Karsamstag, 31. März 2018

Das Prinzip Hoffnung  -  Berliner Ostermarathon 2018

Wer „Berlin“ und „Marathon“ in einem Atemzug nennt, denkt unwillkürlich an bunt bedresste Heerscharen, die auf autobahn-breiten Prachtstraßen Aufstellung nehmen. Hat Bilder von pfeilschnellen, federleichten Kenianern im Kopf, die unter den Augen eines Millionenpublikums den Weltrekord jagen. Was mich Karsamstag im Berliner Stadtteil Tegel zum „Ostermarathon“ erwartet, darf man mit Fug und Recht als völligen Gegenentwurf zum Massenphänomen „Berlin Marathon“ betrachten. Statt Massen wärmen sich im Vereinsheim der Laubenpieper gut und gerne 60 Läufer auf. Um Viertel vor zehn ist es an der Zeit zur mehrere hundert Meter entfernten Startlinie aufzubrechen. Also watschelt die Gruppe hinterm Veranstalter Frank-Ulrich Etzrodt her, wie frisch geschlüpfte Küken hinter ihrer stolzen Entenmama. Offensichtlich eine recht kleine, aber eben auch feine Veranstaltung - so mein erster Eindruck. Persönlich in jedem Detail, überaus freundlich und verbindlich im Umgang. Hier bin ich in erster Linie „Udo“ und nicht die „22“, auch wenn die Schriftgrößen auf meiner Startnummer das Gegenteil suggerieren.

Seite an Seite mit Mike im Regen und auf dem Weg zur Startlinie. Für mich der dritte Lauf in Folge, den ich mit dem Freund gemeinsam bestreite. Mike schob am letzten Wochenende noch einen Hunderter dazwischen. Am letzten Wochenende … da hätte ich in heimischen Gefilden mehrere lange Trainingsläufe in Folge bestreiten wollen. Doch wie sich zeigte, gebricht es mir in diesem Jahr an gesundheitlicher Robustheit oder auch nur am Glück, um die Trainingsbelastung wie gewohnt zu steigern. Vorletzten Donnerstag kratzt es im Hals und was das bedeutet, weiß ich nur zu gut: Trainingsausfall! Vier Tage Laufpause, bis ich glaube wieder einsteigen zu können. Da war nicht viel: Bisschen Kratzen im Hals, bisschen Nase laufen - deshalb nur vier Tage Pause. Zu wenig, wie sich zeigt. Bei den zwei folgenden Trainingseinheiten fühle ich mich, wie sich ein hoffnungslos übergewichtiger, hundertjähriger Laufeinsteiger fühlen muss. Ein weiteres Training verkürze ich auf Hundegassi-Distanz, weil ich mich nach hundert desolaten Schritten am liebsten heulend in den Straßengraben werfen würde …

Das war vorgestern. Und was wird heute? - Es regiert das Prinzip Hoffnung: Wird schon werden! Immerhin kann ich binnen zweier Wochen das Laufen nicht verlernt und die im Wochenend-Doppelpack nachgewiesene Ausdauer nicht eingebüßt haben. Mit dem Freund an der Seite empfinde ich das - wie könnte es anders sein? - auch heute bescheidene Wetter als halb so schlimm. Kälte will uns ans Leder - vielleicht 4°C aktuell - und es regnet. Unergiebiger Regen, keine Bindfäden, aber stetig und eben kalt. Einziger Witterungspluspunkt: Weitgehende Windstille.

Fröstelnd streben wir auf dem Uferradweg der Startlinie zu. Ufer von was, fragst du? - Ein breiter, schnurgeradeaus führender Kanal. Ich habe keine Ahnung, wie der heißt*. Vorab bitte ich um Generalamnestie: Wenn du weiterliest, wirst du mich auf ca. 42,8 Kilometern Strecke begleiten, von denen etwa 80 bis 85 Prozent irgendwelchen Ufern folgen. Und zu keinem Zeitpunkt wüsste ich sicher zu sagen, um welchen Fluss, Kanal oder See es sich dabei gerade handelt. Das liegt einerseits an mir, weil ich mir nicht die Zeit nahm mich im Detail zu informieren. Das liegt aber auch an meiner Lieblings-Weltstadt Berlin, die von einem unüberschaubaren Netz natürlicher und - so scheint es - noch mehr künstlicher Wasserläufe zerteilt wird. Wasserläufe, die sich nicht selten zu Seen erweitern.

*) Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal, auch Hohenzollernkanal genannt

Noch zwei Minuten bleiben bis zum Start, die wir mit üblichen Vorstart-Selfies füllen. Dabei stelle ich Zuversicht zur Schau. Tatsächlich das in diesem Moment vorherrschende Gefühl, allen äußeren und inneren Widrigkeiten zum Trotz. Der vom Veranstalter mitgebrachte „Ghettoblaster“ beschallt die Szene mit den schleppenden, schicksalsschwangeren Anfangstakten von „1492 - Conquest of Paradise“. Unpassender könnte ein Lied nicht sein: Zuversicht regiert, das schon, aber zum Habitus des „Eroberers“ fehlen mir heute Strahlkraft und Energie. Und von wegen „Paradise“!? Hat man je von einem Garten Eden gehört, in dem es aus tief hängenden, grauen Wolken regnet und unfrühlingshaft kalt ist? Außerdem: Ich kenne die grausame Geschichte hinter besagter „Eroberung des Paradieses“ nur zu gut. Und deshalb hoffe ich, dass mir heute kein ähnlicher Leidensweg beschieden sein möge, wie weiland den Ureinwohnern Amerikas nach ihrer Entdeckung.

Ich wünsche Rico einen guten Lauf. Von Mike abgesehen ist Rico, der hoch aufgeschossene, immer sehr stille Schlacks aus dem niedersächsischen Delmenhorst, der einzige Teilnehmer, den ich kenne. Zuletzt begegneten wir uns beim 7,5 Stundenlauf „Sunrise to Sunset“ in Hamburg, kurz vor Weihnachten. Da war’s schon ziemlich kalt. Nun steht der April vor der Tür und es ist immer noch ziemlich kalt. Die Begegnung mit Rico lässt mich überdies erkennen, wie lange ich nun schon um meine Form ringe und wie bescheiden meine Erfolgsbilanz dieser Monate ausfällt. Immer wenn ich meinte mich nun endlich heftiger in die Riemen legen zu können, brachte wildes Wasser das instabile Boot wieder zum Kentern.

Kurzes Schulterklopfen mit Mike - wir sind bereit … und laufen auf Startkommando los. Keine Tempokontrolle, einfach einen Fuß vor den anderen setzen. Mal sehen, wie lange ich mit dem Freund Schritt halten kann. Bin auch abgelenkt, weil mir meine Unbedarftheit in Sachen GPS-Uhr wieder einen Streich spielt. Einem auf die Uhr geladenen Track glaubte ich inzwischen mit traumwandlerischer Sicherheit folgen zu können … Was mir auch auf Anhieb gelingt, nicht jedoch zugleich die Uhr und damit die eigene Aufzeichnung zu starten. Nach drei Minuten vergeblichen Hantierens verzichte ich auf die Orientierungshilfe zugunsten der eigenen Aufzeichnung. Soll ich mich über mich ärgern? Oder vielleiht doch eher über mangelnde Ingenieurskunst, die so ein Wunder der Elektronik mit einer Vielzahl raffinierter Funktionen ausstattet, zu schlechter Letzt aber dabei versagt die Bedienung idiotensicher oder wenigstens intuitiv zu gestalten. Für Idioten wie mich, die von tausend (meist überflüssigen) Raffinessen nur die grundlegenden nutzen und nicht zig Stunden mit dem Studium von Online-Handbüchern zubringen wollen. Lebensstunden, die man durchaus sinnvoller nutzen kann!

Zwangspause vor roter Fußgängerampel. Die Grünphase für Fußgänger hat ein Streckenposten längst angefordert, doch noch brausen Autos vorbei. Wäre ich solo, ich streifte den älteren Herrn, der den Übergang sichert, allenfalls mit ein paar dankbaren Blicken des Nichterkennens. Weder je gesehen, noch je von ihm gehört. Also kann ich mir aufs ehrfürchtige Hallo, das ihm ankommende Mitläufer zuteil werden lassen keinen Reim machen. Aber Mike ist bei mir und Mike kennt jeden in der hiesigen Laufszene, der Bemerkenswertes auf dem Kerbholz hat. Den verschmitzt lächelnden, unverschämt fit aussehenden, sicher über 70jährigen Mann stellt er mir als Läuferlegende Günter Hallas vor, der den ersten Berlin Marathon gewann.*

*) Günter Hallas gewann 1974 den 1. Berlin Marathon in 2:44:53 h. Damals wurde der Bewerb als „Berliner Volksmarathon“ auf der Avus ausgetragen. Lediglich 244 Finisher verzeichnet die Einlaufliste jenes Jahres. Günter Hallas ist 76 Jahre alt und nahm an 40 von bisher 44. Berlin Marathons teil. Im vergangenen Jahr brauchte er für die Strecke 4:22:58 h.

GPS-Nesteleien an der Uhr und erste Fotos lassen mich immer wieder hinter den Freund zurückfallen. Die jeweils folgenden schnelleren Schritte, um dranzubleiben, stellen eine Art Nagelprobe auf meine Tagesform dar. Nach nur zehn Minuten bin ich sicher diesem Anfangstempo - deutlich unter 6 min/km - heute nicht gewachsen zu sein. Nicht mal zehn Kilometer weit, von einem Marathon ganz zu schweigen. Dieser Lauf wird eine der „härteren Nummern“ werden!! Auch wenn ich der Unumstößlichkeit dieser Tatsache mit Gleichmut begegne, steht doch fest, dass jeder jetzt noch zu flotte Schritt das finale Leiden vergrößern wird. Zwischen Mike und mir ist im Grundsatz alles und für alle Zeit abgesprochen. Dennoch will ich mich nicht wortlos zurückfallen lassen und bedeute dem Freund, was mit mir los ist. Mike hat an der Art wie ich atme meine Formschwäche längst erkannt. Wir sprechen uns gegenseitig Kraft zu und dann mäßige ich meine Schritte.

Auch wenn auf Mitläufer in Sichtweite nicht blindlings Verlass ist, an den üppig ausgebrachten roten Sprühpfeilen und Flatterbändern muss ich mich nur selten orientieren. Das liegt an der Logik der Route, die, wie ich nach oberflächlichem Kartenstudium weiß, meist einem Ufer folgt. Jetzt dem Ufer eines Sees (Tegeler See), meist durch ein paar Bäume oder Sträucher von der Wasserlinie getrennt. Winterlich lichte Schilfgürtel verwehren abschnittsweise den freien Blick über die trübgraue Wasserfläche. Wie atemberaubend schön wären Weg und Aussicht, hätte sich der Himmel zu Sonne entschlossen. Sonne, an Stelle dieses kalten Schmuddelwetters. Die Wegbeschaffenheit wechselt mehrmals. Asphalt, Platten, Pflastersteine, unbefestigte Waldwege, alles dabei. Die Waldwege wirken zwar tief und glitschig, geben jedoch stets festen Halt. Ein paar Matschaugen und Pfützen unterhalten mich eher, als dass sie stören.

Es hat sich eingeregnet. Nicht pladdernd, aber stetig. Tropfen perlen vom Schild meiner Kappe. Ich hasse dieses blöde „Accessoire“ mit Inbrunst, verwende es einzig, um klare Sicht durch die Brille zu behalten. Trage es über meiner Fleecemütze, ohne die ich am Kopf fröre. Kappe über Mütze, orange über ostereidottergelb. Ein Anblick zum Davonlaufen, farblich und überhaupt. Bin angezogen als parodierte ich mich selbst, körperlich ohne Biss, in Regen und Kälte unterwegs - eigentlich passt heute gar nichts. Gemessen daran empfinde ich mich als Ausbund guter Laune. Alle diese Widrigkeiten machen mir merkwürdigerweise recht wenig aus.

Sicher auch, weil alle paar Sekunden neue Eindrücke auf mich eindrängen. Unterdessen entlang einer Uferpromenade (Ortsteil Tegel) und beidseits von Alleebäumen flankiert. Ein blau-weißer Raddampfer hat am Steg festgemacht. Die am Heck wehende Deutschlandfahne lässt ihn abfahrtbereit erscheinen. Wohl ein Trugschluss, denn weder an Land noch auf Deck zeigt sich eine Menschenseele. Es kommt mir vor als warteten Schiff und potenzielle Passagiere sehnsüchtig darauf, dass endlich der Frühling Einzug halten möge. Sonne ahoi, dann legen wir ab …

Nach sieben Kilometern der erste Verpflegungspunkt. Im gut sortierten Angebot fehlt eigentlich nur ein warmes Getränk. Und genau das ist natürlich am schwierigsten bereitzustellen. Um am Samstag vor Ostern (!!) in diesem Mistwetter als Helfer auszuharren, muss man schon eine gewaltige Portion Idealismus und Menschenfreundlichkeit in sich vereinen. Da verbietet sich jedes auch nur ansatzweise launische Wort. Also nehme ich mit einem Becher Cola vorlieb, bedanke mich betont artig und mache mich wieder auf den Weg.

Der fordert sogleich ein paar Höhenmeter in Form einer altehrwürdig aussehenden Fußgängerbrücke. Über Treppenstufen erreiche ich den von gemauerten Pavillons flankierten Brückenkopf. Schon trabe ich über hölzerne Planken, die von einer stählernen, rot gestrichenen Fachwerkkonstruktion getragen werden. Ein imposantes Bauwerk, das ich leider viel zu schnell und mit zu wenig Muße zum Schauen wieder hinter mir lasse …*

*) Es handelt sich um die „Sechserbrücke“. Daten und Geschichtliches findest du bei Wikipedia.

Wasserlinie und Weg ändern ständig die Orientierung. Mangels Karte und Sonne am Himmel fehlt mir die „Einnordung“. Deshalb entsteht der Eindruck, die alle paar Minuten Richtung Flughafen Tegel anfliegenden Passagierjets wechselten beständig die Einflugschneise. Anfangs, noch an Mikes Seite, blickte ich direkt in die grellen Landescheinwerfer, später hörte ich ohne Sichtkontakt nur die Motoren und nun schweben die Flieger mal aus der, mal aus jener Richtung heran. - Wald und Ufer, Ufer und Wald. Ein größeres Anwesen entzieht mir für Minuten den Blick zum Wasser, erzwingt eine weite Schleife um seine Außenmauer. Ich schieße nur noch selten Fotos. Meist fehlt es an Motiven. Waldpassagen gleichen einander wie ein (Oster-) Ei dem anderen und der Ufersaum sorgt gleichfalls nicht für Abwechslung.

Die Wege sind brauchbar, der Regen nicht stark, Wind belästigt mich keiner und gottlob habe ich mich warm genug eingepackt. Also kein Grund zu meckern. Na ja, fast keiner. Die Achillessehne nörgelt. Da die das aber immer wieder mal tut, erwähne ich es nur der Vollständigkeit halber. Ich habe mich in teils unschönen Umständen so weit es geht behaglich eingerichtet. Bin fest entschlossen allem mit Freude zu begegnen, was der Tag mir an Wohltuendem bringen wird. Zwischen Kilometer 14 und 15 zählt dazu der zweite Verpflegungsstand, wo Sie und Er jeden Läufer einzeln willkommen heißen. Und warmen Tee gibt es hier auch. Wunderbar! Leider nur noch warm, nicht mehr heiß entschuldigt sich die Dame. Worauf ich ihr wahrheitsgemäß und mit teewarmer Stimme erkläre, wie genial das ist: Heißen Tee könnte ich nur schluckweise trinken, ihren dagegen in vollen Zügen. Nach zwei reichlichen Bechern hinterlasse ich den Helfern ein (für meine zurückhaltenden Verhältnisse) überschwängliches Dankeschön.

Es ist schon etliche Minuten her, seit ich meine Schritte vom Seeufer weg auf eine sich endlos hinziehende Wohnstraße lenkte. Pfeile auf dem Boden wollten es so. Nun jogge ich übers mehr oder weniger „ausgebeulte“ Trottoir dieses Berliner Vorortes (Heiligensee), passiere zahllose Vorgärten, häufig auch Einfahrten zu Gewerbeansiedlungen. Auf der Straße rattert Auto um Auto vorbei, was mir vermutlich kaum auffiele, verursachten die Räder auf dem Straßenpflaster nicht ein enervierend lautes Rollgeräusch. Markierungen haben hier Seltenheitswert, weswegen ich bereits einmal verunsichert stehenblieb und mich umblickte. Stückweit zurück folgte ein Mitläufer, also scheine ich auf dem rechten Weg zu sein. Nur selten zweigen Seitenstraßen ab und jedes Mal hoffe ich auf einen Pfeil, der mich wieder ans Wasser schickt. Km 17, 18, 19 … kein Abzweig und nun auch noch stur geradeaus … einen Kilometer weit … kein Ende abzusehen.

Kilometer 20, noch immer auf der Vorortstraße, noch immer dem Bürgersteig folgend. Es kann nun nicht mehr weit sein, bis ich auf Sandra, Mikes Schwester, und deren Lebensgefährten Belo treffe. Die beiden wollten Mike und mich an Verpflegungspunkt drei erwarten. Ein paar hundert Meter voraus überspannt eine Eisenbahnbrücke die Straße. Im regensicheren Halbdunkel darunter mache ich schemenhaft den Verpflegungspunkt aus und dahinter, wild wie Zebulon auf der Stelle hüpfend und dabei freudig die Arme schwenkend, Sandra im leuchtend gelben „Ostfriesennerz“. Ich winke zurück und merke wie sehr ich mich auf die Begegnung freue. Zur Begrüßung bestehen die beiden auf einer Umarmung, die mich ein wenig peinlich berührt. Erstens bin ich klatschnass und meine „Duftaura“ schlüge vermutlich jedes Wildtier in die Flucht. Statt die Nase zu rümpfen strahlen die beiden mich an und kümmern sich um mein leibliches Wohl. Tee mit Honig bekomme ich, warm, süß, wohltuend. Ein paar Stückchen Schokolade gönne ich mir und einen etwas längeren Aufenthalt. Natürlich jammere ich ein bisschen, übers Wetter, den Rest Infekt im Körper, kurzum: meine grottenschlechte Tagesform. Tröstende Worte von Belo heimse ich dafür ein, die mich ein bisschen aufbauen. Und wer nach einem Lächeln von Sandra den tristen Regentag nicht postwendend um 10.000 Lux heller empfindet, ist selber Schuld!

Sollte Sandras Lächeln sogar Petrus milde gestimmt haben? - Jedenfalls hat der den himmlischen Wasserhahn zugedreht. Nun beult die doofe Schildkappe meine Jackentasche aus. Sicher auch kein „vorteilhafter Anblick“ aber immer noch besser als mein bisheriges „Keinohr-Osterhasen-Dasein“. Fortan hoppele ich weniger verunstaltet am endlich wieder erreichten Ufer entlang. Weniger verunstaltet, dafür aber inzwischen reichlich müde und langsamer.

Ich laufe auf dem Mauerweg! Die Aufschrift des Wegweisers lässt keinen Raum für Zweifel. Doch wieso kommt mir die Strecke dann völlig unbekannt vor? 2014, als ich den Mauerweglauf („100 Meilen von Berlin“) absolvierte, muss ich hier vorbei gekommen sein!? In entgegengesetzter Richtung zwar, zum Wiedererkennen sollten meine Erinnerungen allerdings reichen. Der asphaltierte Radweg schlägt einen Haken um ein Hafenbecken, orientiert sich an der Kaimauer, hält Kurs zwischen Fluss und einem Industriegelände. Dass die Mauerwegtafel keine Fata Morgana war, belegt die orangefarbene Stele, vor der ich wenig später meinen Trab unterbreche. Für Fotos und offen gestanden auch zum Gedenken. Mir ist plötzlich danach. Zwei Menschen ließen an dieser Stelle ihr Leben. Beim Versuch in den Westteil von Berlin zu fliehen, um totalitärer Unterdrückung zu entrinnen. Wie präsent ist dieser menschenverachtende Wahnsinn noch in unseren Köpfen? Seit die Mauer fiel und das Töten endete sind noch keine 30 Jahre vergangen!

Wildgänse weichen mir watschelnd aus. Gemächlich. Vermutlich sehe ich nicht sehr furchterregend aus. Wetten, sie nähmen vor Panik schnatternd Reißaus, trüge ich noch die Kappe auf dem Kopf? - Wenn das der Mauerweg ist, laufe ich nun an der Havel entlang. Noch immer kommt mir der Weg fremd vor. Nächste Verpflegungsstation. Trinken. Gel. Danke und ab … einige Zeit weiter auf asphaltiertem Aussichtsweg … Um das dargebotene Flusspanorama mit Adjektiven wie „traumhaft“ zu bedenken, fehlt lediglich ein bisschen Sonne … Schließlich geht die Asphaltdecke in einen fest und fein geschotterten, überdies nassen Weg über. Und da endlich macht es Klick in meinem Kopf. Plötzlich weiß ich, wo ich bin, verbinde sogar konkrete Erinnerungen mit dem Weg. Wenn mich nicht alles täuscht, werde ich bald jene Stelle erreichen, an der meine Frau Ines mich umgezogen hat. Mir die klatschnassen Klamotten vom Oberkörper pellte, meine Schuhe aufschnürte und die Socken runterstreifte. Sonst säße ich vermutlich heute noch auf der Bank am Verpflegungspunkt, starr vor Kälte. Damals war ich eine halbe Stunde zuvor in einen Wolkenbruch geraten und fror erbärmlich … Tatsächlich taucht der ehemalige Wachturm (Nieder Neuendorf) ein paar Minuten später vor mir auf. Und links davon erstreckt sich die kleine Wiese, auf der der VP errichtet war. Mehr als 120 Kilometer hatte ich damals schon in den Beinen.

Auch an das alsbald folgende Kiefernwäldchen erinnere ich mich, sogar an Empfindungen und Gedanken von damals. Dass die Steigung des Radweges meinen Beinen zusetzte und ich das Alter der jungen, überaus eng gepflanzten Kiefern auf die Zeit nach dem Mauerfall taxierte. Wiederaufforstung des seinerzeit planierten, hindernisfreien Sichtstreifens. Freie Sicht, um alles niederzumetzeln, was sich auf zwei Beinen Richtung Wasser bewegt! Was für ein Triumph, dass ich auf dem ehemaligen Todesstreifen nun gefahrlos einher joggen kann, wie und wohin auch immer ich will!

Ich habe den Mauerweg verlassen. Absolut sicher, denn diese blaue, außergewöhnlich gestaltete Fußgängerbrücke, einen Seitenarm (Kanal?) der Havel überspannend, kann meinem Gedächtnis nicht entfallen sein. Mit einiger Mühe erklimme ich auf Holzbohlen den Brückenscheitel und trudele jenseits wieder hinab. Erst 30 Kilometer liegen hinter mir und ich bin hundemüde. Ich werde heute mehr als nur Mühe haben das Ziel zu erreichen!

Ein weiterer Verpflegungspunkt, Kilometer 31, betrieben von Ihr und Ihm, die mich vor bald zwei Stunden auf der anderen Havelseite mit warmem Tee erfreuten. Ich gönne mir ein paar Becher Flüssiges und meine beiden letzten Gels. Doppelpack, um kräftemäßig zu retten, was noch zu retten ist. Trinkend nütze ich die Gelegenheit und schieße ich ein Foto von einem signalgelb gekleideten Mitläufer. Das Besondere an ihm sind seine Füße. Genauer gesagt deren Verpackung in „Jesuslatschen“. So nackt wie seine, wären meine schon abgefroren. Und was die Bänder der Latschen meiner Fußhaut antun würden, will ich mir gar nicht erst ausmalen.

Noch zehn Kilometer und ich schlurfe erschöpfter durch die Gegend als seinerzeit auf den letzten der 100 Meilen von Berlin. Die Kalorien der Gels konnten meine Lebensgeister nicht reaktivieren, scheinen völlig nutzlos zu verpuffen. Die Route hat sich vom Wasser abgewandt, durchschneidet einen Wohnbezirk. Der Mann in Signalgelb mit den nackten Füßen ist mein Fixpunkt, dem ich hinterher trotte. Zwar vergrößert sich sein Vorsprung stetig, ich verliere ihn aber nicht endgültig aus den Augen …. Zu meinem Nachteil nicht, weil er sich verläuft und ich mit ihm, Markierungen in diesen Minuten missachtend. Passanten halten ihn auf, weisen ihm und mir den rechten Weg. Unbedeutende vierhundert Meter Umweg, über die ich mit einem Schulterzucken hinweg ginge, so ich noch Kraft für etwas derart Überflüssiges wie ein Schulterzucken übrig hätte.

Ich spüre wie mir buchstäblich der Saft ausgeht. Nach jedem Kilometer fühle ich mich hinfälliger als noch Minuten davor. Jedes Beinheben gestaltet sich zum Kraftakt. Was ist nur los mit mir? - Ich lasse den Signalgelben mit den gut belüfteten Füßen ziehen, verkürze meinen Schritt abermals. Noch etwa sieben Kilometer. Ein Katzensprung für „intakte“ Läufer, schier unüberbrückbar weit für einen erschöpften Udo. Seit geraumer Zeit wieder überall Wasser … Ufer am Fluss, Ufer einer Bucht, schließlich Ufer zwischen Havel und hässlichem Abbruchgelände. Leere, schwarze Fensterhöhlen ehemaliger Lagerhäuser grinsen mich an wie Augen eines Totenschädels. Davor Berge von Bauschutt bereits abgebrochener Gebäudeteile. Dereinst in Beton gegossene Vergänglichkeit. Alles liegt in Trümmern. Ein beinahe erschreckendes Gleichnis auf meine Fortbewegung. Wie ein Untoter fühle ich mich. Ein Zombie auf dem Weg nach nirgendwo.

Bleibe kurz stehen. Rede mir ein, dass ich von den Läufern ein Bild brauche, wenn sie die Havelbrücke überqueren. Wahrscheinlich eine List meines erschöpften Körpers, nur um sich ein paar Sekunden Ruhe zu erschleichen. Nicht laufen. Innehalten. Kurzes Aussetzen der Qual. Doch wieder weiter und nun selbst über die Brücke auf die andere Seite. Noch sechs Kilometer. Weder Tempo noch mutmaßliche Zielzeit spielen heute eine Rolle. Weder zu Anfang, noch später und nun erst Recht nicht mehr. Es geht wirklich nur darum die „Sache“ laufend (!) zu überleben. Nicht nur Kraft fehlt dazu. Von der Hüfte an abwärts spüre ich jeden Muskel, jede Sehne, alle Knochen. Plagten mich je solche Schmerzen auf den letzten Kilometern eines Marathons? Die Cola vom letzten Verpflegungspunkt rollt wie ein kalter Stein im Magen hin und her. Meinte sie trinken zu müssen. Glaubte das bisschen Zucker darin zu brauchen. Ein paar Gramm Brennstoff für meinen stotternden Motor.

Wieder eine Bucht, noch eine Brücke. Jenseits am Ufer eine weitere, wahrscheinlich die letzte Tränke. Fester Vorsatz: Nicht stehen bleiben, weitertraben, den kläglichen Rest Laufrhythmus nicht noch einmal brechen. - Leichter gedacht als umgesetzt. „Herzlich willkommen am letzten Verpflegungspunkt!“ lockt der Helfer, lenkt den Blick aufs üppig bestückte Büffet. Ignorieren und wortlos vorbei? Ich bin kraft- aber nicht herzlos. Seit Stunden steht sich der Mann die Beine in den Bauch. Hat verdient, dass sein Dienst am Läuferwohl nicht unbeachtet bleibt. Also greife ich mir einen Becher, würge zwei, drei Schlucke in den Magen, ringe mir ein Lächeln und zum Abschied die Dankesformel ab.

Ein paar Gehschritte, schließlich gelingt mir der Übergang zu kurzen Trippelschritten, alsbald wird stetes Traben daraus. Noch drei Kilometer. Ich stelle mir dieselbe Distanz auf einer meiner Trainingsrouten zu Hause vor. Drei Kilometer vor der Haustür ... Nicht mehr weit! Das schaffe ich! - Dass ich und wie sehr ich für den heutigen Marathonsieg leiden muss, ist mir im Grunde gleichgültig. Meine Gedanken kreisen nicht um diesen verkorksten Lauf, weilen nicht im hier und jetzt. Sie reichen in die Zukunft und deshalb bedrücken sie mich. Der zweite Infekt dieses Winters warf mich abermals zurück. Wie weit erlebe ich gerade. Auch wenn die Schwäche großenteils den Nachwehen der Erkältung geschuldet sein dürfte, offenbart sie doch, dass ich jetzt, Ende März, nicht viel weiter bin als schon im Januar.

Zurück am „Hohenzollernkanal“, der letzte Kilometer. Tippele am Ufer entlang, einzig noch belebt vom Wissen, dass die Tortur gleich ein Ende haben wird. Schenke dem ausharrenden Fan mit der Puppe im Campingstuhl ein Lächeln. Hebe die Hand zum Gruß, murmele ein Dankeschön. Er stand schon heute Morgen hier, kurz nach dem Start, applaudierte, feuerte an. Und das tut er immer noch. Ein paar Stunden dazwischen konnte er sich sicher aufwärmen. Dennoch imponierend, dass er jetzt wieder die Stellung hält, für mich und alle, die noch kommen. Mein Blick greift voraus, sucht die Tafel, die Marathondistanz bescheinigt. Mike entdeckte sie bereits heute Morgen, kurz nach dem Start. „Km 42,195“ steht da, schwarz auf weiß. Foto und weiter. Mike erwartet mich, winkt, hält sein Handy hoch, fotografiert, lobt: „Es war hart, aber du hast durchgehalten!“ Mit einem Lächeln an ihm vorbei. Letzte Meter: Nach links abbiegen, Sandweg und schlussendlich zum Clubheim der Laubenpieper. Der Veranstalter Frank-Ulrich Etzrodt, alias „Etze“, heißt einen völlig erschöpften „Udo“ willkommen.

Unterirdisch schlechte 4:42:25 Stunden notiert „Etze“ für mich. Noch nie war mir eine Laufzeit so gleichgültig. Im Moment bin ich einfach nur froh, dass es vorbei ist. Dass ich mich hinsetzen darf. Trinken. Essen. Trockene Kleidung anziehen. Die Minuten nach dem Zieleinlauf. Normalerweise die Zeit, in der sich ein Gefühl von Zufriedenheit einstellt. Unabhängig davon, wie das Finish zustande kam. Heute ist da nur Leere. Nach und nach sickert Ernüchterung in jeden Winkel meines Bewusstseins. Noch sechs Wochen bis zum Olympian Race, bis mich 180 Kilo- und 3.500 Höhenmeter herausfordern werden. Nur noch ultrakurze sechs Wochen der Vorbereitung und die - pardon! - wenigen Kilometer eines Marathons treiben mich in völlige Erschöpfung.

Ich setze auf das Prinzip Hoffnung. Hundert Kilometer Trail in der Toskana bleiben mir als hartes Training und ein 12-Stundenlauf nahe Wien. Noch kann ich es packen. Aber nur, wenn mir die Götter des Laufsports von nun an gewogen bleiben und keinen weiteren Knüppel zwischen die Beine werfen. Dann werde ich ausreichend vorbereitet an der Startlinie in Griechenland stehen. „Ausreichend“ trainiert. Also alles andere als „sehr gut“, wie vorm Spartathlon, auch nicht „gut“, ja nicht einmal „befriedigend“ vorbereitet.

 

Fazit zur Veranstaltung

Der Berliner Ostermarathon gehört zu jenen Veranstaltungen, an die man sich selbst dann gerne erinnert, wenn sie einem sportlich nicht zu einer Sternstunde verhalfen. Ein gewichtiger Grund dafür bildet die wunderschöne, weitestgehend am Wasser orientierte Strecke. Sie hat selbst an tristen Regentagen viele Reize zu bieten. An einem sonnigen, halbwegs warmen Frühlingstag hier zu laufen stelle ich mir geradezu traumhaft vor.

Hervorzuheben sind aber auch Sorgfalt und Liebe mit der diese auf 70 Teilnehmer begrenzte Laufveranstaltung vorbereitet und ausgerichtet wird. Und das am Ostersamstag, an dem eigentlich familiäres, häusliches Miteinander im Mittelpunkt steht. Ein Kompliment geht an den Veranstalter Frank-Ulrich Etzrodt und seine vielen Helfer an den Verpflegungsstellen. Vielen Dank für das große Engagement zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt!

Fazit: Unbedingt wieder einmal! Dann jedoch bitte mit mehr Kraft in den Beinen und bei sonnigem Wetter.

 

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