vor uns. Erzeugt die „Bernauer Straße“ in deinem Kopf ein geschichtliches Echo? - Menschen auf der Flucht, aus Fenstern springend - dramatische Bilder gingen von hier aus um die Welt; damals, kurz nach dem 13. August 1961, dem Tag an dem der Mauerbau begann. Einer Mauer zwischen Ost und West, zwischen sozialistischer Diktatur und freiheitlicher Grundordnung, die zwischen Freundschaften, Ehen und Familien ein nahezu unüberwindliches, todbringendes Bollwerk zementierte. Die 100 Meilen von Berlin, den Mauerweglauf, hätte es ohne dieses Verbrechen am Menschsein nie gegeben. Denn genau das ist heute unsere Aufgabe: Einmal rund um das ehemalige Westberlin laufen, dabei häufig einem Radweg folgen, der auf dem einstigen Todesstreifen angelegt wurde … Was wir - Mike, ich und etliche andere Ultras mit Geschichtsbewusstsein - dabei im Sinn haben, ist nicht einfach nur ein überlanger Ultralauf. Es ist zugleich ein Akt des Gedenkens und eine Feier der Wiedervereinigung in Freiheit.

Gegenwärtig bewegt mich allerdings weniger die jüngere deutsche Geschichte als die Notwendigkeit im Wettkampf anzukommen. Mich einzulaufen, was bei mäßigem Tempo und von mehreren roten Fußgängerampeln unterbrochen noch eine Weile dauern wird. Die Ampeln stellten sich mir auch schon 2014 in den Weg. Damals bildete der Mauerweglauf meinen Saisonhöhepunkt. Ich war bis in die letzte Haarspitze motiviert, ungemein ehrgeizig und voll austrainiert. Entsprechend ungeduldig und genervt scharrte ich bei Rotlicht mit den Hufen. Natürlich hoffe ich auch heute auf überwiegend Grünphasen, reagiere jedoch auf die unvermeidlichen Zwangspausen mit schlichtem Schulterzucken.

Das liegt an den kleineren Brötchen, die ich heute backen will. Im Grunde geht es nur darum anzukommen und möglichst keinen Meter der 161,2 Kilometer langen Route zu gehen. Ein paar Steigungen werden mich daran hindern wollen, vor allem auf der zweiten Streckenhälfte, doch auch die sollten im Tippeltrab zu nehmen sein. Hoffe ich zuversichtlich, wenngleich gestern, anlässlich des Briefings, von insgesamt 1.000 Höhenmetern die Rede war. „Flach ist der Kurs nicht!“ - So fasste ich mein Erleben vor vier Jahren zusammen. Wie sich die wenigen, im Gedächtnis haften gebliebenen Anstiege allerdings zu einem vertikalen Kilometer summieren sollen, bleibt einstweilen rätselhaft.

Nach neuerlichem Ampelstopp setzt sich die gestaute Meute in Bewegung. Mit Zuruf oder Gesten warnen Vorderleute vor gefährlichen Hindernissen. Eine hilfreiche Praxis, der ich mich anschließe, bis der Schwarm sich auflöst. Stolperfallen gibt es auf diesem Abschnitt zu Hauf. Meist handelt es sich um Poller oder Pfosten, deren Sinn sich mir nicht wirklich erschließen will. Irgendwann läuft Matthias zu Mike und mir auf, gibt sich mit morgendlichem Gruß zu erkennen. Verstärkung fürs Wir-Gefühl. „Wir“, die Spartathlon-Enthusiasten Ursula, Heike, Frank, Rüdiger, Matthias, Mike und ich, alle heute auf dem Mauerweg unterwegs. Fürs Wir-Gefühl spielt es eine untergeordnete Rolle, ob der Versuch von Athen nach Sparta zu laufen von Erfolg gekrönt war. Matthias hatte in zwei Anläufen Pech, wird es in diesem Jahr erneut versuchen …

Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße. Die Ampel zeigt rot. Alle warten. Ich könnte rüber schauen, versuchen einen Blick auf den einzigen Ort in Berlin zu erhaschen, wo der Grenzstreifen beinahe vollständig erhalten ist. Das „beinahe“ macht den todbringenden Unterschied: Zu sehen sind Vorder- und Hinterlandmauer, Postenweg und diverse andere Hindernisse. Grenzsoldaten mit Schusswaffen, freilaufende Hunde, Selbstschussanlagen, Elektrozäune - habe ich eine der Perfidien vergessen? - wurden selbstverständlich zur Ruhe gesetzt oder beseitigt.

Kilometer sammeln unter mehrfachem Richtungswechsel: Wer dem Mauerweg erstmalig folgt, hat es schwer ehedem Ost- oder Westseitiges zu unterscheiden. Brachen und Mauerstreifen wurden inzwischen bebaut. Überdies kann vormals Ostberliner Boden abschnittsweise auch mal westwärts liegen und umgekehrt. Nach kurzer Suche streift mein Blick einen als Denkmal verbliebenen Wachturm, den ich vor vier Jahren übersah. Vor den ihn überragenden, adretten Neubauten ist er in seiner grauen Abscheulichkeit eigentlich kaum zu verfehlen. Vermutlich richteten sich meine Augen seinerzeit bereits auf den nahen Kanal*, dessen Ufer wir folgen. Wie der Wasserlauf heißt, habe ich natürlich vergessen, obschon ich mir damals nachträglich viele Streckendetails vergegenwärtigte. Deshalb kann ich dem neben mir laufenden Freund auch einen Friedhof ankündigen, den wir keine Minute später durch ein schmiedeeisernes Portal betreten. Die Bezeichnung des Gräberfeldes entfiel mir ebenso, wie die Namen hier bestatteter, mehrheitlich militärischer Berühmtheiten. Ich rede von „Nazigrößen“, was mir im selben Moment, da ich es ausspreche, unsinnig vorkommt**. Frei zugängliche Grabstätten führender Nationalsozialisten provozierten Wallfahrten ewig gestriger Dumpfbacken, die in jüngerer Vergangenheit wieder vermehrt aus ihren Löchern kriechen. Was meiner Erinnerung rasch auf die Sprünge hilft, ist das Grab eines über alle moralischen Untiefen erhabenen Helden des Ersten Weltkrieges. Nicht mal der millionenfache Mord im Dritten Reich konnte seinen, in großen Lettern auf dem Grabstein prangenden Namen beschädigen: RICHTHOFEN.

*) Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal (Hohenzollernkanal)

**) Auf dem Invalidenfriedhof wurden tatsächlich auch hochrangige Nationalsozialisten beigesetzt. Einer der bekanntesten war Reinhard Heydrich. Seine sterblichen Reste wurden ebenso wenig wie diejenigen anderer Nazigrößen umgebettet. Man beseitigte lediglich sichtbare Hinweise, um rechtsradikalen Wallfahrten den Boden zu entziehen.

Friedhof, dann Uferpromenade, schließlich ein kurzer Aufschwung hoch zur Straße und vor die nächste Ampel. Kenne ich, erinnere mich, die hielt mich schon damals auf. Neu ist der Streckenposten, den gab’s vor vier Jahren nicht. Ein Bekannter von Mike, entsprechend herzlich fällt die Begrüßung aus. Zufall? - Wohl eher nicht. Mike kennt in der (Ultra-) Laufszene bald jede Nase, ist Berliner, überdies Mitglied der LG Mauerweg, dem Verein, der die 100 Meilen ausrichtet. Gefühlt eine Ewigkeit später ersetzt der freundlich grüne endlich den bösen roten Ampelmann. Also weiter, dem Kanal folgend. Der erweitert sich quasi zu Füßen des in seiner gläsernen Verkleidung futuristisch anmutenden Hauptbahnhofs zum T-förmigen Hafenbecken. Während wir unterm Viadukt der Schienenstränge hindurch joggen, gibt Mike eine Berliner Bau-Anekdote zum Besten. Kurzform: Gläserne Überdachung der Bahnsteige wurde auf der Ostseite des Hauptbahnhofs verkürzt. Weil die Zeit vor der Inbetriebnahme knapp wurde, werden Ines und ich bei unserer Stadtrundfahrt hören. Weil’s an Geld fehlte, erzählt Mike. Vielleicht beides? - Konsequenz: Die Erste-Klasse-Passagiere der ICE-Züge stehen nun bei jedem Wetter im Freien. Wahrscheinlich besteht da kein Zusammenhang, doch: Diente der Bau des Hauptbahnhofs als Vorübung für die peinlichere Pleite des neuen Flughafens? Dafür sprechen auch tonnenschwere Eisenträger, die auf der gegenüberliegenden Bahnhofsseite anlässlich eines Sturms aus der Fassade fielen und wie durch ein Wunder niemanden verletzten …

Das Hafenbecken mündet in den Spreebogen, an dessen Ufer wir unser fußläufiges Sightseeing fortsetzen - übrigens auf der ersten von mehreren Streckenänderungen. Mein anfängliches Bedauern diesmal nicht die „Schokoladenseiten“ von Kanzleramt und Reichstag beäugen zu können, verwandelt sich rasch in Zustimmung. Aus der Perspektive des Spreeufers betrachtet kenne ich das Regierungsviertel nicht. Bin sogar - vermutlich eine der Intentionen der Architekten - durchaus beeindruckt von dem, was diese Republik in der Nachmauerzeit aus dem Boden stampfte. Aufkeimender „Nationalstolz“ erhält jedoch in Höhe Rückfront des Reichstages den nötigen Dämpfer: Sieben weiß auf dunklem Hintergrund gemalte Kreuze, am Ufer gegenüber, knapp oberhalb der Wasserlinie, legen trauriges Zeugnis von der wahren Natur des „deutschen Wesens“ ab. Sieben Menschen ließen an dieser Stelle ihr Leben. Weil sie (wo-) anders leben wollten und den Versuch unternahmen dem Knast „DDR“ zu entkommen.

Meiner für diese frühe Stunde aberwitzig guten Laune vermag dieser Dämpfer allerdings nichts anzuhaben. Eigentlich sollte ich noch ein bisschen verschlafen, emotional allenfalls gerade Startlöcher grabend unterwegs sein. Stattdessen knipse ich frohgemut in der (Regierungs-) Gegend herum, lache sogar über Scherze, die zwischen Mike und Ernst hin und her fliegen. Wie oft ist mir Ernst, das stets mit grünem Strohhut laufende Original aus Österreich, in diesem Jahr schon begegnet? - Hallenmarathon Senftenberg, Marathon Bad Füssing, 12 Stunden von Langenzersdorf, Marathon Salzburg, unlängst beim Sechsstundenlauf in Schwindegg. Was vergessen? - Inzwischen begrüßen wir uns wie langjährige Freunde. Ohnehin kommt es mir vor, als hätten sich die Laufwege der Hälfte meiner Mitläufer schon mal irgendwo mit meinen gekreuzt. Eine Übertreibung natürlich, in ihrem Kern gibt sie allerdings den eigentlichen Grund meines Hierseins wieder. Erklärt, weshalb ich mir einen Hundertmeiler mit notgedrungen spärlicher Vorbereitung zumute (Oh, mein Gott!!!): Viele Freunde und Bekannte entschlossen sich zur Teilnahme - wie könnte ich ihrem Aufmarsch tatenlos von daheim aus zusehen?

Mein morgendlicher Höhenflug hat mehrere Treibsätze. Den Freund an meiner Seite muss ich in diesem Zusammenhang an erster Stelle nennen. Verabredet war lediglich gemeinsam aufzubrechen. Ich laufe mein Tempo, Mike vermutlich mit leicht angezogener Handbremse. Es sieht danach aus, als wolle er unseren „Paarlauf“ noch eine ziemliche Weile fortsetzen. Auch die nun unentwegt entlang der Wilhelmstraße präsentierten, städtebaulichen Berühmtheiten befeuern meine gute Laune. Ampelstopps begreife ich (anders als 2014) als Chance, um Aussichten und Fotos einzusammeln. Wir queren die weltberühmte Straße „Unter den Linden“, genießen den Blick zum Brandenburger Tor, passieren das Hotel Adlon und gleich anschließend die festungsähnliche Fassade der englischen Botschaft. Massive, im Boden versenkbare Poller sperren diesen Teil der Straße für den öffentlichen Verkehr. Die Poller und der verloren wirkende, mitten auf dem breiten Straßenabschnitt ’rumstehende Doppelposten der Polizei machen bewusst, wie sehr diese Welt - meine Welt - in den letzten vier Jahren aus dem Ruder gelaufen ist und noch immer läuft …

Weder derlei Gewissheit, noch die nüchtern sachliche Fassade des Stammsitzes der obersten Steuereintreiber (Bundesministerium der Finanzen) drückt auf die Stimmung. Hat sich der damalige Finanzminister ganz bewusst diesen schmucklosen, in meinen Augen zeitlos hässlichen Gebäudekomplex ausgesucht, um Bescheidenheit inmitten abermilliardenschweren Reichtums zu dokumentieren? - Hinterm Ministerium nach links, vorbei an Berliner Goldgruben der anderen Art: Zunächst ein Fesselballon, von dem aus Besucher für ein stolzes Sümmchen den Panoramablick über die Stadt genießen. Ein paar Schritte weiter erfährt man in der „Trabi-World“ alles über den einstigen Stinker auf DDR-Straßen. Nicht mal eine Minute trennt uns jetzt noch von unserem ersten Zwischenziel, dem Verpflegungspunkt am „Checkpoint Charlie“.

VP 1, „Checkpoint Charlie“, Km 8,6, Laufzeit: 1:02:34 h, Platz 191*

*) Platzierung Männer: 191 von 312 gestarteten Läufern

Genau genommen liegt „VP 1“ stückweit vor „Checkpoint Charlie“ am Hinterausgang des so genannten „Asisi-Panoramas“. In Unkenntnis der tatsächlichen Funktion, meint man unwillkürlich sich einem ausrangierten Gasometer zu nähern. Hauptattraktion der Schau im „Panometer“ bildet ein auf der Innenwandung des zylindrischen Kabinetts realisiertes, monumentales Rundbild (15 m hoch, 60 m breit). Mit ihm vermittelt der Künstler Yadegar Asisi ein Gefühl für den Alltag der 1980er Jahre beidseits der Mauer. Auch heute geht die Strecke mitten durch das spärlich beleuchtete „Panometer“. Wie schon vor vier Jahren vermag mich die ultrakurze Visite zu Beginn einer ultralangen Strecke nicht wirklich zu fesseln. Damit dergleichen geschieht, müsste ich Zeit investieren, die ich nicht habe, und mich einlassen, wozu der Wettkämpfer nicht fähig ist. Mehr Begeisterung überkommt mich hinterm Ausgang des Panoramas, denn dort wartet erstmals Ines mit schussbereiter Kamera.

Wasser trinken am Verpflegungspunkt und Ines versorgt mich mit frischen Gelpäckchen. So lange Mike in meiner „Nähe“ bleibt, wird ihn Ines heute „mit-supporten“. Anders als bei seinen bislang vier Mauerwegläufen kann Mikes Frau Natascha heute nur sporadisch unterstützen, das erste Mal bei Kilometer 40, zwischen zwei offiziellen VP. Wenngleich unbefriedigend für die beiden, gibt es uns Gelegenheit Nataschas „Doppel-Support“ in der Nacht des „Olympian Race“ (siehe Laufbericht) mit gleicher Münze zurückzuzahlen.

Mein Abschied fällt kurz aus, ich werde Ines bald wieder sehen. Beim Aufbruch vergessen wir nicht uns an der Station der Zeitmessung zu registrieren. Schon vor vier Jahren habe ich mich über das beim Mauerweglauf verwendete Zeitmesssystem geärgert. Nicht genug damit, dass man den Transponder am Arm (!??) tragen muss, zudem an jenem ohne GPS-Uhr, weil es sonst zu Interferenzen kommen kann. Darüber hinaus hat der Läufer sicherzustellen die Messeinrichtung an jedem der 26 VP in zwei Meter Abstand zu passieren, um den „Kontakt“ auszulösen. Wie blöd ist das denn? - Am freien Arm trage ich eine Handgelenkstasche und an 26 Verpflegungsstellen über zig Stunden an die Zeitmessung denken … Wie ich mich kenne, wird das nicht klappen - aber warten wir’s ab.* Vor vier Jahren fehlten mir auch zwei Stationen und niemand nahm Anstoß …

*) Wider Erwarten übersah ich in diesem Jahr nur die Messstelle an VP 2. Durch Zufall scheine ich nahe genug an der Messeinrichtung vorbeigelaufen zu sein, da auch dort eine Zwischenzeit aufgezeichnet wurde.

Vor 28 Jahren hätte uns auf diesem Weg ein Kugelhagel aus Kalaschnikows verfolgt und niedergestreckt! Eine in den Straßenbelag eingelassene Doppelreihe aus Pflastersteinen markiert den einstigen Mauerverlauf. Heute nicht mehr als die Bezirksgrenze zwischen Berlin Mitte und Kreuzberg. Vielleicht liegt es am steten Fluss der Energie, den die Beine mich fühlen lassen, möglicherweise auch an der Fokussierung auf Lauf und Laufpartner. Jedenfalls hat das Grauen keinen Platz in meinen Gedanken. Sie kreisen um aktuelle Wahrnehmungen. Beispielsweise um das wie „Fort Knox“ gesicherte Gebäude, an dem wir gerade vorbeikommen. Mit messerscharfem Z-Draht bewehrte Zäune und massenhaft Kameras wecken meine Neugier. Hinter der nächsten Gebäudekante wende ich den Blick und lese: „Bundesdruckerei“. Unwillkürlich erscheinen Geldscheine, Briefmarken und Pässe vorm geistigen Auge …

Im verwirrenden Zickzack durch Berlin. Mal auf der Straße, vielfach auf Bürgersteigen, zuweilen auf Fuß- oder Radwegen. Kaum noch unbebaute Brachen. Wäre da nicht die Doppelreihe Pflastersteine zu unseren Füßen, man könnte glatt vergessen, dass die Stadt hier durch eine breite Schneise geteilt war. Gab es hier vor vier Jahren nicht noch mehr Baulücken in den Straßenzügen? - Dann und wann tauschen Mike und ich Eindrücke aus. Noch spüre ich keine ernsthafte Beanspruchung, gebe mich gar dem verwegenen Gedanken hin, mir die Lockerheit dieser ersten anderthalb Stunden über die gesamte Distanz bewahren zu können. Warum nicht ein bisschen träumen? - So wird es nicht kommen, doch was schert mich das in diesen Minuten. Es macht ungemein Freude mit dem Freund an der Seite durch diese aufregende Stadt zu laufen. Alles scheint zu passen. Sogar Petrus reckt seinen Wetterdaumen in die Höhe, hat die seit Wochen vorherrschende Hitze für heute ausgesetzt. Milde, windstille 16°C zum Start. Unter lockerer Bewölkung werden wir im Maximum nicht mehr als 25°C am Nachmittag auszuhalten haben - so jedenfalls verspricht es der Wetterbericht.

Wir überwinden die Spree zum zweiten Mal an diesem Tag, halten fortan unweit ihres Ufers Kurs. Obschon nur einen Steinwurf weit entfernt, kann man auf den nächsten anderthalb Kilometern nur an zwei, drei Stellen einen Blick zum Fluss erhaschen. Zunächst verstellen mehrstöckige Gebäude die Sicht. An denen lässt sich zweifelsfrei der Sanierungsfortschritt in der Stadt festmachen: Vor vier Jahren glotzten mich blinde Fensterhöhlen aus bröckelndem Mauerwerk an, wo sich nun blitzsauber renovierte Fassaden in den Himmel recken. Auch an Glasscherben eingeworfener Scheiben, die auf brüchigem Trottoir zum Ausweichen zwangen, erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Dann der Blickfang, auf den ich mit wachsender Spannung warte. Übrigens steht die Vokabel „Blickfang“ in bewusst doppeldeutigem Kontext: Zu DDR-Zeiten verwehrte das auf dem nächsten Kilometer erhaltene Mauerstück DDR-Bürgern die Sicht auf die Spree. Heute reiht sich hier Bild an Bild zur so genannten East Side Gallery. Kurz nach der Wende schufen mehr als 100 Künstler aus aller Welt eine Serie von Wandbildern, die ihr Empfinden zum Mauerfall widerspiegeln. Bereits die ersten farbenfrohen, völlig unversehrten Darstellungen überraschen mich: Wo sind Schmierereien und Graffiti geblieben, die 2014 viele der Bilder verunstalteten? Offensichtlich hat man der Freiluftgalerie vor nicht allzu langer Zeit eine Auffrischung angedeihen lassen.

VP 2, „East Side Gallery”, Km 13,4 , Laufzeit: 1:33:23 h, Platz 184

Nur zu Anfang gelingt es mir den Freund vor einem der Bilder abzulichten, dann nimmt Mike mir die Kamera aus der Hand und gestaltet das Fotoalbum „Udo vor der East Side Gallery“. Wie ein Derwisch tanzt er um mich herum, lässt mich herankommen, Abstand gewinnen, mit erhobenen Daumen vor einem Lorbeerkranz posieren. Gefällt mir natürlich, auch wenn ich mich ein wenig sorge, die dabei investierte Energie könnte ihm in ein paar Stunden fehlen … Der in einer Mauerlücke errichtete Verpflegungspunkt unterbricht unser „Pas de deux“. Eher vorbeugend als von Durst motiviert schütte ich ein paar Becher Flüssigkeit in meine Kehle, entsorge einen leeren Gelbeutel, verleibe mir den Inhalt eines weiteren ein. Nur eine Minute Aufenthalt, dann setzen wir das Fotoshooting fort. Noch fehlt ein „wichtiges“ Zeitdokument: Udo vorm berühmtesten aller Werke der East Side Gallery, dem Bruderkuss.

Die knutschenden Genossen zurücklassend nähern wir uns dem eigentlichen Wahrzeichen Berlins. Nicht Funk- oder Fernsehturm kommen dafür in Frage, noch Brandenburger Tor oder gar Reichstag. Die aus rotem Backstein erbaute Oberbaumbrücke sonnt sich in dieser Rolle. Daran hegt niemand Zweifel, der Berlin überwiegend aus Spiel- oder Fernsehfilmen kennt. Kein Regisseur verzichtet auf eine meist sekundenkurze Einblendung der zugegeben bildhübschen, von vier Türmchen überragten Spreebrücke. Selbst dann nicht, wenn sich die Handlung zur Gänze an anderen Orten Berlins entwickelt. Du hältst das für übertrieben? - Ist es aber nicht, achte mal drauf …

Der dritten Spreeüberquerung per Oberbaumbrücke steht noch eine rote Ampel im Weg. Wieder sichert ein Streckenposten den Übergang. Der erste mit Sprechfunkgerät, um „Ampelsünder“ sofort zu „verpetzen“. Streckenposten fehlten 2014 und damit das Risiko anlässlich eines Ampelvergehens aus dem Wettkampf verbannt zu werden. Das Reglement liest sich in diesem Punkt unmissverständlich, wie ein im Ziel zweitplatzierter, wegen (mutmaßlich mehrfachen) Überlaufens einer roten Ampel disqualifizierter Franzose feststellen musste. Mike, ich und eine Handvoll andere warten geduldig (und mit gebührendem Respekt vorm Walkie Talkie) auf Grün. Der weibliche Streckenposten belohnt unseren Gehorsam mit huldvollem Lächeln, weist uns „drüben“ angekommen den Weg zur Oberbaumbrücke.

Nun also über die Oberbaumbrücke: Die Arkaden bleiben uns Fußgängern vorbehalten, während jenseits hoher, gemauerter Rundbögen der Autoverkehr pulsiert. Das nicht zu überhörende Rumpeln über unseren Köpfen rührt von einer vorbei ratternden U-Bahn her, die in Berlin bekanntermaßen häufig als Hochbahn verkehrt. Andere Nutzer der Arkaden hinterlassen recht zwiespältige Gefühle. Die einen - mutmaßlich zu 99,9 Prozent männlichen Geschlechts -, weil sie diesen Ort mit einer Toilette verwechselten, was nach jahrelangem Missbrauch nun wirklich nicht zu überriechen ist. Die anderen, weil ich mich einmal mehr frage, warum Menschen im reichen Deutschland auf der Straße leben müssen. Und: Wieso manche (einige, viele?) von ihnen sich mit dem Schicksal fehlenden Obdachs zufrieden geben …

Das Bild von diversen Schuhpaaren, an verknoteten Schnürsenkeln unerreichbar hoch über eisernen Querstangen hängend, nehme ich als letztes von der Oberbaumbrücke mit. Ist das Kunst oder kann das weg? - Noch über Sinn oder Aussage baumelnder Latschen rätselnd dringen wir tiefer in den Bezirk Kreuzberg vor. Alsbald überwinden wir den unweit von hier in die Spree mündenden Landwehrkanal und bleiben auf ehedem Ostberliner Terrain stückweit auf Tuchfühlung mit dem Kanalufer. Zum ersten Mal wirbeln die Füße in diesem zur Parklandschaft umgestalteten Abschnitt des Todesstreifens Staub auf. Staub von nicht versiegelten, nach mehreren Wochen Dürre ausgetrockneten Wegen. Hüben Osten, drüben ehemals Westen. Ich warte auf die erste von ungezählten, orangefarbenen Stelen, an die ich mich erinnere. Sie stehen meist dort, wo Menschen anlässlich eines Fluchtversuches ihr Leben ließen. Der Gedanke an gewaltsam gestorbene Tode ist da, immer wieder einmal, wird aber gottlob von der Notwendigkeit auf Weg und Laufkamerad zu achten verdrängt. Von Letzterem erfahre ich gerade, dass auch Menschen unserer Tage - genauer gesagt: unserer Nächte - hier ihre Gesundheit gefährden: Süßlich, duftende Schwaden schlagen Mauerwegpassanten entgegen, sobald die Berliner Sonne hinter Kreuzberg versinkt.

Wieder gibt uns eine Doppelreihe Pflastersteine den Weg vor. Auch ohne die vom Veranstalter unübersehbar gesprühten weißen Pfeile wäre der Zickzackkurs in den Wohnstraßen zwischen den Bezirken Neukölln und Treptow (ehedem Osten) nicht zu verfehlen. Schließlich schickt uns die Strecke ins städtebauliche Nichts und vor eine rote Ampel. Bald zwei Minuten Gelegenheit eine von mehreren Monsterkränen überragte Großbaustelle zu beäugen. Mangels Frequentierung der Straße empfinde ich die Zwangspause durchaus als Geduldsprobe. Schließlich weiter unter Alleebäumen, schnurgeradeaus, schlussendlich auf eine kleine Menschenansammlung zu und zum Denkmal für zwei an dieser Stelle erschossene Kinder.

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Jeder Mauerweglauf stellt ein Maueropfer in den Fokus der Erinnerung. In diesem Jahr Jörg Hartmann, der im Alter von 10 Jahren mit seinem 13jährigen Freund in Mauernähe erschossen wurde. Irrtümlich von einem Grenzsoldaten erschossen, weil der Schießbefehl nicht für Kinder galt. Irrtum oder nicht: Tot ist tot. Und hätte es den Todesstreifen samt Schießbefehl nicht gegeben, wären versehentliche Tötungen unmöglich gewesen, würden Jörg Hartmann und sein Freund noch leben. Der seinerzeitige Umgang mit der Wahrheit legt gleichfalls Zeugnis von Perfidie und Menschenverachtung des DDR-Regimes ab: Die Eltern bekamen die sterblichen Überreste ihrer Kinder nie zu Gesicht. Um den Vorfall zu vertuschen, wurde ihnen amtlicherseits mitgeteilt, ihre Söhne wären anderenorts, offensichtlich beim Spielen, ertrunken. Erst nach Maueröffnung und Zugang zu den betreffenden Akten kam die Wahrheit ans Licht.

Der Veranstalter bat die Läufer vorab um Spielsachen, die sie zur Erinnerung an Jörg Hartmann vor dem Denkmal ablegen sollten (Abgabe bei der Startnummernausgabe, Transport durch den Veranstalter zum Denkmal). Nach der Veranstaltung werden die gespendeten Spielsachen an karitative Einrichtungen für Kinder verteilt.

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Ines dokumentiert mit der Kamera wie Mike und ich unsere Geschenke am Fuß des Denkmals ablegen. Verfolgt von mehreren Augenpaaren und mit bereits 19 Wettkampfkilometern in den Beinen hält sich meine Rührung in Grenzen. Bin eher verstört und auf eine gewisse Art fassungslos … Nur allzu gerne lasse ich mich von notwendiger Routine ablenken: Ines reicht uns Wasserflaschen zum Trinken, verteilt Gel an Mike und mich. Ein vorläufiger Abschied und weiter …

VP 3, „Dammweg“, Km 19,4, Laufzeit: 2:13:48 h, Platz 178

Bis zum nächsten VP sind es vom Denkmal nur ein paar hundert Schritte. Da gerade eben mit Labsal bedacht, fällt die Pause aus. Wir achten auf erfolgreiche Zwischenzeitnahme (eine blinkende LED am Transponder signalisiert die Registrierung) und folgen dem Mauerweg entlang eines Grünstreifens. Wenn Mauer und Todesstreifen überhaupt etwas Gutes bewirkten, dann wohl den Zugewinn an Parkflächen und Grünstreifen im Berliner Stadtgebiet. Knapp zwei Kilometer durch üppiges Grün, wo wir nur gelegentlichen Spaziergängern und Radfahrern auszuweichen brauchen.

Hin und wieder wird mir bewusst, dass ich auf Beinen und Füßen laufe! Ein befremdlich klingender Satz für einen Läufer, der jedoch für die erfreuliche Tatsache bislang fehlender Beschwerden steht. Völlig selbstverständlich ging ich davon aus, dass sich mein Bewegungsapparat mehrfach renitent Gehör verschaffen würde, wie seit Monaten überwiegend üblich. Anscheinend gönnen mir die orthopädischen Köter eine Verschnaufpause. Kein Grund zu überschäumender Begeisterung, weil sie jederzeit erwachen und zuschnappen können. Immerhin befördert der unbeschwerte Lauf meine anhaltend gute Laune. Vom Wettergeschehen kann ich das seit Kurzem nicht mehr behaupten. Sich stetig weiter verdichtende Wolken verdunkeln den Himmel und der Wind frischt auf. Ich beschließe Sorglosigkeit: Es wird nicht regnen und irgendwann wird die Sonne zurückkehren!

Schon vorzeiten kramte ich die Stelle aus meiner Erinnerung und nun kommt sie in Sicht: Brückenschlag über einen Wasserlauf* und jenseits dem Ufer folgen. Alsbald passieren wir die Stele zum Gedenken an Chris Gueffroy, dem letzten 1989 an der Berliner Mauer erschossenen Opfer. Beidseits des asphaltierten Radwegs wachsen Büsche, Hecken, junge Bäume. Weitgehend sich selbst überlassene Vegetation, anscheinend nur beschnitten, wenn sie Weg oder Denkmal zu überwuchern droht. Wurde hier nach der Wende bewusst gepflanzt? Oder hat man Mutter Natur die Arbeit der Landschaftsgärtnerin überlassen? - Bilder, Orte, Geschehnisse entlang einer Laufstrecke speichert mein Kopf im Allgemeinen verlässlich ab. Nicht jedoch die wahren Distanzen dazwischen. Viel rascher als erwartet steuern wir auf die Kanalkreuzung unmittelbar hinter der Autobahnbrücke (A113) zu und folgen dem südwärts verlaufenden Kanal.**

*) Britzer Verbindungskanal.

**) Kreuzung gebildet aus Teltowkanal (süd- und westwärts), Britzer Verbindungskanal (ostwärts), Neuköllner Schifffahrtskanal (nordwärts).

Fast sechs, beinahe schnurgeradeaus führende Kilometer zwischen Autobahn A113 und Kanal folgen. Wieso mich die Gleichförmigkeit dieses Abschnitts nicht schon vor vier Jahren anödete, bleibt im Grunde unbegreiflich: Linkerhand endet die Welt ein paar Meter neben dem Radweg, am Fuß des mit Schallschutzzaun gekrönten Damms der Autobahn. Ein optisch wie akustisch unüberwindliches, in der Nachwendezeit erbautes Hindernis. Eine Sperranlage der harmlosen Art, wo früher der Todesstreifen verlief. Rechterhand verwehrt der Kanal den Zugang zum dahinter liegenden Stadtteil Buckow. Nur wenige Bauwerke verbinden die Ufer, verstärken den Eindruck von „Burggraben“ und „Zugbrücke“. Hatten Flüchtende die Sperranlagen überwunden, mussten sie dreißig, vierzig Meter schwimmend um ihr Leben bangen …

Objektiv betrachtet sechs fade Kilometer, die mir dennoch gut unterhalten vom Fuß gehen. Vormals verleitete mich Übermut zu Selfies, heute versuche ich Laufporträts von Mike einzufangen. Ein paar Schnappschüsse weit lässt er mich gewähren, schnappt sich dann seinerseits die Kamera, um aus demselben Rohr zurück zu feuern.

VP 4, „Johannisthaler Chaussee“, Km 24,9, Laufzeit: 2:49:22 h, Platz 164

Kurze Einkehr zwischen Autobahn und Kanal: Ich trinke Wasser und entsorge leere Geltütchen. Ein Blickwechsel mit Mike genügt zur Verständigung: Ausreichend nahe an der Zwischenzeitnahme vorbei und weiter … Wortwechsel zwischen Mike und mir haben bereits Seltenheitswert. Bin zwar noch nicht fuß- aber längst mundfaul. Der stückweit vor uns trabende „Klaus“, dem ich noch nie anders als im Trikot des „Comrades Ultra“* begegnete, entlockt mir eine der wenigen Äußerungen. Dass ich beim Schaichtal Marathon ein paar Kilometer neben ihm trabte, weiß ich zwar noch, seinen Vornamen muss allerdings Mike beisteuern.

*) Der Comrades Ultramarathon (ca. 90 km) in Südafrika gilt als weltweit älteste und größte Ultralaufveranstaltung mit etwa 20.000 Teilnehmern.

Das kleine Technikwunder an meinem linken Handgelenk versetzt mich einmal mehr ins Staunen. Für diesen Wettkampf und zur Senkung des Stromverbrauchs reduzierte ich die GPS-Messgenauigkeit um eine Stufe. In diesem Modus sind mir 30 Stunden Akkuversorgung versprochen. Dass der Wert tatsächlich erreicht wird, bewies die Uhr beim Olympian Race, wo nach fast 27,5 Stunden noch etliche Prozent Akkuladung übrig waren. Natürlich geht der Zeitvorteil zu Lasten der Genauigkeit. Heute und bis jetzt allerdings nur theoretisch: Vorhin am VP deckte sich die Entfernungsanzeige meiner Uhr bis auf unbedeutende 30 Meter mit der Angabe vor Ort! Beim Olympian Race über 180 km und immerhin etwa 4.500 Höhenmetern betrug die Gesamtabweichung minus ein Prozent. Ich bin gespannt, wie genau meine Suunto die weniger profilierte Strecke des Mauerweges ausmessen wird!*

*) Offiziell ist die Strecke der 100 Meilen Berlin mit 161,2 km angegeben. Im Ziel zeigt meine Suunto Ambit3 Peak 162,0 an. Mithin ergab sich ein erstaunlich geringer Messfehler von ca. +0,5 Prozent.

Der gläserne, mit übereinander gestapelten, krabbeltierkleinen Autos gefüllte Turm verheißt das Ende der langen Kanalpassage. Ausnahmsweise erwischen wir eine grüne Ampelphase, überqueren den Autobahnzubringer ohne Zeitverlust und wetzen eine moderate, da Oma-auf-Fahrrad-taugliche Rampe hinauf zur Autobahnbrücke. Wir setzen über den Kanal und bleiben auf dem Mauerweg am Rand der Autobahn. Streckenänderung! - Vormals kürzte die Route durch den Stadtteil Rudow ab. Heute dürfen wir die Wasserbüffel im Landschaftspark Rudow-Altglienicke besichtigen, was mehr schlecht als recht gelingt, weil die behäbigen Rindviecher im Hintergrund ihrer Weide grasen. Weit entfernt sind sie nur als kleine, dunkle Flecken auf verdorrtem Boden auszumachen. Mike pries mir eine Sehenswürdigkeit an und ist nun enttäuscht sie nicht präsentieren zu können: „Schade! Manchmal stehen sie ganz nahe am Zaun …“.

Ersatzweise hänge ich meinen Gedanken nach und betrachte Erinnerungsbilder. Bilder von dunkelbraunen, nahezu schwarzen Fleischbergen mit gewaltigen Hörnern. Wo habe ich zuletzt welche gesehen? - Weiß nicht mehr. Der Landschaftspark bringt weitere Bilder vors innere Auge: Gute Freunde, die keinen Kilometer von hier jenseits der Autobahn wohnen. Wann habe ich die beiden zuletzt besucht? - Weiß ich auch nicht mehr. Wieso eigentlich nicht? - Ein Gedanke zeugt den nächsten, ähnlich einer Reihe Dominosteine, die komplett umfällt, sobald man den ersten mit dem Finger antippt. - Nun weiß ich wieso: Weil ich oft unterwegs bin, vor allem zu Laufveranstaltungen, allein in diesem Jahr bereits 22 Mal! Immens viele Eindrücke in kurzer Zeit, die wie Gewitterhagel auf mich einprasseln. Schauplätze, Szenen, Begebenheiten, Laufbekannte und anderes mehr. Wie soll ich mir da merken, wann ich den Freunden zuletzt begegnete?

Zuweilen ist Mike mir zwei, drei Meter voraus. In Gedanken versunken scheint er in eine Gangart zu fallen, die seiner Motorik besser entspricht, als unser „Gleichschritt“. Der „enteilende“ Freund wirkt wie ein Magnet. Ein ums andere Mal ertappe ich mich beim Versuch aufzuschließen. Ein Versuch, der in dauerhaft höherer Pace und läuferischem Harakiri enden müsste. Wahrscheinlich wird mir schon das bisherige Tempo eine höchst unangenehme Schlussphase bescheren. Also bremse ich mich, lasse die Lücke klaffen, bis Mike sie mit verhaltener gesetzten Schritten schließt. Purer Egoismus meinerseits? - Sicher nicht. Notwehr? - Nicht unmittelbar, denn gegenwärtig halte ich das Tempo mühelos. Jedoch vorausschauende Notwehr, wenn ich bedenke, was mir blüht, so ich mich nicht zügele …

Auch meine auf der Rückseite der Startnummer festgeheftete Lauftabelle rät zur Mäßigung. VP 1 bis 3 erreichten wir infolge gehäufter Ampelstopps jeweils mit ein paar Minuten Verspätung. Unterdessen sind wir jedoch „just in time“ unterwegs. Zwar dient die Tabelle lediglich der Abschätzung des Wettkampfverlaufs. Um den mutmaßlich brüchigen Bogen nicht zu überspannen, lasse ich mich allerdings bereitwillig von ihr bremsen.

VP 5, „Imbiss ‚Am Ziel’ “, Km 31,4, Laufzeit: ca. 3:30 h (keine offizielle Zeitnahme)

Mit der Trinkgeschwindigkeit eines Wasserbüffels lasse ich ein paar Becher Wasser durch meine Kehle rauschen und deponiere in Windeseile die schrumplig leeren Gelbeutel im bereithängenden Abfallsack. Ich melde mich bei meinem Laufpartner zur Notdurft ab, ein paar Meter voraus, hinter Bäumen. Auf dem Mauerweg wieder vereint stockt unser Schritt: Zwischenzeitnahme vergessen! Bevor wir die 30, 40 Meter zurücklaufen können, klärt uns ein Mitläufer auf: Hier gibt es keine Zeitmessung - die steht stückweit voraus auf dem Dörferblick!

Der Dörferblick entstand nach dem Krieg als Trümmerberg auf Berliner Stadtgebiet, am Südrand des Stadtteils Rudow. Die Bezeichnung rührt vom guten Ausblick auf drei grenznahe DDR-Dörfer her, den die Westberliner von dem etwa 40 Meter hohen „Gipfel“ aus genießen konnten. Meine Vorfreude gilt allerdings weniger dem Panorama, als der Erwartung dort oben Ines zu treffen …

Bevor es so weit ist, arbeiten wir noch etwa drei flache Kilometer ab: Rechts Berlin-Rudow, von dem hinter selten unterbrochenem, grünem Vorhang nur wenig zu sehen ist. Links, auf brandenburgischer Flur, wechselweise Brach- und landwirtschaftlich genutzte Flächen. Der Abschnitt beschert uns auch die mit Abstand kurioseste Begegnung des Mauerweglaufes. Das wenige Monate alte Kalb schaut den Läufern recht verloren entgegen. Ein aus diversen ausrangierten Materialien errichteter, offensichtlich löchriger Zaun hält das Tier von seiner Mama und Herde fern. Es schlüpfte wo und wie auch immer heraus und findet nun nicht mehr zurück. Keine Panik! Weglaufen wird es nicht und anlässlich der nächsten Fütterung wird der Bauer auch diese Wiedervereinigung vollziehen.

Ernst, der Össi im Strohut, ist zu Späßen aufgelegt. Mal trabte er vor uns, mal hinter uns, düst nun am Fuß des Dörferblicks im Eiltempo und feixend vorbei: „Ich will die Bergwertung gewinnen!“ Ich lache zwar, kann mir ein „Wetten, dass …“ allerdings nicht verkneifen: „Wetten, dass er in ein paar Stunden zu solchen Kapriolen keine Lust mehr hat?“

Vierzig Höhenmeter sind ein Klacks - sollte man meinen. Selbst für einen Bewegungsapparat, in dem bereits 35 absolvierte Kilometer Spuren hinterließen. Trotzdem fahren mir die im Maximum vielleicht 10 Prozent Steigung heftig in die Beine. Vielleicht sorgte ich mich ob dieser Wahrnehmung, ginge auf dem Gipfel des Dörferblicks nun nicht die Sonne auf: Ines strahlt uns entgegen und unsere Hündin Roxi begrüßt mich mit freudigem Gebell.

Zeitmessung auf dem „Dörferblick“, Km 34,4, Laufzeit 3:50:02 h, Platz 133

Mike und ich posieren für ein Erinnerungsfoto. Einen humorigen Touch bekommt der Schnappschuss durch Ernst, der sich spontan zwischen uns drängt. Im Anschluss die Versorgungsprozedur: Ines stattet mich mit frischen Gels aus, reicht uns Wasserflaschen. Nach wie vor trinke ich ohne Durst zu empfinden. Unter bedecktem Himmel, bisweilen von einer frischen Brise umweht, hält sich mein Schweißverlust in Grenzen. Diesmal verabschieden sich nicht nur Mike und ich von Ines. Ich befreie Roxi von der Leine und nehme sie auf die nächste, überwiegend verkehrsferne Etappe mit. Erst Minuten später und längst wieder auf dem Mauerweg wird mir aufgehen, dass ich den Rundblick vom Dörferblick verpasst habe …

Auf unseren ersten gemeinsamen Metern dreht Roxi wie üblich am Rad. Andere Läufer um sie herum, eine Gegend, die ihre Nase mit fremden Gerüchen reizt - was könnte es Schöneres geben als im Rudel zu jagen!? Vom Hügel führen Treppenstufen hinab zum Mauerweg. Ich sorge mich ein wenig um Roxis „Fahrwerk“. Wäre nicht das erste Mal, dass sie sich abwärts stürmend ’was einfängt. Als wir auf den Mauerweg einschwenken, hat sich anfängliches Ungestüm bereits gelegt. Von nun ab tippelt sie voraus, sucht Kontakt zu Vorderleuten, kehrt um, bis sie mich findet, zischt wieder davon, schnüffelt auch mal, macht mit anderen Worten ihr eigenes, vielfach im Wettkampf erprobtes Ding …

Dummerweise bewegen wir uns hier nicht auf verschwiegenen, abseitigen Waldwegen. Am späten Samstagmorgen verkehren auf dem südlichen Mauerweg etliche Radler. Von denen rechnet keiner mit einem freilaufenden Hund. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Roxi immer wieder rechtzeitig abzurufen und längere Zeit an meiner Seite zu halten. Für uns beide ein recht unbefriedigendes Unterfangen, für mich darüber hinaus ein ziemlich anstrengendes. Während ihres Freilaufs muss ich voll konzentriert Augen und Ohren auf das Geschehen vor und hinter mir richten. Das kann nicht lange gut gehen und deshalb fasse ich den Entschluss Roxi beim nächsten Stelldichein wieder an Ines zu übergeben.

Dazu wird es voraussichtlich bei Kilometer 40 kommen, wo Mikes Frau Natascha einen „speziellen“ VP eingerichtet hat. „Speziell“ für Mike, wie bei jedem Mauerweglauf, heute auch „speziell“ für die anderen „Mitglieder“ unseres kleinen „Spartathleten-Clubs“. Überdies mit „spezieller“ Labsal: Gut gekühltes, alkoholfreies Weizenbier! - Bis dahin treten wir noch ein paar Kilometer Berliner Stadtrand auf dem ehemaligen Grenzstreifen mit Füßen. Kilometer, entlang derer sich die Bilder mit geringen Abweichungen wiederholen: Rechts und links üppig wucherndes Grün, häufig freie Sicht ins Brandenburgische, seltenere Blicke zu Berliner Wohngebieten.

VP 6, „Buckow (Stuthirtenweg)“, Km 38,9, Laufzeit: 4:22:13 h, Platz 129

Die Szenerie ändert sich erst kurz vorm nächsten Verpflegungspunkt, als wir ein Wohngebiet queren. Unübersichtliche, zumindest unvorhersehbare Verkehrsverhältnisse - also beordere ich Roxi an meine Seite. Sind wir hier noch auf dem Mauerweg? - Wenn ja, dann liegen die Grundstücke zu unserer Rechten auf Berliner Boden und jene auf der linken Straßenseite in Brandenburg. Wenn ja, dann ist die Siedlung von Einfamilienhäusern linkerhand keine 30 Jahre alt. Wenn ja, dann verwehrten hier einst Zäune und Wachtürme den Übertritt. Das Wissen um vergangenes Unrecht zieht mich zwar nicht runter - wirklich befreien kann ich mich von den Bildern in meinem Kopf aber auch nicht.

Ich „parke“ Roxi abseits der Läufertränke und spendiere ihr eine der mitgenommenen Kaustangen. Bis zu Nataschas Extra-VP fehlen nur ein paar Minuten, also bescheide ich mich mit ein paar Schlucken Wasser. Auch Mike braucht nur eine kurze Pause, hätte ohne meine Begleitung an diesem VP vielleicht gar nicht angehalten. Kurze Verständigung - Blicke, Gesten, wortlos -, dann machen wir uns wieder auf den Weg. Roxi fixiere ich vorerst neben mir, bis ich sie vor fahrenden Autos in Sicherheit weiß. Nur ein paar Minuten noch, dann erkenne ich hundert Meter voraus den VP „Natascha“ und die Silhouette meiner Frau. „Lauf Roxi! Lauf zu Frauli!“ Durch meinen Hund geht ein Ruck. Roxi richtet den Blick voraus und beschleunigt. Erst zögerlich, wird dann immer schneller, die Gruppe seitlich des Weges vor Büschen fest im Blick. Ein großes Hallo erwartet uns. Beifall von Natascha, Mikes Schwiegereltern und Ines. Außerdem ist Conny hier, die Frau von Rüdiger, einem unserer „Laufzwillinge“.

Drücken, Herzen, Freude auf allen Gesichtern. Wir stellen uns in Positur für Erinnerungsfotos, prosten uns mit kühlem Weizenbier zu, Heike, Mike und ich. Heike ist schon ein Weilchen hier, hat ihren Becher bereits geleert, bricht Sekunden später auf. Wir erfahren, dass die „Twins“ Rüdiger und Frank schon vorzeiten ihr Weizen tranken, uns etwa eine halbe Stunde voraus sind. Ziemlich offensiv unterwegs die beiden. An weitergehende Überlegungen um mögliche Endzeiten oder gar Platzierungen verschwende ich keine Energie. Nicht einmal an meine eigenen. In meiner diffusen Vorstellung - und über andere Daten verfüge ich nicht - bewegen wir uns irgendwo im letzten Drittel oder Viertel des Feldes. Eine vage Annahme, kein konkreter Gedanke, basierend auf der Startsequenz im Stadion, wo ich sehr viele vor und kaum jemanden hinter uns auszumachen meinte …

Ein halber Liter Bier samt Kohlensäure spannt meine Bauchdecke. Zeit zum Aufbruch. Flugs übernehme ich noch Gels von meiner Frau. Ines leint Roxi an, weil unser Vierbeiner nicht verstehen wird, wieso der lustige Jagdausflug für sie nun schon zu Ende sein soll. Ines versteht es, wenngleich meine Begründung - zu viel Radverkehr auf dem Mauerweg - nur der halben Wahrheit entspricht. Oder habe ich ihr bereits hier in einem Halbsatz zu verstehen gegeben, was ich ganz tief drinnen „heraufziehen“ fühle? - Früh - viel zu früh - einsetzende Schwäche … Der Abschied fällt herzlich aus aber kurz. Wir werden die vielköpfige Helfertruppe des VP „Natascha“ in ein paar Stunden wieder sehen …

Roxis enttäuschtes Bellen verfolgt mich einige hundert Meter weit. Vermutlich höre ich es auch dann noch als sie sich längst beruhigt hat und schweigt. Und vermutlich ist Enttäuschung ein Gefühl, das zu empfinden ein Hund gar nicht fähig ist. Es ist meine eigene Enttäuschung, auf Roxi übertragen. Zwar hatte ich mich vorab auf keine Mensch-Hund-Distanz festgelegt, mehr als die fünfeinhalb gemeinsam absolvierten Kilometer hätten es dann doch werden sollen. Und gleich der Abschnitt nach dem VP „Natascha“ wäre für Roxi ideal gewesen. Hier besteht der Mauerweg aus einem unbefestigten Pfad, der sich durch Wildwuchs von Birken, Büschen und hohen Gräsern schlängelt. Radfahrer sind hier eher nicht zu erwarten und falls doch, sind sie auf der Hut.

Der unbefestigte Streckenteil endet abrupt im Stadtteil Lichtenrade. Eine Streckenänderung bringt uns vom Mauerweg ab, schickt uns durch Wohnstraßen. Das Dilemma des Streckenverantwortlichen lässt sich so zusammenfassen: Was er anderenorts - etwa vorm Dörferblick - an Strecke aufschlägt, muss er woanders abkürzen, um die 100 Meilen Berlin nicht über 100 Meilen auszudehnen. Mir erwies er damit einen Bärendienst, wie sich gleich zeigen soll … Wir tippeln über Trottoirs, vorbei an Eigenheimen, Gärten, Zäunen, haben nun etwa 44 Kilometer in den Beinen, mehr als ein Marathon. Doch was ist ein Marathon, wenn du dir fast vier davon en bloc vorgenommen hast? - Daran gemessen, kommen die ersten Signale einsetzender Ermüdung zur Unzeit. Ich spüre ihnen hinterher, versuche zu erahnen, wie sich meine Kräftekurve entwickeln wird. In solchem Brüten versunken nähern wir uns einem winzigen „Stimmungsnest“. Nichts Ungewöhnliches, da und dort in Wohngebieten interessiert man sich für die verrückten Mauerwegläufer, applaudiert ihnen auch. So wie hier: Zwischen Bürgersteig und Straße, neben einem Alleebaum stehen eine Frau und ein Mädchen. Ihnen gegenüber, am Gartentor, eine weitere Person. Alle drei jubeln uns entgegen und ich schaue zu ihnen hin …

… Nicht mehr als ein paar Wimpernschläge vergehen von dem Moment, da meine Fußspitze an einer Platte des Gehweges hängenbleibt, bis ich schlussendlich wie ein Maikäfer auf dem Rücken liegend nur einen Gedanken fassen kann: ‚Brille verloren!’ Sofort springt Mike mir bei, versucht mich hochzuziehen. Die Frau kommt ihm von der anderen Seite zu Hilfe. Liegen oder stehen - völlig egal … hab’ nur eins im Sinn: Brille finden! Brille retten!! - Da liegt sie, nur Zentimeter neben dem Fuß der Frau im Gras. Sicher mit Panik in der Stimme entringt sich mir ein: „Meine Brille!!!“ Höre von irgendwo her ein Echo: „Er hat die Brille verloren! Vorsicht!“ - Ich bücke mich, umfasse in Höhe der Knie und durchaus unschicklich die Beine der Dame, schiebe sie ein wenig zur Seite. Will um jeden Preis verhindern, dass sie versehentlich auf die Brille latscht … Schließlich bekomme ich sie zu fassen und setze sie mir wieder auf die Nase - die Brille, nicht die Frau!

Erst jetzt lasse ich Schmerzwahrnehmung zu, untersuche Arme und Beine auf Verletzungen. Unkritisch: Ein paar Kratzer am Ellbogen, ein winziger blutender Riss am Finger und Abschürfungen am linken Knie. Entsetzt ist eigentlich nur die Frau. Wahrscheinlich fiel ihr auf diese Art noch niemand zu Füßen. Schon gar keiner, der sie dann auch noch ohne Vorwarnung antatscht und rigide zur Seite schiebt. Die Dame bittet mich in ihren Garten, damit ich die mit Sand verkrustete Wunde am Knie auswaschen kann. Von ihrem Terrassentisch schnappe ich mir kurzerhand ein Glas Wasser, das sich - wer auch immer - zum Trinken eingeschüttet hat und spüle mit dem Inhalt den Dreck vom Knie. Das war’s dann auch schon. Ich bedanke mich, wir verabschieden uns und nehmen wieder Fahrt auf.

Noch immer habe ich nicht wirklich kapiert, was mich zu Fall brachte. Eine stolpergefährliche Kante konnten meine (zugegeben flüchtigen) Blicke nicht ausmachen. Unkonzentriertes, müdes Schlappen muss den Ausschlag gegeben haben!? Hundert Meter weiter steht fest, dass der Sturz nichts Knöchernes, Muskuläres oder Sehniges beschädigt hat. Ich laufe schmerzfrei, von einem unbedeutenden Brennen an Knie und Ellbogen abgesehen. Einen halben Kilometer weiter habe ich den Sturz mental immer noch nicht verarbeitet. Keine Ahnung warum der mich noch immer beschäftigt. Es kommt mir vor als habe er mich körperlich geschwächt. Dabei schlug ich nicht mal mit dem Kopf am Boden auf. Objektiv betrachtet ist nichts geschehen, das meine Chance auf ein glückliches Finish mindern könnte. Vielleicht trug ich eine Art psychischen Knacks davon: Ein erwachsener Mensch fällt am helllichten Tag nicht zu Boden! Er hat seine Fortbewegung stets unter Kontrolle! Möglicherweise resultiert die Anstrengung auch daraus, dass ich aus Furcht neuerlich „einzufädeln“ die Füße höher hebe!? Der Freund spürt, dass ich das Trauma „Tieflug“ noch nicht bewältigen konnte, kümmert sich auf seine Weise um mich. Übernimmt die Führung, verlässt wo immer möglich den Bürgersteig, um mich vor Stolperkanten zu schützen …

VP 7, „Wolziger Zeile“, Km 46,5, Laufzeit: 5:15:46 h, Platz 129

In diesen Minuten wünsche ich mir nur eins: Dem Wohnviertel mit seinen Bürgersteigen rasch den Rücken zu kehren! Als wir VP 7 erreichen, ist in dieser Hinsicht das Gröbste überstanden. Zunächst greife ich mir einen Becher Wasser und wiederhole die Wundspülung, um eventuell in der Wunde verbliebenen Dreck restlos zu beseitigen. Eine Helferin bietet mir Wasser aus der bereitstehenden Wanne an, ich lehne jedoch dankend ab. Der Becher enthält genug Wasser und zweitens: Wer weiß, was für putzige Einzeller meine Mitläufer beim Eintauchen ihrer Schwämme in der Wanne hinterließen. Den Tierchen käme mein Knie als Ernährungsgrundlage sicher gelegen …

Kilometer 50 - fast sechs Kilometer zwischen Unfall und jetzt. Es gelingt mir nicht den Dämon Müdigkeit abzuschütteln. Als Nachwirkung des Sturzes kann ich mir die zähen Schritte längst nicht mehr schönreden. Die „50“ im Zählwerk meiner Uhr weckt Erinnerungen: Vor vier Jahren rannte ich just in Höhe der 50 km-Marke wieder einmal, wie schon mehrfach zuvor, auf gleicher Höhe mit der späteren Damensiegerin Grit Seidel. Sinngemäß raunte ich ihr zu, dass ich die absolvierte Strecke schon in den Beinen spürte. Grit gab zu bedenken, dass das nach 50 km doch völlig normal sei … Das ist es sogar ganz sicher. Allerdings empfand ich damals allenfalls „Beanspruchung“, der standzuhalten mir zudem nicht schwerfiel. Heute, nach derselben Distanz, muss ich bereits um jeden Meter kämpfen. Und das kenne ich nur zu gut, etwa vom qualvollen Verlauf des Olympian Race im Mai …

Bedenken keimen, keine Furcht. Irgendwie geht - ging - es immer. Ich weiß, dass ich es durchstehen werde. Womöglich frühzeitig jammernd, aber eben nicht im Jammer ersaufend. Zum ersten Mal balle ich - sprichwörtlich - die Fäuste und bekräftige meine Entschlossenheit. Gedanken nur, unsichtbar. Vielleicht spürt Mike, was mit mir los ist. Der hat, das weiß ich aus Erfahrung,ein feines Gespür für nonverbale Signale, die ein Laufpartner aussendet …

Wir laufen auf einen Straßendamm zu und ich schieße seit sehr langer Zeit das erste Foto: Mike und zwei andere Läufer in der Kurve vor dem Wall. Kein Motiv, das den Kräfteeinsatz zum Heben des Arms rechtfertigen würde. Beileibe nicht. Es ist eine Art Symbol für meine Unbeugsamkeit, für die entschiedene Absicht mich nicht hängen zu lassen. Ich fotografiere wieder, also kann es nicht so schlecht um mich bestellt sein! - Eine Unterführung bringt uns auf die andere Dammseite. Wir arbeiten das nächste Stück eines schnurgeraden Grenzverlaufs zwischen Berliner Randbezirken und Brandenburger Flur ab. Selten eine Richtungsänderung. Manchmal beschirmt uns ein paar hundert Meter weit ein Tunnel aus miteinander verwobenen Büschen und Bäumen.

Auf Mike als Regenindikator kann man sich verlassen: So lange es tröpfelt, trägt er den Schild seines Basecaps vorn, zum Schutz der Laufbrille. Versiegt die Brause, dreht er die Kappe wieder um, beschirmt den Nacken. Dieses Manöver wiederholt sich ein paarmal unter überwiegend bedecktem Himmel. Doch von mehr als minutenlangem, unergiebigem Getröpfel werden wir nicht belästigt. Diese Witterung, vor allem die mäßige Temperatur (kaum mehr als 20°C) und der bisweilen kühle Wind erleichtern uns die Aufgabe. Will mir gar nicht ausmalen, wie wir unter dem noch vor drei Tagen herrschenden Wüstenklima dahinsiechen und ausdörren würden. Und doch weiß ich mich im Wunsch nach mehr Sonne und Wärme einig mit Mike. Vielleicht reißt der Himmel am Nachmittag wieder auf …

VP 8, „Osdorfer Straße“, Km 52,8, Laufzeit: 5:58:37 h, Platz 116*

*) Die Platzierungs-Info war unterwegs nicht verfügbar. Leider. Trotz Schwäche, Stopps und Sturz unaufhaltsam in der Rangfolge zu klettern, hätte motiviert. Von anfänglich Platz 191 immerhin schon auf Platz 116. Und in der Altersklasse von 4 auf 1 bis zu diesem VP 8. Während des Wettkampfs wähne ich unser Duo irgendwo weit hinten im Feld.

Eine Menschensammlung und aufbrandender Beifall künden vom nahen Versorgungspunkt. Licht am Ende des grünen Tunnels! Vom Himmel, weil der Wald ein paar Meter weiter endet, vor allem aber von einer Stelle seitlich der Tränke. Dort steht Ines, fotografiert, winkt, begrüßt uns freudestrahlend. Meine in hastigen Sätzen verlautbarte, durch Vorweisen des lädierten Knies unterstrichene Befindlichkeit wirkt wie ein Dimmer: Im Nu verschwindet ihr wunderbares Lächeln, macht Besorgnis Platz. Der martialische Akzent des blutgetränkten, vordem weißen Kompressionsstrumpfes setzt sicher noch eins drauf. Wir retten uns in Aktionismus: Gelvorrat auffüllen, ein Beutelchen Zuckerpampe einverleiben, Wasser reichen, Wasser trinken, Mike Unterstützung anbieten … Warum wir dafür mehrere Minuten brauchen, erschließt sich mir nicht. Wieso ich mich danach gestärkt und zumindest mental runderneuert von Ines verabschiede, dagegen schon. Manchmal bewirken ein paar Worte der Zuversicht mehr als Wasser und Kohlenhydrate!

Die Kirschblütenallee! 1.100 Kirschbäume, nach Spendenaufrufen einer japanischen Fernsehstation (TV Asahi) den Berlinern geschenkt und entlang des Mauerweges gepflanzt. Die Japaner freuten sich mit den Berlinern über deren Wiedervereinigung. Bäume der Freundschaft in einen Streifen deutscher Erde zu pflanzen, auf dem über Jahrzehnte pure Menschenverachtung regierte, empfinde ich als krassen Gegensatz. Jetzt, im Sommer, machen die Kirschbäume zwischen üppigem Grün randseitiger Hecken und Bäume lediglich durch ihr soldatisches „Richt euch!“ einer exakten Zweierreihe von sich reden. Wie muss das erst im Frühling wirken, wenn der Duft Millionen rosafarbener Blüten in der Luft hängt? Wenn nach eisigem Winter ausgerechnet dort das Leben mit Farbenpracht erwacht und sich feiert, wo über sehr lange Zeit Tod und Verderben beheimatet waren?

Fotoreportage von Mike: Udo und die Kirschblütenallee. Ich sähe sie gerne mal im April, kenne das Blütenmeer nur von Bildern. Zwei Bahnunterführungen unterbrechen den japanischen Moment unseres Laufes, dahinter setzt die Allee sich fort. - Zum Glück habe ich die Kamera wieder in der Hand, um dieses kuriose Bild der Nachwelt zu bewahren: Reiter abgestiegen - Gaul entsorgt seine „Äpfel“ vorm Tunnelportal - Läufer schlagen einen Bogen um frische Tretminen …

VP 9, „Sportplatz Teltow“, Km 52,8, Laufzeit: 6:44:32 h, Platz 98

Dass wir unweit eines Kanalufers laufen, bemerke ich erst als wir vor der Brückenauffahrt links abbiegen, uns vom Ufer entfernen, einen Kreisverkehr zu drei Vierteln umrunden und auf den Sportplatz Teltow zuhalten. Vom Kanal nun durch Straßenbreite, zwei Bürgersteige und einen Uferstreifen getrennt. Preisfrage: Welche Funktion hatte der Uferstreifen früher? - Auf unserer Straßenseite streben die Läufer der Tränke zu, auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig kommen uns jene entgegen, die den Checkpoint bereits „abgearbeitet“ haben. Von dort winkt auch Ernst herüber, der Österreicher mit grünem Strohhut. Zum Sportplatz hin und nachher wieder zurück zum Kreisverkehr und über die Brücke. Eine „Schikane“ von mehr als anderthalb Kilometern. An das Pendeln erinnere ich mich sehr deutlich, an die beträchtliche Entfernung nicht mehr.

Vor der Sporthalle, wo wir mit großem Hallo von Natascha und ihren Eltern empfangen werden, legen wir eine Pause ein. Auch Conny ist noch da, obschon ihre Zwillings-Schützlinge schon vor einen halben Stunde aufbrachen. Mike wird vor der Halle von Natascha bemuttert, ich versorge mich in der Halle an der offiziellen Tränke: Mitgebrachte Gelration schlucken, Wasser nachtrinken, Wasserflasche auffüllen, Leere Gelbeutel in den Abfallsack schmeißen. Nach kaum mehr als zwei Minuten stehe ich mit prall gefülltem Wanst wieder draußen neben Mike, der sich gerade eine Kartoffel mit Salz einverleibt und mein Auftauchen anscheinend als Signal zum Aufbruch empfindet. Wahrscheinlich - mutmaße ich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt - besteht mein Beitrag zu unserem „Paarlauf“ in der Verkürzung der Verpflegungspausen. Pausen, die sich - Mikes Bekunden zufolge - deutlich länger gestalten, wenn er allein unterwegs ist.

Unfreiwillig sorge ich anlässlich unseres „Abmarsches“ bei den Umstehenden für Heiterkeit. Einzig die Zeitmessung auf ihrem Dreibein fixierend, um sie „Ohgottohgottohgott!“ nur ja nicht zu verpassen, stolpere ich über die Eckstange des abtrassierten Zulaufs, die scheppernd umfällt. Wer meinem Mauerwegschicksal bis hierher folgte, wird verstehen, dass mich meine neuerliche Unbeholfenheit keineswegs mit Heiterkeit erfüllt - wie konnte ich das hüfthohe Absperrband übersehen?

Nun also zurück zur Brücke und hinüber, dem Ufer des Teltowkanals westwärts folgend. Keine Minute später erspähe ich Ernst, der seinen Laufrucksack auf einer Ruhebank abgelegt hat. In seiner Laufhose und zwischen den Beinen vollführt er mir wohlbekannte Handbewegungen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Die Dose mit Hirschtalg (oder Vaseline?) in seiner freien Hand ist nicht zu übersehen: Wundgelaufen! Wortlos traben wir vorbei, was mich betrifft mit einiger Sorge: Noch mehr als 100 Kilometer zu laufen und schon Reibungsschmerz? Ob das gut geht?* Hoffentlich hat er das „Nachfetten“ nicht zu lange rausgezögert!? Mein entsprechendes Malheur beim Olympian Race, als ich die „Einbalsamierung“ vorm Start vergaß, steht mir noch in schmerzlicher Erinnerung …

*) Ernst Barth behält alles im Griff und erreicht das Ziel nach 22:33:38 Stunden!

Gut einen Kilometer Kanalblick bis sich der Mauerweg vom Wasser ab- und einer von der Stadtverwaltung vergessen wirkenden Passage zuwendet. Fußfolterndes Pflaster lässt uns an den sandigen, von lange zurückliegenden Regengüssen mit Rinnen modellierten Rand hin ausweichen. Auch an diese Meter erinnere ich mich, vielleicht gerade wegen der offensichtlichen Vernachlässigung. Wie auch an die Einfahrt zu einem Privatgelände, hinter der ein für mich rätselhaftes Stück Technik seit Jahren vor sich hinrostet. Etwa anderthalb Meter hoch, mit großen Zahnrädern versehen, auch ein dereinst vom Treibriemen bewegtes Schwungrad ist zu erkennen. Pumpe? Umlenkgetriebe? Werkzeugmaschine? - Weder die Funktion des Ausstellungsstücks vermag ich abschließend zu deuten, noch was sich hinter dem offen stehenden Tor verbirgt. Sicher kein Museum, ein mittelständischer Betrieb vielleicht!?

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Redaktionelle Anmerkung: Zum Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, sind meine Mauerwegerlebnisse bereits über zwei Wochen alt. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich den Bericht auch in dieser Woche nicht werde abschließen können. Warum dauert das so lange? - Unter anderem, weil mich Recherchen ablenken. Beispielsweise beim Streckenstudium über Google Earth, das mir die Möglichkeit bietet Lauferinnerungen chronologisch und räumlich zu ordnen. Nicht selten stoße ich dabei im Satellitenbild auf Interessantes, das meine Neugier weckt und mich tiefer „graben“ lässt.

„ … für eine kleine „Explosion“ mit umherfliegenden „Trümmern“ benötigt einer unserer Techniker einen Tag und das Ergebnis ist eine reale Explosion.“ - Der nette Satz von der Internetseite beschreibt ein winziges Segment dessen, womit sich die Firma hinter der Einfahrt mit der „rostenden Pumpe“ beschäftigt. Keine Angst, es geht nicht um die Unterstützung terroristischer Vereinigungen, dafür umso intensiver um die Ausstattung von Filmteams mit visuellen Effekten; realen, wie dem zitierten und artifiziellen, in Computern produzierten. Zwar bleibt unklar, wozu das Terrain von der Firma „SFX Department Berlin, Special Effects GmbH“ tatsächlich genutzt wird, denn die Adresse verweist auf ein stückweit entferntes Gewerbegebiet. Nach intensivem, von Neugier getriebenem Studium der Internetseite ist mir nun aber zumindest klar, was die Kürzel „SFX“ und „VFX“* bedeuten und wie schwierig die Realisierung des einen oder anderen Effekts an einem Filmset tatsächlich sein kann. Was ich immer sage: Ultralaufen bildet!

*) VFX = Visual Effects (im Computer täuschend echt erzeugte Effekte) / SFX = Special Effects (real ausgeführte oder nachgebildete Effekte. Abkürzung doppeldeutig, kann auch „Sound Effects“ heißen).

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Von all dem ahne ich natürlich nichts, freue mich stattdessen über den wieder asphaltierten Weg und ein weiteres, sich selbst überlassenes Stück Natur auf dem ehemaligen Grenzstreifen. Kein Anblick von langer Dauer - die weißen Pfeile lenken uns in ein Wohngebiet, irgendwo im Berliner Süden. Mike hat mir den „bestellten“ Freund Christian gerade angekündigt, als wir abbiegen und ihn tatsächlich am vereinbarten Ort antreffen. Neben freundlichem „Hallo“ gibt’s auch wieder ein kühles Weizenbier, eingeschenkt im Plastikbecher. Ich trinke und genieße, merke aber, dass kein halber Liter Platz haben wird. Gebe deshalb dankend den leeren Becher zurück und trabe auf Vorschlag von Mike schon mal gemächlich weiter. So bekommen wir beide, was wir brauchen: Mike einen verlängerten „Open Air Live Chat“ mit Christian und mehr Weizenbier im Bauch. Mir tut es gut mit maßvoll beschleunigten Schritten zur „Reisegeschwindigkeit“ zurückzukehren.

Das klingt nicht wirklich gut und fühlt sich auch nicht gut an. Nach etwa 63 Kilometern habe ich meine Akkus bereits weitgehend entladen. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, auf den verbleibenden fast noch 100 Kilometern so etwas wie ein Comeback meiner Kräfte zu erleben. Dergleichen blieb noch jedes Mal aus, wenn ich spürte, was ich gegenwärtig spüre. Doch Bangemachen gilt nicht! Ich kenne eine (mehrfach erprobte) Lösung für die scheinbar unlösbare Aufgabe „energetisch ausgelutscht“ weitere 100 Kilometer laufend zu überstehen: Tempo reduzieren und alle paar Minuten Kohlenhydrate in Form von Energiegel „einfüllen“! Dass mich noch immer keine relevanten Schmerzen plagen, selbst die Achillessehne friedfertig kooperiert, nährt meinen Optimismus zusätzlich.

Apropos „noch 100 Kilometer“: Natürlich habe ich den Augenblick, da wir hinter diesem Meilenstein einen Haken setzen durften, gebührend gewürdigt. Gedanklich allerdings nur: ‚Jetzt keine 100 Kilometer mehr!’. Mich spornt dergleichen an, auch wenn der Absicht 99,9 km in meiner Verfassung zu laufen durchaus eine unmenschliche Dimension anhaftet. Bei anderen könnte so ein Gedanke auch den gegenteiligen Effekt auslösen, wenn ich ihn laut äußere. Irgendwas zwischen leichter Demotivation und massiver Depression. Also schwieg ich, hätte aber zu gerne gewusst, ob in Mikes Kopf ähnliche Mantras kreisen.

VP 10, „Königsweg“, Km 65,5, Laufzeit: 7:30:24 h, Platz 90

Bereits einige Zeit wiedervereint treffen wir an VP 10 auf Ines. Wir bunkern Gelpäckchen: Mike eins, selten zwei, nie mehr. Ich achte sorgsam darauf meinen Vorrat bei jeder Gelegenheit auf sieben Portionen zu ergänzen. Ines hält die Versorgungsintervalle zwar so kurz, dass ich den Vorrat nicht aufbrauchen kann, aber sicher ist sicher: Was, wenn sie im Stau hängenbleibt oder eine Station baustellenbedingt nicht anfahren kann? - Vor vier Jahren passierte ihr genau das. Und für länger als eine halbe Stunde kein Holzscheit im Kamin nachzulegen, kann ich mir heute auf keinen Fall leisten!

Ich habe den Streckenteil in angenehmer Erinnerung, beschenkt er doch den Läufer mit Natur pur. Stell dir einen mit dem Lineal gezogenen Strich auf der Karte vor. Ein Strich, dem in der Realität sechs Kilometer Mauerweg in ausgedehntem Forst entsprechen. Nichts deutet heute mehr auf die mehrere hundert Meter breite Schneise des Grenzstreifens hin. Einzig die quer zum Mauerweg verlaufende Autobahn A115 stört in unseren Tagen Stille und Harmonie des Waldes. Jene Berliner Autobahn, die unweit von hier in die ehemalige Berliner Autorennstrecke Avus übergeht und letztlich am Fuß des Funkturms endet. Von der Autobahnbrücke aus schaue ich nordwärts nach - ehedem - Berlin West. Dort stehen beidseits der Fahrbahnen noch immer die Gebäude des ehemaligen Grenzübergangs „Dreilinden“. Oder, um es in der Sprache des Kalten Krieges auszudrücken: „Checkpoint Bravo“.

Vor der Autobahnbrücke Wald, dahinter umfängt er uns übergangslos wieder. Wunderschöner, schwach aromatischen Duft verströmender Mischwald. Locker wachsender Wald, der ein Wechselspiel von Licht und Schatten auf den schnurgeraden Weg projiziert. Einen Stein des Anstoßes - bisweilen auch im materiellen Sinne des Wortes - reklamieren meine Füße nur allzu bald: Kein Asphalt, stattdessen Schotter und Sand.

Kein Schattenspiel ohne Sonnenschein! Petrus hatte ein Einsehen, sorgt für zunehmend freieren Himmel. Der Wald lässt auch dem Wind keine Chance. Endlich Wärme! Wärme, nach der ich mich sehne, auch wenn sie mich nun vermehrt mit ihren Begleiterscheinungen belästigt - Schweißwischen und häufiger Trinken. Schnurgerade ist der Weg aber nicht flach! Ein ums andere Mal joggen wir durch Senken. Jeweils nur ein paar, für sich genommen belanglose Höhenmeter. Doch auch unter kleinem Kaliber wanken dicke Mauern irgendwann, wenn die Salven immer wieder dieselbe Stelle treffen …

Manch einer wird stures Geradeauslaufen entlang unablässig sich gleichender Waldansichten langweilig finden. Verstehe ich, ging mir anderenorts auch schon so. Heute kommt die Waldpassage genau zum richtigen Zeitpunkt. Ein wunderbarer Kontrast zu dem, was wir bisher entlang des Mauerweges sehen und erleben durften. Von ein paar Radfahrern abgesehen, stört kein Geräusch den Waldfrieden. Vogelstimmen vernehme ich selten, was möglicherweise der Tageszeit geschuldet ist: Früher Nachmittag.

Als sich das Ende des Waldweges abzeichnet, empfinde ich so etwas wie Überdruss. Keineswegs vergleichbar mit der geharnischten Abneigung, die unsere Laufzwillinge später äußern werden. Offenbar spielte ihnen der Forst übel mit. Bei mir liegt eher die Aussicht zugrunde bald wieder asphaltierte, mithin fuß- und kräfteschonende Wege zu belaufen. Außerdem freue ich mich auf die landschaftlich reizvollsten 20 Kilometer der 100 Meilen von Berlin. Auf die geschichtsträchtige Potsdamer Region, einen riesigen, über Jahrhunderte in königlichem Auftrag gestalteten Landschaftspark. So oder so bezaubernde Ansichten, auch wenn allenfalls Reste der ursprünglichen Natur und Wildheit erhalten blieben.

Mit wachem Auge erlebt man den Potsdamer Teil des Mauerweges wie den Spannungsbogen eines guten Romans. Es beginnt im Stadtteil Babelsberg mit vergleichsweise unspektakulären, jedoch bereits Interesse weckenden Ansichten mondäner Villen. Viele Häuser aus Wilhelminischer Zeit, erbaut vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende. Dazwischen hat man gleichermaßen nobel wie dezent Hochmodernes unter alten Bäumen erstehen lassen. Entweder wurden große Grundstücke zu diesem Zweck geteilt oder in vierzig Jahren DDR verfallene, nicht mehr zu rettende Ruinen abgerissen. Streckenweise verlieren wir zwischen begehrten Wohnlagen an Höhe. In der überwiegend flachen brandenburgischen Landschaft ein topologisches Indiz für nicht mehr allzu ferne Gewässer.

Wie kann es angehen, sich nach vier Jahren voll gepfropft mit Lauferlebnissen und in bereits müdem Schädel noch über vormaliges Verlaufen zu ärgern? - Vielleicht, weil es so einfach gewesen wäre, den richtigen Weg zu nehmen, mir einen Kilometer Umweg zu ersparen. Mit ein bisschen mehr Konzentration den Fauxpas vermeiden: Kopf heben und schauen; anstatt arglos dem verführerisch lockenden Straßenverlauf zu folgen, sich von abknickenden Pfeilen in eine Seitenstraße führen lassen. Andererseits reichen bei Ortsunkundigen ein paar unachtsame Sekunden im entscheidenden Moment, um den Abzweig zu verpassen … Infolge Dreifachsicherung heute ausgeschlossen: Erstens achte ich auf den Weg, zweitens ist Mike vierfach ortskundig und drittens hatte ich mir den Track des Mauerweges auf meine Uhr geladen.

VP 11, „Gedenkstätte Griebnitzsee“, Km 72,3, Laufzeit: 8:19:26 h, Platz 89

Richtig abgebogen bringen uns die nächsten paar hundert Schritte zum Ufer des Griebnitzsees. Die Läufertränke wurde am Uferhang unmittelbar neben der Gedenkstätte Griebnitzsee errichtet. Ein aus sechs Fertigbetonelementen bestehender Mauerrest und Fundamente eines Wachturmes mahnen überwundenes Unheil nicht zu vergessen. Auch hier in der Nähe, beim Versuch die im Griebnitzsee verlaufende Grenze zu überwinden, starben Menschen. Wer Muße findet, sich einlässt auf die Idylle des schmalen, mehrere Kilometer langen, von Bäumen gesäumten Gewässers, mag es kaum fassen. Steht er doch an einem Ort, wie geschaffen, um Natur zu genießen. Ein Ort beschaulichen Lebens, kein Ort, um zu sterben!

Ich bin zu müde mich einzulassen, nehme nur das Nötigste, für meine Mission Unabdingbare wahr: Tafel mit Getränken und Verpflegung, darunter Becher mit Wasser, deren Inhalt ich mir durstig einverleibe. Erledigt in Minutenfrist. Startbereit melde ich mich bei Mike ab: „Laufe schon mal langsam voraus!“ Zum Glück reicht das Maß mir verbliebener Aufmerksamkeit, um die unsinnigerweise ein paar Meter abseits stehende Zeitmessung nicht zu übersehen. Warum wurde die nicht auffälliger und unmittelbar neben der Tränke platziert? - 50 Meter Fußweg zurück zur Straße. Im selben Augenblick, da ich auf die Straße einbiegen will, registriere ich im Augenwinkel das für Läufer aufgestellte Toilettenhäuschen. Mit nur einer Zehntelsekunde Verzögerung reklamiert meine bis zu diesem Punkt mucksmäuschenstille Blase Entleerungsbedarf. Verdammte Psychosomatik: Impuls durch Augenreiz, vom Gehirn empfangen, verarbeitet und als dringende Aufforderung in die Nierengegend entsandt*. Ich hasse Dixies (!!), werde nur leider bis auf weiteres keine natürliche Deckung finden. Also Tür auf, rein in den Mief, Tür zu, an klatschnass verschwitzten Klamotten rumnesteln - Boaaaah … das dauert … und Mike wird mich hier drin nicht vermuten … endlich Zugriff und Erleichterung. Zeit vergeht, zu viel Zeit. Kein Zweifel: Mike ist mittlerweile draußen vorbei …

*) Kennst du den Sketch „Der menschliche Körper“ des Blödel-Ostfriesen Otto? Der, in dem mehrfach die Wendung „Großhirn an …“ vorkommt? Psychosomatik zum Lachen. Klicke ruhig auf diesen Text … ein paar Minuten humoriger Entspannung können beim Lesen eines Laufberichts, bei dem immer wieder von Leiden und Tod die Rede ist, nicht schaden.

Endlich raus und durchatmen, Schritte Richtung Straßenmitte, Blick in Laufrichtung … Da isser! Nee, da steht er! 50, 80 Meter voraus, verwirrt und suchend den Kopf drehend. Winken, Traben, rasche Wiedervereinigung in winzigem, sehr persönlichem Rahmen feiern, kurze Erklärung für den Freund und gemeinsam weiter … - Wie lange wir auf dem Mauerweg gemeinsam unterwegs sein werden - diese Frage habe ich mir seit Stunden nicht mehr gestellt. Jetzt, da wir uns durch meine, psychosomatische Schuld kurzzeitig aus den Augen verloren, ist sie wieder präsent und zugleich beantwortet. Beantwortet von Mike, der nach mir suchte, unseren „Paarlauf“ unbedingt fortsetzen wollte. Ohne Zweifel will Mike bis zum (hoffentlich) triumphalen Ende bei mir bleiben*. Freudige Aussicht und „Hypothek“ zugleich. Aber eine, die mich antreibt: Du wirst dich nicht hängen lassen, Udo, den Freund nicht ausbremsen!

*) Die Formulierung „bei mir bleiben“ verdeutlicht, wen von uns beiden ich für den Stärkeren halte. Vermutlich liege ich mit dieser Einschätzung richtig, wenngleich sie zu diesem Wettkampfzeitpunkt einzig auf dem Empfinden eigener Schwäche beruht.

Der „Potsdam-Laufkrimi“ erreicht die nächste Spannungsstufe, als wir an steilem Hang abwärts wetzend die letzten Häuser von Babelsberg hinter uns lassen. Zuletzt überqueren wir den kurzen Stichkanal zwischen Griebnitzsee und einer ausufernden Bucht der Havel. Nur Sekunden sind mir vergönnt, die reizvolle Aussicht beidseits der Brücke einzufangen - mit Augen und der Kamera. Dankbar registriere ich wärmenden Sonnenschein aus weiß-blauem Himmel, der meine Laufwelt in kräftige Farben taucht. Der zeitweilig düster drohende Wolkenteppich des Vormittags hat sich in harmlos flauschige, dekorative Wattebäusche verwandelt. Unser Wetter: Deutlich über 20°C und Sonne - so mögen wir es am liebsten.

Wir joggen am Rand der stark befahrenen Bundesstraße 1. Kaum Erbauliches für die Augen und doch steigt meine Spannung auf Thriller-Niveau. Weil ich weiß, welche Aus- und Ansichten uns in Minutenfrist erwarten; darüber hinaus, was für einen geschichtsträchtigen Ort ich in Bälde „betreten“ werde. Zunächst rückt der als Große Neugierde bezeichnete und altertümlichen Vorbildern nachempfundene Rundtempel ins Sichtfeld. Marmor mit stellenweiser Blattgoldauflage fängt unwiderstehlich die Blicke der Passanten ein. Aber nicht auf Dauer, dann läuft ihm der Aufbau der Glienicker Brücke den Rang ab. Noch ein Symbol des Kalten Krieges, geeignet einem auch in hellem Sonnenlicht eisige Schauer über den Rücken zu jagen. Die mir erspart bleiben, weil langes Laufen meine Sensibilität auf Sparflamme reduziert. Also sehe ich nicht, wie Fahrzeuge in dunklen Nachtstunden, von beiden Seiten nahen, bremsen, zuletzt im Schritttempo zur Brückenmitte rollen. Vermag auch die Personen - zum Austausch vorgesehene Agenten und ihre Bewacher - nicht zu erkennen, wie sie aussteigen, aufeinander zugehen und in veränderter Gruppierung sich wieder von einander entfernen …

Wendet man den Blick zwischen Stahlverstrebungen der Brücke gen Süden, blickt über die zum See erweiterte Havel, hin zur haushoch aufschießenden Fontäne und darüber hinaus zum malerisch am Uferhang liegenden Schloss Babelsberg - die düstere Agentenszene verblasste augenblicklich. Einmal mehr hat Mike die Kamera an sich gebracht, eilt voraus, beschenkt mich mit der Bilderserie „Udo und die Glienicker Brücke“. - Hinterm jenseitigen Brückenkopf fällt diesmal das Rätselraten aus. Ich kenne den Weg. Überdies drohte man uns beim gestrigen Briefing im Falle eines Fahrbahnwechsels auf der verkehrsreichen B1 mit Disqualifikation. Wir wenden uns der Treppe und damit dem Havelufer zu, unterqueren die Glienicker Brücke und betreten dahinter eine gepflegte Parklandschaft.

Gartenbaulicher Liebreiz, den geniale Architekten einst durch großzügige Anordnung und Ausnutzung vorhandener Elemente - Wiese, Hain, Buschwerk und vor allem Wasserflächen - entstehen ließen. Dort eine geschwungene, hinter Uferbewuchs Stille und innere Einkehr offerierende Uferlinie. Hier ein Steg über einen versumpften Entwässerungskanal. Flanierende Liebespaare bleiben hier eng umschlungen stehen, lauschen nächtens im Mondlicht dem Quaken der Frösche. Hoffnungslos oder gar peinlich romantisch? - Nicht nur Schönheit liegt im Auge des Betrachters, auch mit jeder anderen Art von Empfindung verhält es sich so. Und dieser Landschaftspark rührt eben an meine romantische Ader. Zugegeben nicht in diesem Augenblick, da ich angegriffen und durstig hier vorbei schlappe. Jetzt ist das alles nur „schön“. Doch schon morgen, wenn ich zu Kräften und vollen Sinnen gekommen an diesen Ort zurückdenke, werde ich es so empfinden.

Ich mäßige meinen Schritt, lasse Mike ein paar Meter Vorsprung gewinnen. Vorbereitungen für einen Schnappschuss, der mir bald, vielleicht schon hinter der nächsten Baumgruppe, gelingen soll: Mike vor Schloss Cecilienhof. Ein weiterer, geschichtlicher Höhepunkt entlang des an deutscher Historie wahrlich nicht armen Mauerwegs. Schloss Cecilienhof: Baugeschichtlich kommt dem Palais mehr Kuriosität als Bedeutung zu, wurde der Fachwerkbau doch erst 1917 fertiggestellt und von einem Kaiserpaar genutzt, das bereits im Jahr darauf zum Abdanken gezwungen wurde. Um den architektonisch skurrilsten Einfall des Bauherrn zu bewundern, muss man schon genau hinsehen, da in nachmittäglichem Gegenlicht beinahe unsichtbar: Keiner der zahlreichen Schornsteine ist in Verkleidung und Verzierung identisch mit einem der anderen.

Dass in Cecilienhof Entscheidungen gefällt wurden, die die Welt veränderten, ja sogar in ihren Grundfesten erbeben ließen, sieht man dem beschaulich wirkenden Lustschloss nicht an. Es war 1945 Schauplatz der Potsdamer Konferenz, während der die Präsidenten der allierten Siegermächte die Aufteilung Deutschlands und insbesondere Berlins in vier Sektoren besiegelten. Man suchte auch nach einem Konsens, wie es mit diesem Deutschland, von dem die Welt unendliches Leid erfahren hatte, weitergehen sollte. Bereits in jenen Tagen entzweiten sich die Siegermächte, legten den Grundstein für die baldige Teilung der Welt in Ost und West, für den Kalten Krieg, für neues Leid. Genug des unheilschwangeren Geschehens? - Leider komme ich nicht umhin noch eine geschichtliche Anekdote aus der Kategorie „Entsetzen“ draufzusatteln: Am Rande der Potsdamer Konferenz gab der amerikanische Präsident Truman den Befehl zum Einsatz der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki.

VP 12, „Brauhaus Meierei“, Km 79,2, Laufzeit: 9:12:47 h, Platz 87

Mike zeigt auf ein Gebäude am Ende der Bucht, der nächste VP, das Brauhaus Meierei. „Vielleicht noch fünf Minuten ...“ schätzt er und fischt sein Handy aus dem Laufrucksack. „Ich rufe Natascha an, sonst sind sie am Ende nicht auf unser Kommen vorbereitet!“ Supporter-Vollversammlung, alle werden da sein: Natascha mit ihren Eltern, Conny und Ines. Meine Vorfreude ist mindestens so groß wie Mikes erkennbare Anspannung. Ein wenig irritiert mich sein Anruf, allerdings nicht genug, um mir dieser Regung bewusst zu werden. Erst in der Nachbetrachtung und im Licht ähnlicher Begebenheiten werde ich mich fragen, was ihn dazu trieb. Und ich werde erkennen, vielleicht selbst den Anstoß zu diesem Telefonat gegeben zu haben …

Unbeteiligte werden glauben der Messias nebst Lieblingsjünger erscheine ihnen, so frenetisch jubelt uns die versammelte Supporter-Riege entgegen. Rasch müssen die Zaungäste dann erkennen, lediglich zwei Ultraläufern zu begegnen. Denn statt des heiligen Abendmahls konsumieren die verschwitzten Gesellen alkoholfreies Weizenbier, Wasser, gekochte Kartoffeln mit Salz und schnöde Gel-Pampe. Wohl bekomm’s! Trinkend und hantierend freue ich mir fast ein Loch in den Bauch über das Wiedersehen. Nur zeigen kann ich es nicht. Bin damit schon im Vollbesitz emotionaler Fitness überfordert, mit Akkus auf niedrigem Ladestand erst recht. Aber frau/man kennt mich, weiß es einzuordnen - hoffe ich jedenfalls.

Nichts frisst mehr Wettkampfzeit als ausufernde Stopps zur Versorgung. Deshalb sind aufs Nötigste beschränkte Pausen Teil meiner Lauftaktik - wenn es um die „Wurscht“ geht. Heute habe ich keine „Wurscht“ im Visier. „Laufend ankommen und Spaßmaximierung“ lautet die Parole. Grund genug endlos lange hier zu stehen, Bier zu schlürfen und mich „im Schoß“ der Gruppe wohlzufühlen. Nach sechs, sieben Minuten zwingen wir uns dann doch zum Aufbruch. Mikes Motiv die traute Runde so bald zu verlassen hinterfrage ich nicht. Meines lassen mich die ersten zaghaften Laufschritte dafür umso gemeiner fühlen: Je länger ich pausiere, umso barbarischer der Wiederanlaufschmerz …

Meter um Meter freilaufen, schnellstmöglich vormaliges Tempo restaurieren. Weiterhin berauschende Ausblicke zum nahen See lenken von wehen Füßen ab und alsbald verrichten meine Knochen wieder weitgehend klaglos ihren Dienst. Vorhin, beim Abmarsch, verglich ich die verstrichene Zeit mit meiner „Planung“ und war über zwei Minuten Vorsprung bass erstaunt. Gefühlt kommen wir seit meiner Bruchlandung nur noch im Schneckentempo voran und zahlreiche Verzögerungen fraßen zusätzlich Zeit. Und trotzdem noch im Plan! Im Plan, mit dem ich eigentlich keinen anderen Zweck als zeitliche Orientierung verfolge. Dabei soll es auch bleiben, wenngleich sich nun klammheimlich ein Mehrwert ergeben hat: Die Genugtuung trotz schwerer Beine flott unterwegs zu sein. Genugtuung, die mich anspornt!

Ein Blick zur Uhr verstärkt diese Regung: Fast 81 Kilometer lese ich ab und nicht mal neuneinhalb Stunden Wettkampfdauer. Halbe Distanz heißt das, jedoch nicht Halbzeit, das steht fest. - Bin müde, vor mir liegen noch gut 80 Kilometer in vermutlich mehr als 10 Stunden. Wie es möglich ist, aus solchen Eckdaten ein Quantum Zuversicht zu saugen, kann ich nicht erklären. Sicher geht es nicht allen Ultraläufern so, vielleicht nicht einmal besonders vielen. Doch für mich ist die halbe Distanz ein wichtiger Meilenstein, der mich stets und unabhängig von der Distanz motiviert.

Unser lauschiges Tête-à-Tête am Seeufer findet ein abruptes Ende. Nach fünf grandiosen Kilometern Uferpromenade verbannt uns die Route aus dem Paradies an den Rand der Bundesstraße zwei. Fortan rauscht lebhafter, jeweils nur kurzzeitig unterbrochener Ausflugsverkehr vorbei. Klingt nach aufschäumender Begeisterung gefolgt von Ernüchterung. Weder das eine noch das andere vermag ich in der, vom Leser eventuell unterstellten Intensität zu fühlen. Starke, nicht unmittelbar vom eigenen „Fleisch“ versandte Gefühle lässt anhaltende Schwäche einfach nicht zu. „Egal“ kennt keine Steigerung - sagt der Duden. Stimmt nicht, sage ich: „Ein bisschen egal“ war mir die Umgebung schon nach meinem Sturz. Inzwischen bin ich über „egal“ hinaus und bei „egaler“ angekommen. Will heißen: Kann Ansichten noch als schön bewerten, meine Seele vergibt aber keine Punkte mehr.

Fragen formen sich noch im Kopf: Wie heißt wohl dieser Kanal, den wir auf breiter Brücke, gemeinsam mit etlichen Autos, Radlern und Passanten überqueren?* - Wieder halte ich mich in Mikes Schatten, überlasse ihm die Führung. Er wirkt einfach stärker, kämpft offensiver gegen die Herausforderung, während ich hinter meinen Palisaden nur hinhaltend und dicht am Limit Widerstand leiste. Meine Defensive hat aber auch praktische Vorteile: Nähern wir uns Fotomotiven, brauche ich mein Tempo nur dezent zu vermindern, um Mike als Lauf-Model ins Bild zu rücken. Wie etwa jetzt, vor der makabren „Skulptur“ zwischen Straße und Radweg. Ist das Kunst oder mit Farbe verewigte Pietätlosigkeit? Mahnung oder misslungener Ulk? - Wo offensichtlich vor langer Zeit ein Auto am Stamm einer Eiche zerschellte, dabei meterhoch Rinde abschälte, erwartet den Passanten jetzt eine grimmig wirkende, rote Fratze. Als Warnung für Automobilisten vor fahrbahnnahen Alleebäumen wird sie ihre Wirkung verfehlen. Ein nachträglich montiertes Stück Leitplanke verdeckt die Sicht. Letzte, möglicherweise ebenso makabre Frage: Wen schützt die Leitplanke? Raser oder den wehrlosen Baum?

*) Es handelt sich um den „Nedlitzer Durchstich“, die Verbindung zwischen „Jungfernsee“/Havel und dem westwärts führenden „Sacrow-Paretzer-Kanal“, der seinerseits in die Havel mündet. Insgesamt also eine Abkürzung, die der Schifffahrt den südlich ausgreifenden Havelbogen erspart.

Unerwartet verabschiedet sich der Radweg von der Bundesstraße, beschert uns stillere Minuten im angrenzenden Wald. Stiller, dafür mit markanten Buckeln gewürzt. Sie rufen die 1.000 angedrohten Höhenmeter in Erinnerung, von denen uns bislang nur ein Bruchteil den Weg verlegte. Da war der Dörferblick, waren ein paar Bodenwellen im Wald vor Potsdam, viel mehr nicht. Auch mein vier Jahre altes Resümee kommt mir wieder in den Sinn: „Wirklich flach ist die Strecke nicht!“ - Aber 1.000 Höhenmeter? - Das scheint mir immer noch maßlos übertrieben.

VP 13, „Revierförsterei Krampnitz“, Km 84,9, Laufzeit: 9:54:41 h, Platz 79

Wiedervereinigung Radweg-Straße; neuerlich brummt, knattert, rauscht der Verkehr an uns vorbei, weitere anderthalb Kilometer, dann biegen wir südwärts ab und mit jedem Schritt wird die Stille lauter … Ein Stück geschotterten Weges folgt, von dem ich weiß, dass er Füße und Kräfte nicht lange malträtieren wird. Ein paar versprengt liegende Wohnhäuser passierend erreichen wir alsbald eine asphaltierte Straße, stehen vorm nächsten Verpflegungspunkt und unverhofft vor Ines! Ein „Du schon wieder!“ verliehe meiner Überraschung passenden Ausdruck, klänge aber abwertend. Also freue ich mich mehr oder weniger stumm über die unerwartet frühe Unterstützung, nehme dankbar Wasser und Gel aus Ines’ Hand entgegen. Auch Mike bekommt, was er braucht und nach vier Minuten brechen wir wieder auf …

Kraftraubende Anstiege, die ich komplett vergessen hatte. Erst auf asphaltierter Straße, kurz darauf als welliger Waldweg. Ich komme mächtig ins Schwitzen, was ich mir trotz inzwischen etwa 25°C und Sonne nicht recht erklären kann. Die Hügel fordern jeweils nur kurzzeitig, zudem bewegen wir uns fast ausschließlich unter schattigem Laubdach. Dichter, kühler Wald, der nur zu Beginn der Etappe und Minuten vorm nächsten VP „Schloss Sacrow“ Durchblicke zu nahe gelegenen Seen gestattet. Über mehrere Kilometer erstreckt sich ein grüner Dom, der sich in jungem Baumbestand sogar minutenlang zum dämmrigen Tunnel verengt. Genau der richtige Ort, um Mike voraus zu schicken und dem Drängen meiner Blase nachzugeben. Bis Schloss Sacrow sind es nur noch ein paar Minuten und dort wird Mike von seiner Schwester Sandra und deren Lebensgefährten Belo erwartet!

VP 14, „Schloss Sacrow“, Km 91,2, Laufzeit: 10:44:57 h, Platz 69

Ein paar Solo-Minuten Trail im Wald, anschließend im weitläufigen Park vor Schloss Sacrow. Über Stunden gemeinsam, nun mutterseelenalleine - da fehlt „was“. Kann und will emotional nicht tiefer graben, es nur erwähnen. - Mehrmals, immer wieder von Bäumen verdeckt, leuchtet mir eine hellgelbe Fassade entgegen. Während das Schlösschen Schritt um Schritt größer wird, rauscht der Wind in den Bäumen, jagt drohend blau-schwarze Wolken übers Schloss. Erste Tropfen klatschen auf meine nackten Arme. Ich habe den VP hinterm Schloss gerade erreicht, da geht ein gewaltiger Wolkenbruch nieder. Wettergeschehen vor vier Jahren, das mich fünf Minuten zum Unterstellen zwang, um nicht mit nassen Füßen weiterlaufen zu müssen. Heute Sonne, Wärme und alkoholfreies Weizenbier schon vorm Schloss, wo Sandra und Belo ihr privates Läuferbuffet eingerichtet haben. Nach überaus herzlicher Begrüßung wollen die beiden mich zu Pellkartoffeln und anderen Genüssen verführen, die ich jedoch allesamt mit Bedauern ablehne. Wir kennen uns schon länger, seit dem Berliner Ostermarathon auch von einer Laufstrecke. Deshalb ist ihnen mein spartanischer Speiseplan geläufig, von dem ich nur ungern abweiche, keinesfalls jedoch bei Wettkämpfen von der Dauer eines Mauerweglaufes. Würde mir alles munden, keine Frage, meinen Magen aber über Gebühr belasten. Und ein klaglos über viele Stunden kooperierender Verdauungstrakt ist nun mal eine der wichtigsten Randbedingungen für ein erfolgreiches Finish.

Wir lassen uns Zeit, prosten uns für ein Foto zu, wechseln ein paar Sätze mit unseren Wohltätern. Die meiste Redezeit gehört natürlich Mike, den ich unverhohlen für seine Fähigkeit bewundere nach fast elf Stunden Dauerlauf noch so … so … präsent zu sein. In dieser Hinsicht sind wir grundverschieden. Wenn’s hart wird, läuft Mike weiter mit wachen Sinnen, der Welt zugewandt, auf offensive Weise kommunikativ. Gegenteilig meine Art der Fokussierung auf das Ziel: Ich ziehe die Scheuklappen dichter, richte mich in meinem Schneckenhaus ein, äußere mich nur noch reaktiv bis gar nicht, leide notfalls still vor mich hin. Als Autist im Laufdress. Zwei Lösungen für dieselbe Aufgabe. Ein „besser“ oder „schlechter“ gibt es nicht, das wusste schon Friedrich der Große, König von Preußen, Regent also auch der Ländereien um Sacrow: 1740 schrieb er als Randnotiz auf einen Bericht „ … hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden“. Stimmt! Ganz und gar d’accord! Und trotzdem wünschte ich mir einen Touch mehr von Mikes Fasson …

Nach sieben Minuten und einem herzlichen Abschied, als wär’s für Monate, geht’s weiter. Danke Sandra, danke Belo! Im Halbkreis ums Schloss und vorbei an offizieller Tränke und Zeitmessung. Wir durchqueren den Weiler Sacrow, anschließend auf kaum befahrener Straße einen Birkenwald. Die Stille des späten Samstagnachmittags wird nur vom Tapp-tapp unserer Sohlen durchbrochen. Auf langer Gerade mache ich ein paar Läufer vor uns aus. Vier oder fünf vielleicht, in solcher „Massierung“ inzwischen ein höchst seltener Anblick. Die Straße steigt in einer S-Kurve fordernd an. Wieder ein „Berg“, dessen Existenz mir entfallen war. Für den nächsten gilt das nicht: Von der Straße auf einen Wanderpfad und aufwärts im Wald. Merkwürdig: An diesen Hügel erinnere ich mich, allerdings als längeres und deutlich steileres Hindernis. Vielleicht sollte ich dem Abbild der Welt in meinem Kopf weniger vertrauen, als zeitlebens praktiziert? Zumindest jener „Realität“, die meiner Sicht entzogen und ein paar Minuten älter ist als „Jetzt“ oder „Gerade-eben“.

Bisher achtete ich kaum darauf, ob und wen wir überholten. In der Summe wahrscheinlich recht wenige Mitläufer, sonst hätte es mir auffallen müssen. Oder etwa nicht? - In dieser Ortschaft, ungefähr bei Streckenkilometer 97, in leichter Steigung, nehme ich ein solches Überholmanöver zum ersten Mal ganz bewusst wahr. Weil uns zwei deutlich jüngere Läufer den Vortritt lassen müssen. Vor allem mir, der ich schon seit Stunden aus dem letzten Loch pfeife. So jedenfalls fühlt es sich für mich an. - Immerhin traben wir „alten“ Männer im Anstieg, wo sich die Jungen abschnittsweise mit Gehschritten behelfen.

Wahrscheinlich hätte ich diesen Gedanken selbstzufrieden zu Ende gedacht, um ihn gleich anschließend unwiederbringlich zu vergessen, würde ich nicht hinterrücks vom gerade „besiegten“ Mitläufer angesprochen: „Kennst du Sybille und Dennis?“ - Der Satz sickert noch, braucht Zeit, um das Hirn tief drin im Schneckenhaus zu reizen. Also hakt er nach: „Die gehören doch zu deinem Verein!?“ - Inzwischen sind die Sätze bei mir angekommen, sogar ihren Ausgangspunkt habe ich kapiert: Vereinsname steht auf Udos Rücken! Also wende ich mich dem Mann zu und bekomme einen Auftrag: Grüße ausrichten! Man kenne sich vom Studium, erfahre ich auf Nachfrage und … bin dann mal weg … Fast weg, bis mir einfällt, dass ich keinen Namen erfragte …

Nach diesem Geplänkel hat Mike ein paar Meter Vorsprung. Ich mache mich an die Verfolgung. Wetze durch einen mit grünen Schindeln (?) kunstvoll gedeckten Torbogen mit Wiedererkennungswert: Hier war ich schon mal! Ich bleibe Mike auf den Fersen, die Lücke schrumpft jedoch nur zentimeterweise. Und wenn schon, sie ist völlig bedeutungslos: Ob direkt nebeneinander, mit ein paar Meter Versatz oder wie jetzt mit vielleicht 50 Meter Abstand - da ist ein Band, das selbst dann hielte, wenn er hinter der nächsten Ecke unsichtbar würde. Was dann auch genauso geschieht, als wir über jahrzehntealtes Chausseepflaster aus grob behauenen Steinen (Aua!) auf einen dekorativen Torbogen zuhalten, hinter dem der Freund verschwindet. Einer roten Ampel bleibt es vorbehalten uns wieder zu vereinen. Eine rote Ampel an deren Pfosten Mike „Turnübungen“ vollzieht, um Bein- und/oder Gesäßmuskulatur zu lockern. Zum ersten Mal erkenne ich am Freund so etwas wie „Abnützungserscheinungen“. Bislang trabte er beneidenswert locker einher, als hätten ihm bald hundert Kilometer nicht im Mindesten zugesetzt. Was mich angeht, so hat sich meine Gefühlslage vor Ampeln ins Gegenteil verkehrt: Inzwischen gilt mir eher der grüne Ampelmann als böse, dem roten hingegen begegne ich mit Sympathie …

VP 15, „Pagel & Friends“, Km 98,8, Laufzeit: 11:39:55 h, Platz 67

Nur noch ein paar Meter fehlen bis zu Mikes Lieblings-VP, wo „Pagel & Friends“ die Läufer stimmungsvoll mit Musik und Namensnennung willkommen heißen. Als wir in die schmale Wohnstraße Richtung VP abbiegen wollen, sehe ich Ines. Genauer gesagt die Rücklichter unseres Autos, das sie gerade vom Rand auf die Straße steuert und geradeaus weiterfährt. Wahrscheinlicher Grund: Sie findet den VP nicht! Stehend winke ich ihr wild mit den Armen fuchtelnd hinterher. Vergebens. Einstieg in eine verwirrende Hase-Igel-Spielrunde: „Mach dir keine Sorgen! Ich hab ihr gesagt, dass sie am Ende der Straße dicht am VP parken kann!“ - Ist der Mann Streckenposten, zufälliger Passant, oder Helfer aus der „Pagel & Friends-Truppe“? Einerlei. Halbwegs beruhigt und mangels Alternative joggt der Hase schleunigen Schrittes gen VP, hoppelt mit angelegten Löffeln um die Ecke, schmissiger Musik entgegen, erreicht schließlich atemlos die Tränke, wo ihn - wie jedes Mal - der Igel bereits erwartet: Bin schon hier!

Dem gewohnten VP-Dreikampf - Trinken, Gel schlürfen, Vorräte auffüllen - hängen wir diesmal noch eine Disziplin an: Erfrischen an bereitstehender Wanne. Auch wenn ich mich nicht er- oder gar überhitzt fühle, tut es gut, sich die klebrige Gesichts- und Halspartie zu waschen. Das hat zwar keinen Bestand, belebt aber erfahrungsgemäß. Und mehr Leben in meiner schlaffen „Kiste“ kann nicht schaden … Während wir unsere sechs, sieben Minuten Pause - zu fortgeschrittener Laufdauer wohl so etwas wie der neue Standard - zelebrieren, begrüßt der Moderator am Mikro immer wieder Ankömmlinge. Schon fantastisch, was Familie Pagel samt „Friends“ da auf die Beine stellen. Das gilt nicht zuletzt für das opulente Büffet, auf dem Leckereien darum betteln aufgegessen zu werden. Die Versuchung ist groß, trotzdem bescheide ich mich mit einem Becher alkfreiem Bier …

Ein letzter Gruß an Ines’ Adresse, dann verlassen wir die gastliche Stätte. Noch schaffe ich den Übergang vom Gehen zum Trab ohne merklichen Verzug, noch hält sich der Anlaufschmerz in Grenzen, ebbt nach wenigen Schritten ab, ist bereits vergessen, als wir den Radweg entlang einer endlos geradeaus führenden Straße erreichen. Zum Glück begnügten sich die Radwegplaner nicht mit öder, kilometerlanger Parallelität zur Straße. Auch wenn uns das ein paar Anstiege beschert und Körner kostet, bin ich dankbar für die zeitweise Routenführung im Wald. Im Wald oder am Waldrand, optisch und weitgehend akustisch von der Autorennstrecke getrennt. Ein bisschen Spannung noch, dann ist es so weit: 100 km weit gelaufen! - ‚Nur noch 61 bis ins Ziel!’ - Bevor ich dem Gedanken zu wehren vermag, macht er sich selbständig und saust um Aufmerksamkeit buhlend durch meine Birne. „Nur noch“ ist Quatsch hoch sieben, urteilt der Verstand! Stimmt nicht sagt das Gefühl! Wie dem auch sei: Ich setze einen Haken hinter 100 Kilometern und fühle mich dem Ziel um einen Quantensprung näher.

VP 16, „Karolinenhöhe“, Km 103,7, Laufzeit: 12:20:49 h, Platz 67

Bilder der Erinnerung eilen dem Weg voraus: Dort vorne wird uns die Markierung über die Straße schicken, dann geht es auf schmalem Fußweg ein paar Meter aufwärts. Vor vier Jahren waren - so weit ich meinem Gedächtnis trauen darf - nirgendwo Streckenposten eingesetzt. Auf keinen Fall jedoch in so auffällig großer Zahl. Vielleicht gab es in einem der Vorjahre einen Zwischenfall, der den Veranstalter nötigte neuralgische Punkte abzusichern. Oder die Auflagen seitens der Behörden wurden verschärft …Auch an diesem (nicht ungefährlichen) Straßenübergang sorgt ein Helfer dafür, dass wir die Gegenseite unversehrt erreichen.

Zwischen Waldrand und Laubenkolonie steigt der Weg moderat an und in Minutenfrist laufen wir unseren treusorgenden Supportern in die Arme: Sandra und Belo kümmern sich um Mike, Ines um mich. Weizenbier gibt’s für uns beide, herrlich frisch aus Sandras Kühlbox. Habe ich je unterwegs so viel alkfreies Bier konsumiert? Die - wie ausnahmslos an allen VP - gut bestückte Tränke nebenan hat für Mike und mich lediglich statistische Bedeutung; und das auch erst, als wir nach bewegendem Abschied mit bierprallen Bäuchen aufbrechen und die Zeitmessung auslösen. Wie lange wir bei Sandra, Belo und Ines verweilten? - Unserem Standard entsprechend sechs bis sieben Minuten.

Auf der Karolinenhöhe vollführt der Mauerweg ein paar vertikale Kapriolen. Wie gehabt: Jede für sich unbedeutend, in der Summe aller Buckel seit Potsdam spüre ich sie dennoch heftig. Wer Berlins und Brandenburgs Topografie oberflächlich kennt, käme nicht auf die Idee hier der Grenze zwischen den beiden Bundesländern zu folgen. Einstmals Todesstreifen, jetzt grünes, durchaus markant eingeschnittenes „Tälchen“. Rechter Hand, also auf Berliner Flur, flankiert von einem für hiesige Verhältnisse kapitalen „Berg“, vergleichbar mit dem Dörferblick von heute Morgen. Auch in dieser Kuppe glaube ich eine von Menschenhand geschaffene Erhebung zu sehen. Tippe auf Müll- oder Trümmerberg … Drum herum und anschließend ein paar hundert Meter abwärts, über freies Feld und zuletzt auf eine breite Straße zu …

Der hinterhältigen Fußgängerampel genügen ein paar Meter Distanz zwischen Mike und mir, um von Grün auf Rot umzuschalten. In jedem anderen Wettkampf drehte ich dem roten Ampelmännchen vermutlich eine lange Nase. Heute nicht. Nicht aus Angst vor Disqualifikation (obschon die durchaus berechtigt wäre, wie die spätere Disqualifikation des Zweitplatzierten lehrt). Alle halten sich an die Ampelregel! Zu warten ist also ein Akt der Fairness, mir zudem in Fleisch und Blut übergegangen.

Mike hat hinter der Ampel Tempo rausgenommen, ich hole wieder auf. Irgendwo auf diesem Abschnitt ist uns Ursula „zugelaufen“. Die kleine, mit mir etwa gleichaltrige Schweizerin war lange Zeit voraus hat aber anscheinend einen Gang zur Erholung zurückgeschaltet. Was nichts heißen will. Beim Olympian Race in Griechenland überholte ich sie sogar, irgendwo in rabenschwarzer Nacht, und später lief sie als Damensiegerin, mit über einer Stunde Vorsprung auf mich durchs Ziel. Letzteres erwarte ich auch heute, doch einstweilen entdecken wir den Mauerweg als gemischtes Trio …

Die Brücke überspannt ausnahmsweise keinen Wasserlauf, sondern eine Bahntrasse im Stadtteil Staaken. Ich spüre die Steigung, registriere aber zufrieden, dass sie meinen müden Beinen nichts anhaben kann. Wie lange trabe ich jetzt schon derart desolat über den Mauerweg? Besser wurde es nicht, ernsthaft schlechter aber auch nicht. Kämpfen und leiden, noch mehr als 50 Kilometer. Aber es geht voran, Stück für Stück. Was mich beschwert und ohnehin nicht zu ändern ist, blende ich so gut es geht aus. - Ein junger Kerl, sicher noch nicht volljährig, kommt uns auf der Brücke entgegen. Ursula und Mike sind schon an ihm vorbei, bevor das Befremden in seinem Gesicht zur Frage reifen kann. Also wendet er sich an mich: „Entschuldigung! Können sie mir sagen, was Sie hier machen?“ - Höflich und interessiert, eine Kombination, die ich ihm ob seines mürrischen Gesichtsausdrucks gar nicht zugetraut hätte. So kann äußerer Anschein täuschen! Also antworte ich so informativ, wie es ohne Unterbrechung meines Trabs möglich ist: „Das ist der Mauerweglauf! 100 Meilen weit, 160 Kilometer rund um das ehemalige Westberlin!“ - Möglicherweise habe ich ihm nun mehr Fragen hinterlassen als beantwortet. Bei Berlinern seiner Generation ist ungewiss, ob sie mit den Begrifflichkeiten „Mauer“ und „Westberlin“ überhaupt noch etwas anfangen können.

VP 17, „Falkenseer Chaussee“, Km 110,2, Laufzeit: 13:12:39 h, Platz 66

Seit Stunden der erste VP, an dem Mike und ich nicht von einem der Mitglieder unseres vielköpfigen Unterstützer-Clans erwartet werden. Dementsprechend bleibt die Pausenlänge diesmal unter Standard, allerdings nur für mich. Mike meldet sich in Richtung Dixie ab. Ich soll schon mal voraus laufen, er will mich einholen. Einen Vorschlag, den ich dankbar annehme, weil er mir gestattet gaaaaanz langsam aus dem Stand, über Gehschritte wieder zu verhaltenem Trab zu finden. Die Methode verlängert den Anlaufschmerz, hält ihn aber auf erträglicherem Niveau.

Wen wundert’s, dass ich zu keinem Zeitpunkt intensiver über mich selbst nachdenke, als auf überlangen Wettkampfwegen. Dabei thematisiere ich immer wieder die wechselseitige Abhängigkeit von Körper und Geist. Stundenlanges Laufen beansprucht alle Organe am Limit und das lassen sie mich spüren. Durch echte Signale wie Ermüdung oder Schmerz, aber auch in Form von „Fake-News“. Einer der häufigsten Fake-Meldungen bin ich gerade eben mal wieder auf den Leim gegangen. Als Mike sich zum Dixie abmeldete, reklamierte meine Blase spontan Entleerungsbedarf. Diskret hinter Büschen verborgen leistete die urologische Abteilung allerdings einen Offenbarungseid: Nicht ein Tropfen verfügbar! Wie kann das sein? Zu Müssen glauben und dann nicht Müssen können? - Die Blase trifft keine Schuld an diesem Bluff, noch irgendeinen anderen Teil meiner physischen Existenz. Der Kopf ersinnt das Signal als List, erschleicht sich auf diese Weise eine Extrapause. Das passiert mir häufiger, so ich nur ausreichend erschöpft bin, in Wettkämpfen aber auch im Training.

Nach einigen in Berliner Wohngebieten vertrabten Kilometern ist nun wieder Natur angesagt, Wiesen und Wald, Wald und Wiesen. Recht bald holt Mike mich ein. Die gut fünf Kilometer bis zum nächsten VP hinterlassen keine Spur in meinem Gedächtnis. Kein Bild, keine Begebenheit, noch andere äußere Sinneswahrnehmungen, mit denen ich belegen könnte: Udo war dort! Lediglich ein Foto entsteht in dieser Zeit. Mangels Motiven und ausreichend Sonne. Die wirft inzwischen lange Schatten, steht meist unsichtbar hinter Bäumen.

VP 18, „Schönwalde“, Km 116, Laufzeit: 13:59:05 h, Platz 65

Ein Streckenposten am Ende des asphaltierten Feldweges ist das Erste, was wir vom nahen VP wahrnehmen. Weshalb steht er da, wo er steht? Die Pfeile weisen ummissverständlich den Weg. Und geradeaus geht’s ohnehin nicht weiter, weil der Weg in eine Landstraße mündet. Vermutlich besteht seine Aufgabe darin ausgelaugte, unachtsame Krieger am Betreten ebendieser Straße zu hindern, sie vorm „Heldentod durch Überfahrenwerden“ zu bewahren. Da die meisten Veranstalter - nicht zuletzt infolge Helfermangels - auf Eigenverantwortung setzen, hält sich hartnäckig die Vermutung eines (Beinahe-?) Unfalls in einem der Vorjahre. Warum ich nicht auf die Idee komme Mike zu fragen, der seit 2014 jede Auflage des Mauerweglaufes in seiner Sammlung hat, weiß ich selbst nicht.

Parallel zur Straße über eine Wiese und zwischen Bäumen zum VP. Großes Hallo der Supporterinnen-Vollversammlung, ergänzt durch einen Überraschungsgast und -Fan: Natascha und Ines starten ihr Bemutterungsprogramm, Conny fotografiert (ihre Helden sind schon durch) und Ulli, samt kleiner Tochter wird erst einmal gebührend begrüßt. Ulli - eine Freundin von Mike und Natascha - hat es sich nicht nehmen lassen nach stressiger Heimfahrt durch halb Deutschland abends noch an die Strecke zu kommen. Das liebenswerte Palaver wird dauern und so nütze ich die Gelegenheit, um im plastifizierten, stillen Örtchen auf ein sich seit längerem anbahnendes Bedürfnis zu reagieren.

Acht Uhr abends - Mike hat sich bereits mit Armlingen und Mütze für die Fortsetzung der Schlacht bei Nacht gerüstet. Schon der Gedanke an mehr Stoff auf dem Leib verursacht mir Schnappatmung. Stürbe bei knapp unter 20°C und Windstille augenblicklich den Überhitzungstod. Sollte sich die Witterung nicht dramatisch verschlechtern, hoffe ich ohne Jacke auszukommen.

Ein bisschen fühle ich mich wie daheim, wenn liebe Menschen zu Besuch kommen und man in trauter Runde den Tag ausklingen lässt. Spass haben, gemeinsam essen und trinken. Nur finde ich nicht die Ruhe es unter diesen Umständen auszukosten. Entschieden hat sich nur mein Körper: Dem reicht’s schon lange! Der Kopf dagegen liegt im Widerstreit: Will bleiben und will los. Beides zugleich. Dennoch kein wirkliches Ringen, weil abzubrechen undenkbar ist. Erst der letzte Schritt, der über die Ziellinie, wird mich zufriedenstellen.

Zehn Minuten Aufenthalt, die bisher längste Pause. Natürlich fällt es mir schwer den Rhythmus wiederzufinden, zumal eine Streckenänderung uns ein paar hundert Meter holprigen Untergrund zumutet. Zurück auf dem asphaltierten Mauerweg stellt sich der gewohnte Trott jedoch rasch wieder ein. Ein bisschen lebendiger - mental erfrischt - fühle ich mich obendrein, was der Begegnung mit unserer grandiosen Supporter-Fan-Entourage geschuldet ist. Den Rücken gestärkt zu bekommen ist wichtiger als Wasser und Gel. So lange Wille und Zuversicht intakt bleiben, trommeln müde Beine weiter im Takt.

„Hier überraschte mich vor vier Jahren ein Wolkenbruch. Binnen Sekunden stand das Wasser in den Schuhen!“ Mike kommentiert meine Erinnerung einsilbig. Was soll er auch dazu sagen. Schweigend und in Gedanken setze ich die Zeitreise fort: Wildes Rauschen in windgepeitschten Bäumen, Regen ergoss sich einem Wasserfall gleich über mich. Ich fror erbärmlich damals und fürchtete mir Blasen zu laufen. Höchstens zehn Minuten Unwetter, die mir vorkamen wie eine Stunde. Und nur ein Gedanke: In Bewegung bleiben, unter keinen Umständen stehenbleiben! Ich musste bis zum nächsten VP durchhalten, dort Ines treffen und mich von ihr „trockenlegen lassen“ … Heute joggen wir in einen milden, angenehmen Abend hinein, den ich damals, in der Form meines Lebens*, in vollen Zügen hätte genießen können. Heute geht das nur mit Abstrichen. Zum Genießen muss man sich öffnen, alle Sinne von der Leine lassen. Ließe ich das zu, verlöre ich mental die Kontrolle. Stattdessen blende ich negative Wahrnehmungen aus und konzentriere mich auf angenehme: Den Freund an meiner Seite, das Ausbleiben ernsthafter Schmerzen, das anhaltende Schweigen meiner Achillessehne, das zwar zähe aber stetige Vorrücken der Ziffern meiner Distanzanzeige. In den letzten Minuten werfe ich häufiger ein Auge darauf, bis ich es endlich aussprechen darf: „Jetzt nur noch ein Marathon!“

*) Ein erfahrener Läufer spürt, wenn er eine Sternstunde erlebt. Das ist nicht alleine an Zeiten oder Platzierungen festzumachen. Die Art und Weise wie er die Leistung erbringt ist gleichermaßen bedeutend. Den Mauerweglauf 2014 trat ich voll austrainiert an und erwischte die wohl beste überhaupt denkbare Tagesform. Physisch und mental passte alles. Weder davor, noch seither ging mir ein Ultrawettkampf so leicht vom Fuß. Trotz Zeitverlusten infolge Verlaufens und Schlechtwetters konnte ich in einer Zeit von 17:18:55 Stunden Platz 17 im Gesamtklassement erringen.

Die Strecke schon einmal gelaufen zu sein gereicht mir mehr und mehr zum Vorteil. Vieles erkenne ich wieder, vergleiche aktuelle Ansichten mit verschütteten, nun aufgewirbelten Eindrücken von damals. Nehme auch manchen Schnipsel der Route gedanklich vorweg und begrüße ihn wie einen alten Bekannten. - Die ständige Konfrontation mit Erinnerungsbildern, mehr noch die Abweichung zwischen Erinnerung und Istzustand lenkt ab. Vier, fünf, vielleicht mehr Schritte komme ich währenddessen voran, ohne Erschöpfung und Jammer spüren und gegen sie ankämpfen zu müssen.

Minuten der Erwartung, die mich ein klitzekleines bisschen - soweit der Geist für nachrangige Emotionen noch Energie bereitstellt - unter Spannung setzen. Schließlich bin ich sicher: Diese mäßig ansteigende Rampe in einem Nadelwäldchen laufe ich heute zum dritten Mal entlang! Zweimal aufwärts auf 100 Meilen-Kurs, zuletzt abwärts am Samstag vor Ostern als Teilnehmer des Berliner Ostermarathons (siehe Laufbericht). Umso ge-läuf-iger ist mir nun jeder weitere Meter entlang der oberen Havel, die sich allerdings noch eine ziemliche Weile hinter Bäumen unseren Blicken entzieht. Wir trotten voran, Mike wie so oft anderthalb Schritte schräg versetzt voraus. Hat sich so ergeben, war nicht abgesprochen. Nichts war abgesprochen, alles völlig selbstverständlich, als bezwängen wir zum tausendundeinten Male einen langen Kanten gemeinsam. Mike einen Wimpernschlag voraus, ich hinterdrein. Wer wollte entscheiden, welche Dynamik diesem Tandem innewohnt? - Zieht Mike mich, oder sorge ich dafür, dass er nicht über-zieht? Spornt mich der Anblick seiner nach mehr als 100.000* Schritten unbegreiflichen Leichtfüßigkeit an? - Oh ja, ich neide sie ihm!! Und wie!! - Oder profitiert er vom zementierten Gleichmaß meiner müden Schritte, das zugeführte Gel- plus Körper-Restenergie so ökonomisch wie irgend möglich verwaltet? Wer nimmt sich wen zum Vorbild? - Gib dir die Antwort selbst, sie liegt auf der Hand - pardon - auf der Strecke …

*) Einfache Rechnung: Ungefähr 1.000 Schritte ergeben einen Kilometer, weit mehr als 100 Kilometer liegen hinter uns, mithin deutlich mehr als 100.000 Schritte …

Tag und Nacht ringen miteinander. Wie seit Äonen wird die Nacht in längstens einer halben Stunde den Sieg davontragen. In schwindendem Büchsenlicht verändern Umgebung und Geläuf ihren Charakter: Jetzt Rad- und Spazierweg unter den Füßen, eine schmale sich über hunderte Meter hinziehende Parklandschaft beidseits als Wettkampfkulisse. Wir folgen der flussseitigen Peripherie der Ortschaft Nieder Neuendorf. Der Ortsname ist mir geläufig, weil wir auf die nächste „Tränke“, den „Grenzturm Nieder Neuendorf“, zuhalten. Dort steht ein weiteres, der weithin sichtbaren Denkmäler. Mahnung für alle, Fanal gegen Knechtschaft und Unrecht. Allenfalls noch flüchtig vermag mich der Ursprung unseres Laufes zu streifen, wirkliche Erschütterung löst er schon lange nicht mehr aus. Je erschöpfter ein Mensch, umso mehr vom eigentlichen Menschsein schaltet das Programm „Überleben und Durchkommen“ ab. Vieles lässt mein Großhirn noch zu - das Empfinden von Freundschaft und rückhaltlose Loyalität zum Beispiel, wenn mein Blick die Gestalt neben mir einfängt. Um Mauertote zu trauern wird auf unbestimmte Zeit verschoben …

VP 19, „Grenzturm Nieder Neuendorf“, Km 123,3, Laufzeit: 15:07:40 h*, Platz 65

*) Unverständliche Zeitdifferenzen von einem Checkpoint zum nächsten erklären sich aus der uneinheitlichen Aufstellung der Zeitmessung, mal vor, mal hinter dem VP. Nur scheinbar brauchten wir deshalb für die letzten 5,8 km deutlich über eine Stunde.

Der Wachturm kommt in Sicht, mit ihm das Büffet des Verpflegungspunktes und wie erwartet Ines. Sie zu sehen zaubert ein Lächeln auf meine Seele. Ob meine Gesichtsmuskeln noch in derselben Weise reagieren können? - Die nun folgende „Kostümierung“ habe ich hinausgezögert so lange es ging. Beim nächsten Support von Ines wird man die Hand nicht mehr vor Augen sehen, also bleibt mir keine Wahl: Ich ziehe die Warnweste an. Eigentlich zu weit der Fetzen, da ich jedoch den Trinkgürtel drüber schnalle, fällt das nicht ins Gewicht. Zuletzt kröne ich mich mit der Stirnlampe und bin nun gerüstet für die Nacht.

Während meiner „Nachtkampf-Aufrüstung“ versucht die Frau hinterm Büffet den Mann - ihren Mann - vor dem Büffet zum Rückzug zu bewegen. Er solle sich nun endlich Schlafen legen, da er sie schließlich um Mitternacht ablösen müsse. Außerdem fordert sie ihn mit Nachdruck auf endlich den Hund - ihrer beider Hund - vom Läuferbüffet fernzuhalten, das besagter Vierbeiner mit erhobener Nase umschleicht, wie die Katze den heißen Brei. Es dauert, bis Hören und Sehen sich zu Erkennen wandeln: In den Betreibern des VP habe ich Frank-Ulrich Etzrodt, alias „Etze“, und seine Frau vor mir, die Veranstalter des Berliner Ostermarathons. Was wären wir Läufer ohne solche Leute, die uns übers Jahr große Teile ihrer Freizeit schenken? - Mich als Osterläufer zu outen bin ich schlicht zu k.o., lege zum Abschied in mein Dankeschön jedoch allen Nachdruck, dessen ich noch fähig bin.

Kurz nach neun brechen wir auf, etliche Schritte weit von Schmerzen geplagt. Normale Schmerzen, die sich nach und nach bis fast zu Wahrnehmungsgrenze verlieren. Wie können Schmerzen normal sein?, wirst du vielleicht fragen. Ein verantwortungsvoll mit seinem Körper umgehender Ultraläufer stellt sich die „Schmerzfrage“ immer wieder: Wann ist gegen den Schmerz zu laufen vertretbar, ab wann sind Folgeschäden zu befürchten? - Schmerz ist ein Warnsignal, das der Körper unter anderem bei Überlastung von Teilen des Bewegungsapparates sendet. Wann und wie lange man diese Warnung missachten darf, dafür gibt es keine allgemeingültige Formel. Du kommst aber nicht als fertiger Ultraläufer auf die Welt. Bevor du dich auf elend lange Distanzen wagst, sammelst du Erfahrung auf kürzeren Strecken, beginnst einen achtsamen Dialog mit deinem Körper. Lernst seine Signale zu verstehen, versuchst herauszufinden, wie lange du ihn ungestraft be- und zeitweilig auch überlasten darfst. Diesen Dialog pflege ich noch immer, er endet nie. Unter anderem deshalb, weil der Körper sich über die Jahre verändert. Heute hört sich das so an …

Körper: „Es fühlt sich Sch… an, was du mir zumutest! Ich hab längst keinen Bock mehr! Jeder Schritt setzt mir zu!“

Kopf: „Mag sein, aber du hältst es aus! So schätze ich dich ein! Wirklich zustoßen wird dir nichts!“

Immer seltener konsultierte ich die Zeitentabelle hinter meiner Startnummer, weil ich zum zeilenrichtigen Ablesen im Dämmerlicht stehenbleiben muss, wozu mir der Antrieb fehlt. Und diesmal hätte ich es besser unterlassen, weil es mir einen Dämpfer versetzt. Womit ich ohnehin rechnete, gegen alle Vernunft aber hoffte es bliebe aus, ist nun passiert: Zum ersten Mal hinken wir dem Zeitplan bemerkenswert hinterher. Weil die Pausen zu lang ausfielen und ich schon zu groggy bin, um mit mehr Tempo Zeit aufzuholen.

Die zum See erweiterte Havel bleibt unsere Begleiterin. Viele reizvolle Wasseransichten könnte ich mitnehmen, bräuchte nur häufiger den Kopf zu heben oder ihn zur Seite drehen. Dergleichen unter-läuft mir allenfalls noch bei-läufig. Der Sinn fürs Schöne und Reizvolle ist abgeschaltet. Das mag deprimiert klingen, soll aber nur die Realität wiedergeben. Mental bin ich absolut stabil, sogar blendend gelaunt, stellt man meine angegriffene physische Verfassung in Rechnung. Heike und ihr Fahrrad-Supporter Christian überholen uns. Anscheinend hat sie sich wieder gefangen, nachdem sie uns ein paar Kilometer vorm letzten VP ziehen lassen musste. Oder war’s schon vorher? - Mein Gefühl für Raum und Zeit, mehr noch die Zuordnung von Wahrnehmungen bröckelt. Nun ziehen Heike und Supporter belebten Schrittes, respektive beschleunigten Pedales, davon. Mike gibt dem Duo einen Auftrag mit auf den Weg: „Richtet bitte Conny aus, sie möge mein Drop Bag bereithalten!“ - Eine Bitte nur. Völlig normal und ich denke mir nichts dabei. Dächte nicht einmal darüber nach, wenn ich einige Veranlassung hätte nachzudenken. Ich bin zu müde zum Denken.

Die Havel demonstriert Bescheidenheit, besinnt sich auf ihre Ureigenschaft als Fluss. Entlang der nächsten Kilometer ist das andere Ufer nur einen Steinwurf weit entfernt. Unweit der Uferlinie dahin, schließlich einen Haken um ein Hafenbecken schlagend. Noch immer ausreichend Licht, um ohne Lampe auszukommen. Der Mauerweg mündet in eine Straße, die Zielgerade vorm nächsten Checkpoint.

VP 20, „Ruderclub Oberhavel“, Km 128,1, Laufzeit: 15:50:41 h, Platz 63

Mike wetzt voraus, muss zur Toilette. Ich stelle mich am VP dicht vor eine Hauswand. Muss unter allen Umständen vermeiden im Luftzug auszukühlen, um keine von Erschöpfung angezettelte Schüttelfrostattacke zu riskieren. Meine Augen streifen suchend übers Läuferbüffet und tatsächlich: Hier gibt es Kaffee! Wider bessere Erfahrung lasse ich mir einen halben Becher einschütten: Unter Garantie wird mein Magen beleidigt auf die braune Brühe reagieren. Aber Kaffee ist göttlich und Kaffee ist heiß! Ein bisschen Wärme, erst an den Händen, dann im Mund, später im Bauch, wird die inneren Temperaturfühler davon abhalten Alarm zu schlagen.

Im Schutz der Wand stehend sehe ich Mike von der Toilette zurückkommen. Conny nimmt ihn in Empfang, reicht ihm sein Drop Bag. Conny hatte angekündigt hier auf uns warten zu wollen, auch wenn ihre Schützlinge Rüdiger und Frank bereits durch sind. Mike hat auf einer Bank Platz genommen, ein paar Meter von mir entfernt, durchwühlt seine Tüte, isst, trinkt, verstaut Ausrüstung. Dieser VP ist zugleich Wechselpunkt für die Staffeln. Entsprechend viele Läufer und Betreuer wuseln herum, verstellen vielfach die Sicht auf Mike. Ich habe keine Eile, will dem Freund alle Zeit einräumen, die er braucht, verweile unterdessen an meinem windgeschützten Platz. Bis ich „Unruhe“ auszumachen glaube, die von Mike ausgeht, folglich unterstelle, er habe seine Versorgung beendet.

Bereitschaft, jedoch keine Eile signalisierend trete ich auf Mike und Conny zu. „Da ist er ja!“ Connys Überraschung zufolge hatten die beiden mich nicht vor der Wand stehen sehen. Rasch erhebt sich der Freund, wendet sich mit Blick auf das Durcheinander des am Boden ausgebreiteten Drop-Bag-Inhaltes an Conny: „Kannst du das bitte einpacken und mitnehmen?“ - Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ansatzweise spüre, ist Mikes Erleichterung. Erst Tage später, als all die kleinen und großen, die wichtigen und scheinbar belanglosen Momente unseres „Paarlaufs“ noch einmal Revue passieren, fällt der Groschen: Wissend, dass ich kurze Pausen bevorzuge, unternahm Mike alles, um den Aufenthalt an diesem VP zu begrenzen, bat über Heike sogar darum sein Drop Bag bereitzulegen. Wenn es hart wird, schrumpfe ich, verlege mich vom Agieren aufs Reagieren, werde immer passiver und irgendwann nahezu unsichtbar. Den schon weitgehend „transparenten“ Udo konnte Mike am windgeschützten Platz nicht ausmachen. Wusste nicht, ob ich vielleicht schon aufgebrochen war. Ein bisschen Scham und Reue steigen nachträglich in mir hoch, vergegenwärtige ich mir des Freundes Not dort am VP …

Erste ungelenke Schritte, flüssiger werdend, „Tapp“ für „Tapp“ den Schmerz abschüttelnd. Vorbei an einem „Vergnügungsareal“ jenseits der Straße, von dem wummernde Musik herüber schallt, wie schon beim letzten Mauerweglauf. Der Abend holt Schwung fürs bevorstehende „Saturday Night Fever“ … Wir traben über die Brücke zum gegenüber liegenden Ufer der Havel, überleben einen Kreisverkehr, nutzen den Radweg am Straßenrand. Noch Restlicht vom Himmel oder schon völlige Dunkelheit? Ich erinnere mich nicht. Wohl aber an den Umstand 2014 als es dunkel wurde, dem Ziel bereits zwei Checkpoints - etwa 10 km - näher gewesen zu sein.

Diese Feststellung mündet eher in Staunen als Bedauern. Wie immer übrigens, wenn ich meine aktuelle mit der Leistungsfähigkeit vor gar nicht mal so ferner Zeit vergleiche. Dann schießen Fragen ins Kraut: Ob es wohl allen Läufern so ergeht, wenn sie älter werden? - Wie viel vom Leistungsverlust geht zu Lasten läuferischen Schlendrians? - Welchen Einfluss hatten Verletzungen und orthopädische Krisen? - Inwieweit verschleppten überlange Kanten wie Spartathlon und Olympian Race das Tempo auf ein Maß, mit dem der rostige Dampfer inzwischen kein blaues Band mehr gewinnen kann? - Fragen, auf die ich mir selbst mit Wahrscheinlichkeiten und Hypothesen antworte. Gewissheit erlange ich nicht, wohl aber die feste Überzeugung diese und andere Einflüsse zum Gordischen Knoten verknüpft zu haben. Wie oder womit schlägt man ihn durch?

Vom leicht ansteigenden Radweg verzweigen wir in den Wald. Mehr Vermutung als Feststellung, weil ich nichts mehr außerhalb des eng begrenzten Zirkels wahrnehme, den das Licht unserer Lampen erhellt. Auf übergangslos holprigem Weg vermissen meine Füße nach wenigen Schritten ihren geliebten Asphalt. Den und flaches Gelände, weil die Route sich in stetem Wechsel, auf und ab, mal fordernder, mal weniger anspruchsvoll, fortsetzt. An diese Buckel erinnere ich mich ebenso wenig, wie an viele andere zuvor. Vermutlich nahm ich sie beim letzten Mal, im Formhoch vor Kraft nur so strotzend, gar nicht als solche wahr. Es muss auf diesem Streckenteil, in der Stunde vorm Dunkelwerden gewesen sein, als mir ein läuferisches Zwischenhoch geradezu Flügel verlieh. Die GPS-Anzeige, in der sich Zwischenzeiten von deutlich unter 6 min/km abbildeten, wie auch die unfassbare Lockerheit meiner Beine nach immerhin 130 Kilometern, versetzten mich in rauschhafte Begeisterung. Heute muss ich mir hier jeden Meter erkämpfen. Aber ich komme vorwärts und keine der Steigungen bringt mich aus dem Tritt. Immerhin!

Wir traben an Heike und Begleitradler Christian vorbei, die einen technischen (?) Stopp einlegen. Mike fragt nach Wasser, weil seine Flasche leer ist. Sicher schwingt ein bisschen Empörung in meiner Stimme mit: „Mike ich hab genug Wasser, kann dir was abgeben!“ - Während wir umfüllen steht die Frage wie mit leuchtstarkem Laser in den Nachthimmel geschrieben: Warum in aller Welt hat er mich nicht schon vorher gefragt? - Fragen ist einfach, die Antwort setzt Einfühlen und Denken voraus. Zwei derzeit schwierige Disziplinen für Udo … Längst sind wir wieder auf Kurs, als sich mir die Antwort und mit ihr ein weiteres Mosaiksteinchen von Mikes rücksichtsvoller Seele erschließt.

Wir traben langsam vorwärts. Ich bin müde. Kürzest mögliche Beschreibung dessen, was wir seit Stunden tun und wie ich mich - gleichfalls seit Stunden - fühle. Im Grunde hätte ich diese beiden mageren Sätze seit meinem Sturz gebetsmühlenartig wiederholen müssen, wollte ich meine physische Not wenn schon nicht nachfühl-, so doch wenigstens begreifbar machen. Nun umfängt uns auch noch völlige Schwärze, der zwei Stirnlampen ein paar Kubikmeter Raum entreißen, sie im fahlen Lichtschein belaufbar ausleuchten. Mike voraus, ich im Schlepptau hinterher. Mehrmals frage ich mich, ob ich ihn aufhalte. Ob ich ihn nicht - um unserer Freundschaft Willen und aus Gründen der Fairness - aus diesem Tandem entlassen sollte. Meine Lippen bleiben verschlossen. Einerseits vor Schwäche; überwiegend, weil ich sicher bin, dass Mike unser Duett bis ins Ziel fortsetzen will.

Nichts zu sehen, nichts geschieht. Wir wechseln kaum ein Wort miteinander. So etwas wie „Komm Udo! Jetzt sind es nur noch 30 Kilometer!“ raunte Mike mir zu, wollte mir - zugleich vielleicht sich selbst - ein wenig Mut machen. Wie auch immer: Ich lohnte es ihm nicht, war im falschen Augenblick spontan, reagierte unüberhörbar mit resigniertem Lachen. Ich kann es nicht mehr ungeschehen machen, dieses Lachen. Und eine wie auch immer formulierte Plattitüde hinterher zu schicken klänge allzu durchsichtig und schal.

VP 21, „Frohnau“, Km 132,2, Laufzeit: 16:32:48 h, Platz 62

Licht am Ende des Tunnels, der nächste VP. Es wird heller, zuletzt taghell, denn meine Sonne erwartet uns. Egal wann, wo und unter welchen Lichtverhältnissen meiner Frau zu begegnen vertreibt die Dunkelheit. Aus meinem Kopf zwar nur, aber - erinnere dich! - mit dem erringe ich letztlich Erfolge. Die Uhr tickt. Wahrscheinlich klammere ich mich an Ines' Nähe, denn um ein bisschen Wasser und Gel zu bunkern braucht man keine sieben Minuten. Auch die Beantwortung der berechtigten Frage, wie sie denn diesen, ringsum von Dunkelheit abgeschotteten Ort gefunden habe, dauert nur Sekunden. Sie zeigt in Richtung einer Waldschneise, an deren Ende, höchstens hundert Meter entfernt, ein Wohngebiet liegen soll.

Abschied bis zum übernächsten VP. Ich schaue auf meine an die Startnummer geheftete Tabelle: Etwa 10 km bis dahin. ‚Und dann sind es keine 20 km mehr bis ins Ziel!!‘ denkt es in mir weiter, begleitet von einem kräftigen Schub Mut und Entschlossenheit. Dass ich nicht aufgeben werde, war immer klar. Dass ich es tatsächlich packen werde, begreife ich ziemlich genau jetzt!

Ich folge Mike in die Dunkelheit, auf den urplötzlich schweißtreibend ansteigenden Weg. Gehend zunächst, mit merklicher Verzögerung tippelnd. Nicht weit, dann lässt mich Unsicherheit verharren. Ich schwenke die Lampe seitwärts, zurück, wieder in Laufrichtung. Wo ist Mike? Während ich noch bei Ines rastete, lief er voraus, um sich mit etwas Abstand zum VP zu erleichtern. Habe ich ihn missverstanden? Sekunden des Zweifels, die mir Dunkelheit flugs zu etwas Großem aufbläst … das schließlich laut- und rückstandslos, einer Seifenblase gleich zerplatzt, als er von irgendwoher wieder auftaucht. Rasch formieren wir uns zum eingespielten Duo und besiegen die Steigung …

Auf und nieder immer wieder … keine Zeile aus einem Trinklied, sondern Realität auf dem Mauerweg. Wer die Gegend um Berlin als flach beschreibt, kann kein Ultramauerwegläufer sein. Lästig sind nicht die vielen Bodenwellen an sich. Im Dunkeln kann man sich nicht vor der Steigung wappnen. Und klebt man auf ihr, ist kein Ende abzusehen. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, schöbe ich hier mutterseelenallein meine Lichtblase über den Planeten. Schwierig. Sprichwörtliches zischt mir durch die Birne: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Völliger Quatsch. Wir teilen Härten und Unbill, sind verbündet und verschworen. Doch jeder trägt die ganze Last für sich allein. Es ist eher so: Ich richte mich an Mikes Beispiel auf. Ihm geht es womöglich ähnlich. Der Vorteil: Wir stützen uns gegenseitig wie die Streben eines Gerüsts. Das Risiko: Bräche eine entzwei, das Ganze geriete ins Wanken.

Ohne Zeitgefühl durchs Dunkel. Wie weit, wie lange? Irgendwann wieder Licht. Eine stille Straße. Wohnsiedlung, mit identischen, militärisch exakt ausgerichteten Wohnblöcken. Vor vier Jahren war’s hell und Blumenkästen konterkarierten die spontane Idee eine Kaserne zu besichtigen. Wir joggen durch die auf dem Reißbrett geplante Anlage. In der Tiefsee meiner Lauferinnerungen brauche ich nach deren Namen gar nicht erst zu tauchen.* Der ist und bleibt verschollen. Zuletzt wendet sich die Straße jäh einer Ausfahrt mit Pförtnerhäuschen zu. Noch immer keine Lust auf Rätselraten, auch nicht zum Detail einer einstmals sicher besetzten Pförtnerloge. Einfach vorbei, vorwärts und wieder ein paar Meter weniger zum Ziel.

*) Invalidensiedlung.

VP 22, „Naturschutzturm“, Km 138,6, Laufzeit: 17:28:06 h, Platz 63

Wohnstraße, Fernstraße, Straße im Kreisverkehr, Straße durch ein Gewerbegebiet, schlussendlich „Laternenlicht Ende“ und zurück ins baumbestandene Ungewisse. Ein holpriger Pfad entlässt uns nach ein paar stolpergefährdeten Metern auf einen Forstweg. Im Schein der Lampen ist Letzteres bloße Vermutung, die kurz darauf, am Checkpoint „Naturschutzturm“, ihre hell erleuchtete Bestätigung findet.

Von besagtem Naturschutzturm sieht man nicht viel. Ich hebe auch nur kurz den Blick zum Wiedererkennen, um mir zu bestätigen: Hier warst du schon. Kamst im letzten Büchsenlicht an und musstest beim Aufbruch die Lampe einschalten. Ines versorgte mich seinerzeit im Pavillon hinter dem Turm und ich gönnte mir eine unbotmäßig lange Pause. Heute wartet niemand auf uns. Einer der wenigen VP, an denen wir mit offiziellem und dem Beistand der Laufgötter Vorlieb nehmen müssen. Darum fällt die Pause merklich kürzer aus, zumindest kommt es mir so vor (immerhin rasten wir gemäß GPS-Track vier Minuten).

Zurück in den schwarzen, unersättlichen Schlund der Nacht. Erst Asphalt unter den Füßen, dann plötzlich Pflaster. Jahrzehntealtes, knubbeliges Pflaster. Aufpassen jetzt! Bloß nicht noch einmal stürzen. Seit undenklicher Zeit hatte ich keinen Gedanken mehr an meinen Sturz verschwendet, die nässend blutige Stelle am Knie vergessen. Nun riecht es wieder penetrant nach Risiko. Automatisch werde ich langsamer. Wirklich langsamer oder fühlt es sich nur so an? Für alle Fälle erkläre ich mich dem Freund …

Auch letztes Mal war’s dunkel hier. Ein Begleitumstand der manche Erinnerung grotesk verzerrt: Eine ewig lange Pflasterstrecke hab ich erwartet, um nach kaum mehr als fünf Minuten verdutzt wieder Asphalt unter den Sohlen zu spüren. Asphalt, der uns zurück in bewohnte Regionen bringt, auf unbelebte, immerhin von Laternen beleuchtete Straßen. Zwei-, dreimal noch die Richtung wechseln, dann biegen wir auf die Oranienburger Chaussee ein und ich freue mich auf Ines …

VP 23, „Oranienburger Chaussee“, Km 143,1, Laufzeit: 18:05:22 h, Platz 58

Wie lang so eine Chaussee sein kann: Mehr als einen Kilometer weit nehmen wir die wechselnde Parade von Wohnhäusern, Fast Food Tempeln, Tankstellen, Autohäusern, Restaurants, Supermärkten und anderen Gewerben ab, bis endlich der kleine, unscheinbare VP am Straßenrand ins Blickfeld rückt. Da ist sie: Ines! Natürlich ist sie da, was sonst? Dennoch spüre ich wie Anspannung weicht und der Freude Platz macht meine Frau hier zu sehen. Hier: Mitten in der Nacht, am Rande von Berlin, in der Endphase eines elend langen Wettkampfs.

Üblich: Wasser, Gel, Zuspruch, ein paar gewechselte Sätze. Unüblich: Udo setzt sich auf einen bereitstehenden Stuhl. Einladend stand er da, zu einladend. Es wird wehtun, wenn ich aufstehe, aber das ignoriere ich jetzt einfach mal. Vielleicht, um schon ein bisschen Vorgeschmack aufs Ziel zu kosten. Wie es sein wird, wenn ich in … in … egal wann … nicht mehr werde aufstehen und laufen müssen. Noch 18 Kilometer. Weniger als die 20 Kilometer meiner Hausstrecke am Fluss, die mir sofort in den Sinn kommt. Das ist noch weit, weil ich erschöpft bin. Aber absehbar! So was von absehbar! Von diesem Gedanken aufgeladen und erfrischt, erhebe ich mich, schiebe den Schmerz beiseite und laufe an Mikes Seite wieder los. Ines wird uns noch einmal erwarten, an der übernächsten, der vorletzten Station. Eine Aussicht, die mich gleichermaßen stärkt und vorwärts treibt …

Keine Ahnung wie dieser Stadtteil Berlins heißt, in dem wir die nächsten Kilometer abspulen. Muss auch nicht Berlin sein. Möglicherweise treten wir hier Brandenburger Asphalt mit Füßen. Hauptsache zügig vorwärts kommen - nur das zählt. Ein paar andere Läufer voraus, die wir gleich einsammeln werden. Solche Begegnungen wurden zuletzt immer seltener, in solcher „Bündelung“, drei auf einen Streich, erst recht. Ich muss schon an ihm vorbei tippeln, mich freudig mit „Super Udo!“ grüßen lassen, um Frank zu erkennen. Obschon ein Freund zurückbleibt, bringe ich nicht mehr als ein verdattertes „Hallo!“ heraus. Fortgeschrittener Kräfteverfall erklärt es nicht. Ich bin schlichtweg zu überrascht Frank ohne seinen Zwillingsbruder anzutreffen, vor allem so weit „hinten“ im Feld!

Erneut umgibt uns völlige Dunkelheit. Ich laufe nicht gern im Finstern, um nicht zu sagen: Ich hasse es! Bringe das Opfer, wenn ein Wettkampf nicht anders zu bestehen ist. Mit Laufpartner fällt es mir leichter aber nicht leicht. Seit Stunden quäle ich mich mit Willenskraft voran, dazu noch diese Dunkelheit. Sie verstärkt das (irrationale) Gefühl den Elementen ausgeliefert zu sein. Nicht nur einmal wurde ich gefragt, wie das geht: Eine Distanz, die die meisten Menschen reflexhaft zum Autoschlüssel greifen lässt, laufend zu überwinden. Dabei Stunden, einen Tag oder noch länger inneren wie äußeren Anfechtungen zu widerstehen; Schmerzen zu ertragen, der Erschöpfung zu wehren. Gewöhnlich antworte ich mit dem, was man mutmaßlich von einem „Extremen“, einem „Verrückten“, wie mir erwartet: Leiden muss man können. Lange leiden. Und einen unbeugsamen Willen muss man besitzen. Darüber hinaus gibt es jedoch ein paar mentale Kniffe, die stundenlanges Leiden erträglicher gestalten. Gebetsmühlenartig wiederholte Mantras zum Beispiel oder das:

„Es ist ein ganz simpler Trick, sich einfach das vorzustellen, was man erreichen möchte, denn so kommt die geistige Verfassung, die man dazu braucht, von ganz allein.“

Aus: „Wie viel Mensch braucht ein Hund?“ von Maike Maja Nowak

Zig Mal habe ich es mir vorgestellt: Das beinahe dunkle Stadion, die Tartanbahn, mich auf den letzten Metern. Wie ich über die Ziellinie laufe, in Ines Arme. Unendlich müde aber glücklich es geschafft zu haben. Vor Wochen lief dieser Film das erste Mal vor meinem geistigen Auge ab, von da an immer mal wieder. In den Stunden vorm Start, unterwegs und in der Dunkelheit häufiger. Ich will, ich kann und ich werde ankommen! - Mike wird im Ziel an meiner Seite sein. Daran besteht von meiner Seite nicht der leiseste Zweifel. Darum musste ich das Drehbuch meines Films ein wenig umschreiben, sehe uns nun gemeinsam über die Ziellinie rennen!

Ansatzlos, plötzlich, ganz und gar unerwartet stolpert Mike, strauchelt, vermag im letzten Moment einen Sturz zu vermeiden. Das war jetzt knapp. Mir fährt der Schrecken heftig in die Glieder, den Aufruhr in meinem Freund will ich mir gar nicht vorstellen. Doch was soll’s: Es ist nichts passiert, kein Grund sich von dem Vorfall runterziehen zu lassen. Weiter also, aufwärts, abwärts, voran. 30 Schritte, 50 - oder waren es mehr? - und wieder strauchelt Mike anlässlich einer Unebenheit im welligen Asphalt. Völlig entnervt bleibt er stehen, für Augenblicke außer sich. Natürlich verharre auch ich an Ort und Stelle, hilflos, ratlos. Was sollte ich auch tun? - „Lauf schon mal langsam weiter!“ fordert der Freund mich auf. „Ich muss mich erst mal sammeln!“ Kurz nur zögere ich, weil es mir widerstrebt Mike in dieser Situation allein zurück zu lassen. Doch dann verstehe ich: Er muss sich fokussieren, zu konzentrierterem Laufen ermahnen, womöglich hart mit sich ins Gericht gehen. Und das funktioniert nicht, wenn da einer steht und wartet …

Also trabe ich alleine weiter, verhaltener natürlich, um Mike das Aufholen zu erleichtern. Ab und zu wende ich mich um, hoffe seine Lampe zu sehen. Ein Wunsch der lange unerfüllt bleibt. Aufwärts jetzt, fordernd und lange. Auf diesen Anstieg habe ich gewissermaßen als Vorankündigung des nächsten Verpflegungspunktes gewartet. Der steht genau dort, wo der mit Abstand längste Anstieg des Mauerweglaufes den höchsten Punkt erreicht. - Licht vom Kontrollpunkt voraus. Licht hinter mir. Mike holt auf, ist heran. Pause …

VP 24, „Lauftreff Lübars“, Km 148,4, Laufzeit: 18:53:41 h, Platz 57

Fünf Minuten Hantieren laut GPS-Aufzeichnung. Wobei verrinnen die vielen Sekunden? - Nie und nimmer braucht ein Mensch so viel Zeit, um seinen Magen mit Gel und Wasser zu beschicken, vielleicht noch leere Gelbeutel zu entsorgen und ein Dankeschön an den Mann oder die Frau zu bringen. Selbst wenn man vom Büffet noch einen Becher alkfreies Bier konsumiert und eine Kleinigkeit nascht ... zwei Minuten, drei, okay, aber keine fünf. Verpflegungspausen bei sehr langen Kanten gehorchen der Natur Schwarzer Löcher im Universum. Sie reißen alles an sich, sogar die Zeit. Gewaltige Schwerkraft regiert, die deinen Bewegungen alles Flüssige, gut Koordinierte nimmt, das Denken extrem verlangsamt. Zäh geht dir alles von der Hand und mit unsäglicher Mühe raffst du dich auf, entkommst nur knapp der Anziehungskraft des Schwarzen Lochs.

Diesmal begleitet ein Streckenposten unsere ersten ungelenken Schritte, geleitet uns über eine Straße, wie ein Schülerlotse die Erstklässler auf dem Zebrastreifen. Mit guten Wünschen für die letzten 13 Kilometer schickt er uns vom vergleichsweise harmlosen ins weltverschlingende, all-umfassende Schwarze Loch …

Wahrnehmungen und Gespräche: Fehlanzeige. Die Achse Augen-Hirn bewertet lediglich die Tragfähigkeit von ein paar Quadratzentimeter Boden, auf den ich den übernächsten Schritt setzen werde … Kopf drehen, zur Seite schauen - geht nicht. Dazu fehlt mir jeglicher Antrieb. Apathie vom großen Zeh bis in die Spitzen meiner schweißnassen Kopfhaare. Obwohl … Apathie steht für Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber allem. So stimmt das nicht. Das meiste ist mir gegenwärtig tatsächlich vollkommen schnurz. Da draußen, im Lichtschein und drüber raus. Auch was mein Innenempfinden angeht. Schmerzen - natürlich gibt es sie, von Blasen ausgehend zum Beispiel - rangieren sogar unterm Hyperlativ von egal: Sch…egal! Halte ich aus. Was hat dann noch Bedeutung? - Die wirklich wichtigen Dinge: Das Ziel! Ankommen und siegen! Vorher noch einmal Ines treffen! Mit Mike laufen, der nun einige Schritte voraus ist. Daran hänge ich. Sehr. Nennst du das Apathie?

Wahrnehmungen und Gespräche: Fehlanzeige. Der in Endlosschleife wiederholte, allenfalls für Minuten angehaltene Zieleinlauf-Film füllt das Vakuum im Bewusstsein. Erinnerungen besetzen den Rest. Wo heute Stille herrscht, irgendwo rechts von mir, ein paar hundert Meter entfernt, fand damals ein Open-Air-Schlager-Festival statt. Ich wusste, dass ich Zeile und Melodie wehrlos ausgeliefert sein würde, sobald ich hier vorbeikomme … „Atemlos durch die Nacht“ … Enervierend dieser Schlager. Schon ausgeruht krieg ich Zustände, wenn er von irgendwoher an mein Ohr dringt und ich mich nicht durch blitzartiges Ausschalten vor ohr-aler Nötigung schützen kann. Und nun dieses Erinnerungsecho. Wie schaltet man sein Hirn ab? - Vielleicht hätte ich ein Lied vor mich hin summen sollen. Das einzige von dem ich den kompletten Text kenne. Und auch auf die Gefahr hin von Mike des nahenden Schwachsinns bezichtigt zu werden: ‚Alle meine Entchen schwimmen auf dem See, schwimmen auf dem See, Köpfchen in das …‘

Die Lücke wird größer, bald klaffen fünfzig Meter zwischen Mike und mir. Bin ich langsamer geworden? - Ein Jota vielleicht, mehr auf keinen Fall. Vor allem nicht binnen des halben Kilometers, auf dem die Kluft sich auftat. Ich laufe seit Stunden stoisch langsam aber stabil und daran wird sich auch nichts mehr ändern. Nichts könnte mich jetzt noch aufhalten! - Also wurde Mike schneller. Ein schwaches „Warum?“ huscht durchs Oberstübchen, verhallt. Ebenso die unscharfen Echos etwaiger Erklärungen: Vor mir am nächsten VP sein, die Pause um Sekunden verlängern? - Egal. Er weiß, was er tut, weshalb er es tut. Die Trennung ist zudem rein „augenscheinlich“. Das Band zwischen uns dehnt sich, reißen wird es nicht.

Weiter von Erinnerungen belästigt: Rechts huscht der dunkle Schuppen (Rückfront eines Gebäudes?) vorbei, in dem sich vor vier Jahren urplötzlich eine Tür öffnete. Ein Mann mit Hund an der Leine erschien im grellen Licht der Türöffnung. Das Monster von Hund erhob sich auf seine Hinterbeine, hätte mir sicher gerne erläutert, warum ich in seinem Revier nichts zu suchen habe … Irgendwann die nächste abgespeicherte Laufszene: Udo zwischen Bürogebäuden links und Bahndamm rechts. Warum fährt hier heute kein Zug? Damals rauschten sie alle paar Minuten vorbei. Als schließlich doch einer vorbei rumpelt wird mir klar: Damals war ich viel früher dran, fast zwei Stunden vor Mitternacht. Blick zur Uhr: Halb zwei … Um diese Zeit verkehren kaum noch Züge!

VP 25, „Bahnhof Wilhelmsruh“, Km 154,1, Laufzeit: 19:41:12 h, Platz 56

Wiedervereint am VP. Wiedervereint mit meinem Laufpartner und wiedervereint mit Ines. Eigentlich sollte ich Unbehagen und Ansätze von Schuldbewusstsein entwickeln, meine Frau mitten in der Nacht durch dunkle Berliner Straßen zu schicken. Nur um mir jetzt noch ein Lächeln und das wärmende Gefühl ihrer Nähe abzuholen. Sonst brauche ich nichts mehr. Gel ist noch an Bord und Durst hatte ich während der Nachtstunden ohnehin kaum. Zum Glück bleibt mir verborgen, dass in der Nähe eine (friedliche) „Motorradgang“ feiert, an der sie vom geparkten Auto aus vorbei musste …

Weitere sieben Kilometer durch eine Stadt im Tiefschlaf. Dunkle und halbdunkle Zonen wechseln sich ab. Wir schweigen in Eintracht, von seltenen, kurzen Sätzen zur Abstimmung einmal abgesehen. Das bislang zarte, nur zögernd keimende Pflänzchen Vorfreude sprießt nun schneller. Ich sehne mich danach anzukommen, Ruhe zu finden. Zugleich genieße ich die Tatsache nach wie vor keinen Schritt gehen zu müssen. Noch produziert mein ausgelaugter Körper Laufschritte. In diesen Augenblicken, da ich es spüre, verstehe ich, wie die Einheit Körper-Geist das scheinbar Unmögliche zuwege bringt. Morgen und jeden weiteren Tag, an dem ich mich vom Erlebnis Mauerweglauf entferne, werde ich dieser Leistung mehr und mehr mit Unverständnis begegnen. Irgendwann wird sie mir unwirklich wie ein Wachtraum vorkommen. So war es noch jedes Mal.

Wahrscheinlich schafft es das Lächeln nicht in mein Gesicht, obwohl mir danach zu Mute wäre, wenn mein Blick den Freund neben mir streift. Bei Licht musterte ich ihn eher verstohlen, im Beinahedunkel ist solche Diskretion überflüssig. Bald 160 Kilometer gemeinsam. Bevor ich Mike kennen und schätzen lernte, unvorstellbar für mich. Kein Problem im Höhenflug über Berlin, als die Beine ihre Arbeit noch von alleine erledigten. Doch wenn ich leiden muss, stundenlang, wie ein Tier, dann ertrage ich nur ganz wenige Menschen neben mir. Genau zwei fallen mir außer Mike in diesem Zusammenhang ein. Mike musste ich nicht ertragen, er ist in jeder Phase eine Bereicherung.

VP 26, „Wollankstraße“, Km 157,2, Laufzeit: 20:10:57 h, Platz 56

„Ambulanter“ Halt am letzten VP. Helfer, die sich die ganze Nacht um die Ohren schlagen und nicht nur die Nacht. Kann man da ohne Zwischenstopp vorbei laufen, einfach so? Es gab Zeiten, da hätte ich mir darüber keinen Kopf gemacht. Doch Ultralaufen, vor allem auf überaus langen Strecken, von Punkt zu Punkt oder als Runde, haben mich auch in dieser Hinsicht verändert (korrigiert?). Veranstalter, Helfer, Läufer, Unterstützer - eine unteilbare Gemeinschaft. Alle mit demselben Ziel, im tatsächlichen und übertragenen Sinne. Tatsächlich trifft man bei Veranstaltungen wie dem Mauerweglauf nur wenige Menschen, die das (noch) nicht begriffen haben.

Kurz nur der Aufenthalt. Ich folge Mike über die Straße, an einer anderen Stelle als damals. Seltsam, was sich der Kopf merkt und was nicht. Vor vier Jahren überquerten wir die Straße fünfzig Meter weiter, hinter einer Unterführung. Die Fußgängerampel zeigte „rot“, von hinten eilte ein Läufer heran. Ein paar hundert Meter versuchte ich ihm Paroli zu bieten, musste ihn dann aber ziehen lassen. Hatte mich an die Fersen eines Staffelläufers geheftet …

Es ist mir gleichgültig, wie lange es noch dauert. Die letzte Etappe, die finalen Kilometer, sie tun mir weh, lassen mich spüren wie rückhaltlos ich mich für den Mauerweglauf 2018 verausgaben musste. Zugleich empfinde ich Freude. Noch züngelt sie als kleine Flamme, weil für mehr die Kraft fehlt. Freude es gleich geschafft zu haben. Freude den Freund an meiner Seite zu wissen. Auch Dankbarkeit für dieses Erlebnis. Dankbarkeit, die sehr viele Adressaten kennt. Menschen, die auf dieser anstrengenden Runde von mir Notiz nahmen oder mir Gutes taten. Dankbarkeit für einen Körper, dem solche Knochenhärte auch noch in meinem Alter zuzumuten ist. Dankbarkeit auch für die unbeugsame, leidensfähige Seele in diesem Körper. Ohne sie wäre ein Erfolg auf so langen, - seien wir ehrlich - komplett verrückten Distanzen nicht möglich.

Mike und ich nebeneinander, mitten auf einer ausgestorben wirkenden Wohnstraße. Wie er empfindet, weiß ich nicht. Gerade jetzt, zum Ende hin, spüre ich seine Präsenz geradezu körperlich. Dann wieder im Gänsemarsch voran, zum Wegfinden oder um Hindernissen auszuweichen. Schließlich aufs allerallerallerletzte Hindernis zu. Auf markant ansteigender Rampe mit Wende hoch hinaus, um auf breitem Steg das darunter liegende Bahngelände zu überqueren. Niemand hat die Absicht …* nach 160 Kilometern noch einmal den Himmel über Berlin zu erklimmen! Niemand? - Mindestens einer schon, der genau das jetzt noch braucht. Finale Selbstbestätigung, weil ich auch diese Rampe unbeeindruckt im Laufschritt nehme, nicht gehen muss. Nur wer mich gut kennt, kann ahnen, welch immense Bedeutung ich diesem Umstand beimesse.

*) Der Mauerweglauf, die 100 Meilen Berlin, werden von der „LG Mauerweg“ ausgerichtet. Das Motto des Vereins, „Niemand hat die Absicht 100 Meilen zu laufen“, nimmt die berühmt gewordene Mauerbaulüge von Walter Ulbricht (ehemaliger DDR-Führer) aufs Korn. Ulbricht dementierte den geplanten Mauerbau nur zwei Monate vor dem Beginn mit den Worten: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“

Vor uns der Eingang zum Jahn-Sportpark mit großem und kleinem Stadion, anderen Sportstätten, Parkplätzen. Der endgültig letzte Kilometer. Tatsächlich geschafft. Habe nie daran gezweifelt. Nicht als ich stürzte: Stehe ich eben wieder auf und renne weiter … Nicht als innerhalb weniger Kilometer heraufziehende Schwäche mich einschüchtern wollte: Laufe ich eben langsamer weiter … Nicht als uns Dunkelheit einzuhüllen begann: Lampe ein und voran … Nein, ich ließ keinen Meter weit Zweifel zu. Und doch scheint es mir nun beinahe unwirklich diesen weiten Weg mit dem Zieleinlauf krönen zu können. Jetzt ist es kein Film mehr: Wir laufen ins kleine Stadion ein, von Beifall begrüßt, drehen die Ehrenrunde auf der Tartanbahn. Gegengerade, Schlusskurve, Zielgerade. Mike und ich Seite an Seite. Beifall schallt uns entgegen. Unsere Hände finden sich, nebeneinander über die Ziellinie. Kein Film. Wirklichkeit.

Wir fallen uns um den Hals. Die Geste sagt alles. Dann ist Ines bei mir. Danke Ines!! Umarmung, Kuss. Irgendwer drückt mir einen Ausdruck der Zeitmessung in die Hand. Endzeit, Zwischenzeiten an allen VP. Ich halte das Papier fest, würdige es jedoch keines Blickes. Wozu auch? Kein Hunger, kein Durst, nur das alles andere überstrahlende Bedürfnis: Sitzen! Stille Freude, keine Kraft für mehr …

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Siegerehrungen regen an oder auf, je nach Verlauf. Reimt sich nicht nur, gibt vor allem meine zwiespältigen Gefühle anlässlich solcher Ehrungen wieder. Wer erinnert sich nicht an den zweifelhaften „Unterhaltungswert“ nicht enden wollender Ehrungen durch alle Altersklassen, begleitet von verbalem Brimborium. Oder Aufrufe, die allzu oft ohne Widerhall bleiben, weil ein Großteil der „Ehrempfänger“ der Veranstaltung längst den Rücken kehrte? - Der „Mauerweglauf“ hebt sich auch in dieser Hinsicht vom Üblichen ab, beansprucht seinerseits einen Platz auf dem Siegertreppchen, wo Klassiker wie etwa der Spartathlon Spitzenplätze besetzen. Jeder Finisher wird geehrt! In Anerkennung der gewaltigen Leistung jedes Einzelnen. Hat nicht, wer gerade noch vor Cut Off die Ziellinie überschritt, sich mehr als doppelt so lange (!) quälen musste wie der Sieger, eine ebenbürtige, wenn nicht die größere Leistung abgeliefert?

Ich sitze in einer der hinteren Reihen im großen Saal des Hotels, inmitten aller Lauffreunde und SupporterInnen. Die Siegerehrung wird gleich mit einer Ansprache des Schirmherrn beginnen. Es ist zu früh, um Gedanken und Gefühle zu ordnen, die wie buntes Herbstlaub vom Wind in meinem Kopf durcheinander gewirbelt werden. Manches steht jedoch klar und unverrückbar, wird auch künftigem Abwägen standhalten. Zum Beispiel der Vergleich meiner 100 Meilen vor vier Jahren und jetzt. Obwohl sich die Bilder und Erlebnisse glichen, erlebte ich zwei völlig unterschiedliche Wettkämpfe. Eine sportliche Sternstunde damals, die mich mit nie vor- und nie wieder nachher empfundener Leichtigkeit über die Strecke trug. Diesmal war es ein Kampf bis aufs Blut, als Folge eines unseligen Augenblicks sogar im wahren Sinne des Wortes. Ich brauchte dreieinhalb Stunden länger als vor vier Jahren! Man wird mich fragen: Welcher Lauf war härter? - Unzweifelhaft der gerade beendete werde ich antworten. Man wird sagen: Sicher war’s damals schöner für dich! - Ich werde spontan widersprechen. Werde die vielen Freunde an der Strecke und im Teilnehmerfeld erwähnen, Kameradschaft und Gespräche am Rande der Veranstaltung, mir die emotionale Sensation, das Einmalige bis zum Schluss aufheben: Mike und ich gemeinsam von A wie Anfang bis Z wie Ziel!

Der Schirmherr Rainer Eppelmann spricht. Ehedem DDR-Bürgerrechtler, dann Minister der sterbenden DDR, lange Zeit Mitglied des Bundestages und nun in vielerlei Auftritten und Funktionen der Aufarbeitung der SED-Diktatur verpflichtet. Pastoral seine Rede, was nicht Wunder nimmt, arbeitete er doch einst als evangelischer Geistlicher. Inhaltsschwer seine Rede. Sie erinnert an den Hintergrund unseres Wettkampfs, ein Mosaiksteinchen mehr im Werk gegen Vergessen, Verdrängen, Verharmlosen. Leider eine Mühe, die von Woche zu Woche wichtiger wird. Daran, dass der braun-nationale Sumpf nicht trocken gelegt war, bestand nie ein Zweifel. Doch nun wagen sich die rechten Dumpfbacken ungeniert aus ihrer Deckung, weil ihnen das Echo ihrer dämlichen Parolen von allen Häuserwänden entgegen hallt. Weil sie sich in „Volkes Mitte“ angenommen fühlen, ihr Schmuddelimage in der Herde von Unzufriedenen und Abgehängten glauben abstreifen zu können. Sogar in der politischen, guten Stube der Nation, dem Bundestag, hört man sie von Abgeordnetenstühlen aus krakeelen. Bilder im Fernsehen, die mich hilflos hinterlassen, mit Gefühlen zwischen Zorn und Ekel.

Ich folge dem Redner, stimme mit ihm überein. Gebe aber zu, dass meine Gedanken immer wieder abschweifen. Dann und wann richtet sich mein Blick in Dankbarkeit auf meine Frau, die eine Reihe vor mir sitzt. Wie ich war sie mehr als 24 Stunden auf den Beinen, schlug sich die Nacht um die Ohren, um mich an 15 von 26 Verpflegungspunkten zu unterstützen. Was und wer wäre ich ohne diese Frau?

Dann beginnt die Ehrung. Beginnend mit dem letzten Finisher, betritt jeder die Bühne und empfängt seine Medaille. Hände werden geschüttelt, Fotos geschossen. Auf der einen Seite rauf auf die Bühne, an der anderen wieder runter. Wie am Fließband, weil es sonst etliche Stunden dauern würde mehrere hunderte Finisher zu ehren. Was der Feierlichkeit der Ehrung jedoch keinen Abbruch tut. Der bis zum letzten Stuhl und darüber hinaus (sogar seitlich am Boden sitzend) besetzte Saal ist erfüllt von einem aus überschäumender Freude gespeisten Brausen. Das Herz schlägt schneller, die Reihe ist bald an Mike und mir. Dass wir bis Platz 54 warten müssen, bevor wir uns die Medaille abholen dürfen, daran knabbere ich noch. Als ich heute Nacht im Hotelzimmer frisch geduscht auf dem Bett saß und versuchte mental runterzukommen, nahm ich den im Stadion erhaltenen Ausdruck der Zeitmessung zur Hand und staunte nicht schlecht: Platz 55* gesamt stand da und Platz 1 in der Altersklasse. Wie konnte das sein? - Wo ich doch mehr als zwei Drittel des Weges unablässig und heftigst gegen die Müdigkeit kämpfen musste? So weit vorne im Klassement? - Unfassbar.

*) Durch die Disqualifikation des Zweitplatzierten rückten Mike und ich gemeinsam auf Platz 54 vor.

Einige der Freunde wurden bereits geehrt und von uns umarmt. Nun sind Mike und ich dran. Auch auf der Bühne demonstrativ Seite an Seite. In meinem unausgeschlafenen Kopf explodieren die Gefühle. Eine solche Orgie aus Rührung und Glück kann man nicht beschreiben …

Alle Medaillen sind verteilt, alle „Buckles“ (Gürtelschnalle) an jene überreicht, die unter 24 Stunden ins Ziel liefen. Wir stellen uns zum Gemeinschaftsfoto auf. Conny hält den besonderen Moment im Bild fest. Besonders auch deshalb, weil alle Freunde es ins Ziel schafften.

Nach nunmehr 238 mal Marathon und weiter ist meine Schatzkiste mit schönen und wunderschönen Momenten prall gefüllt. Der Mauerweglauf 2018 liegt ganz oben auf. Ein funkelnder Diamant, ohne Eintrübungen, geschliffen vom wunderbaren Erlebnis einer vielköpfigen Gemeinschaft. Auf Hochglanz poliert von mehr als 160 Kilometern an der Seite eines Freundes.

 


 

Danksagung

Mein Dank für ein unvergleichliches Lauferlebnis richtet sich …

 


 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe meine Ausführungen von 2014

 


 

Zahlen rund um den Mauerweglauf (Zeilen 1-3 gelten auch für Mike):

Laufzeit: 20:42:49 Stunden
Tempo: 7:41 min/km (einschließlich aller Verpflegungsstopps)
Platzierung gesamt: 54. von 313 Männern
Platzierung M65: 1. von 10 Teilnehmern
Vorsprung vor dem 2. in meiner Altersklasse: 1:30:17 Stunden
Konsumierte Gelbeutel: 55 (ca. 5.500 Kcal)
Verbrauchte Kalorien: Ca. 14.000
Verlorene Körpermasse (Wasser nicht inklusive): Ca. 1,1 bis 1,3 kg
Verpflegungsstationen (VP) an der Strecke: 26
VP oder Orte zwischen VP mit Support durch Ines: 15

 


Bildnachweis:

Ohne die Fotos im Einzelnen zuzuordnen, danke ich Conny, Natascha, Sandra, Belo (hoffentlich habe ich niemanden vergessen) für das bereitgestellte Bildmaterial. Auch Ines griff zum Fotoapparat. Die Bilder der Innenansicht des Laufes habe ich überwiegend selbst geschossen. Jene, auf denen man mich erkennt, stammen gleichfalls aus meiner Kamera, angefertigt von Mike.

 

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