Grenzenlos  –  100 Meilen Berlin, Mauerweglauf, 16. August 2014

Hinweis:
Die folgenden Zeilen übersteigen Umfang und Inhalt meiner sonstigen Laufberichte. Was dieser Text genau ist, weiß ich nicht.
Dafür aber, was er nicht ist:
Kurz!

Samstag, 16. August, im Wettkampf, kurz nach 18 Uhr, unweit der Siedlung Schönwalde

Wieso ist es auf einmal so finster hier im Wald? Dichter Laubwald, schon klar, und Sonne scheint auch keine mehr. Trotzdem. Muss mich konzentrieren, um Pfützen und Hindernissen auszuweichen. Bloß nicht stürzen! Immerhin bin ich seit mehr als 12 Stunden unterwegs und habe 117 Kilometer hinter mir … Bisher läuft es ganz gut. Kann mein Tempo halten und verlor nur zweimal wirklich Zeit. Knappen Kilometer verlaufen, in Potsdam. Ärgerlich. Und einmal an einem Verpflegungspunkt untergestellt, als ein Wolkenbruch mich wegzuspülen drohte. Also zehn Minuten perdu … Doch was bedeuten schon zehn Minuten auf einer Distanz von 160 km? – Hinterm Waldrand wird es heller … aber nicht so richtig. Ich blicke Richtung Westen über eine von Bäumen und Büschen gesäumte Wiese. Oh mein Gott! Die Sintflut als Wetterfront, und sie kommt direkt auf mich zu! Keine Minute später peitscht mir der Wind erste Tropfen ins Gesicht, dann schüttet es wie aus Kannen. Baumreihen rechts und links – nicht hoch genug, bieten keinen Schutz. Binnen Minuten dringt Wasser in jeden Winkel meiner Schuhe, erzeugt jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch. Ich fluche vor mich hin. Erst still, dann lauthals. Wieso auch nicht? Keine Menschenseele in der Nähe und mir hilft’s. Sch … wetter!!! Kalte Nässe am ganzen Körper stört mich nicht. Schlimm ist, dass ich die verbleibenden 50 Kilometer nicht mit quatschnassen Füßen bestreiten kann. Also Strümpfe und Schuhe wechseln. Aber wann? Wird Ines am nächsten Verpflegungspunkt warten? Oder erst am übernächsten? Einstweilen segnet mich der Himmel weiter, nicht mehr in Strömen, aber anhaltend und ergiebig …

Dienstag, 19 August, wieder daheim

100 Meilen zu laufen dauert ziemlich lange und war nicht einfach für mich. Unmöglich so ein Erlebnis als Kurzgeschichte zu erzählen! Lesefaulen empfehle ich die Statistik am Ende des Laufberichts. Da liefere ich die nackten Zahlen. Aber was besagen die schon? Ist es nicht weitaus spannender, mir auf einen Weg zu folgen, der – ohne Übertreibung und seinem Ursprung nach – als einer der leidvollsten in Deutschland überhaupt zu gelten hat? Einmal rund um das ehemalige West-Berlin auf dem „Berliner Mauerweg“! So lautet die offizielle Bezeichnung. Klingt mir entschieden zu harmlos und „folkloristisch“. Schonungslos und ohne Absicht der Effekthascherei ausgedrückt: Ich lief über den ehemaligen Todesstreifen. Boden, der mit dem Blut Unschuldiger getränkt wurde. Und das ist alles andere als eine Übertreibung. Das war für Peter Fechter, Chris Gueffroy und viele andere Maueropfer tödliche Realität und ist es noch für ihre Hinterbliebenen. Vorweg skizziere ich geschichtlichen Hintergrund. Anstrengend, ich weiß, aber nötig, weil schon 25 Jahre vergingen, seit auf meiner „Laufstrecke“ gemordet wurde. Und dies lesen vielleicht auch Menschen, die damals noch gar nicht geboren waren oder zu beschäftigt mit Erwachsenwerden, als dass sie das Mauerdrama hätte interessieren können.

Freitag, ein Tag vor dem Wettkampf, 13 Uhr, Berlin Mitte, Bernauer Straße, „Gedenkstätte Berliner Mauer“

Der Veranstalter bietet eine Führung durch die „Gedenkstätte Berliner Mauer“ an. Für eine Stunde lässt der mit lebendigem Vortrag erläuternde Guide (aus nahe liegenden Gründen verzichte ich auf die entsprechende deutsche Vokabel) Leid und Tod an einem der Brennpunkte des Geschehens in unseren Köpfen lebendig werden. Der sich eindunkelnde Himmel passt dabei gut zu meinem Gemütszustand. Beim Gang durch die denkmalgeschützten Reste der perfiden Grenzanlage wird deren einziger Sinn überdeutlich: Flüchtende stoppen, egal wie. Das Leben eines Flüchtlings galt dabei nichts, seine körperliche Unversehrtheit noch weniger. Hinterlandmauer, Signalanlagen, Wachtürme, Doppelstreifen mit Kalaschnikow auf dem Postenweg, als freies Schussfeld ein planierter, bald 50 Meter breiter und akribisch von Bewuchs jeder Art befreiter Streifen märkischen Sandes, Fahrzeugsperren – wer das alles überwunden hatte, vor dem erhob sich die durchgängig 3,70 m hohe Vorderlandmauer mit wulstig runder Krone, damit nur ja kein Wurfanker sich verfange. Schwer vorstellbar, dass jemand es bis zu dieser letzten Sperre schaffte und sie überwand. Wie groß müssen Freiheitswille und Verzweiflung derjenigen gewesen sein, die tatsächlich den Versuch unternahmen dieses Bollwerk zu überwinden?

Wie viele Menschen diesen Versuch mit ihrem Leben bezahlten ist noch nicht abschließend geklärt. Bei Wikipedia liest man von 138 unmittelbar beim Fluchtversuch getöteten Menschen. Als erste kam am 22. August 1961 – 9 Tage nach Beginn des Mauerbaus am 13. August – Ida Siekmann zu Tode. Unweit von hier in der Bernauer Straße starb sie nach dem Sprung aus einem Fenster. Die Welt sah ihr in den Fernsehnachrichten dabei zu. Das Haus lag auf DDR-Gebiet, der Bürgersteig davor im Westen. Der letzte an der Berliner Mauer getötete Mensch war der damals 20jährige Chris Gueffroy. Er wurde am 5. Februar 1989 beim Fluchtversuch in Berlin-Treptow, nahe der Kleingartenkolonie „Harmonie“ am Britzer Zweigkanal erschossen – und ja: Es gibt einen Grund, warum ich die Stelle so genau beschreibe …

„Die Mauer“ – für den Rest der Welt „The Wall“ – war die gängige Bezeichnung für eines der aufwändigsten und größten Bauwerke der deutschen Geschichte. Ein Bauwerk, das keinen der üblichen Aufträge erfüllte. Es sollte weder schützen, noch beherbergen, schon gar keine Wege ebnen. Die Mauer sollte Menschen daran hindern das große Gefängnis – allgemein bekannt unter der irreführenden Bezeichnung „Deutsche Demokratische Republik“ (DDR) – über das letzte Schlupfloch West-Berlin zu verlassen. Die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland war schon lange vorher hermetisch abgeriegelt worden. Noch wenige Tage vor Beginn des Mauerbaus (13. August 1961) log Ulbricht der Welt ins Gesicht: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten!“ Allein zur Sicherung der dann über Jahrzehnte immer weiter perfektionierten Sperranlagen (Gesamtlänge 155 km) waren 12.000 (!) Soldaten eingesetzt. Insgesamt umfasste der Personalbestand der „Grenztruppen der DDR“ im Jahr 1989 die kaum fassbare Zahl von 44.000 Personen unter Waffen. Menschen, die nichts produzierten und keinen unabdingbar notwendigen Dienst erbrachten. Nimmt man die vielen anderen unproduktiv gebundenen Kräfte hinzu („Stasi“: ca. 250.000 hauptamtliche Mitarbeiter, „NVA gesamt“: ca. 365.000 Mann und diverse andere), dann kennt man schon einen gewichtigen Grund für die zuletzt katastrophale Wirtschaftslage der einstigen DDR.

Es ist in diesem kurzen, zugegebenermaßen emotional geprägten Abriss nicht möglich alle wichtigen Aspekte des Mauerbaus zu beleuchten. Ich empfehle den gesetzten Links zu folgen, um mehr zu erfahren. Weil es für Laufbericht und unterwegs geschossene Fotos von Bedeutung sein könnte, nur noch dies: Von etwa 155 km Grenzanlagen, die West-Berlin einschnürten, waren nur etwa 55 Kilometer mit der namensgebenden Mauer versehen. Über die restliche Distanz wurden Sperrzäune eingesetzt, ähnlich jenen an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland.

Persönlich betroffen

Für mich stand nie die Frage im Raum, ob Ost- und Westdeutschland zusammen gehören. Ich betrachtete die Präambel des Grundgesetzes als Selbstverständlichkeit (Link zum Wortlaut vor der Vereinigung). Und doch hatte ich mich wie Millionen anderer in Wohlstand lebender „Wessis“ mit der Teilung arrangiert. Eine bewaffnete Auseinandersetzung zur Aufhebung des „unnatürlichen“ Zustandes kam nicht in Frage. Deutsche hätten einander getötet und die damals geltenden militärischen Strategien (zuletzt auf NATO-Seite: „Flexible Response“) beschworen zu jedem Zeitpunkt eines etwaigen Krieges die Gefahr der atomaren Auseinandersetzung herauf, bis hin zum Ende des Planeten Erde, wie wir ihn kennen.

Abschreckung war der Gedanke, der Politiker (wohl auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs) damals leitete. Dass beide Blöcke fähig waren, dem jeweils anderen auf jeder Ebene einer kriegerischen Auseinandersetzung die Stirn zu bieten, sollte die ultimative Auseinandersetzung verhindern. Mich haben solche strategischen Überlegungen zwar nicht zur Bundeswehr gebracht, sie waren jedoch ein Grund für meine Entscheidung den Beruf des Soldaten beizubehalten. Ich wollte einem kollektiven Sicherheitsverbund angehören, der fähig ist zu vernichten, um es letztlich niemals tun zu müssen. Nicht, dass mich diese Überzeugung im täglichen Dienst motiviert hätte. Sie war jedoch notwendig, um meinen „Dienst am Vaterland“ vor mir selbst zu rechtfertigen. Mir war bewusst, dass ich, im Fall politischen Versagens und finalen Wahnsinns, an der Tötung von Menschen beteiligt sein würde, die nicht nur Deutsch sprechen, die auch Deutsch leben, die ethnisch und kulturell meinem Ebenbild entsprechen. Menschen, mit denen viele von uns über Ecken verwandt waren.

Seit wir wieder in einem Staat leben, hat sich mein Leben grundlegend verändert. Ich heiratete eine Frau, die ihre Kindheit und Jugend in der DDR verbrachte und gehöre damit einer Familie an, die überwiegend in der ehemaligen DDR lebt. Bei vielen privaten Besuchen und beruflichen Kontakten erlebte ich die ehemaligen DDR-Bürger als das, was sie sind: Deutsche, deren Stärken und Schwächen sich von denen der Menschen in den so genannten „alten Bundesländern“ nicht im Mindesten unterscheiden. Wie heißt es aktuell in einem Lied: „Zuhause ist da, wo deine Freunde sind.“ In diesem Sinne bin ich mittlerweile auch im Osten Deutschlands heimisch geworden.

Samstagmorgen, Wettkampftag, 4 Uhr, einen Steinwurf weit südlich der Berliner Stadtgrenze

Der Wecker reißt mich aus unruhigem Schlaf. Freunde haben uns ihre Laube für die Dauer des Berlin-Aufenthalts zur Verfügung gestellt. Schlaftrunken streife ich die Laufmontur über, beiße unterdessen von der als Frühstück vorbereiteten Käsestulle ab, trinke Wasser. Wach ist anders. Auch für Ines. Reden wir mehr als zehn Worte, einschließlich „Guten Morgen!“ und „Fertig? Dann los!“ miteinander? Mit Sack und Pack lassen wir die Laube hinter uns. Bis zum Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark liegen 26 km Berliner Innenstadt vor uns. Samstagmorgen um halb sieben kein Problem, trotz einiger Baustellen. Parkplatz ansteuern, dann erst einmal ins Stadiongebäude. Der Sportpark umfasst zwei Stadien. Im Großen findet heute Abend das Fußballpokalspiel zwischen „Viktoria Berlin“ (Viertligist) und „Eintracht Frankfurt“ statt. Das kleinere, gleichfalls neue Oval, wird nachher unseren Start und in xx Stunden den Zieleinlauf erleben. Obwohl in bestmöglicher Form, bin ich nervös und ein bisschen verstört. Wie früher in der Schule vor wichtigen Prüfungen. Was, wenn ich einen schlechten Tag erwische? Was, wenn ich stürze? Wäre nicht das erste Mal in diesem Jahr. Und selbst, wenn alles wunschgemäß läuft: 160 Kilometer tun furchtbar weh, wenn man sie mit vollem Einsatz läuft! Masochismus mag schön sein, Herzklopfen verursacht er allemal …

Muss erwähnt werden: Erfolgreicher Toilettenbesuch. Keineswegs selbstverständlich morgens kurz nach fünf aber von großer Bedeutung für einen erfolgreichen Ultralauf. Jetzt bin ich ein wenig entspannter. Aber nur kurz, dann wird mir ein Transponder zugeteilt. In dessen Lasche ist ein Gummiarmband einzufädeln, um ihn am Handgelenk zu befestigen. Wer denkt sich so was Unpraktisches aus? Alle (Zeitmess-) Welt hat sich auf Startnummer oder Schuh als bestmöglichen Platz für Transponder „eingeschossen“. Nur diese Firma braucht mein Handgelenk … Zum ersten Mal sende ich ein Stoßgebet gen Himmel, dass er mir Ines anlässlich der heutigen Prüfung zur Seite gestellt hat: Mehrmals versagen meine groben Greifwerkzeuge beim Versuch die abgenutzte Lasche des Gummibands durch den klitzekleinen Schlitz der Schnalle zu führen. Selbst Ines, die Ruhe selbst und mit vergleichsweise filigranen Fingerchen, muss diverse Fehlschläge hinnehmen, bis sich Gummi und Schnalle endlich fügen. Nicht nur deswegen ein „doofes“ System: Der Transponder kann erst kurz vorm Start ausgegeben werden, weil er aktiviert werden muss. Na klar: Vorm Start sind wir doch alle die Ruhe selbst und völlig beschäftigungslos … Hätte mich Ines nicht verbal geschubst, stünde ich gleich transponderlos auf der Tartanbahn. Dachte einfach nicht mehr dran das Ding abzuholen …

Keine Träume sind für uns zu groß,
ich schwör dir heute sind wir grenzenlos.
Wir werden wach und wir fallen hoch,
ich schwör dir heute sind wir grenzenlos.

Abschied: Gute Wünsche und Umarmung. Jetzt stehe ich auf der Tartanbahn, drei, vier Meter hinter dem Starttransparent. Ruhe hält in mir Einkehr, das bange Empfinden auf etwas Unerbittliches zuzusteuern schwindet. Den letzten Rest Unsicherheit erlegt das Startsignal. Eine Dreiviertelrunde auf der Tartanbahn genügt, um mir meine Selbstsicherheit zurückzugeben. Endlich kann ich die Aufgabe anpacken, darf laufen, kann Meter um Meter einer gewaltigen Distanz überwinden. Ein letzter Wink zu Ines, dann verlassen wir das Stadion …

Ines’ Vorbereitung und Coaching

Ines investierte etliche Stunden in die Analyse von Strecke und Verpflegungspunkten (VP). Fand heraus, welche VP mutmaßlich problemlos mit dem Auto anzusteuern sind und was es dort oder nahebei außer Läufern noch zu sehen gibt. Die Ergebnisse ihrer Recherche fasste sie in einer umfänglichen Exceltabelle zusammen. Grün unterlegte Zeilen: „Da muss ich hin, weil die Umgebung besonders interessant ist!“ Gelb: „Eventuell anfahren, je nach tatsächlicher Erreichbarkeit“. Weiß: „Unwichtig oder kaum erreichbar.“ Letztlich legte sie sich darauf fest, mich etwa einmal pro Stunde zu versorgen, was im Mittel die Anwesenheit an jedem zweiten VP erfordern würde.

Wenn wir uns treffen, wird sie Gelbeutel (40 Stück vorrätig), zur Sicherheit Wasser, falls erforderlich frische Kleidung, trockene Schuhe und ein Handtuch dabei haben. Vor Einbruch der Dunkelheit – also spätestens 20:30 Uhr – wird sie mich mit Warnweste und Stirnlampe ausstatten, beides per Wettkampfordnung vorgeschrieben. Abgesprochen ist, dass sie mich vor dem jeweiligen VP mit aufgerissenem Gelbeutel erwartet. – Wie? Doch, doch, ein bisschen was muss ich schon noch selber schleppen: Handy und zwei Gelbeutel in der Gesäßtasche, zwei weitere Gels in der Handgelenktasche. Vier Gels sollten genügen, um die Distanz zwischen zwei Rendezvous zu überbrücken …

Verpflegungs- und Ausrüstungstaktik

Neben Ausdauer bescherten mir meine Vorbereitungswettkämpfe zwei wichtige Erkenntnisse. Beim „Mozart100“ (100 km-Lauf, Salzburg und Umgebung mit 2.500 Höhenmetern) musste ich bereits nach 30 km einen eklatanten Einbruch hinnehmen (Ursache: Überzogene Trainingsplanung). Um überhaupt finishen zu können, warf ich mir an jedem VP zwei der vom Veranstalter angebotenen Energiegels ein. Zu meinem großen Erstaunen wurde mir davon erstens nicht übel, zweitens stabilisierte sich mein Energiestoffwechsel auf einem erträglichen Level. Sozusagen „experimentell“ fand ich also heraus, dass mein Magen-Darmtrakt viel mehr Gel ohne Katastrophe verdauen kann, als ich entsprechend angelesener Ernährungstheorien bisher bereit war zuzuführen. Die 40 vorrätigen Beutel enthalten jeweils 40 g Gel, die mir ungefähr 100 kcal Kohlenhydrate zurückgeben. Alle 5 km will ich mir im Mittel eine Portion zuführen und dazu an den VP Wasser trinken. Zwei Becher, eventuell mehr, das hängt von der Temperatur ab. Gel und Wasser und sonst absolut nichts! Festes bekomme ich ohnehin nicht runter. Iso oder Cola würden die Absorption des Gelzuckers verzögern, weil sie selbst Zucker enthalten. Würfe ich mir alle 5 km ein Gel ein, käme ich letztendlich auf etwa 32 Beutel* …

*) Tatsächlich konsumiere ich bis zum Ende 36 Beutel.

Am nachdrücklichsten lernt der Mensch über Schmerzen. Nach fast 11 Stunden Rundendrehen in strömendem Regen (100 km Bodensee Ultra) erhoben meine Füße mittels schmerzhafter Blasen – überall – und Einrissen – an der Fußsohle – Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung. Trockene Strümpfe und Schuhe hatte ich nicht vorgehalten, da bisher nie gebraucht. Zum Mauerweglauf habe ich zwei Paar Wechselschuhe dabei. Die 100 Meilen von Berlin werden meinen Marathon-/Ultrazähler auf 135 setzen. Damit gelte ich als erfahrener Läufer. Doch gleichgültig, wie viele lange Strecken man auf dem Konto hat: Man wird immer wieder von Unvorhersehbarem „kalt erwischt“ und lernt dazu!

Von Ampel zu Ampel

Kaum dem Stadionrund entlaufen stoppt mich die erste rote Fußgängerampel. Unter sonst „üblichen Umständen“ könnte die mich nicht aufhalten. Ein sicherer, wenngleich nicht unbedingt der Straßenverkehrsordnung gehorchender Weg zum Queren der Straße fände sich unter Garantie. Zumal an einem verkehrsarmen Samstagmorgen kurz nach sechs. Überlaufen einer roten Ampel wird jedoch mit Disqualifikation geahndet, das wurde gestern Abend beim Briefing hervorgehoben. Quälende Sekunden vergehen – fünf, zehn, zwanzig, … – bis das liebe grüne Ampelmännchen das böse rote verscheucht. Quälende Sekunden, in denen jene, die es gerade noch bei grün-rot geschafft haben, enteilen und auf die Größe eines Ampelmännchens schrumpfen. Um mich her staut sich derweil der Pulk verhinderter Läufer. Ob sie die Zwangspause tatsächlich so geduldig ertragen, wie es den Anschein hat? … Endlich Grün!

Wir trappeln die Bernauer Straße hinunter, zwei-, dreihundert Meter, bis uns wieder so ein rotes Kerlchen aus sicherer Deckung jenseits der Straße angrinst. Absolut nervig. Dreist drängt sich ein Gedanke auf, den ich angesichts vor mir liegender 160 km so was von nicht gebrauchen kann: War es eine gute Idee, den sportlichen Saisonhöhepunkt 2014 ausgerechnet mit dem Mauerweglauf zu verknüpfen? Selbstverständlich finden alle dieselben Bedingungen vor, was einen fairen Wettstreit gewährleistet. Ich will nicht behaupten, dass mich gute Platzierungen kalt lassen. In dieser Hinsicht hat mich der Riesenerfolg beim 24 h-Lauf vor sechs Jahren für alle Zeiten „versaut“. Im Vordergrund steht jedoch immer der Kampf gegen mich selbst, gegen die inneren Widerstände. Widerstände, die mit jedem gelebten Jahr wachsen. Ich will mich hier verausgaben, meine Grenzen suchen und finden. Trete an, um nach sieben Monaten beinharten Trainings die kürzest mir mögliche Zeit über 100 Meilen abzuliefern. Ich habe mich auf den Punkt vorbereitet, exakt auf den 16. August 2014 und für eine Strecke von 160 km. Entscheidend für mich ist also die Laufzeit. Und die Uhr tickt weiter, bis sich der kleine Rote endlich verzieht …**

**) Es mag Läufern, die sich nicht dem Ultralauf verschrieben haben, kleinlich und larmoyant vorkommen, wenn jemand in einem auf viele Stunden angelegten Wettkampf ein paar Ampelsekunden beklagt. Wie überall macht aber auch auf Ultrastrecken das Kleinvieh eine Menge Mist. Ampelstopps, Zwangspausen zum Verpflegen (27 VP!) und diverse andere, nicht vorhersehbare Zeiteinbußen summieren sich. Beispiel: Angenommen jeder Verpflegungsstopp hielte mich im Schnitt eine halbe Minute auf (was eher zu knapp kalkuliert ist). Allein dadurch verlängert sich die Laufzeit um rund eine Viertelstunde!

„Der läuft aber nicht den ganzen Weg mit!??“ Ein Nebenmann vor roter Ampel richtet die Frage an einen Läufer mit Hund. Im Loslaufen gibt der exakt die Standardantwort, die auch ich in solchen Fällen benutze: „Mein Hund hat damit kein Problem. Für mich ist es schwierig durchzuhalten!“ – „Ach komm! Irgendwann gibst du ihn ab!“ Offensichtlich können Menschen, die nie mit Hund gelaufen sind, Hunde-Ultraleistungen nicht fassen. Ganz besonders angesichts eines per Leine an der Hüfte fixierten Jack Russel Terriers mit rassebedingt kurzen, krummen Beinen. Dennoch kein Fall von Tierquälerei, noch wird er das Kerlchen überfordern. Unsere Hündin Roxi begleitet jeden meiner Trainingsschritte. Auch für sie wären diese 160 km keine wirkliche Hürde. Nach Distanzen bis 72 km, auch mit vielen Höhenmetern, zeigte sie nie Anzeichen von Erschöpfung (ganz im Gegensatz zu mir). Über einen Strick an mich gefesselt zu sein, ist jedoch keine Alternative für uns. Das widerspräche ihrem Wesen (und meinem auch). Außerdem kostet eine Begleiterin auf vier Pfoten Zeit und die habe ich nicht. Nicht heute.

Stumme Zeugen von Leid und Tod

Auf leicht abschüssigem Bürgersteig passieren wir den Schauplatz der gestrigen Führung in der Bernauer Straße. Vorbei an den Resten der Schandmauer auf ehedem freier, da West-Berliner Seite. Das gestrige Erschauern will sich nicht einstellen. Zu früh am Tag und zu beschäftigt mit mir selbst: Tempofindung samt Bestreben auch sonst alles richtig zu machen. Einstweilen keine Ampeln mehr. Wohngebiete, aus denen Baukräne aufragen. Straßen mit baubedingten Sperrungen. Längst nicht alle Narben dieser Stadt sind inzwischen verheilt. Unmöglich, den von Mauer und Stacheldraht befreiten Streifen Schussfeld binnen eines Vierteljahrhunderts komplett zu bebauen.

Dann renne ich an einem der wenigen, als Denkmal erhaltenen Wachtürme vorbei und sehe ihn nicht (entdeckt beim Nachverfolgen meines GPS-Tracks in Google Maps). Vielleicht, weil er sich unauffällig grau vor den Fassaden ihn überragender Neubauten duckt. Oder, weil meine Augen vom Gewässer vor mir magisch angezogen werden. Offensichtlich verlief die Mauer diesseits des Berlin-Spandauer-Schifffartskanals, dessen Ufer wir für ein paar Minuten folgen. Auf dem Invalidenfriedhof geht die Blickverbindung zum Wasser kurz verloren. Invalidenfriedhof: Ein Platz zum Ruhen und um Frieden zu finden? Der Ort will täuschen, untersteht sich traurige Wahrheit mit Beschaulichkeit zu verbrämen. Invalidenfriedhof: Letzte Ruhestätte von reichlich blau- und rotblütiger Militärprominenz. Hier ruhen die Gebeine von Deutschen, derer man durchaus mit ehrendem Nicken gedenken möchte, wie etwa Manfred von Richthofen („Der rote Baron“, Jagdflieger, im Ersten Weltkrieg, 1918 über der Westfront abgeschossen.). Die Erde unter meinen Füßen beherbergt aber auch Männer, für die ich nicht mehr als Unverständnis und Abscheu empfinde. Etwa den einstigen „SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich“ (verstarb an den Folgen eines Attentats in Prag 1942), dem Herman Göring 1941 die „Endlösung der Judenfrage“ übertrug. Unmenschliches Handeln hatte Zeiten der Hochkonjunktur in Deutschland. Gnade uns Gott (oder an wen auch immer du glaubst), wenn der Mauerbau nicht das letzte gigantische, von deutscher Untugend verübte Verbrechen bleiben sollte …

Durchs Zentrum bundespolitischer Willensbildung

Neuerlich fängt uns eine Ampel ein, staut einen bunten Läuferhaufen. Wenn schon zu unnützem Warten verdammt, dann wenigstens rundum fotografierend! Ein paar der „üblichen Verdächtigen“ fielen mir vorm Start schon auf. Unter ihnen auch der blinde Läufer Anton Luber, der mit seinem Guide nun auch die Grünphase abwarten muss. Anton ist ein begnadeter Läufer, dem ich schon häufiger begegnete. Dieses Jahr beispielsweise beim Obermain Marathon. Wir Sehenden, dennoch dann und wann Strauchelnden, werden nie verstehen, wie man in immerwährendem Dunkel eine solche Strecke überstehen kann. Grenzenlos mein Respekt für Antons Leistung …

In Höhe des Spreebogens, von dessen Ufer wir nur ein paar Meter abmessen, betreten wir das Regierungsviertel. Rasch wird die Spree überbrückt und das hellblau verblendete Areal der Bundestags-Kita*** passiert. Noch an der Eingangsfront des neu erbauten Paul-Löbe-Hauses (Sitz der Bundestagsausschüsse) vorbei, dann genießen wir den freien Blick über den „Platz der Republik“ zum „Reichstag“. Bedenkt man dessen von Unheil geprägte Geschichte, so scheint das klotzige Symbol kaiserlichen Weltmachtstrebens in unseren Tagen endlich umzusetzen, was die Altvorderen über der Eingangshalle in Stein meißeln ließen: „DEM DEUTSCHEN VOLKE“. Diverse Fotos nehme ich in der Bewegung mit, bleibe dann aber doch kurz stehen: Mindestens eins will ich sicher und verwertbar scharf mitnehmen.

***) Die Bundestags-Kita wurde ursprünglich für Kinder von Verwaltungsangestellten des Bundestages gebaut. Inzwischen sollen aber auch Kinder von Abgeordneten und andere Berliner Kinder dort betreut werden.

.

Die unglaubliche Begegnung der fuchsschwänzigen Art

Seitlich vorbei am Reichstag mit kurzem Seitenblick zum nicht weit entfernten Brandenburger Tor. Eine ältere Frau spricht uns Läufer an. Bin zu weit weg, um ihre Rede zu verstehen, merke aber an Tonfall und Gestik, dass sie unseren „Auftrag“ kennt. Und ihr abschließendes „Viel Glück!“ ist selbst für mich nicht zu überhören … Rechts abbiegen in die Wilhelmstraße, Ampelhalt „Unter den Linden“, der erste, den ich nicht beklage. Immerhin gibt er mir Gelegenheit zwei steinerne Berliner Berühmtheiten mit Läufern zu verknüpfen: Gegenüber weht die deutsche Flagge über dem Hotel Adlon, Richtung Tiergarten wacht die Quadriga über Passanten am Brandenburger Tor. Weiter der Wilhelmstraße nach Süden folgend: Britische Botschaft und … Ampelstopp. Der Blick gen Osten verfängt sich in einem Wald tief gestaffelter Baukräne. Renovierung maroder und Ersatz fehlender Bausubstanz sind 25 Jahre nach dem Ende der DDR noch immer in vollem Gange.

Grün und los, bis zur nächsten Querstraße, Fußgängerampel springt auf rot, wieder warten ... Und dann, um zehn vor sieben am Samstagmorgen, geschieht etwas, das mich die nervigen Ampeln, den Mauerweg, ja den ganzen Wettkampf für einen unglaublichen Moment vergessen lässt: Wildwechsel im Herzen der Großstadt!!! Von links, aus der Französischen Straße, tippelt ein Fuchs heran. Keine Fata Morgana, das mehrstimmige „Das gibt’s doch nicht!??“ meiner Mitläufer – pardon Mitwartenden – beweist, dass ich nicht unter Wahnvorstellungen leide. Als er das Rudel Menschen bemerkt ändert er schlagartig den Kurs und taucht auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen parkenden Autos und Buschwerk unter. Von der ersten Überraschung erholt, erinnere ich mich an Berichte zum artenreichen Wildbestand des Berliner Tiergartens (nicht mit Zoo verwechseln!). Und – daheim am PC online vermessen – der Tiergarten beginnt nur 350 Meter von hier, gleich hinter dem Holocaust Denkmal …

Gedenken

„Grün“, weiter, „rot“, warten. Schräg gegenüber erhebt sich das bei Steuerzahlern unbeliebteste Gebäude der Stadt: Bundesministerium der Finanzen. „Grün“, wieder los und nun endlich ohne weitere Verzögerung. An der nächsten Kreuzung, in Sichtweite eines weiteren Mauerrests, biegen wir links ab und werden kurz darauf durchs angekündigte „Panometer“ geschleust. Auf der Innenwand des 15 m hohen Zylinders zeigt der Architekt und Künstler Yadegar Asisi einen Zitat: „künstlerisch verdichteten Blick“ auf die Mauer an einem fiktiven Herbsttag der 1980er Jahre. Neuerlich aus der Internetseite des Projektes zitiert: „Das Panorama zeigt, wie banal alltäglich und subtil grausam zugleich die Normalität der geteilten Stadt war. Es thematisiert die Anpassungsfähigkeit der Menschen an nicht ideale Bedingungen als Überlebensstrategie.“ Mehr als den Wunsch wiederzukommen und das Panorama in Ruhe auf mich wirken zu lassen, kann der sekundenlange Aufenthalt im Panometer nicht bewirken. Und höchstwahrscheinlich – da unterstelle ich wohl nichts Unrechtes – war das auch der werbewirksame Sinn dieses Abstechers …

Ein paar Schritte später wird es ernst und ich nehme es ernst. Opfere ein paar Sekunden Wettkampfzeit dem Gedenken an Peter Fechter, dem die „100 Meilen von Berlin“ in diesem Jahr gewidmet sind. Hier in der Zimmerstraße wurde Peter Fechter am 17. August 1962 angeschossen, verblutete und starb am selben Tag im Krankenhaus. Wer die unfassbare Grausamkeit der Mauer, des Schießbefehls und der politischen Realität jener Tage wenigstens ansatzweise spüren möchte, sollte bei Wikipedia lesen unter welchen Umständen Peter Fechter zu Tode kam! Wie die anderen Läufer nehme auch ich eine rote Rose vom Tisch und lege sie vor das Mahnmal. Ein Teppich aus Rosen soll bleiben, wenn alle Läufer die Stelle passiert haben …

Wettkampftaktisches

10 km liegen hinter mir. Viel gesehen und erlebt, dabei aber auch aufs Tempo geachtet. Das war deutlich höher als es die bereits verstrichene Zeit, 1:02 h, Glauben machen will. Die häufigen Ampelstopps haben mir gut und gerne drei, vier Minuten Zeitaufschlag eingebracht. Dazwischen war ich mit einer Pace von deutlich unter 6 min/km unterwegs. Natürlich kann sich das in der Schlussabrechnung als zu schnell erweisen. Was sind schon 10 km, wenn man noch 150 vor sich hat? Andererseits unterstreicht dieser erste, für meine Verhältnisse total leichtfüßig bewältigte Abschnitt, dass ich wohl einen guten Tag erwischt habe. Ich war so vermessen, mir einen Zeitplan vorzugeben, der auf eine Endzeit von 16:30 h berechnet ist (Pace ca. 6:09 min/km). Damit wollte ich einerseits Ines die Kalkulation meines Eintreffens an den verschiedenen Verpflegungspunkten ersparen. Vor allem aber mich selbst unter Zeitdruck setzen, mir auch auf diese Weise verdeutlichen: „Dies ist nicht irgendeiner deiner 135 Marathons. Dies ist der Saisonhöhepunkt 2014, für den du harte sieben Monate trainiert hast. Also gib gefälligst alles!“

Unterwegs mit Grit

Mal vor, mal hinter mir, eine Frau ganz in Schwarz. Fällt mir schon länger immer wieder auf, rennt mir auch ständig vor die Linse. Kenne sie nicht. Quatsche eher selten jemanden in einem Rennen an, Frauen überhaupt nicht. Muss ich auch nicht, denn irgendwann beginnt Grit ein Gespräch. Dass sie Grit heißt, erfahre ich erst viel später und nur weil sie zuerst mich nach meinem Namen fragt. Was ich gegenwärtig nicht mal ahne und zig Kilometer später immer noch nicht, was allerhöchstens Grit insgeheim im Schilde führt, ist der 1. Platz in der Frauenkonkurrenz. Richtig gelesen. Ich bin unterwegs mit der späteren Siegerin der 100 Meilen von Berlin. Grit Seidel, von der „LG Nord Berlin Ultrateam“, wird den Lauf nach 18:16:29 h finishen.

Nachdem wir die Spree Richtung Osten zum Stadtteil Friedrichshain überquert haben, betätigt sich Grit ein wenig als Fremdenführerin. Sie bereitet mich auf die „East Side Gallery“ vor, einen ziemlich genau einen Kilometer langen Abschnitt der Mauer, der einst den Ostberlinern den Blick auf die Spree verwehrte. Nach dem Ende der DDR wurde der Mauerrest von Künstlern in allen Farben des Regenbogens bemalt. Grit spricht von weltberühmten Darstellungen und ich oute mich als Kunstbanause: „Ich kenne überhaupt kein Bild der East Side Gallery!“ – „Einige wirst du sicher kennen!“ meint sie. „Zum Beispiel das mit dem Trabbi, der durch die Wand fährt oder den Bruderkuss!“ Vor der East Side Gallery erwarten mich noch einige Sanierungsfälle. Mehrstöckige Häuser an der Spree, die seit 25 Jahren verfallen, denen man schon zu Zeiten der DDR keine Renovierung angedeihen ließ. Das Trottoir vor den Bruchbuden ist mit Glasscherben übersät, die unter meinen Sohlen knirschen. Unfassbar: Ein Teil dieser abbruchreifen Kästen ist noch bewohnt! Jedenfalls hängen da Vorhänge hinter tristen Fensterhöhlen …

Berlin braucht eine neue Mauer!

Und dann ist es so weit: Die East Side Gallery! Bild um Bild zieht an mir vorbei und wandert zur Erinnerung in den Speicher meiner Kamera. Grit – ob sie will oder nicht – muss sich als Laufmodel vor den Motiven ablichten lassen. Den ach so blassen Mauerdurchbruch des Trabbis hätte ich zwischen ansonsten satten Farben fast verpasst. Muss kurz innehalten, mich umdrehen und das Bild gegen Laufrichtung ablichten. Die Aussage des Trabbi-Motivs erschließt sich zumindest jenen ohne viel Nachdenken, die die Bilder aus den Tagen der Maueröffnung noch im Kopf haben … Grit weist mich darauf hin, übersehen kann das aber auch so niemand: Die Bilder wurden inzwischen von zahllosen Schmierfinken erheblich verunstaltet. Die schon einmal sanierten Werke werden ohne neuerliche Restaurierung nicht überleben. Und wie es scheint, muss Berlin danach eine neue Mauer bauen, um diesen einzigartigen Bilderzyklus zu bewahren …

Erstmals Filmisches im Kopf; noch bleibt es folgenlos

Ich schwimme im Kielwasser von Grit. Ein touristischer Höhepunkt jagt den nächsten und Motive mit Athleten davor, zumal weiblichen Geschlechts, wirken im Laufbericht doppelt ausdrucksstark. Kurz hinter der East Side Gallery wechseln wir zurück ans westliche Spreeufer, nutzen hierzu die Oberbaumbrücke (erbaut 1896, im Krieg stark zerstört, nach der Wende mit neuem Mittelteil wieder aufgebaut). Gibt es einen Film mit Berlin als Schauplatz, einerlei ob Krimi, Drama oder Komödie, in dem die Silhouette dieser auffälligen Brücke keine Statistenrolle spielt? Mein Eindruck: Meist nur eine Frage von Filmminuten, bis der jeweilige Regisseur seine Akteure vorm Hintergrund „Oberbaumbrücke“ effektvoll in Szene setzt. Drüben angekommen erobern wir einen Stadtteil, dessen „unaufgeräumte Buntheit“ mir bekannt vorkommt: „Ist das Kreuzberg?“ frage ich Grit. Ihrem „Ja!“ folgt die Kurzfassung des Kreuzberg-Durchlaufs im Jahr 2011, als die 100 Meilen von Berlin in umgekehrter Laufrichtung zu absolvieren waren. „Kreuzberger Nächte sind lang“ heißt es in einem Blödel-Song der „Gebrüder Blattschuss“ von 1978. Genau das durfte (musste?) Grit seinerzeit erleben, als sie sich mitten in der Nacht ihren Weg durch Massen feiernder Nachtschwärmer suchte …

Um halb acht am Samstagmorgen regt sich wenig Leben in Kreuzberg. Nachtschwärmer fielen vor kurzem erschöpft ins Bett und „Normalos“ sitzen eher beim Frühstück. Was sich bewegt muss arbeiten oder hat die Absicht 100 Meilen zu laufen. Hinter der letzten von zwei Brücken über Landwehr- und den stückweit parallel fließenden Flutkanal wartet „strahlendes Leben“ auf mich. Steht stocksteif da, mit aufgerissenem Gelbeutel im Mund, weil sie die Hände zur Bedienung der Kamera braucht. VP 2, „Schlesischer Busch“: Zum ersten Mal versorgt mich Ines mit Proviant und ihrem unvergleichlichen Lächeln. Bisher höchstens zwischen den Zeilen zu lesen, darum hier im Klartext: Ich bin mental grandios gut drauf, nicht weit von Hochstimmung entfernt. Und die Begegnung mit Ines hievt mich glatt noch eine Stufe höher …

Bedanken, küssen und rasch hinüber zum reich gedeckt Buffet, von dem ich – wie schade! – leider nur Wasser „naschen“ darf. Wir bleiben einstweilen am Ufer von erst Flut- dann Landwehrkanal, traben durch eine dicht bewachsene Parklandschaft. Es will einem nicht in den Kopf, dass keiner dieser Bäume älter als 25 Jahre sein kann. Die tödliche Drohung eines kahl planierten, von Sperranlagen eingefassten Grenzstreifens lässt sich inmitten der friedvoll grünen Lunge nicht nachempfinden. Auch die Doppelreihe Pflastersteine schafft das nicht. Die auf ewig sichtbare Narbe zieht sich durch das Stadtgebiet von Berlin, überall dort verlegt, wo die Mauer Straßen und Bürgersteige teilte.

Selbstvertrauen

Fuß- und Radwege, meist asphaltiert und brettflach, gewährleisten flottes Tempo. Grit verliere ich zwar nicht aus den Augen, bisweilen erhöht sie jedoch die Pace und solche Experimente kann ich mir mutmaßlich nicht leisten. Laut Tacho am Handgelenk bewege ich mich mit konstantem Tempo, etwa 5:50 min/km, plus/minus ein paar Sekunden. Nach 20 Kilometern liege ich mit 2:01 h etwa drei Minuten vor meinem Zeitplan. Muss ich mir Sorgen machen? Es gibt keine verlässlichen Indikatoren in der Frühphase eines Ultralaufs, die einen guten Ausgang garantieren. Langstreckler verfügen neben den fünf auf die Außenwelt gerichteten Sinnen über einen inneren sechsten: Das Laufgefühl. Doch diese Wahrnehmung des muskulären Energieflusses vermag allenfalls die nähere Zukunft zu taxieren. Und auch das nur mit ausreichend Erfahrung. Woher nehme ich dann die Frechheit mit meinen sechzig Lenzen dieses Höllentempo vorzulegen? Selbstvertrauen lautet die Antwort. Selbstvertrauen, das aus meiner mörderischen Vorbereitung erwächst; und aus der Erfahrung, dass mich mein Körper nie im Stich ließ, wenn es drauf ankam. Dass ich meinem Körper wieder vertraue, ist ein kleines Wunder. Letztes Jahr nach dem Frankfurt Marathon: Entzündung im Hüftgelenk, zwei Wochen Laufpause, Schmerztherapie, vorsichtiger Neubeginn. Noch vorm Barcelona Marathon im März bewegte mich die (irrationale) Frage, ob ich je wieder einen Marathon würde laufen können. Mein Arzt – ein exzellenter Mediziner mit höchst ungewöhnlicher Vita (siehe Danksagung) – hat mich wieder „hingekriegt“, wie schon mehrmals zuvor.

Wieder Ärger mit der Zeitmessung

VP 3, „Sonnenallee in Treptow“ und meine Ines steht schon wieder da – Du bist Hamma Mamma Yeah! –, hält ein Gelbeutelchen mit den Lippen bereit, fotografiert. Ein Ritual ist geboren: Gruß, Kuss, Dank und ab zum Wassertrinken. Dann will ich weiter, bin schon ein paar Meter dem Bannkreis des VP enteilt, als mein Blick erstmals dieses „Ding auf dem Dreibein“ erfasst: Die Zwischenzeitmessung. „Jeder VP ist zugleich Kontrollpunkt!“ Der Satz vom Briefing jagt als adrenaliner Schrecken durch alle Körperfasern. Und was nun? Mit keiner Silbe wurde erwähnt, wie wir uns in Höhe dieser Messeinrichtung verhalten sollen. Ich renne ein paar Schritte zurück und merke, dass der Transponder an meinem Handgelenk in „relativer“ Nähe der Messeinrichtung zu blinken beginnt. Also registriert. Und wie war’s bei VP1 und 2? Was, wenn ich dort nicht registriert wurde (tatsächlich fehlt die Zwischenzeit am VP1)? Wieso hat uns niemand in die Eigenheiten dieses Systems eingewiesen? Ein paar Sätze des Unmuts rede ich an einen zufällig anwesenden Mitläufer hin. Der reagiert mit wegwerfender Handbewegung und untermauert seine Geste mit dem Satz: „Ist doch egal, passiert anderen sicher auch!“

Wasserläufe

Eine Weile nagt der Faux pas mit der Kontrollmessung noch an meiner Läuferseele – Saisonhöhepunkt: ALLES soll korrekt verlaufen! –, verliert aber mit jedem Schritt an Bedeutung. Wir überqueren eine weitere der zahlreichen Wasserstraßen im Berliner Stadtgebiet, folgen hinter der Brücke dem Ufer. Die zeitweise durch wattebäuschige Wolken lugende Sonne begleitet uns in einer Zone wildwüchsiger Stauden, Sträucher und Ufergehölze. Zäune weggerissen, Stacheldraht abgebaut, Mörderisches beseitigt, dann den ehemaligen Postenweg (korrektes DDR-Deutsch: „Kolonnenweg“) als Spazier- und Radweg asphaltiert. Seither scheint keines Menschen ordnende Hand diesen Garten je bestellt zu haben. Immer wieder blicke ich durch Vegetationslücken zum Wasser des „Britzer Verbindungskanals“. Eigentlich egal, wie der heißt, zumal ich die Bezeichnung erst zu Hause im Internet recherchiere. Ein wuchtig leidvoller Grund mahnt aber auch in dieser Hinsicht zu Genauigkeit: Zwischen den Büschen erspähe ich eine Stele, übermannshoch, dunkelbraun, vermutlich aus Stein gehauen. Ich lese den Namen des zu Tode gekommenen und erstarre, nicht sprichwörtlich, tatsächlich. Stehe und lese: „Chris Gueffroy“. Einer der wenigen Namen von Maueropfern, die mir geläufig sind. Chris Gueffroy, der letzte an der Mauer erschossene Mensch (5.2.1989). Ein zwanzigjähriger Junge, nicht alt genug, um wirklich gelebt zu haben. Ein Mensch, der starb, weil er unternahm, worauf wir ein grundgesetzlich verbrieftes Recht besitzen: Weggehen, wann immer und wohin immer wir wollen! Ich kann das jetzt noch nicht wissen: Morgen Sonntag, kurz vor 16 Uhr, anlässlich der Siegerehrung, bei der alle Finisher die Bühne betreten, wird mich die Mutter von Chris Gueffroy zu meiner Leistung beglückwünschen. Ich werde vor und nach ihr Hände schütteln, ihr aber kurz in die Augen sehen und mich an diesen Augenblick hier am „Britzer Verbindungskanal“ erinnern …

Kanäle und Flüsse zerschneiden Berlin in zahllose Inseln. So jedenfalls empfindet es einer, der binnen weniger Kilometer diverse Wasserläufe überwindet und hier, hinter der Brücke der nach der Wende neu gebauten A 113, sogar auf eine Kanalkreuzung stößt. Die Lemminge zieht es nach Süd-Osten, nun für schier endlose fünf (!) Kilometer dem schmalen Streifen zwischen Ufer des Teltowkanals und der Lärmschutzwand A 113 folgend. Langweilig? Äztend? Nö, eigentlich nicht. Warum auch immer: Ich genieße das gleichförmige Dahintraben, blinzele in die Sonne, luge zum Kanal oder lausche dem auf- und abschwellenden Rauschen des Verkehrs auf der Autobahn. Mir geht es ausgesprochen gut!

Selfies

Grit hat gut hundert Meter Vorsprung, seit ich bei der Stele verweilte. Dafür läuft der Mann mit der wegwerfenden Handbewegung bei der Kontrollmessung in meiner Nähe. Spricht mich an, als er mich zum x-ten Mal fotografieren sieht. Verstehe nicht so recht, was er meint. Däne ist er, so viel ist klar. Wir unterhalten uns kurz, wobei er meine Versuche mich in Englisch auszudrücken gleich abwürgt: „Lieber in Deutsch!“ Ist sein Englisch so schlecht oder meins? Ein paar Minuten Smalltalk folgen (Udo macht Smalltalk während eines 160 km-Ultras!? Kreist den Tag im Kalender rot ein!). Unterdessen zückt er sein Handy, streckt den Arm aus, richtet die Linse aufs eigene Konterfei und Weg hinter sich. Er wolle sich später erinnern, wie lange dieser Weg geradeaus führte, gibt er mir zu verstehen. 1. März 2008, Marathon Husum, mitten im Winterorkan namens „Emma“, habe ich zum ersten und einzigen Mal ein solches „Selfie“ von mir angefertigt. Gab’s den „neuhochdeutschen“ Ausdruck damals schon? Heute mache ich jeden Quatsch mit: Strecke den Arm raus und schieße eine Selfie-Serie. Der Däne sieht’s und lächelt …

Wieder geht die Sonne auf

Stadtteil Rudow, ehedem West-Berlin: Die Strecke hat den tatsächlichen Mauerweg verlassen um abzukürzen. Geht nicht anders, denn im Bereich Potsdam erwarten uns, der ausufernden Gewässer wegen, etliche Zusatzkilometer. Mal wieder Ampeln: Unverhofft grün, meist zeitraubend rot. Ich befürchte einen Regenguss, denn über der Stadt ballen sich dunkle Wolken. Und dann geht unverhofft die Sonne auf: Ines steht da und wir vollziehen das nun schon eingespielte Ritual. Ihre Unterstützung bringt mich vorwärts! Wegen der Versorgung natürlich, mehr noch durch ihr tolles Lachen …

Rudow mit seinen zahlreichen Wohnstraßen – gottlob in der Mehrzahl „unbeampelt“ – wandert „achtern“ aus und nach nicht mal hundert Metern knicken wir rechtwinklig Richtung Norden ab. Linker Hand, etwa einen Kilometer entfernt, unternimmt ein Müllberg den schamhaften Versuch sein wahres Inneres unter fleckig grünem Poncho zu verschleiern. Völlig anderer Streckencharakter ab jetzt und für lange Zeit! Der ehemalige Todesstreifen folgt dem urbanen Rand: Rechts Stadt, links Feld. Junges Birkengehölz, Büsche, Sträucher, Stauden. Wechselndes Geläuf: Asphalt, feinster Schotter, auch mal schmale Pfade. 35 km, dann 40. Ich bleibe im Rhythmus, halte mein Tempo, schlucke alle 5 km 100 kcal in klebrig süßer Form, darf jederzeit ungestraft in „Reststrecken“ denken. Etwa so: ‚35 km vorbei, noch 125 km.’ Oder nach dem ersten Marathon: ‚Marathon gelaufen, noch 118 km.’ Wer solche Sätze denkt, begeht eigentlich einen Akt mentaler Selbstverstümmelung. In Seminaren warne ich Läufer nachdrücklich vor dem mentalen Knockout, den solche Formeln nach sich ziehen können. Ich bleibe unbeeindruckt, fühle mich ungebrochen stark. Es zwickt hier, zwackte schon dort; Zipperlein allerorten kommen und gehen. Lache ich drüber, laufe ich mir alles raus. Es geht mir gut!

Ich treffe meinen Fanclub

Korrekte Chronologie der Ereignisse auf diesem Abschnitt unmöglich, also episodisch: Menschen auf dem Mauerweg, zu Fuß, mit und ohne Hund, mit dem Fahrrad, allein, zu zweit, auch kleine Gruppen. Blicke: Manche fragend, andere wissend; ab und zu Beifall und eingedenk des unbegreiflichen Vorhabens ein aufmunterndes Wort: „Alles Gute!“ VP 7, „Kirchhainer Damm“: Ines habe ich erwartet, werde aber von kleinem „Fanclub“ begrüßt. Verpflegungsritual mit Ines. Grüße an Petra und Lothar, Freunde, die uns für die Zeit in Berlin Obdach in ihrer Laube geben. Weiter mit Zucker im Bauch, kaum erträglicher Süße im Mund und noch mehr Zuversicht im Kopf. Noch immer scheinen Grits und meine Beine aufeinander synchronisiert. Mal rennt sie ein paar Meter vor, dann wieder hinter, bei Kilometer 50 zufällig neben mir: „So langsam spüre ich die Kilometer in den Beinen!“ werfe ich ihr hin, weil es gut tut den Anflug von Beunruhigung bei jemandem loszuwerden. Sie empfindet nicht anders, unterstreicht im Nebensatz aber die völlige Normalität der Wahrnehmung. Und wieder Schweigen. Grit wäre die ideale Laufpartnerin für längste Strecken: Wenn nötig sich kurz austauschen, danach angenehm lange schweigen. Sie gehört wohl nicht zu den Plappermäulern, die sich stundenlang gegenseitig ihre Lauf- und Lebensgeschichte beichten … Rechts schwenkt und … was’n das? Schild: „TV-Asahi-Kirschblütenallee“. Kurzer Halt, Foto, zu Hause recherchieren! Tatsächlich begleitet den Mauerweg nun für längere Zeit eine Doppelreihe junger Kirschbäume***.

***) Die etwa 1,5 km lange, von einer Bahnlinie unterbrochene Allee der Kirschbäume (ca. 9.000 Bäume wurden insgesamt in Berlin und Brandenburg auf dem ehemaligen Todesstreifen gepflanzt) verdankt ihre Entstehung einer Initiative des japanischen Fernsehsenders TV Asahi Group, der in der Nachwendezeit eine Million Euro sammelte, um die Tradition des japanischen Kirschblütenfestes „Hanami“ auf dem Berliner Mauerweg zu begründen. Die japanische Kirsche trägt keine Früchte! Sie wird in Japan wegen ihrer prachtvollen Blüten angepflanzt, als Symbol für die Vergänglichkeit des Schönen (und für anderes, das zu verstehen ich über zu spärliche Kenntnisse japanischer Kultur verfüge).

„Keine Träume sind für uns zu groß“

„Grenzenlos“ – ein Lied der Gruppe „Glasperlenspiel“ (vollständiger Text am Ende des Laufberichts). Auf jedem Heimweg von Trainingswettkämpfen testeten die Bassbeats von „Grenzenlos“ die Innenverkleidung meines Autos. Mehrmals nacheinander lief das Lied, ließ mich träumen die 100 Meilen genau auf diese Weise zu erleben:

...
Keine Träume sind für uns zu groß,
ich schwör dir heute sind wir grenzenlos.
Wir werden wach und wir fallen hoch,
ich schwör dir heute sind wir grenzenlos.

Wenn unmöglich wieder möglich wird,
sich alles Schwere so leicht verliert.
...

Ohne innere Grenze laufen, mit Leichtigkeit und gut gelaunt. Ein paar Mal habe ich mir das heute schon ins Gedächtnis gerufen. Obwohl es mir ausgesprochen gut geht, wollte sich die totale Leichtigkeit nicht einstellen. Noch zu früh? Bedenken noch zu groß? Vielleicht später? „Grenzenlos“ – erst vorhin ging mir auf, wie sehr dieses Motiv zu einem Lauf auf dem Mauerweg passt. Seit einem Vierteljahrhundert ist dieses Land nun wieder seine „Grenzen los“!

Wie mahnend erhobene Finger erinnern orangefarbene Stelen an die Zeit davor. Alle paar Kilometer markieren sie das Verlöschen von Menschenleben, meist eins, manchmal zwei oder mehr. Beständig mit Laufen gefordert zu sein, lässt den Schrecken nicht an mich heran. Die zeitweilig scheinende Sonne vertreibt Schatten nicht nur aus der Landschaft. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, aber bisher kooperiert der Wettermacher prächtig: Nicht zu warm und seine Regendrohung mit dunklen Wolken über Rudow hat er wieder zurückgezogen. „Ende Gelände“ und ein lebhaftes Hin und Her von Läufern: Hin auf meiner Seite der Straße, Her auf der anderen. Die Stippvisite gilt dem nächsten Verpflegungspunkt: VP10, „Sportplatz Teltow“. Wieder empfängt mich das kleine Komitee aus Ines, Petra und Lothar. Ich fülle meinen Gelvorrat auf und wetze in die nahe Sporthalle zum Buffet. VP10 ist auch Wechselpunkt für die Vierer-Staffeln und eines von drei Depots, zu denen Versorgungsbeutel transportiert wurden. Dank Supercoach Ines blieb mir Kopfzerbrechen erspart: Was brauche ich, an welchem Depot? Wieder draußen, Kuss und ab. Zum zweiten Mal an der seltsam ungeordneten Ausstellung von Mauerteilen vorbei. Manche bemalt, andere noch im tristen Grau ihrer einstigen Rolle. Eine Serie Köpfe, in Schwarz-Weiß gehalten, vermag ich thematisch zusammenzufassen: Frieden! Bedeutende Menschen, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden: „Willi Brandt“, „Dalai Lama“, „Gandhi****“, „Aung San Suu Kyi“ und „Nelson Mandela“.

****) Gandhi war zwar zwölf Mal als Friedensnobelpreisträger nominiert, er wurde ihm jedoch nie verliehen. Im Jahr 1948 wurde er ein paar Tage vor der Preisverleihung ermordet. Da eine Posthum-Verleihung des Preises nicht möglich ist, entschied das Komitee in jenem Jahr keinen Preis zu vergeben.

Ein paar Minuten sind mir am Ufer des Teltowkanals vergönnt. In gemütlichem Tempo tuckert ein Hausboot heran. Welche Bezeichnung stimmt: Hausbesitzer oder Bootsführer? Wohl beides, manchmal auch zur selben Zeit, so wie jetzt: Der Mann hat es sich am Bug der „schwimmfähigen Hütte“ gemütlich gemacht, Hand am Steuer, aalt sich in der Sonne. Freizeitvergnügen auf dem Wasser. Hübsch anzuschauen aber sicher keine Alternative für mich. Drei, vier Schritte noch, dann nimmt mir Vegetation die Sicht …

Seit fünf Kilometern im Wald. Dabei kennt der Weg nur eine Richtung: Schnurgeradeaus, wie mit dem Lineal gezogen. Eine Art Graben (natürlichen Ursprungs?) zwingt mich runter und sofort wieder rauf. Einzige Abwechslung neben der Überquerung der A 115, in Höhe des ehemaligen Kontrollpunktes „Dreilinden“ (zu Zeiten der DDR wichtigste Transitverbindung nach Berlin-West). Meine angegriffenen Laufwerkzeuge meckern ein bisschen. Auf die Pace hat das allerdings keinen Einfluss. Zwischenzeitlich bin ich meinem gewagten Zeitplan sogar sechs oder sieben Minuten voraus. Nach nunmehr 70 km scheint mir ein Ausdauertief so wahrscheinlich wie Schnee im August. Und doch ziehe ich es in Betracht. Nicht ängstlich, sondern als möglichen Wettkampfverlauf, den es dann hinzunehmen und mit festem Willen zu überstehen gilt.

Wieder Filmisches im Kopf und diesmal geht es schief

Die lange Waldpartie endet auf der Brücke über den Teltowkanal. Abrupt finde ich mich in einem Viertel herrlicher alter Villen wieder, vermutlich in den Randbezirken von Potsdam. Die weißen Pfeile führen mich sicher über altes Pflaster und jungen Asphalt. Zudem trabt stückweit einer vor mir her. Unter zwei Bahnbrücken hindurch, dann eine lange schattige Allee entlang. Ich hänge Erinnerungen nach: Potsdam! Vor gut zwanzig Jahren war ich zweimal hier. Die Natur rund um Potsdam, vor allem Flüsse und Seen, hat mich damals begeistert. In der Stadt fand ich dem Verfall überlassene Straßenzüge aber auch fein restaurierte Schlösser. Babelsberg mit seinen Filmstudios und Kulissen war mir damals noch kein rechter Begriff. Würde es gerne mal besichtigen. Kann nicht weit weg sein von hier (tatsächlich bin ich nur ein paar Laufminuten davon entfernt). – Wann habe ich den letzten weißen Pfeil gesehen und wo ist der Vordermann geblieben? Sofort suche ich nach Markierungen: Trottoir links, rechts, auf der Fahrbahn, 30 m, 50, 100: Nichts! Gab’s einen Abzweig? Ich erinnere mich nicht. Weiter. Keine Läufer vor mir, keine Pfeile auf der Straße … Mist: Verlaufen! Oder doch nicht? Noch ein paar Sekunden will ich mir geben, bevor ich umkehre, als von hinten ein Auto heran rauscht, Seitenscheibe runter, drin sitzt Lothar: „Du hast dich verlaufen!“ Er dirigiert mich um die nächste Ecke, zurück zum Verpflegungspunkt. Nun kommen sie mir entgegen: Läufer und Pfeile! Ich hadere mit mir selbst: Wie kann man sich am helllichten Tag und gut markierter Strecke verlaufen? Natürlich kenne ich die Antwort: Ein paar Sekunden Unaufmerksamkeit in Höhe des Abzweigs und schon ist es passiert! Ich begegne Grit: „Tut mir leid! Du warst zu weit voraus, ich konnte nicht mehr rufen!“ Später erfahre ich von Ines, dass Grit es war, die meinen Fanclub alarmierte.

Gel schlucken, Wasser trinken, mich bedanken und meinen Frust an Ines hinreden – unser Ritual wird um eine Dimension erweitert. Also los: ‚Nichts verloren! Der Fehler wirft mich nicht entscheidend zurück!’ Mir den Schnitzer schönzureden restauriert die Stimmung, dreht allerdings nicht die Uhr zurück. Unwiederbringliche fünf Minuten mehr infolge „temporärer Geistesabwesenheit“ (ca. 900 m betrug mein Umweg). – „Ist Grit vor oder hinter dir?“ Keine Ahnung, wieso die drei Läufer ohne Startnummer ausgerechnet mich fragen. Haben sie uns irgendwo als Tandem laufen sehen? Oder gehen sie davon aus, dass jeder im Feld den Vornamen „Grit“ richtig zuordnen kann?? „Sie ist vor mir, weil ich mich verlaufen hab’!“ gebe ich wahrheitsgemäß Auskunft und hoffe wir meinen dieselbe „Grit“. Abschätzend füge ich noch hinzu: „Etwa fünf, sechs Minuten!“, dann starten die drei ihre Verfolgung.

Unterwegs im Park

Mein Ärger in Sachen „Verlaufen“ fällt schrittweise von mir ab. Was soll es bringen, dem kleinen Anschlag des Läuferschicksals länger nachzuhängen? Außerdem gibt es Herrliches zu sehen: Wie ein einziger großer Park wirkt das über und über grüne, von der Allgegenwart ausgedehnter Wasserflächen geprägte Stadtgebiet. Zunächst begeistern mich Aussichten zum Griebnitzsee, dann geht es am Rand von Babelsberg hinab und über eine schmale Brücke hinüber in den Stadtteil Klein Glienicke. Am Glienicker Ufer bleibt kaum Zeit zum Atemholen: Größtenteils von hohen Parkbäumen verdeckt bleibt „Jagdschloss Glienecke“ noch von meiner Linse verschont. Eine der Hauptattraktionen des Mauerwegs, die legendäre „Glienicker Brücke“, gilt allerdings nach rascher Schussfolge meiner Digicam als einsturzgefährdet. Die „Große Neugierde“, ein Teepavillon in Rundform aus dem Jahr 1835 (Namenserklärung überflüssig), bleibt rechter Hand liegen, dann trabe ich über die Brücke. Über mir weiß-blauer Himmel, beidseits der Brücke die ausufernde Havel, in der Ferne „Schloss Babelsberg“, davor eine große Fontäne … Auch wenn ich mich wiederhole: Ein einziger, wunderschöner Park, der seinesgleichen sucht. Da bleibt die Historie auf der Strecke – im wahrsten Sinne des Wortes. Wer könnte vor solch herrlicher Kulisse düstere Bilder im Kopf aufrufen? Solche aus Dokumentationen oder Agentenfilmen, mit der Glienicker Brücke als zigfachem Schauplatz des Austauschs enttarnter Spione. Wer sieht schmucklose DDR-Fahrzeuge oder die mit dem roten Stern aus Richtung Potsdam zur Brücke fahren, wer die britischen oder amerikanischen Jeeps, wie sie von Berlin-West kommend zur Brückenmitte preschen? Kurzes Verweilen, Personenaustausch und ab. In Filmen dominiert Dunkelheit und laut Drehbuch wird auch schon mal geschossen … Wie war’s in Wirklichkeit?

Hinter der Brücke schubst mich ein kurzer Adrenalinstoß zurück in taghelle Wettkampfrealität: ‚Mann pass auf! Wo geht’s lang? Nicht schon wieder verlaufen!’ Ein paar Schritte in aufwallender Panik, dann entdecke ich einen Pfeil der die spiralförmige Unterquerung der Brücke einleitet. Wir bleiben am Ufer der zum See erweiterten Havel: Kilometer um Kilometer reizvolle Ausblicke zum Wasser. Damit nicht genug: En passant erfreut mich ein idyllischer Wassergraben („Hasengraben“). Kurzes Stirnrunzeln über einen Kartenleser mit Startnummer, den ich vor der Brücke überholte und nun neuerlich hinter mir lassen muss. Einzig sinnvolle Erklärung: Hinter der Brücke die Straße überquert und auf diese Weise abgekürzt. Doch dieser Regelverstoß hat die Bedeutung eines Sandkorns in der Wüste. Was die Welt wirklich veränderte, geschah 1945 in „Schloss Cecilienhof“*****, dessen Rückfront wir nun passieren.

*****) Potsdamer Konferenz der Siegermächte (17.7 – 2.8.1945); anwesend u.a. Stalin und Truman; Ergebnis: Aufteilung des Deutschen Reiches in Besatzungszonen, Aufteilung Berlins, Festschreibung der Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze der DDR und mehr. Am Rande der Konferenz und für die Welt von noch größerer Tragweite: Vom Tagungsort „Cecilienhof“ aus gibt US-Präsident Truman den Befehl zum Abwurf der Atombombe über Hiroshima (6.8.1945).

Unwägbarkeiten eines Ultralaufs

Potsdam liegt hinter mir und entlang einer stark befahrenen Straße sammle ich weitere Kilometer. Ein Durchhänger, der sich um die Kilometer 55, 60, 65 anzukündigen schien, hat sich „rückstandslos verflüchtigt“. Ich habe keine Mühe mein Tempo zu halten. Eigentliche Nagelprobe bilden ein paar fordernde Hügel, die ich zwar spüre aber ohne Schwierigkeiten meistere. Rechts abbiegen und weg von der Straße. Im selben Moment zischt ein mir nicht unbekanntes, blaues Auto vorbei. Ines hält, steigt aus, eilt mit Gel und Wasserflasche ziemlich „aufgelöst“ auf mich zu. Grund: Wegen diverser Umleitungen, Sperrungen und touristischer Überlastung in Potsdam hat sie den letzten Verpflegungspunkt nicht erreicht, glaubt mich nun in Sorge und vor allem unversorgt. Ich nehme ein Gel, trinke ein paar Schlucke aus der Flasche, kann sie im Übrigen aber beruhigen: Mir war nicht mal klar, dass sie den VP erreichen wollte. Also alles gut!

In weiter Schleife um die Seen nördlich Potsdam, vorwiegend im Wald, oft in der Nähe irgendwelcher Ufer, und Hügel gibt’s hier auch. Idylle pur. Ein bisschen vom ersehnten „Grenzenlos“ hat sich mittlerweile eingestellt und ich hoffe es mir lange zu bewahren. Meist zuckele ich solo einher, doch kurz vor VP 15, „Schloss Sacrow“, hole ich ein paar Läufer ein, unter anderem auch Grit. Vor mir Schloss Sacrow und – wie schön – Ines. Ich fülle meine Gelvorräte auf und wende mich dem Verpflegungspunkt zu, der sich hinterm Schloss befinden muss. Links davon hundert Meter freie Sicht auf … Oh mein Gott! … eine fette, graue Regenwand. Die hat sich in meinem Rücken angeschlichen. Erste Tropfen fallen und binnen Sekunden beginnt es zu schütten …

Kurz entschlossen schlüpfe ich unter das Dach des Verpflegungsstandes, wohin sich auch Ines wenig später rettet. Was tun? Noch 70 km. Die wären in nassen Socken und Schuhen nicht zu bewältigen, ein diesbezüglicher „Selbstversuch“ endete vor drei Wochen mit üblen Blasen. Also hoffe ich auf einen kurzen Schauer und warte ab – wie übrigens mehrere andere auch. Was für ein Sch … gefühl: In den dichten Regenvorhang starren und zur Untätigkeit verdammt sein! Spüren, wie feuchte Kälte in immer tiefere Körperschichten dringt. Spüren, wie wertvolle Wettkampfzeit nutzlos verstreicht. Bin zappelige Ungeduld, durch und durch. Vier, fünf Minuten vergehen, dann lässt der Regen nach. Als ein ganz in Neonfarben gehülltes Läuferpaar aufbricht, hält es auch mich nicht mehr …

Ein paar Minuten regnet es weiter, nicht mehr ergiebig, dann gilt es nur noch den Pfützen auszuweichen. Schuhe und Strümpfe sind feucht aber nicht nass. Wenn’s dabei bleibt, brauche ich mich nicht umzuziehen. Ich trabe hinter den Neonfarbigen her. Zweifelsfrei auch abseits der Laufstrecke ein Paar. Ein kurzer Moment optischer Verwirrung … tatsächlich: Martina – Gaston, Gaston – Martina, steht am oberen Rand ihrer Kompressionstrümpfe. Lässt sich Zweisamkeit laufend noch augenfälliger demonstrieren?****** Interessant auch der begleitende Tross: Versorgt werden sie von einem Fahrrad-Coach, dessen Spezialrad über die größte, je gesehene „Ladefläche“ verfügt. Und die ist voll bepackt, Martina und Gaston haben an alles gedacht. Am VP streiften sie Regenjacken über und schützten die Schuhe mit wasserdichten Gamaschen. So eine Materialschlacht setzt lückenlose Begleitung oder einen Laufrucksack voraus. Beides nicht nach meinem Geschmack. Und welche Aufgabe hat der zweite Radfahrer in ihrem Kielwasser? „Ist das die führende Frau?“ frage ich ihn. Seine Bestätigung lässt mich mutmaßen, dass die schnelle Grit alsbald in Führung gehen wird …

******) Nach dem Zieleinlauf wird Gaston seiner Martina einen Heiratsantrag machen, den sie im Stadion und noch mal „offiziell“ bei der Siegerehrung unter allgemeinem Beifall annimmt.

„Weißt du noch was du geträumt hast? Erinner dich an dich.“

Nach gut zwei Kilometern hat Muskelwärme die Kälte besiegt. Der körpereigene Tacho funktioniert wieder genauer: Ich bin zu langsam! Als wir von der Straße in einen Waldweg abbiegen überhole ich das Neonduo, zugleich geht es sanft bergauf. Mühelos bergauf! Hinter mir höre ich noch: „Erst mal die Regenjacken ausziehen!“ Danach umfängt mich Stille und „Grenzenlos“ kehrt Schritt für Schritt zurück …

Als hätte es den Regenspuk nie gegeben, lacht eine Viertelstunde später die Sonne aus blauem Himmel, taucht Ufer und Wasserspiegel des Groß Glienicker Sees in zauberhafte Farben. 16 Uhr, ich bin jetzt zehn Stunden unterwegs. Nach wie vor schlucke ich die abscheulich süßen Gelportionen im 5 km-Rhythmus. Kopfsteinpflaster, haltbare Vorkriegsware, drum zu DDR-Zeiten nicht ersetzt, malträtiert mir gerade die Füße. Nicht zum ersten Mal, dafür umso länger. Ein Stadttor?******* Aber wo ist die dazugehörige Stadt? Hinter dem Backsteinbogen setze ich über die Straße (Ampel!) und werde kurz darauf neuerlich vom „Igel“ erwartet. Wie im Märchen von Hase und Igel: „Bin schon da!“ Mein „Igel“ hat weder Stacheln noch krumme Beine und einen Doppelgänger braucht er auch nicht. Er steht hundert Meter vor VP16, „Pagel & Friends“, hält Gel bereit, schießt Fotos. Danke Igel! Mächtig Remmidemmi bei Familie Pagel und ihren Freunden. Musik aus fetten Boxen und großes Hallo. Ein Strich für jeden Läufer. Meiner ist der Vierunddreißigste am Ende eines langsam wachsenden Zauns …

*******) Das Backsteinportal gehört zu den Resten des im Krieg zerstören Ritterguts „Groß Glienicke“.

100 Meilen um Berlin sind nicht flach!

Die Zeit der 1a-Attraktionen scheint vorbei. Radweg an Straße, Radweg im Wald, wieder Radweg an Straße. 100 Kilometer geschafft, noch 60. Fast bin ich versucht ein „nur noch“ vor die 60 zu setzen, betrachte das aber als Herausforderung des Schicksals. Alles andere als ein Spaziergang natürlich, aber ich fühle mich stark! Hin und wieder abgelesene Zwischenzeiten bestätigen mein Laufgefühl nicht langsamer geworden zu sein. Tempo etwa 6 min/km, plus/minus ein paar Sekunden. Plus, wenn ich mehr rauf, minus, wenn ich überwiegend abwärts laufe. Der letzte Satz räumt mit einem weit verbreiteten Irrtum auf: Die 100 Meilen von Berlin sind nicht flach! Ab Potsdam beschäftigen dich immer wieder Anstiege. Von lang und moderat, bis kurz und knackig ist alles vertreten. Wenn ich stöhne, dann eher routinemäßig. Tatsächlich fällt es mir leicht die zahlreichen Hügel zu überwinden. Zeit verlor ich nur an Verpflegungspunkten, beim Verlaufen und Unterstellen. Deshalb hänge ich meinem Zeitplan nun etwa zehn Minuten hinterher …

Wo bin ich hier? Minute um Minute vorbei an Wohnhäusern, mitunter von Ampeln am Fortkommen gehindert. Dann ein Schild, das Aufschluss gibt: „Dauerkleingartenkolonie Gartenbauverein Staaken 1922 e.V.“ In Staaken also, okay, nie gehört. Gehört zu Spandau, weiß ich aber nicht. Fotos werden Mangelware. Wohnstraßen, gelegentliche Waldstücke, auch mal freies Feld – keine Motive, die die Mühe lohnen. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich an kaum etwas erinnere zwischen Km 105 und 115. An Ines natürlich bei VP 18, „Falkenseer Chaussee“. Gel, Wasser und ihr Lächeln, was brauche ich mehr?

„Ist ja auch Wahnsinn, was ihr da treibt!“

Kilometerfressen im Wald und zwischen Feldern. Unmöglich den ehemaligen Grenzverlauf zu bestimmen. Entweder alles überwuchert oder meine Auffassungsgabe hat unter langem Laufen gelitten (beides vermutlich). Traute Dreisamkeit an VP 19, „Schönwalde“, zwei Helfer und ich. Dem fälligen Energiegel folgt mein Standardsatz „Nur Wasser bitte!“ Angesichts verschmähter Köstlichkeiten erkläre ich dem Helferduo mein „Verpflegungskonzept“, wohl einzig, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. „Verständlich!“ bekomme ich zu hören und: „Ist ja auch Wahnsinn, was ihr da treibt!“

Wieso ist es auf einmal so finster hier im Wald? Muss mich konzentrieren, um Pfützen und Hindernissen auszuweichen. Bloß nicht stürzen! Immerhin bin ich seit mehr als 12 Stunden unterwegs und habe 117 Kilometer hinter mir … Hinterm Waldrand wird es heller … aber nicht so richtig. Ich blicke Richtung Westen über eine von Bäumen und Büschen gesäumte Wiese. Oh mein Gott! Die Sintflut als Wetterfront und sie kommt direkt auf mich zu! Keine Minute später peitscht mir der Wind erste Tropfen ins Gesicht, dann schüttet es wie aus Kannen. Baumreihen rechts und links – nicht hoch genug, bieten keinen Schutz. Binnen Minuten dringt Wasser in jeden Winkel meiner Schuhe, erzeugt jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch. Ich fluche vor mich hin. Erst still, dann lauthals. Wieso auch nicht? Keine Menschenseele in der Nähe und mir hilft’s. Sch … wetter!!! Kalte Nässe am ganzen Körper stört mich nicht. Schlimm ist, dass ich die verbleibenden 50 Kilometer nicht mit quatschnassen Füßen bestreiten kann. Also Strümpfe und Schuhe wechseln. Aber wann? Wird Ines am nächsten Verpflegungspunkt warten? Oder erst am übernächsten? Einstweilen segnet mich der Himmel weiter … nun nicht mehr in Strömen, aber anhaltend und ergiebig …

Nach dreißig Minuten hört das Tröpfeln endgültig auf. Zahllose Pfützen erzwingen einen Schlingerkurs auf quatschnassen Füßen. Zwischen Bäumen lugt die größte aller Pfützen hindurch: Die Havel, zum schlanken See verbreitert, was ich aber nicht weiß. Und wenn ich’s wüsste, wär’s mir augenblicklich von Herzen egal. Meine Stimmung ist ziemlich im Eimer, keine Spur mehr von „Grenzenlos“. Sanft aufwärts durch jungen Kiefernwald (Wetten, der ist nicht älter als 25 Jahre!?). Entlang der Seepromenade (einst Todestreifen!!!) von Nieder Neuendorf schmatze ich vorwärts. Kerl und Boden unter den Füßen – alles voll gesogen mit Wasser. Das unangenehme Reiben an Zehen und Fußsohlen gibt den Ausschlag: „Ich muss mich umziehen!“ rufe ich der wartenden Ines entgegen. VP 20, „Grenzturm Nieder Neuendorf“. Es gelingt mir spielend den ehemaligen Wachturm zu übersehen, obwohl er keine zwanzig Meter weit entfernt und unübersehbar aufragt. Ich bin nass und mir ist kalt. Schuhe aus und Strümpfe wechseln. Bücken und Hantieren geraten zur Tortur, wenn du frierst und mehr als 120 km weit gelaufen bist. Vielleicht säße ich morgen noch auf der Bank im Unterstand der Helfer, wenn Ines mich nicht tatkräftig unterstützte. Sie schnürt die Schuhe auf, reißt die nassen Socken von den Füßen, reicht mir das Handtuch … Jetzt noch die klammen Trikots: Ich bücke mich, Ines zieht. Abtrocknen, neues Hemd überstreifen. Acht Minuten kostet mich das Umkleiden. Dann will ich wieder los und … werde von Schüttelfrost erfasst. Zu lange ausgekühlt! Wie ein Zitteraal tippele ich vorwärts, bettele um Wärme von innen. Man ruft mir hinterher. Nehme ich nicht wahr. Erst als Ines in den Chor einstimmt – „Udo! Udooo!“ – drehe ich mich um. Kontrollpunkt überlaufen! Zehn Meter zurück, durch die nasse Wiese, registrieren und weiter zittern … Die ersten fünf Minuten fühlen sich grauenhaft an. Ein Schütteln jagt das nächste und die Füße schmerzen barbarisch in trockener, dafür nicht eingelaufener Umgebung.

„Erinner dich an dich.“

Vier Kilometer später ist wieder alles in bester Ordnung. Mir ist warm, von den Füßen empfange ich ein „Daumen hoch!“ und außerdem wartet da schon wieder Ines! Was für ein obergenialer Coach. Sie hat sich 200 m vorm VP postiert, weil die Zufahrtsstraße völlig zugeparkt ist. Auch wenn erst in mehr als einer Stunde die Dämmerung einsetzt, übergibt mir Ines schon jetzt Warnweste und Stirnlampe. Sicher ist sicher. Auf dem Weg zum VP wird das seit längerem hörbare Wummern immer lauter: Rockmusik live, irgendwo jenseits der Straße. Trinken und ab, per Brücke über die Havel. Eine Chaussee entlang, dann in den Wald, vorwärts, vorwärts, 130 Kilometer geschafft, immer weiter. Tempocheck: Kaum zu fassen, aber ich bleibe auch jetzt noch reihenweise unter 6 min pro Kilometer. Wieder ein VP, tief im Wald, Gel und Wasser, nur kurz die Pause. Sofort zweihundert ziemlich anspruchsvolle Meter bergan. Absolut kein Problem. Und plötzlich spüre ich es wieder, das „Grenzenlos“.

Kaum Bleibendes im Gedächtnis, Fotos ohnehin keine mehr (Kamera blieb nach dem Umziehen bei Ines). Rauf, runter, rauf, runter … Kilometersammeln. 135, 136, 137 … Wo bin ich denn hier gelandet? Backsteingebäude, alle gleich aussehend, locker in parkähnlichem Areal angeordnet. Überfallartige Assoziation: Ich fühle mich in eine Berliner Kaserne versetzt, in der ich Anfang der 1990er-Jahre mal ein paar Tage verbrachte. Dann schaue ich genauer hin und erkenne Unterschiede. Kasernengebäude sind schmucklos, hier erkennt man Blumen und andere individuelle Veränderungen vor Eingängen und an Fenstern. Schließlich verlasse ich die Siedlung der roten Backsteinblocks, passiere zwei „Wachhäuschen“ und nehme eine ungeklärte Frage mit auf die Strecke******** …

********) Die einer Kaserne nicht unähnliche „Invalidensiedlung“ blickt durchaus auch auf eine militärische Geschichte zurück. Heute wird sie von einer Stiftung verwaltet, deren Aufgabe darin besteht Kriegsbeschädigten und Schwerbehinderten adäquaten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Zur Entstehungsgeschichte (reicht 250 Jahre zurück) und der häufigen Nutzungsänderung der Anlage empfehle ich Wikipedia.

 

Wieder im Wald. Mit einsetzender Dämmerung laufe ich einmal mehr Ines in die Arme. VP23, „Naturschutzturm“. Der Turm steht nebenan und um seinen Ursprung zu erraten brauchst du wahrlich keine drei Versuche. Ines führt mich zum Pavillon dahinter, der das Läuferbüffet beherbergt, zeigt mir ein paar Erinnerungstafeln. Spürt sie wie gut ich drauf bin? Gel, trinken, Abschied und weiter … Eine Minute zu lange pausiert, wieder ausgekühlt, muss mich einiger Schüttelfrostanfälle erwehren ... Ein Weile komme ich noch ohne aus, dann ist es soweit: Stirnlampe einschalten! Von da ab bin ich mit etwas geringerem Tempo unterwegs. Wegen der eingeschränkten Sichtverhältnisse, teilweise schlechter Wegstrecken und weil ich kein Risiko eingehen will. Nicht auszudenken, wenn ich mir den nahen Erfolg noch mit einem Sturz versaute! Ausgerechnet im Stockdunkel dieses finalen Abschnitts, mitten im Wald, häufen sich gepflasterte Wege. Voll konzentriert stiere ich auf das von der Stirnlame fahl erhellte Oval. Fahnde nach Hindernissen und Markierungen. Neben den bekannten weißen Pfeilen, finde ich immer mehr kleine, blaue, reflektierende, die einem schon auf hundert Meter Entfernung entgegen leuchten. Über die Streckenmarkierung kann man nun wirklich nicht meckern! 160 Kilometer lückenlos und so geschickt markieren, dass Verlaufen eigentlich nur infolge Unaufmerksamkeit möglich ist: Tolle Leistung, die Anerkennung verdient.

Lass uns verschwinden im Nebel im Licht,
im Schatten dieser Nacht sieht man uns nicht.
Unauffindbar, führ mich aus,
ich lad dich ein weit hinaus.
Denn geht die Sonne unter gehen wir auf.

Noch zwanzig Kilometer und aus stockdunklem Wald renne ich ins Licht, finde mich alsbald an einer belebten Ausfallstraße wieder. Ich nehme die Parade der Tankstellen, Supermärkte und Fast Food Läden ab. VP: Trinken, Gel ist schon drin. Nur kurz verweilen. Hoffnung: Weiter durch das helle Berlin. Realität: Zurück ins dunkelste aller vorstellbaren Stockdunkel. Einerlei. Ich bin erfüllt von „Grenzenlos“ und absolut nichts kann mich jetzt noch aufhalten. Noch 18, 17, 16 Kilometer. Gibt es Welt jenseits meiner Lichtblase? Selbst auf Freiflächen, gegen den etwas helleren Himmel, lassen sich keine Konturen unterscheiden. Dafür ist die Stirnlampe zu hell. Noch 15, 14, 13 Kilometer. Ultralaufen ist kein Wunschkonzert, es ist vor allem eins: Harte Arbeit in der Vorbereitung. Manchmal habe ich gelitten wie ein Hund, schleppte mich mit letzter Kraft ins Ziel. Und nun kann ich kaum fassen, wie leicht es mir fällt diese unglaublich lange Strecke zu laufen. 145 Kilometer und kein noch so winziges Anzeichen von Schwäche. Alles schmerzt unterhalb der Gürtellinie, schon klar, aber keinerlei ernsthafte Beschwerden. Was ich mir erträumte, woran ich mich immer wieder berauschte, genau das erlebe ich heute und es wird mit jedem Schritt intensiver: „Keine Träume sind für uns zu groß, ich schwör dir heute sind wir grenzenlos.“

Ich habe einige Läufer überholt, musste selbst nicht einen ziehen lassen. Rauschte jemand an mir vorbei, war’s ein Staffelläufer. Doch unabhängig von der späteren Platzierung werde ich einen großen, persönlichen Erfolg feiern. Ich spüre genau, dass ich nun nicht mehr einbrechen werde! Was für ein wahnsinnig tolles Gefühl! Noch 12 Kilometer. Ich folge einer lang gezogenen, anspruchsvollen Steigung. Anstrengend aber kein Problem! Lichtschein weit voraus, im Näherkommen bestätigt sich meine Vermutung: VP 25 „Lauftreff Lübars“ und – wunderbar! – Ines wartet auf mich. Großes Hallo am Verpflegungsstand und der empfängt einen Udo in Bestlaune. „Wie weit noch?“ Elf Kilometer höre ich und freue mich. Entlasse sogar – völlig untypisch für mich – einen flotten Spruch in den Nachthimmel: „Na, die trabe ich doch locker runter!“ Gel, trinken und dann los. Meine es einfach nur, wie ich es zu Ines sage: „Also bis gleich im Stadion!“ Auflachen und Kopfschütteln eines Zaungastes machen wieder einmal bewusst, wie sehr Ultralaufen die Maßstäbe verschiebt. Für mich Realität, für den Mithörer ein trocken hingeworfenes Bonmot, das ihn zum Lachen bringt: Da hat einer 145 km in den Beinen, noch über eine Stunde vor sich und meint nur lapidar: „Bis gleich im Stadion!“

Atemlos (zum Glück nicht ich!)

Die Dunkelheit hat mich wieder verschluckt. Irgendwo rechts voraus wummert es aus phonstarken Lautsprecheranlagen. Eine weitere Open-Air-Veranstaltung, Musik, von Redebeiträgen unterbrochen. Es klingt nach „Musikantenstadl“ und jeder Menge gute Laune. ‚Wenn denen in der Abendkälte mal nicht die Stimmung vergeht!’ denke ich, konzentriere mich aber auf den Weg. Kein Verlaufen mehr riskieren! Weiße Pfeile auf dem Asphalt, kleine, reflektierende an Bäumen oder Pfählen, genau in der richtigen Höhe. Eigentlich hasse ich es im Dunkeln zu laufen. Mein Kopf reagiert darauf gerne mit mieser Laune. Heute nicht. Heute bin ich „grenzenlos“! Tausendmal besser als „atemlos“ wie Helene Fischer. Jedenfalls dröhnt ihr aktueller Hit genau in diesem Moment vom Festplatz herüber: „Atemlos durch die Nacht …“

Was die Nacht so alles verbirgt

Stockdunkel! und ich kann es kaum fassen. Stockdunkel? Eigentlich hatte ich mir vorgestellt auf den letzten 15 bis 10 Kilometern in der taghell erleuchteten Berliner City unterwegs zu sein. Aber ich laufe auf dem ehemaligen Todes- und jetzt eben Waldstreifen. Dann säumen linker Hand irgendwelche dunklen Gebäude die Strecke, Fabrikanlagen vermutlich. Rechts von mir erhebt sich ein Damm, dessen wahre Natur ein vorbei ratternder Abendzug enthüllt. Dazwischen der Mauerweg. Verlaufen auch ohne Markierung unmöglich. Wie meinte später ein Teilnehmer: „Diesen hässlichen Abschnitt hätte ich im Hellen gar nicht sehen wollen!“

Vorletzter Verpflegungspunkt, noch 6 Kilometer bis zum Ziel. Letztes Gel, ein Becher Wasser und weiter. Eine gute halbe Stunde noch und meine Hochstimmung wächst, auch wenn die Nacht mich sofort wieder verschlingt. Rückseite eines Anwesens und was ich nun beschreibe passiert komprimiert binnen einer Sekunde: Eine für mich unsichtbare Tür öffnet sich – Licht dringt von innen heraus – Großer Hund an der Leine – Sieht mich, reißt an der Leine, stellt sich auf die Hinterbeine – Stirnlampe lässt die grellen Augen einer Bestie aufglühen, keinen halben Meter von mir entfernt – Schreck und panischer Schritt zur Seite – Frau reißt Hund zurück – Udo vorbei, hat überlebt. Immer noch kein Funken Helligkeit und das fünf Kilometer vorm Ziel. Unwillkürlich beschleunige ich meine Schritte, bleibe aber voll konzentriert. Wie kann es sein, dass mir das so leicht fällt. Kein Tunnel tut sich heute auf, kein dem Ziel entgegen sterben, keine schier unerträglichen Schmerzen, kein barbarisches Leiden. Ungeheuerlicher Verdacht: Hätte ich die Strecke in höherem Tempo bewältigen können?

Vergebliches Wetteifern

Noch drei Kilometer: Letzter Verpflegungspunkt und ich laufe einfach vorbei. Tut mir leid, wenn ihr euch hier die Nacht um die Ohren schlagt, aber drei Kilometer vorm Ziel bringt Verpflegen keinen Vorteil mehr. Weiter. Unterführung und rote Ampel. Da wartet einer. Schaut an mir runter, sieht meine Startnummer. Seine kann ich unter der Warnweste nicht erkennen. Ampel grün, wir laufen los. Ob ich den noch überholen kann? Immerhin hab’ ich ihn eingeholt. 50, 60 Meter versuche ich dran zu bleiben, erhöhe auch mein Tempo. Doch der andere ist zu frisch, legt ein erstaunliches Tempo vor, erläuft sich rasch hundert Meter Vorsprung (War übrigens ein Staffelläufer). Wenigstens beseitigt das vergebliche Scharmützel den hässlichen Verdacht mich selbst unter Wert geschlagen zu haben: Ich laufe am Limit und habe alles gegeben, was ich geben konnte!

In der Ferne sehe ich die Flutlichtmasten des Stadions. Gleich geschafft! Kurz nacheinander überhole ich noch zwei gehende Kontrahenten. Nur langsam nähere ich mich dem gleißenden Licht. Noch einmal Höhenmeter, eine Schräge fordert sie von jedem, der das Bahngelände überwinden will. Ich muss letzte Reserven mobilisieren, um diese vielleicht achtzig Meter der als Serpentine angelegten Schräge zu packen. Nach 160 Laufkilometern gelingt mir das immer noch ohne Schwierigkeiten. „Grenzenlos“, was für ein Gefühl! Weiter dem taghellen Stadion entgegen. Es sind die Flutlichtmasten des größeren der beiden Stadien im Jahn-Sportpark. Dort wurde vor gut zweieinhalb Stunden, um 20:30 Uhr das Pokalspiel „Viktoria Berlin“ gegen „Eintracht Frankfurt“ angepfiffen, vierte gegen erste Liga. Das Flutlicht degradiert meine Stirnlampe zur trüben Funzel. Wie ein halbblinder, liebestrunkener Nachtfalter trudele ich dem verheißungsvoll grellen Schein entgegen, weiter und immer weiter. Gleich geschafft!!!! Sehe mich schon ins Stadion laufen und Ines in die Arme schließen … Schlachtenbummler kommen mir entgegen, lungern seitlich im Halbdunkel der Anlage. Wo ist mein Stadion? Mir fehlt einfach die Orientierung.

Erst ist es Furcht, die mit jedem Schritt wächst, bis sie mich fast lähmt. Zuletzt, vor einer breiten Querstraße Gewissheit: Ein paar verblasste, gelbe Pfeile auf dem Boden, aber kein weißer. Blicke nach rechts, drehe den Kopf nach links, mehrmals. Nichts. VERLAUFEN! Unfassbar! Vorm Stadion verlaufen! Also zurück. Ein sturztrunkener Fußballfan torkelt vor mir her, muss umkurvt werden. Quälende zwei, drei Minuten vergehen, dann finde ich endlich den Pfeil. Bereits überholte, gehende Läufer überhole ich ein zweites Mal. Hallenvorfeld, weiter, auf eine Straße. Bin ich richtig? Pfeile: Alles okay! Stückweit noch, dann der Ruf: „Hier lang, hier geht’s rein! Und dann noch eine halbe Runde!“ Ein hölzernes Podest bringt mich auf Höhe des Stadioneingangs. Dann bin ich drin. Kontrollblick: Niemand mehr vor mir auf der Tartanbahn, also die Sache in aller Ruhe zu Ende traben … traben … traben … von wegen halbe Runde. Dreiviertel der Tartanbahn muss ich noch überstehen. Dann die Zielgerade, finale Meter und ein Gefühl in mir, das zu beschreiben mir die Worte fehlen … Arme hoch und geschafft!


 

Fazit zur Veranstaltung

Die 100 Meilen von Berlin sind mehr als nur ein Wettkampf. Wer auf dem Mauerweg unterwegs ist, begegnet geballter deutscher Geschichte. Man wird an Begebenheiten erinnert, die man liebend gerne vergessen würde, die wir aber nicht vergessen dürfen! Menschliche Verblendung bis in den Wahnsinn und Krieg waren für alle Leiden die Ursache. Auch für den Bau der Berliner Mauer.

Jenseits des Gedenkens wird kaum eine 100 Meilen-Strecke mit so vielen touristischen Höhepunkten und Naturschönheiten aufwarten können. Das gilt allgemein, besonders jedoch für die Gegend um Potsdam.

Vom hohen Startgeld (ca. € 190,-) sollte man sich nicht abschrecken lassen. Allein 27 Verpflegungspunkte sind einzurichten und 160 km Strecke zu kennzeichnen, zig andere Einzelposten zu bezahlen. Am Ende stimmt der Gegenwert. Diese Einschätzung traue ich mir auch ohne genaues Aufrechnen zu. Mit einem Pfund können die (Haupt-) Organisatoren um Dr. Ronald Musil und Alexander von Uleniecki wahrlich wuchern: Der Mauerweglauf findet in einer internationalen, trotzdem sehr persönlichen, absolut verbindlichen Atmosphäre statt. Du bist nie Nummer, immer Mensch und Läufer!

Besonderheiten: Ein ärztliches Attest ist Voraussetzung für die Teilnahme (!), ebenso die Ausstattung mit handelsüblicher Warnweste und Stirnlampe. Vor roten Ampeln muss zwingend gewartet werden, andernfalls droht Disqualifikation. Der Mauerweglauf soll künftig in jedem Jahr stattfinden, wobei die Laufrichtung jährlich wechseln wird.


 

Zahlen rund um meinen Mauerweglauf:

Laufzeit: 17:18:55 h
Tempo: 6:28 min/km (einschließlich Verlaufen, Verpflegen, Unterstellen und Umziehen)
Platzierung gesamt: 17. von 210 Männern
Platzierung M60: 1. von 17 Teilnehmern
Vorsprung vor dem 2. in meiner Altersklasse: Ca. 3,5 Stunden
Verlaufen: Zweimal, insgesamt etwa 1,9 km zusätzlich
Durch Verlaufen, Unterstellen und Umziehen verlorene Zeit: Ca. 22 min
Konsumierte Gelbeutel: 37 (insgesamt etwa 1,5 kg Gel und 3.500 Kcal)
Verbrauchte Kalorien: Ca. 13.000 – 14.000
Verlorene Körpermasse (Wasser nicht inklusive): Ca. 1,1 bis 1,3 kg
Verpflegungsstationen (VP) an der Strecke: 27
Mein Coach: Meine geniale Ehefrau, die es schaffte, mich an 14 (!) VP und einmal an der Strecke zu versorgen.
Beim Coaching gefahrene Kilometer: Über 200

 

Vorbereitung der „100 Meilen Berlin“:

Gelaufene Kilometer: Ca. 2.850
Beginn der Vorbereitung: 1. Januar 2014

Vorbereitungswettkämpfe:

2 x 100 km
3 x um die 70 km (davon zwei Trailläufe)
3 x 50 km oder etwas mehr (zweimal mit markantem Profil)
8 x Marathon (meist mit erheblicher Anzahl Höhenmeter)

 


 

Danksagung

Ohne Unterstützung wäre mein Erfolg auf dem Mauerweg nicht oder zumindest nicht in diesem Ausmaß möglich gewesen. Ich bedanke mich …

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-linkslogo-rechts

zum Seitenanfang