28. Oktober 2023

Ein verdammt gutes Gefühl  -  Schwäbische Alb Marathon

Hier mal ein Marathon, dort - eher selten - ein kurzer Ultra. Mehr oder weniger gemütlich das Laufjahr ausklingen lassen, mich nicht mehr über Gebühr belasten. Seit den 100 Meilen Berlin, die mich so richtig durch die Mangel drehten, durchforste ich in dieser Absicht die Laufkalender. Für dieses Wochenende schien mir der Schwäbische Alb Marathon geeignet. 50 Kilometer? - Das geht, sind auch nur acht Kilometer mehr als ein Marathon. Weitere Vorteile: Relativ kurze Anfahrt, Start erst 10 Uhr. Außerdem war ich schon mal da, kenne also die Strecke: ein Landschaftsmarathon in herrlicher Umgebung, besonders jetzt im Herbst.

Also meldete ich mich kurzerhand und bedenkenlos an, ohne mich näher mit den Bedingungen zu befassen. Um die Katze aus dem Sack zu lassen: Dass ich von Schwäbisch Gmünd aus über die Schwäbische Alb rannte ist 15 (!) Jahre her und geschah im Zenit meiner läuferischen Leistungsfähigkeit. Ein paar Wochen vorher hatte ich mich selbst überrascht und einen Deutschen Seniorentitel im 24-Stundenlauf erworben. Ich empfand die Strecke über die Alb als anspruchsvoll aber gut laufbar, mit nicht übermäßig vielen Höhenmetern. Das meine ich, wenn ich schreibe: Ich kenne die Strecke.

Wenn’s ums Laufen geht, neige ich weder zu leichtfertigem noch überheblichem Verhalten. Was in der Vergangenheit den einen oder anderen Bock zu schießen nicht ausschloss. Eigentlich hätte mich die Angabe 1.100 Höhenmeter, die ich ein paar Tage vorher auf der Internetseite des Alb Marathons las, alarmieren müssen. 1.100 Höhenmeter auf 42 km - das kann so schlimm nicht sein - dachte ich schönfärberisch mit der einen Gehirnhälfte, während sich die andere mit verblassten Bildern von vor 15 Jahren benebelte. Hübsche Bilder, in denen Schwierigkeiten nicht vorkamen. Und so geselle ich mich an diesem Samstag kurz vor 10 Uhr vor der Sporthalle in Schwäbisch Gmünd zu etwa 500* entschlossen dreinblickenden Läufern; von denen wahrscheinlich nur einer nicht weiß, was ihn erwartet. Dieser eine bin ich.

*) 25 und 50-km Läufer starten gemeinsam

Ich spähe über die Köpfe der Menge hinweg. Mein Blick bleibt an Reinhold hängen, der die Umstehenden um mehr als Haupteslänge überragt. Wo Reinhold steht, werde ich andere Bekannte der Spezies „Vielläufer“ finden. Während ich Reinhold und Klaus begrüße, blicke ich in andere weitläufig bekannte Gesichter. Für Gespräche bleibt wenig Zeit. Allerdings komme ich nicht umhin Klaus von einem kürzlich und plötzlich verstorbenen Ultraläufer zu berichten, den ich kannte. Ein blühendes Läuferleben, gerade mal 38 Jahre alt, das drei kleine Kinder und eine Frau hinterlässt. Vor drei Wochen traf ich ihn noch bei einem Backyard Ultra, den er mit 100 gelaufenen Kilometern gewann. Sein Schicksal nimmt mich mit. Wie sehr werde ich morgen merken, dann werde nähere Umstände erfahren: Dass er beim abendlichen Lauftraining zusammenbrach, wiederbelebt wurde und auf der Fahrt ins Krankenhaus verstarb …

Gegen Beklemmung hilft Laufen. Startschuss und ab. Zunächst durch die Außenbezirke der Stadt, auf Radwegen, die sich an einem Bachlauf orientieren. Alsbald übertönen Fahrgeräusche das Getrappel hunderter Füße. Sie drängen von der nahen vierspurigen Bundesstraße heran, die die Region mit der Landeshauptstadt Stuttgart verbindet. Mein Körper verweigert die Aussage: Keine Anhaltspunkte auf den ersten drei Kilometern, die Rückschlüsse auf die Tagesform zuließen. Kraft meiner Schusseligkeit ging ich ausgeruhter in den Wettkampf als eigentlich vorgesehen. Bemerkte erst vorgestern meinen Irrtum, der den Alb Marathon auf Sonntag datierte. Musste mithin das für Freitag vorgesehene Training streichen. Die Strecke wendet sich dem bewaldeten Talhang zu, es geht rauf. Gute Forstwege unter den Füßen, Kraft scheint vorhanden, alles gut soweit. Schon dieser früh beginnende Anstieg zeitigt keine Resonanz in meiner Erinnerung. Auch die baldige Rückkehr ins Tal, die den „Höhenflug“ am Hang als Kilometer schindenden Schlenker entlarvt, kommt mir gänzlich unbekannt vor. Das ändert sich erst zwei Kilometer weiter, auf schmalem asphaltiertem Sträßchen, das in einem Seitental sanft an Höhe gewinnt. Hier ebbt endlich auch der Lärm von der vierspurigen Bundes-Rennstrecke ab.

Idyllisches, leicht ansteigendes Waldsträßchen. Vollkommene Ruhe kehrt ein. Autos dürften hier fahren, fahren aber nicht. Radler auch nicht und selbst Wanderer begegnen mir keine. Am ersten Verpflegungsstand trinke ich Iso und Wasser. Zu meiner Überraschung wird Energiegel angeboten. Okay, rein damit! Hab zwar vier eigene Beutelchen im Hüftgürtel, die nehme ich zur Not aber wieder mit nach Hause. Vielleicht drängt aber auch ein siebter Sinn darauf so früh schon zu Gel zu greifen … Nach und nach mehr Steigung, aber nie wirklich anstrengend. Offenbar habe ich zumindest meine Normalform zur Schwäbischen Alb mitgebracht. War die Entscheidung ein langärmliges Hemd unter dem Vereins-T-Shirt zu tragen die bestmögliche? - Wenn mich zwischen Bäumen die Sonne erwischt, zweifle ich daran, die herrschende Windstille verstärkt meine Skepsis. Vielleicht wären Armlinge doch die bessere Alternative gewesen, die könnte ich jederzeit abstreifen …

Nach etwa 11 Kilometern endet der Forst. Sonne und blauer Himmel empfangen mich, dazu links oben am Hang imposante Mauern und Gebäude einer alten Burg („Wäscherburg“). Vorm Eingang zum Burggelände gilt es auch den ersten Tagestouristen auszuweichen, die das Gemäuer als Ausflugsziel ansteuern. Die bislang verkehrsbefreite Straße flacht ab, schickt mich durch eine Ortschaft und schließlich hinaus auf die offene Albfläche. Mehr oder weniger flach denke ich und freue mich darüber. Obschon klar ist, dass ich von den vielen angedrohten Höhenmetern bisher allenfalls hinter 150 einen Haken setzen kann. Von rechts, mutmaßlich Westen, bläst hier oben eine steife Brise. Bekleidungsskepis? - hellstem Sonnenschein zum Trotz binnen Sekunden vom Winde verweht! Schleunigst ziehe ich das Schlauchtuch wieder über Kopf und Ohren, das ich im sanften Aufstieg schwitzend untern Hosensaum klemmte.

Die Route nutzt jetzt Radwege parallel zu Straßen. Bereits vorhin auf dem Waldsträßchen, spätestens unterhalb der Burg, brachen sich 15 Jahre alte, fast vergessene Erinnerungen Bahn. Auch diese Radwege und die Ansicht der harmlos vom Horizont herüber lugenden Buckel kommen mir bekannt vor. Bewaldete Krausköpfe, die wirken als könnten sie kein Läuferbein ermüden, so dass ich mich ehrlich darauf freue sie demnächst erstürmen zu dürfen.

Sanft welliges Gelände, Wiesen und Felder beidseits der Straße, geradewegs auf die erste Erhebung zu. Überraschend schlägt die Strecke einen Haken, wendet sich ab vom ersten Buckel, der schon so nahe schien, schickt uns in eine Senke. An deren tiefstem Punkt (Km 14,5) erwartet mich wieder flüssige und feste Labsal. Erneut gönne ich mir ein Gel vom Büffet, spüle mit reichlich Wasser und Iso nach. Auf diese Weise schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe: schaffe beste Voraussetzungen zur Verstoffwechslung des Gels, tue zugleich meinem Wasserhaushalt was Gutes. Derzeit sieht es danach aus, als wollte mir die Sonne in den nächsten Stunden die Treue halten.

Und nun auf in den Kampf: Der erste ernsthafte Anstieg beginnt genau jetzt. Dass er erst rund vier Kilometer weiter und etwa 300 Meter höher auf dem Gipfel des Hohenstaufen enden wird, weiß ich gottlob nicht zu diesem Zeitpunkt. Stattdessen lässt mich Anschein stets hoffen, dass die Steigung hinter der nächsten einsehbaren Kurve oder jenseits des Waldes eine Pause einlegen wird. Die sie mir letztlich verwehrt, dafür einstweilen jede Variation zwischen steil und nicht so steil unter die Füße schiebt. In Form einer glatten Asphaltpiste jedoch, womit ich erstaunlich gut zurechtkomme. Erstaunlich gut, weil meine Haxen in den letzten Wochen kaum von Höhenmetern belästigt wurden.

Ich tippele verhalten aufwärts voran, achte darauf mich nicht grenzwertig zu belasten. Einmal mehr gestehe ich mir ein nur rudimentäre Erinnerung an die Strecke bewahrt zu haben. Was sich darin überhaupt nicht abbildet sind fordernde Anstiege. Was wahrscheinlich daran liegt, dass ich sie damals, in der „Blüte meiner Läuferjugend mit 55 Lenzen“, nicht als fordernd empfand. Für den M70-Laufopa stellt sich das heute ganz anders dar … Immerhin komme ich erträglich belastet voran, dabei voll auf sparsamen Einsatz meiner begrenzten Ressourcen fokussiert. Bewege mich folglich im Tunnel, soll heißen: an keinem meiner Mitläufer mehr als nur (vor-) beiläufig Interesse zeigend. Bis plötzlich ein „Hallo Udo!“ meinen Vorwärtsdrang bremst. Es stammt von einer „Rennschnecke“, unter diesem Avatar jedenfalls rennt Sigrid durchs Läuferforum. Wir grüßen uns auf Distanz und zum Abschied mute ich ihr ein Foto zu. Grundlos fasst sie es als Zumutung auf, gibt sie doch in ihrem quietschgrünen Dress eine recht passable Figur ab. Geht mir aber nicht anders, denke ich bei mir. Die Zeiten als ich mich für scharfzeichnende, auf mich gerichtete Kameraobjektive kokett in Positur warf sind auch schon eine Weile her.

Weiter aufwärts, das mit Laubwald gekrönte Haupt des Hohenstaufen rückt näher und meine Beine werden schwerer. Noch auszuhalten, doch härter sollte es möglichst nicht werden … Nicht mehr als ein frommer Wunsch wie sich kurz darauf zeigt: Die Pfeile schicken mich vom glattem Asphalt auf einen Naturpfad und nun direkt auf die Flanke des Berges zu. Schlagartig fühle ich mich 15 Jahre in die Vergangenheit versetzt, die sich nur leider nicht mit der brutal steilen Realität deckt. Über Gras und schmierige Erde aufwärts, in stetig wachsender Steigung dem Waldrand entgegen. Hundert Meter, die ich mit Minischrittchen überbrücke, dabei mehrfach für Fotos und zum Abklingen der Überlast stehenbleibe. Der Mördertrail mündet in einen Spazierweg. Der gewinnt zwar im Wald weiter an Höhe, kommt mir aber vergleichsweise flach vor. Was er natürlich nicht ist, weswegen die paar hundert Meter zum Gipfel noch einmal reichlich Körner kosten. Wie Perlen, die jemand lose auf eine Schnur gezogen hat, kommen mir Gipfelstürmer von oben entgegen. Auch an diesen Pfad erinnere ich mich, sogar an massenhaft welkes Laub, das damals unter meinen Füßen raschelte. Laub, das in diesem verwirrten Herbst überwiegend noch an den Ästen hängt. Nicht lange, dann bin ich oben, überquere eine Art Plateau unter alten, hohen Bäumen, hin zu einem Aussichtspunkt.

Eine Burgruine* steht hier oben - lese ich später. In diesen Momenten habe ich nur Augen für den grandiosen Fernblick ins schwäbische Land, auch hinüber zum Albtrauf**. Von diesem Panorama bin ich ähnlich fasziniert, wie die lesende Frau im roten Minikleid. Die auf einer Ruhebank sitzende Skulptur hat die Hände mit dem aufgeschlagenen Buch sinken lassen und blickt versonnen in die Weite … Fotos und Rückzug. Auf identischem Weg hinab, den wenigen begegnend, die mir noch nachfolgen. Der Mördertrail bleibt mir erspart. Kurz davor nehme ich einen Abzweig nach links und umrunde den Berg zur Hälfte auf gleicher Höhe. Vorbei an einer Kirche, davor eine Holzplastik. In einer von zwei Figuren ist unschwer das gekrönte Haupt einer Majestät zu erkennen. Was es wohl mit Kirche und Holzplastik auf sich hat?***

*) Es handelt sich um die Burg Hohenstaufen, die Stammburg der Staufer. Die Staufer waren ein Adelsgeschlecht, das vom 11. bis 13. Jahrhundert Herzöge, Könige und auch Kaiser des Heiligen Römischen Reiches hervorbrachte.

**) Als Albtrauf bezeichnet man die von Nordwest nach Nordost verlaufende Abbruchkante der Schwäbischen Alb. Der Hohenstaufen, wie auch weitere in diesem Text erwähnte Erhebungen, sind diesem Albtrauf einige Kilometer vorgelagert. Am Albtrauf in Geislingen findet der Albtraum 100, ein harter, 100 km langer Ultratrail statt (auch 50 km möglich). Laufberichte dazu hier und hier.

***) Die Holzplastik zeigt den Stauferkaiser Friedrich II. und Franz von Assisi. Beide sollen Freunde gewesen sein, die gemeinsam in Assisi aufwuchsen.

Mit Blick auf das nächste Ziel des Laufes, den Luftlinie gerade mal 5 km entfernten Rechberg, gebe ich Waldrand und Höhe auf. In beachtlichem Gefälle ist jetzt „bremsender Krafteinsatz“ gefragt. Herz und Lunge gönnen sich eine regenerative Pause. Dafür verrichten die Beinmuskeln Arbeit, deren Intensität mir morgen, mehr noch übermorgen, einen „netter“ Muskelkater bescheren wird. So schnell mein Sicherheitsempfinden es zulässt - bloß keine Kante übersehen! - stürze ich den Berg hinab und finde mich nach weniger als fünf Minuten in flachem Terrain wieder. Rasch sendet mein Körper wieder Signale „intakter Frische“. Gerade so als hätte ich nicht schon 20 Kilometer und diesen ermüdenden Staufer-Buckel hinter mir. Fürs Gut-Fühlen-Dürfen danke ich meinem Fahrgestell mit Tempozurückhaltung. Immerhin liegt der Löwenanteil der Anstrengung noch vor mir. Motto: Spare Körner in der Zeit, dann hast du welche in der Not. Und die wird kommen, die Not …

Grandios die Aussicht ins Land beidseits des Aasrückens - unter diesem Namen findet man den nur wenige Kilometer langen, Hohenstaufen und Rechberg verbindenden Landstrich in Landkarten. So flach und erholsam wie auf dem ersten Kilometer bleibt er leider nicht. Alsbald baut sich eine weitere, markante Bodenwelle vor mir auf. Und rascher als mir lieb ist, tendiert die muskuläre Belastungsanzeige wieder zu gelb. Mein Verdacht: Nicht die Distanz fordert mich heute heraus, die Anstiege werden mich irgendwann überfordern. Schon jetzt schimpfe ich mich einen Narren, eine solche Strecke ohne Bergtraining anzugehen.

Die Rundumsicht bleibt dauerhaft fotogen. Wovon digitale Abzüge mitnehmen und was ignorieren? Der einzige, mein Foto-Mütchen kühlende Umstand ist fehlende Sonne. Von Südwesten zog unterdessen eine fast geschlossene Wolkendecke heran, mit stumpfen Farben unterm Lichtfilter. Dennoch verhalte ich immer wieder meinen Schritt, um scharf fokussierte Bilder mitzunehmen, zu denen reizvolle Ausblicke nötigen. Langsam nähere ich mich dem nächsten Wald-bekrönten, auf dem Aasrücken hockenden Buckel. Wieder lullt das „Berglein“ - zunächst und aus der Distanz betrachtet - mit optischer Belanglosigkeit ein. Anschein, der Schritt für Schritt wachsendem Respekt weicht. Und schon die erste Rampe am Fuß der Erhebung, im gleichnamigen Ort Rechberg, zeigt mir meine Grenzen auf …

Ich überhole einen Geher mit dem Bedürfnis sich mitzuteilen, verleiht er doch seiner Freude Ausdruck „es“ bald geschafft zu haben. Mehrmals überdenke ich seine Wortmeldung, vergewissere mich anhand seiner Startnummer, dass er zu den 25 km-Läufern gehört. Bemerkung und die auf meiner Uhr verbuchten 24 Kilometer legen nahe: Sein Ziel liegt da oben auf dem Berg! - War das vor 15 Jahren auch schon so? Wenn ja: komplett vergessen. Fordernd aufwärts im Ort auf den bewaldeten Abhang des Berges zu und wenig später noch steiler im Wald hinan. Ich überhole eine Läuferin samt Begleiter. Sie quasselt aufwärts gehend ohne Punkt und Komma in ihr Handy. Offenbar Smalltalk mit einer Freundin, wenn ich die en passant zwangsweise mitgehörten Gesprächsfetzen richtig deute. Dabei hat sie „hörbar“ keine Atemprobleme. Ihr hinterher trottender Laufpartner schon eher, denn der schweigt. Es verhält sich so: Mit den beiden werde ich auf den nächsten zehn Kilometern (von keiner Seite gewollt) „wetteifern“. Und jedes Mal wird Sie voraus und Er (teilweise mit großem Abstand) hinterher laufen. Sie wird ihn ansprechen und er wird schweigen. Und mehrmals werde ich versuchen mir einen Reim auf dieses ungleiche Duett zu machen.

Von breit asphaltiert und steil wechsele ich auf trailig und steil. Unvermeidlich, dass meine Körpersensoren Maximum für alle Leistungswerte vermelden. Gelegentlich kurzes Verharren, für Fotos ohnehin erforderlich, verschafft mir Erleichterung. Ich komme voran … Unweit rechts über mir, weitgehend von Bäumen verdeckt, bauen sich die Reste der Burg Rechberg auf. Super, nur noch ein paar Höhenmeter, dann werde ich hinter den zweiten Buckel auch schon einen Haken setzen können! Irren ist männlich und heißt Udo: Die Burg steht auf einem Absatz des Berges, auf halber Höhe. Zum Gipfel führt eine steile, von Kreuzwegstationen gesäumte Straße. Vor einem der Bildstöcke bleibe ich schweratmend stehen und schieße ein Foto. Der Ankläger, eine der mir besonders verhassten Figuren, die zusammen mein Läufer-Ego ergeben, stellt mein Tun sofort in Frage: Du bleibst doch nicht aus Interesse am Sakralen stehen! Du knipst, weil dir die Puste ausgeht! - Ich verbanne den Kerl ins Hinterstübchen und breche wieder auf … „Station II“ des Kreuzweges habe ich gerade abgelichtet. Es ist nicht Wissen, mit dem ich jetzt prahlen könnte, wenn mir als Bezeichnung für diese Station „Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern“ in den Sinn kommt. Es ist der einzige von bis zu 15 Leitmotiven des Kreuzweges Jesu, den die Ruine meiner katholischen Bildung noch hergibt. Und nur zufällig passt er zu Station II.

Ich habe auch nicht Gotteslästerung im Sinn, wenn ich mich ausnahmsweise mit dem Erlöser vergleiche. Auch meine Last drückt mich nieder, wenngleich sie nicht auf den Schultern ruht. Doch, wenn ich die Bibel richtig verstanden habe, dann nahm Jesus sein Leiden freiwillig auf sich. Einzig in diesem Umstand bin ich ihm ähnlich: Niemand zwingt mich diese Via Dolorosa im Laufschritt zu nehmen … Mehrfach stoppe ich meinen Lauf, blicke talwärts, fotografiere, lasse das Empfinden demnächst platzender Oberschenkel wieder abklingen … Harte Minuten, die erst etliche Höhenmeter weiter oben enden, auf dem Plateau des Rechberg-Gipfels, am Ziel der 25-Kilometer-Läufer.

Ich verpflege mich. Schlucke ein Gel aus eigenem Bestand, spüle mit Wasser und Cola nach. An den Kreuzweg hier rauf erinnere ich mich vage, ans Plateau mit Kirche und Friedhof, dazu den Zieleinlauf der „Kurzstreckler“ nicht mal ansatzweise. Und doch muss ich schon mal hier gewesen sein, was anlässlich des gleich danach zu überstehenden „Downhill-Adventures“ aufsteigende Echos belegen. In halsbrecherischem Gefälle schreien meine Oberschenkel Zeter und Mordio und Sturzangst lässt die Alarmsirenen heulen. Zwar ist der Steg asphaltiert, an vielen Stellen jedoch bemoost. Schlüpfriges Geläuf nach gestrigem Regen? - Offenbar nicht, dennoch taste ich mich übervorsichtig, in ständiger Erwartung wegzurutschen talwärts … … Doch nichts Unvorhergesehenes geschieht, unversehrt erreiche ich fünf Minuten später die Hauptstraße der Ortschaft Rechberg.

Runterwegs tippelte ich ein ums andere Mal an Läufern vorbei, die mir Beifall zollten. In ihnen vermutete ich 25-Kilometerläufer, die ihr Ziel bereits erreicht hatten. Und mit vor Sturzangst aufgestellten Nackenhaaren fragte ich mich wie die wohl „nach Hause“ kommen? Vage Antwort: Wird wohl einen Shuttle geben!? Jetzt an einer Bushaltestelle samt eines Pulks wartender Läufer vorbeizulaufen - bestätigt das nun meine Vermutung oder widerlegt es sie? Wartet man/frau auf den Shuttle- oder den Linienbus?*

*) Von einer Teilnehmerin, die spät das 25-km-Ziel erreichte, erfuhr ich im Nachhinein, dass ein zweimaliger Ziel-Start-Shuttle vorgesehen war. Zeitlich unerreichbar für langsamere Läufer. Das mag „rechtlich“ in Ordnung sein, belegt aber die Gleichgültigkeit des Veranstalters gegenüber den Belangen weniger gut trainierter Just-For-Fun-And-Health-Läufer. Und gerade diese Läuferklientel braucht Unterstützung am dringendsten. Mal davon abgesehen, dass die Leistungen für alle dieselben sein sollten, immerhin zahlen alle dasselbe Startgeld.

Hinterm Berg ist auf dieser Strecke immer auch vor dem nächsten Berg. Nach erst 27 km gebe ich mich in dieser Hinsicht keinen Illusionen hin, auch wenn der beginnende Anstieg einer Bodenwelle mir gnadenlos aufzeigt wie müde meine Beine schon sind. Ich verfüge über kein fotografisches Gedächtnis, wohl aber über ein Gedächtnis für Fotos. Merkfähigkeit, die Schnappschüsse auch nach Jahren noch präsent hat - vorausgesetzt sie sind einigermaßen spektakulär. Fast noch am Fuß des Hügels gelingt es mir sogar ein solches Bild nach 15 Jahren zu wiederholen: Eine Läufergruppe auf dem Horizont, scheinbar dem Himmel zustrebend. Sogar ein markanter Unterschied „damals - heute“ bleibt meinem inneren Auge nicht verborgen: Heute wolkenblaugrau, damals ungetrübt strahlendes Azur.

Voraus die nächste von Mischwald bedeckte Kuppe. Wieder der Effekt der wundersamen Wandlung von Hügel zu Berg, je näher das Hindernis rückt. Noch eine Weile genieße ich das ebene Gelände und die Aussicht von hier oben. Dabei inständig hoffend, dass auch der dritte „krause Kopf“ mich nicht mehr als grenzwertig fordern wird. Auf dem nur Minuten später beginnenden Trail beginnt diese Wunschvorstellung zu bröckeln. Keine nennenswerten Höhenunterschiede zwar zunächst, doch muss ich höllisch aufpassen und erforderlichenfalls die Füße höher heben, um an keiner der zahllosen Wurzeln oder steinernen Kanten im Laufweg einzufädeln. Wodurch mein Lauftempo sich zwangsläufig dem einer Schnecke nähert … Andere tun sich leichter, wie der Läufer, der mich einem (intakten) ICE gleich überholt … Spätestens als sich der Pfad der Falllinie eines erdig schmierigen Grashangs zuwendet, ist Erinnerung wieder präsent: Kenne ich. Kenne ich leider, weil schon damals am Limit gefordert. Heute mehr als das: Erstens steil, zweitens rutschig, drittens hohe Tritte. Ich gebe mich geschlagen und gehe. Wehre mich aber nochmal gegen mein Schicksal, trabe erneut an … Bis zur Frage: Was soll das? die Einsehen ins Unabwendbare einfordert. Damals warst du jünger und stark genug! Und nun glaubst du Witzbold mit fast siebzig und ohne vorheriges Bergtraining hier raufjoggen zu können? Über Stock und Stein, über Gras und Matsch, über Stufen, die ein übers andere Mal Kniehöhe erreichen? Zähneknirschend fügt sich der Ehrgeizige, zumal die Verhältnisse jenen gleichen, für die er sich Gehschritte durchaus zugesteht …

Seine Laune beginnt sich zu verdüstern, doch zum Glück ist das unschöne Intermezzo nach etwa fünf Minuten Vergangenheit. Weiter tippeln, kaum noch Höhengewinn, bis zum Gipfel hin. Zwei Streckenposten wachen hier. Einer applaudiert, ein anderer mit Klemmbrett notiert offenbar meine Startnummer. Wieder runter, natürlich Oberschenkel schreddernd steil, zuletzt zurück auf den asphaltierten Radweg, über den ich zum Fuß des Buckels gelangte. Weiter in östlicher Richtung, dabei die Höhe einstweilen haltend. Das steile Auf und Ab der dritten markanten Erhebung hinterlässt mich an Körper und Läuferseele ramponiert. 18 Kilometer fehlen noch, darin ganz sicher auch Anstiege. Die Wahrnehmung bereits fortgeschrittener physischer Erschöpfung passt dazu überhaupt nicht. Nach und nach vermag ich mich wieder einigermaßen „freizulaufen“, Kopf und Körper zu restaurieren. Das kann nur eines bedeuten: Auf flachem Terrain kostete mich die Reststrecke vollen Einsatz, wäre aber machbar. Bloß: Flach wird’s nicht bleiben.

Bis zur und stückweit hinter der nächsten Verpflegungsstelle sind mir ein paar erträgliche Kilometer zur teilweisen Erholung vergönnt. An der Tränke gibt’s noch Energiegel, also spare ich die letzte eigene Ration auf. Dann weiter auf breitem Sträßchen mit Läufergegenverkehr. Wer mir entgegen joggt, hat die etwa vier Kilometer lange Schleife bereits hinter sich. Einstweilen jogge ich verhalten vor mich hin, würdige den sich eintrübenden Himmel mit besorgtem Blick, denke im Übrigen aber „an nichts Böses“. Minutenlang nicht. Bis vor mir eine Streckenpostin sozusagen aus der Erde wächst, die mich (wie auch das weiter oben schon erwähnte Läuferpaar) nach rechts „in die Tiefe“ schickt. Je länger ich talwärts beschwingte Schritte aneinander reihe, umso schwerer wird mir ums Herz: Da muss ich wieder rauf! Und immer noch weiter runter … und runter … mit Oberschenkeln so hart als wären sie von Eichenholz geschnitzt … Nein, hier war ich noch nicht, diese Schikane ist neu. Schlussendlich, am tiefsten Punkt des Taleinschnitts angekommen, zeigen Pfeile im spitzen Winkel nach links und - wie sollte es anders sein - sofort wieder bergauf.

Brachial bergauf. Ein paar Alibi-Laufschritte wider Berg und bessere Einsicht, dann füge ich mich und gehe. Erst auf jäh ansteigender Kiespiste im Wald, alsbald im Gras einer Wiese. Linkerhand steht die Talhütte eines Skilifts. Skilift auf Albhöhe, im Jahr 2023 mit fortgeschrittener Erderwärmung und Schneemangel sogar in den Alpen? Ich schaue nochmal hin - keine Fata Morgana, zumindest wurde hier einst ein Skilift betrieben … Durch die Wiese aufwärts mit schweren Beinen auf weichem Geläuf. Spätestens auf diesem federnden, Körner fressenden Untergrund hätte ich kapitulieren und ins Gehen wechseln müssen. Zwei Minuten, drei, endlich weiter auf erträglich ansteigenden und festen Wegen. Ich zwinge mich wieder zu laufen. Der zweimalige „Sündenfall Gehen“ hat die Hemmschwelle für Gehschritte drastisch gesenkt. Ich verbiete es mir kategorisch: Egal wie müde du bist, du wirst laufen, nicht gehen!

Sanft aufwärts zwar, aber aufwärts. Wie lange denn noch, bis diese Vier-Kilometer-Schleife sich endlich dem Ende zuneigt? Nach links auf einen Kiesweg, ab hier in herbem Gefälle. Stückweit voraus bewegt sich das ungleiche Läuferpaar in „Serpentinen“ abwärts. Serpentinen auf höchstens zwei Meter breitem Weg? Sie voraus, er hinterher. Knieschmerzen? Vorbeugendes Verhalten? So steil ist die Piste nun auch wieder nicht. Vom Kies auf Asphalt und - endlich! - nach weiteren anderthalb Kilometern zurück am Verpflegungspunkt. Der ist bereits „in Auflösung“ begriffen. Wer jetzt noch kommt muss sich mit Resten zufriedengeben. Gel gibt’s keins mehr, also verleibe ich mir die letzte eigene Ration ein. Eigentlich zu früh, immerhin stehen mir noch 13 Kilometer bevor. Ich pokere ein wenig: Verlasse mich auf einen Fahrradweg, auf dem ich vor 15 Jahren in beständig leichtem Gefälle die letzten Kilometer zurücklegte. Überhaupt sollte der Weg sich von jetzt an überwiegend talwärts wenden. Also vielleicht doch der bestmögliche Zeitpunkt fürs letzte Gel! Hoffentlich pokere ich nicht zu hoch.

Die Hoffnung auf Gefälle erfüllt sich einstweilen nicht. Im Gegenteil, der Feld- und zeitweise Waldweg nötigt mir weitere Höhenmeter ab. Wie viele denn noch? Lautlos gestöhnt, keine Frage, die ich die Welt hören ließe. Bin überdies allein unterwegs, von einem weiteren Solisten abgesehen, den ich ab und zu weit voraus ins Visier nehme. Meine Verfassung hat sich wieder stabilisiert. Flach oder auf nicht allzu steiler Piste ahne ich mein Limit zwar, spüre es aber nicht. Wasser auf meine Mühlen: Nicht die Entfernung zeigt mir heute die Grenzen auf, Summe und Verteilung der Höhenmeter sind dafür maßgebend. Hättest halt Höhenmeter trainieren müssen, du Heini.

In weit ausholender Linkskurve schlage ich einen Halbkreisbogen um eine Erhebung. Finde sogar in erträglichen Schrittrhythmus auf gut belaufbarem, wenn auch ansteigendem Weg. Bis der vorauseilende Solist plötzlich einen Haken schlägt und durch die angrenzende Wiese dem Tal zustrebt. Näher kommend erkenne ich ein Auto, darin einen offenbar frierenden Streckenposten. Seine bloße Anwesenheit plus mehrere, auf den Boden gesprühte Pfeile reichen, um mich auf den steil abfallenden Trampelpfad im Wiesenhang aufmerksam zu machen. Runter jetzt, an Buschgruppe eins vorbei … Buschgruppe zwei nimmt mich auf, begleitet mich weiter talwärts. Ein Kilometer supersteiles Gefälle das meine Beine in eine Masse bis zum Zerreißen gespannter, vor Schmerzen schreiender Fasern verwandelt …

Aussiedlerhöfe, da und dort Kühe auf Weiden, malerische Buckel mit herbstlich bunten Bäumen - das idyllische Tal hat was von Allgäuer Kulturlandschaften. Mich dran zu erfreuen habe ich nicht mehr die Kraft und nicht mehr den Nerv. Die Kraft fließt komplett in die Beine und auf besagten Nerv gehen mir diverse weitere Bodenwellen; davon eine so steil, dass ich zum dritten Mal die weiße Fahne hisse und gehe … Nur fünfzig Meter etwa, aber weit genug, um davon schlechte Laune zu beziehen und den Streckenplaner von der Liste jener Menschen zu streichen, die ich mag.

War ich hier schon mal? Keine Erinnerung keimt, nicht mal ein vager Verdacht. Das schmale, die Bauernhöfe verbindende Sträßchen mündet in eine Landstraße, just am Ortseingang von … „Straßdorf“ steht auf der Ortstafel. Gesprühte Pfeile leiten mich sicher durchs Dorf. Die Feuerwehr sperrt eine Straße ab, betreibt zudem einen - den letzten - Verpflegungspunkt. Ich trinke nochmal, begnüge mich mit einem Becher Cola. Noch sechs Kilometer - behauptet meine Uhr. Gegenchecken kann ich ihre Angabe nicht. Auf Kilometertafeln - eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wenigstens nach jeweils fünf Kilometern - verzichteten die Organisatoren. Für ein paar Schilder waren 60 Euro Startgeld offenbar nicht ausreichend bemessen …

Ich war schon drauf und dran mir das „wohltuende“, etwa ein Grad konstante Schlussgefälle des Radwegs, gesicherter Teil meiner Erinnerung, aus dem Kopf zu schlagen. Wähnte mich auf völlig verändertem Kurs. Und nun doch: Planer Asphalt, wirklich nicht die kleinste Unebenheit, überwiegend geradeaus, fast unmerklich bergab und in den Beinen das Gefühl auf solchem Geläuf noch hunderttausend weitere Laufschritte setzen zu können … Wie geil ist das denn!? Nach einer Weile checke ich sogar mein Lauftempo: Eindeutig und konstant bei etwa 6:20 min/km. Ich könnte sogar mehr aus meinen Beinen rausholen, finde aber keinen Grund mich nun final noch abzuschießen. Wozu sollte das gut sein? - Wie vermutet: Nicht die Distanz limitierte mich, es waren allein die Höhenmeter. 1.260 Höhenmeter wird mein barometrisch genauer Höhenmesser nachträglich anzeigen und damit 160 mehr als in der Ausschreibung des Laufes verzeichnet.

Die wahre Natur dieses lauf-paradiesisch angelegten Asphaltstreifens blieb mir vor 15 Jahren verschlossen. Unterdessen hatte ich genügend ähnlich anmutende Radwege, etwa in Nordrhein-Westfalen und Thüringen, unter den Füßen, um die zum Radweg umgestaltete Bahntrasse zweifelsfrei als solche zu erkennen. Vergleichsweise, das heißt: gemessen am belastenden Auf und Ab, das hinter mir liegt, fallen mir die Schritte in der Schlussphase leicht. Aber eben nur „vergleichsweise“. Während rechts unterhalb bereits Wohn- und Gewerbegebiete von Schwäbisch Gmünd vorbeiziehen, sehne ich mich nach dem Ende dieser Herausforderung. Erlahmen meine Beine überm Sehnen? - Hinter meinem Rücken hörbar werdende Laufschritte scheinen es zu belegen. Sie stammen von einer jungen Läuferin, die ich vorhin überholte. Sie wurde von einem älteren Herrn erwartet, vielleicht ihr Vater. Kurz umwenden: Und nun sind mir beide auf den Fersen.

Es gibt da ein Teil-Ich in mir, das so kurz vorm Ziel, zumal im Besitz „gewisser“ Reserven, keinesfalls überholt werden möchte. Ich könnte es mir einfach machen und latent lauernden Ehrgeiz als bestimmend für diesen Teil meiner Persönlichkeit betrachten. Was immer es ist, es bringt mich dazu meine Schritte zu beschleunigen und meinen Verfolgern Paroli zu bieten. Doch aus welchem Grund? Man findet den Lehrsatz: Ehrgeiz sei das in der Persönlichkeit eines Menschen verankerte Streben nach Leistung, Erfolg, Anerkennung, Einfluss, Wissen oder Macht. Mag sein, bringt mich aber auch nicht weiter. Wieso „strebe“ ich nach Leistung? Die Platzierung auf der Einlaufliste ist mir hochgradig egal. Zumal die Dame geschlechts- und altersspezifisch in einer ganz anderen Liga spielt. Was ist das in mir, das sich weigert sie kampflos vorbeiziehen zu lassen?

Ist es wieder pure Lust am Spiel, die ich in einem meiner jüngeren Laufberichte schon einmal als Ursache für solches Wetteifern ausmachte? - Es geschieht wahrlich nicht zum ersten Mal, dass ich mich in der Schlussphase eines so langen Laufes auf ein im Grunde bedeutungsloses Scharmützel einlasse. Vielleicht muss man typisches Verhalten solcher Art „püschologisch“ entschlüsseln. Ich versuche mir immer wieder auf die Schliche zu kommen, mein Ich so weit zu entblättern, dass die wahren Beweggründe sichtbar werden. Natürlich selten „öffentlich“ wie in diesem Fall. Ich bin da auf eine Kausalkette gestoßen, die mit Begriffen operiert die alle mit „Selbst“ beginnen. Selbstwert zum Beispiel, ohne den sicher niemand leben mag. Aus ihm entspringt Selbstvertrauen, das wiederum nötig ist, um von der eigenen Selbstwirksamkeit überzeugt zu sein: Ich schaffe das! Und wenn ich es geschafft habe, dann stärkt das mein Selbstbewusstsein: Ich weiß, wer ich bin und was ich kann. Mein Selbstwertgefühl wird dadurch gestärkt oder zumindest bestätigt, womit sich der Reigen schließt …

Harter Tobak für einen Laufbericht, zugegeben. Muss man ja auch nicht verstehen. Mein Selbstwertgefühl verlangt ja auch nur diese Zusammenhänge im Grundsatz wiedergeben und verstehen zu können. Egal, was da wirkt und wie es wirkt, die Schritte hinter meinem Rücken werden leiser, verstummen schließlich. Kilometer 48: Wirklich nur noch zwei oder mehr? Polizisten sperren mir den Weg frei, rechts und links warten Autos … weit kann es nicht mehr sein. Schließlich über eine Brücke, die ihre ursprüngliche Bestimmung als Bahnbrücke nicht leugnen kann. Dahinter ein letzter, steilerer Abschwung und schon biege ich auf die anfangs belaufene Strecke entlang des Flüsschens ein. Sogar die Entfernung vom Start habe ich mir vor Stunden eingeprägt: Noch ein Kilometer jetzt!

Vielleicht liegt es an der veränderten Umgebung, an der Schallreflexion nahegelegener Gebäude, plötzlich höre ich wieder die Schritte meiner „Häscher“. Entschlossen investiere ich verbliebene Energie in meine letzten 500 Schritte, wetze los, als setzten nicht harmlose Läufer mir nach, sondern der Gehörnte höchstpersönlich … Dass ich den Abstand halten, überdies nach 50 Kilometern noch einen Endspurt über mehrere hundert Meter ziehen kann, ist meinem Selbst (-bewusstsein, -wert, -vertrauen) auch nicht gerade abträglich. Es fühlt sich verdammt gut an! Und so laufe ich schließlich auch mit einem verdammt guten Gefühl, nach 6:25:38 Stunden, über die Ziellinie.

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Strecke besticht durch beinahe unablässig auf den Läufer eindrängende Ansichten der näher und weiter entfernten Natur der Schwäbischen Alb. In ganzer Länge kann den Lauf nur genießen, wer sehr gut, auch mit Höhenmetern trainiert an den Start geht. Eine Streckenänderung machte aus angekündigten 1.100 schlussendlich 1.260 Höhenmeter. Bei warmem, strahlendem Oktoberwetter sollte man auf eine Trinkflasche nicht verzichten, um die teils längeren Abstände zwischen den Verpflegungspunkten überbrücken zu können.

Als mindestens verbesserungsbedürftig bewerte ich Versorgung langsamerer Läufer (insbesondere der Letzten im Feld), hinsichtlich Rücktransport (25-km-Läufer) und Versorgung, sowie die fehlende Markierung der Kilometer.

Fazit: Wenn ich wieder einmal teilnehmen sollte, dann besser auf Höhenmeter vorbereitet!