Hinweis mit der Bitte um Nachsicht

Dich erwarten fast 20.000 Wörter Laufbericht. Der Länge der Strecke, geschichtlichen Hintergründen, einer Fülle von Begebenheiten und zahlreichen Begegnungen konnte ich anders als ausführlich nicht gerecht werden. Es ging mir auch darum darzustellen, was ein Wettkampf wie der Mauerweglauf einem Läufer abverlangt. Darüber hinaus, wie sich seine Selbstwahrnehmung über die vielen Laufstunden verändert.


12./13 August 2023

Weil ich nicht schlafen kann  -  100 Meilen Berlin / Der Mauerweglauf

„Zeit ist abhängig vom Kontext, vom Empfinden und vom physikalischen Bezugssystem, vom Raum. Man könnte weitere Bezugssysteme hinzuziehen, […]“

Aus „Außer Atem“, Essay von Gerhard Matzig, erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 26. August 2023

13. August, Sonntagmorgen, zwischen zwei und drei Uhr nachts, Streckenkilometer 128, im Berliner Norden, nach mehr als 20 Stunden Laufzeit:

Verliere ich mich? Bestimmt verliere ich mich in dieser Finsternis. So wie der Weg verloren scheint - gefühlt schon Millionen Schritte, schnurgeradeaus und leicht bergan. Unendlich scheint der Raum, ewig die Zeit, kein Ende in Sicht. In mir drin diese Not - zu schmerzhaft präsent, zu intensiv, um sie auszublenden und noch einen Hauch von Vergnügen zuzulassen. Und doch nicht qualvoll genug, um mich von meinem Ziel abzubringen: 100 Meilen Mauerweg. Es ist als trudelte ich einem Schwarzen Loch im Universum entgegen, nicht mehr Herr meiner selbst, beständig einer schwachen Lichtblase folgend …

Morgen, übermorgen, nächste Woche, wenn ich an diese Stunden zurückdenken werde, versuchen werde sie als Laufbericht verständlich in Worte zu fassen, für Menschen, die solches „Da-Sein“ nie erlebten, es folglich nicht kennen, dann werde ich es mir selbst kaum erklären können. Wie ich so lange wachsender Erschöpfung widerstehen und ohne Aussicht auf baldige Erlösung leiden kann. Laufen, immer weiter laufen, nicht stehenbleiben, schon gar nicht aufgeben. Ein paar Schritte aneinander reihen, das geht. Es ist schwer, aber es geht. Dann weitere und noch welche, und wieder ist eine Viertelstunde vertickt, bin ich dem Ziel ein Stück näher. Was ich noch weniger kapiere, ist, wie ich die notorische Beschäftigungslosigkeit im Kopf über zig Stunden ertrage; in denen ich bei Sinnen bin, realisiere, was geschieht, also denke. Nur was? Sinnvolles oder Sinnloses, Zusammenhängendes oder Fragmentarisches, Relevantes oder Unwichtiges? So gut wie nichts davon bleibt haften, das sich im Nachhinein dem Schwarzen Loch dieser Augustnacht entreißen ließe.

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12. August, Samstagmorgen, 5:58 Uhr, Berlin Mitte, Erika-Hess-Eisstadion, Streckenkilometer 0:

Mir blieb gerade genug Zeit, um alle Vorbereitungen abzuschließen. Keine Minute der Muße, was ich an sich hasse. Auch, weil zeitlich in Bedrängnis zu geraten mein Fehlerquantum vergrößert. Doch heute Morgen konnte wenig schiefgehen, alles war „programmiert“, erst recht nach Ankunft hier im Eisstadion. Letztlich bin ich sogar froh, dass sich der Bustransfer etwas verspätete, so blieben mir Grübeleien erspart und damit die Angst. Angst, die seit Wochen immer wieder, in den letzten Tagen als Dauergast, wie ein Mühlstein auf mir lastete. Ernsthaft Angst. Kein übersteigertes Lampenfieber oder „gewisse“ Bedenken. Nein Angst vor meinem nach 2014, 2018 und 2019 vierten Lauf über den Mauerweg. Sie entzündete sich nicht an einer vagen, nicht greifbaren Gefahr dieses Mal zu scheitern. Irgendwie werde ich schon ankommen. Angst habe ich vor dem, was 161,3 Kilometer meinem Körper und meiner Seele antun werden.

Eins meiner Prinzipien war lange Zeit gut bis sehr gut austrainiert anzutreten, so dass die Strecke auf jeden Fall „bekömmlich“ blieb. Dieser Tage eine Prämisse, die ich mehrfach außer Acht ließ - lassen musste. War stets „auf Kante genäht“ in Vorbereitungswettkämpfen unterwegs, etwa auf dem Rennsteig und erst recht bei den 100 km des „Thüringen Ultra“. Ich überlebte 20 Schlachten, die auf dem Weg hierher nach Berlin seit Anfang März zu schlagen waren. Und doch gelang mir nicht, was früher selbstverständlich war, als mein Körper noch nach Art eines Uhrwerks kooperierte. Als ich mich darauf verlassen konnte mit stetig gesteigerter Wettkampfdauer praktisch für jedes Laufziel rechtzeitig fit zu werden. Das ist nicht mehr möglich.

Die mutmaßlichen Gründe dafür finden sich in vielen Laufberichten dieses Jahres. Wiederholte Schilderungen, meiner wachsenden Verzweiflung geschuldet, weil die 100 Meilen unerbittlich näherrückten, meine Formkurve jedoch nicht die nötige Steigung aufwies. Ich wiederhole hier nur den Hauptgrund noch einmal, weil er in mehrerlei Hinsicht Gewicht hat: Altersklasse M70. Salopp im Klartext: Ich bin zu alt für so’n Quatsch! Es fehlt nicht an Willen oder Ehrgeiz. Was abgeht ist Trainingszeit. Training besteht aus Phasen der Belastung und ausreichend Regenerationszeit im Anschluss. Sieben Tage die Woche sind inzwischen zu kurz, der Zeitbedarf bis zur Erholung zu lang.

Angst, Zweifel, Bedenken - sie haben jetzt keinen Platz mehr. Mit halbwegs feuchten Augen, gerührt von der Tatsache nach all den Mühen und Widerständen nun doch hier zu sein, stehe ich im Schwanzende der Startaufstellung. Neben und vor mir rund 500 weitere Verrückte, die dem 100 Meilen-Abenteuer entgegenfiebern. Was weiter vorne vorgeht, bekomme ich nicht mit, will’s auch nicht wissen. Reflexhaft sammele ich ein paar Fotos, bin dabei voll fokussiert auf mein Ziel: Du wirst alles geben müssen, was du hast. Alles! Aber du wirst ankommen! - Sechs Uhr, es geht los. Ohne Drängelei strömt der Zug der Lemminge der schmalen Startgasse und hinter ihr dem jungen, ungewissen Tag entgegen.

Den Streckenauftakt kenne ich nicht, obschon ich die Strecke bereits zweimal wie heute im Uhrzeigersinn* absolvierte. Gestartet und gefinished wurde vormals auf einer Laufbahn im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, ein paar Kilometer von hier entfernt. Auch die Enge in den ersten Minuten ist neu, zugleich willkommener Segen. Sie hilft mir nicht zu überziehen. Rein gar nichts könnte meiner Absicht „laufend ankommen“ mehr Schaden zufügen als ein flotter Beginn. Vom ersten Schritt an will ich ein Tempo nicht schneller als sieben Minuten pro Kilometer justieren. Mit Ampelwartezeiten, Verpflegungspausen und sonstigen Verzögerungen bedeutet das einen Durchschnitt von vielleicht 7:30 min/km oder 1:15 Stunden auf 10 km. Mal sehen wie lange ich diese Overall-Pace durchhalten kann. Wenn’s gut läuft vielleicht auf der ersten Streckenhälfte, womit ich allerdings nicht wirklich rechne. Am wirtschaftlichsten geht ein Läufer mit verfügbarer Ausdauer um, wenn es ihm gelingt von Anfang bis Ende mit konstanter Geschwindigkeit zu laufen. Tatsächlich wird das kaum jemandem gelingen und mir schon gar nicht. Noch langsamer zu beginnen leistete womöglich einem früh einsetzenden „unrunden Laufstil“ Vorschub, was ich nicht riskieren will. Der zu späterer Laufstunde unausweichliche „Schlappschritt“ nutzt den Bewegungsapparat auf ungute Weise ab, mit schmerzhaften Folgen.

*) Die Laufrichtung wechselt jährlich. Wer in zwei aufeinanderfolgenden Jahren finished, wird mit einer zusätzlichen Back-to-Back-Medaille geehrt.

Ein paar Engstellen und Stockungen, dann nimmt der Lindwurm Fahrt auf. Vorm Bundeswirtschaftsministerium sperren Polizisten die zu früher samstäglicher Stunde bereits lebhaft frequentierte Invalidenstraße. Stau für die Autofahrer, freie Fahrt für Läufer. Das Unerwartete bricht sich in dem Augenblick Bahn, da ich einem Polizeibeamten für seinen Einsatz danke. Es muss aber schon vorher latent zugegen gewesen sein. Da ich es jetzt wahrnehme und seine wahre Natur erkenne, überrascht es niemanden mehr als mich. Woher um alles in der Welt beziehe ich jetzt gute Laune? Lebensfähig ist die doch nur auf der Basis von Zuversicht. Nachgehakt: Woher stammt der plötzliche Optimismus, mit dem ich gegen eine Herausforderung zu Felde ziehe, die mich noch gestern bis ins Mark erschreckte?

Flugs meinen Gemütszustand ausforschend fallen mir drei Gründe ein: Langsames Tippeln auf deshalb unangestrengten Beinen an erster Stelle. Wird sich ändern, mir bis auf weiteres aber erhalten bleiben. Mit Sicherheit stimmungaufhellend: Das Wetter! Wärme schon früh morgens, blauer Himmel, erste Sonnenstrahlen bringen Berlin zum Leuchten. So etwa die Glasfronten des schicken Hauptbahnhofs jenseits des Kanals. - Lasst das „schick“ bitte unwidersprochen so stehen. Es darf ja auch mal was „schick“ sein bei der sonst zuverlässig unzuverlässigen, von Pannen geplagten, von der Politik fast kaputt reformierten und gesparten Bahn. - Von gut gelaunt auf fast schon begeistert drehen die in rascher Folge eingesammelten Sehenswürdigkeiten mein Stimmungsbarometer. Angesichts gelungener Architektonik und fantastischer Citypanoramen stockt mir trotz verhaltenen Tempos ein bisschen der Atem. Kann mich an der Verquickung von bedeutenden Neubauten und altem, schicksalsschwer mit Geschichte beladenem Gemäuer nicht sattsehen. Mitnichten auf einem Pfad, den Bürger dieses Landes erst seit gut 30 Jahren ohne Risiko für Leib und Leben beschreiten können.

Man verband die beiden Parlamentsgebäude über einen doppelstöckigen Fußgängersteg - unten fürs Volk, oben für Berechtigte. Links der Spree, also auf meiner Seite, das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und jenseits das zwei Jahre ältere Paul-Löbe-Haus, mit Abgeordnetenbüros und Sälen, in denen Ausschusssitzungen des Deutschen Bundestages stattfinden. Beide Häuser lenken meine Aufmerksamkeit aber nur kurz vom wuchtigen Reichstagsgebäude ab. Es ist und bleibt die Nummer eins im Regierungsquartier, erdrückte mich schier mit seiner Geschichte, so ich es denn zuließe. Vormals zumeist Geschichte, die „DEM DEUTSCHEN VOLKE“* Verdruss, Not und Tod im Übermaß bescherte. Geschichte, die erst in den letzten 30 Jahren einen positiven, parlamentarischen Anstrich bekam, als der Deutsche Bundestag einzog. Ich laufe den Spreebogen aus, halte immer wieder für Fotos am Ufer inne. Von Osten, im morgendlich goldenen Gegenlicht, grüßt der Fernsehturm am Alexanderplatz herüber, rechts voraus das ARD-Hauptstadtstudio. Eine nach meinem Demokratieverständnis bedeutende mediale Institution, obschon man mich weder als allgemein Fernsehhörigen noch spezifischen ARD-Adepten wird verorten können. Allerdings weiß ich, wo man weitgehend verlässlich recherchierte Berichte abgreifen kann und in welchem Medium Instanzen fehlen, die Verdrehungen der Wahrheit, „Fake News“ und Verschwörungstheorien auszumerzen trachten.

*) „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ steht als Widmung überm Säulenportal des Reichstagsgebäudes

Über die Marschallbrücke wechsle ich zum Gegenufer der Spree, trabe nun auf die Nordostecke des Reichstagsgebäudes zu und keine Minute später daran vorbei. Es gäbe hier vieles zu sehen und zu studieren. Doch dafür bräuchte ich die Muße eines Tagesausflugs. Als Läufer begleitet dich in attraktiver Szenerie dauerhaft Bedauern dies oder jenes nicht ausführlicher erkunden zu können. Du wirst mit Eindrücken bombardiert, zu viele und in zu rascher Folge, um sie auch nur sortieren, geschweige denn überdenken zu können. - Die Route setzt sich zwischen Reichstagsbau und Paul-Löbe-Haus fort, bis rechter Hand die „Waschmaschine“* ins Bild rückt. An dieser Stelle nach links und vor der Front des Reichstagsgebäudes vorbeitraben …

*) Das Bundeskanzleramt heißt im Volksmund „Waschmaschine“, weil ein großes rundes Fenster im kastenförmigen Bau an eine Waschmaschine erinnert. Der Volksmund prägte noch andere Bezeichnungen wie „Kohlosseum“ (zu Zeiten als Helmut Kohl Bundeskanzler war) oder „Elefantenklo“.

Auf den Ecktürmen des Reichstagsgebäudes weht die schwarz-rot-goldene Flagge - die einzig erträgliche. Unheil symbolisierten ihre Vorläufer - das Schwarz-Weiß-Rot im Kaiserreich, danach die Hakenkreuzflagge als widerwärtiges Fanal für grausame Verbrechen und nach dem „Endsieg“ kurze Zeit ein rotes Tuch mit Hammer und Sichel, das die Rote Armee 1945 über den Trümmern der Stadt hisste. Ich mag den bunten Fetzen da oben, weil er über einem freien Land flattert. Wenig ist wirklich gut in diesem Land und nichts perfekt. Doch immerhin darf ich das hier niederschreiben, ohne dafür auch nur behelligt zu werden. Aus dem Stehgreif könnte ich etliche Staaten aufzählen, wo das nicht oder nicht mehr so ist … Sollte die (zu oft schweigende) Mehrheit nicht achtgeben, dann läuft sie - laufen wir - Gefahr die Errungenschaften der Friedensjahrzehnte wieder zu verlieren. Nach Bedrohungen von innen und außen braucht man nicht suchen, sie sind offensichtlich. Arglistig schlaue Kräfte - früher braun, jetzt mit hübscherer Farbe als Tarnkappe -, die mit wohlfeilen, trotzdem bockfalschen Parolen jede Schwäche von Staat und Gesellschaft zu nutzen suchen. Und der russische Oberkriminelle würde lieber heute als morgen Freiheit und Selbstbestimmung hierzulande den Garaus bereiten.

Es sind nur ein paar Schritte vom Reichstagsgebäude bis zum Brandenburger Tor, vom einen zum anderen Gedenken. Jüngere Menschen werden vor allem Massenveranstaltungen wie Konzerte, Silvestergalas oder Feiern von Meisterschaften mit dem Brandenburger Tor verbinden. Ich will nicht sagen, dass mich solche Feste kalt ließen. Vor allem anderen aber bin ich mir bewusst, dass noch vor etwas mehr als 30 Jahren die Route des Mauerweglaufs verrammelt war - aus Richtung Tiergarten/Straße des 17. Juni kommend aufs Tor zu, hindurch und weiter der Straße „Unter den Linden“ folgend. Die Bilder leben in mir noch, da wiedervereinte Berliner aus Ost und West die vorm Tor verlaufende Mauer enterten, um fröhlich miteinander zu feiern.

Hinterm Brandenburger Tor nehme ich einen zumindest der unbekannten Fotografin missliebigen Kurs: statt ihr in Platzmitte als „running model“ ein aufgehübschtes Foto vom Brandenburger Tor zu ermöglichen, halte ich seitwärts auf einen Abfallkorb zu. Mit einem vernehmlichen „Ach, schade!“ verleiht sie ihrer Enttäuschung hörbar Ausdruck, noch bevor ich das leere Gel-Tütchen seiner Endbestimmung zuführe.

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Eine halbe Stunde Wettkampfzeit ist verflossen, das erste Gel im Bauch. Circa 100 kcal wird mein Körper daraus gewinnen und unmittelbar der arbeitenden Muskulatur zuführen. Ich weiß es zwar nicht sicher, würde jedoch einen namhaften Betrag darauf verwetten, dass kein anderer im Feld so früh Kohlenhydrate nachschiebt. Was mich leitet, ist die Furcht vor einem frühen energetischen Einbruch. Darüber hinaus orientiert sich mein Verpflegungskonzept an mehrfach zuvor (Olympian Race, Spartathlon, 24h-Läufe) bewährtem Muster: Im Wettkampf nur Gel konsumieren, so früh wie möglich und so viel/häufig wie möglich! Runtergespült und verdünnt ausschließlich mit stillem Wasser. Tatsächlich werde ich mir an den Versorgungspunkten (VP) meist noch eine Kleinstportion Erdnüsse gönnen, zudem drei, vier Schlucke alkfreies Bier trinken. Die Nüsse sollen Salz in den Körper schwemmen und die mit der Zeit immer widerwärtiger empfundene Gelsüße neutralisieren. Letztere Absicht verfolge ich auch mit dem herb-bitteren Biergeschmack. Als Intervall für den Gel-„Genuss“ habe ich 30 Minuten für die ersten Stunden festgelegt. Sobald ich nachlassenden Energiefluss spüre - anders ausgedrückt: sobald die Beine erlahmen -, werde ich „Extragels“ einwerfen. Bei anhaltend „niederenergetischem Zustand“ plane ich alle 20 Minuten, also dreimal pro Wettkampfstunde, eine Gel-Ration zu mir zu nehmen.

Mit 10 Gels im Rucksack rannte ich los, werde folglich gut fünf Stunden autark sein. Später wird mich meine Frau Ines von Zeit zu Zeit mit Gelnachschub versorgen. Ich werde gigantisch klotzen und nicht im Mindesten kleckern - in Abwandlung eines geflügelten Wortes. Um das Thema „Gel“ nicht noch einmal aufwärmen zu müssen, hier mein Gesamt-Gel-Konsum: ich werde mit insgesamt etwa 70 Gels, ungerechnet 7.000 kcal, versuchen den Verfall meiner Ausdauer zu bremsen. Mit welchem Resultat? - Einfach weiterlesen …

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In diesem Teil der Stadt, beginnend „Unter den Linden“, lässt sich kein Trottoir betreten, das nicht an prominentes Gemäuer grenzte. Kurz hinterm Brandenburger Tor unterquere ich den purpurnen Baldachin des Traditionshotels Adlon. Eingangstüren verschlossen, kein Portier, kein Leben im einsehbaren Teil der Hotelhalle - samstags um halb sieben Uhr sicher nicht verwunderlich. Ich biege um die Ecke in die Wilhelmstraße ein und lasse mich wie jedes Mal vom Hochsicherheitsbereich vor der Britischen Botschaft einschüchtern. Beide Zufahrten zu diesem kaum mehr als hundert Meter langen Abschnitt der Straße wurden in voller Breite mit massiven, versenkbaren Pollern gesichert. Sie verhindern mit Fahrzeugen ausgeführte Attacken gegen das Botschaftsgebäude. Darüber hinaus wurden Polizeibeamte zur Bewachung der Eingänge aufgeboten. Zwei bereitstehende Fahrzeuge der Polizei signalisieren Wachsamkeit. Weniger beeindruckend als zu diesem Zeitpunkt hinderlich ist die rote Ampel an der Ecke. „Jetzt ist Rot noch lästig, zum Ende hin werden wir uns mehr davon wünschen!“ Udo spricht! Wendet sich dabei einem unbekannten Nebenmann zu. Schlagender Beweis, dass seine gute Laune die ersten Kilometer überlebte.

Stopp-and-Go für Läufer auf den nächsten 900 Metern Wilhelmstraße. An jeder Querstraße verwehrt ein rotes Ampelmännchen das Weiterlaufen. Und beim Aufbruch erblickt man schon voraus die nächste Zwangspause, dort, wo gerade ein vielköpfiger Läuferpulk die Straße überquert. Sich zu beeilen bringt nichts, umso länger scharrte man vor der nächsten Ampel mit den Füßen. So wie vor dieser mit Blick aufs Finanzministerium auf der anderen Straßenseite. „Da drüben liegen meine Steuern!“ Ist nicht ernst gemeint, lediglich Ausdruck des Bedürfnisses meine Stimme zu hören. Schon bizarr mein Verhalten, da völlig konträr zu sonstigem Gebaren. Vielleicht auch ein bisschen wie der „Rufer im dunklen Wald“, der so seine Angst beherrscht. Und ein Echo gibt’s als Dreingabe: „Nee, dein Geld ist längst ausgegeben!“ höre ich und lächle.

Die Ampeln bringen Muße, um etwas mehr von diesem Teil Berlins zu sehen als in der Bewegung möglich wäre. Auch auf dem Finanzministerium weht Schwarz-Rot-Gold und links voraus wartet der „Welt-Ballon“, ein mit Helium gefüllter Großfesselballon, Steighöhe 150 m, auf die ersten Fahrgäste des Tages. Um die Straßenecke und vorbei an Trabis in diversen Farben und Ausführungen. Die Trabi-World errichtet dem in der DDR am häufigsten gelenkten „Stinker“ ein Denkmal. Muss man vielleicht nicht besucht haben, scheint mir aber wenigstens der Erwähnung wert. Ein paar Schritte weiter dann Spektakuläres, das „Asisi Panorama - Die Mauer“. Ein Streckenposten schickt uns ins Innere des einem Gasometer nicht unähnlichen Zylinders. Ich bekomme die monumentale 15 Meter hohe, auf 60 Metern Umfang gemalte Darstellung nicht zum ersten Mal zu Gesicht. Ihren Eindruck verfehlen die beinahe lebensecht wirkenden Mauerszenen aber auch diesmal nicht …

VP 1 - Checkpoint Charlie - Km 5,7 - Laufzeit 0:48:38 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 236 (gestartet: 403)

Dem dunklen Bauch des Zylinders entronnen stehe ich unmittelbar vorm ersten Verpflegungspunkt. Zunächst fülle ich meine kleine Trinkflasche - Inhalt ca. 0,2 l - wieder auf. Ich entschied mich gegen die Originalflaschen des Laufrucksacks, weil mir deren Handhabung beim Nachfüllen stets Schwierigkeiten bereitete. Vor allem zu späterer Laufstunde, dann nicht mehr vollkommen Herr meiner Sinne und Koordination. Die abgeplattete, kleine Trinkflasche passt gut in eins der vorderen Rucksackfächer, bei reibungslosem Zugriff. Jetzt noch rasch drei Becher* Wasser trinken, dann wende ich mich wieder der Strecke zu …

*) Aus Umweltschutzgründen gehört in diesem Jahr ein Becher zur Pflichtausrüstung der Läufer.

… und damit dem Checkpoint Charlie. Ich schieße ein Foto und blende die bleischwere Geschichte gerade dieses Ortes erst einmal aus. Kein Gedanke jetzt an Fluchtversuche, die sich rund um den Checkpoint Charlie häuften. Auch die im Oktober 1961 als Folge des Mauerbaus aufgefahrenen Panzer, beidseits mit dem Befehl die Waffen nötigenfalls einzusetzen, will ich mir nicht vorstellen. Wie auch, dafür ist der Morgen zu schön und bin ich in zu guter Stimmung. Hinzu kommt: Um die paar Quadratmeter herum, wo eine Nachbildung der ersten amerikanischen Kontrollbaracke steht, gibt es für meinen Geschmack zu viele touristische Anklänge. So etwa das Brustbild eines US-Soldaten in Ausgehuniform. Als hätte hier je ein „GI“ in feinem Zwirn Wache gestanden. Die Welt stand in jenen Jahren ein paarmal dicht am Abgrund. Einmal eben auch im Oktober 1961, genau hier in der Friedrichstraße. Wären einem der hüben wie drüben nervösen Beteiligten in den Panzern die Nerven durchgegangen … nicht auszudenken.

Trotz mehrstöckiger Wohnbebauung ist der Wolkenkratzer nicht zu übersehen. Und exakt das führte der Hausherr anlässlich der Errichtung seines Verlagshauses unmittelbar an der Mauer, auf Westberliner Seite, im Schilde. Der erzkonservative Verleger Axel Springer* wollte bewusst provozieren. Die (Licht-) Reklame für seine Druckerzeugnisse der Westpresse am Hochhausdach sollte weithin in Ostberlin sichtbar sein. Ich biege links ab, halte - diesmal von Süden - auf den Fernsehturm am „Alex“ zu. „Der Mauerweg verwirrt mich! Ich hab‘ das Gefühl hier war überall Mauer!“ - Das hörte ich auf den ersten Metern einen Läufer sagen, der das ehedem zerrissene Herz Berlins wohl noch nicht oft betreten oder belaufen hat. Aber ich verstehe ihn: Je nachdem wo man im ehemaligen Westberlin steht, verlief die Mauer mal im Osten, Süden, Norden und - klingt komisch, ist aber Fakt - sogar im Westen!

*) Axel Springer hatte auch die Bild-Zeitung zu verantworten, deren unsägliche Form des Journalismus ich ganz entschieden ablehne. Aus diesem Grund stellte - vorsichtig formuliert - Axel Springer zu Lebzeiten eine Reizfigur für mich dar.

Jetzt rechts und alsbald an der „Festung“ der Bundesdruckerei vorbei. Eine von vielen Lokalitäten, auf die ich mich im persönlich vierten Mauerweglauf gedanklich schon im Voraus einstimme. Neu ist für mich dagegen der in fetten, großen Lettern an einem Zaun angebrachte Schriftzug: „GRENZEN AUF REFUGEES WELCOME!“ - Das ist mehr als eine Meinungsäußerung. Eher schon ein Schrei aus der liberal demokratischen Ecke der Gesellschaft ins Gesicht jener, die dem reaktionär braunen Sumpf zuneigen. Zwischen den Zeilen steht auch etwas über den Zustand unserer Welt. Erstens: Es scheint viele Flüchtlinge zu geben, die es dort, wo sie eigentlich am liebsten wären, zu Hause, nicht mehr aushalten. Zweitens: Sie ziehen nordwärts, wo die Verhältnisse ihr Überleben zu garantieren scheinen. Drittens: Sie sind dort bei einem Teil der Ansässigen nicht willkommen. Das war im Grunde immer schon so, die Seele der Ängstlichen, die der Neider ohnehin, fürchtet alles, was von außen kommt. Im Jahre 2023 der Zeitrechnung scheinen jedoch dumpfe Unzufriedenheit, Misstrauen und Ablehnung mehr und mehr in Hass umzuschlagen. Ich stehe besorgt aber hilflos davor.

Nächster wichtiger Fototermin, die Spreebrücke mit fantastischem Blick gen Süden; über den an dieser Stelle zum Hafenbecken erweiterten Fluss bis hin zur Oberbaumbrücke, über die wir in ein paar Minuten in den „Westen“, nach Kreuzberg, zurückkehren werden. Davor erwartet mich allerdings die „East Side Gallery“, zugleich Museum, Kunstaustellung und geschütztes Baudenkmal von ziemlich exakt einem Kilometer Länge. Ein Stück im Original erhaltene Mauer, parallel zum und dicht am Spreeufer erbaut. Die Spree - wenn ich richtig liege in gesamter Breite -, gehörte zum Territorium der DDR. Bald nach Maueröffnung und Beseitigung der auf Tötung bei Fluchtversuchen abzielenden Sperranlagen okkupierten Künstler die Mauerfläche als Leinwand. Farbenfrohe, in der Mehrzahl jedoch mahnende Bildwerke, unterdessen als Kulturdenkmal geschützt. Mehrmals verhalte ich meinen Schritt, um Mitläufer vor diesem Zeugnis der Unmenschlichkeit abzulichten.

VP 2 - East Side Gallery - Km 10,4 - Laufzeit 1:22:38 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 225 (gestartet: 403)

Die zweite Tränke nutzt eine Lücke in der Mauergalerie mit Blick zum Spreeufer. Ich trinke rasch, wieder drei Becher Wasser und ergänze den Vorrat meiner Trinkflasche. Mehr als 1:20 Stunden für nur 10 km verbraucht. Schon jetzt steht fest, dass ich die geschätzten 1:15 Stunden pro 10 km bis zum ersten Rendezvous mit meiner Frau kaum werde einhalten können. Zwar konnte ich das Lauftempo wie gewünscht auf etwa 7 min/km einpegeln, verlor aber viel Zeit an Ampeln und beim Fotografieren. Wird sich das ändern? - Wohl eher nicht.

Die rote Ampel am Ende der East Side Gallery kommt mir gerade recht. Gibt sie mir doch Gelegenheit nach und nach eintrudelnde Läufer vor der Kulisse der Oberbaumbrücke abzulichten. Woran die Brücke andere Besucher der Hauptstadt erinnert oder, was sie in ihr sehen, wüsste ich zu gerne. Für mich ist sie die cineastische Berliner Sehenswürdigkeit schlechthin, in kaum einer Doku zur Stadt oder als Kulisse in Spielfilmen fehlend. Am Rande der Fahrbahn für Pkw und Radler erhebt sich ein aus Backsteinen gemauerter Arkadengang, darauf Türmchen, die der Brücke ihre unverwechselbare Silhouette verleihen. Unter den nach allen Seiten offenen Arkaden wechseln Fußgänger - also auch wir Läufer - die Spreeseite, gelangen von Friedrichshain im ehemaligen Osten nach Kreuzberg, im Westteil der Stadt. Über uns, sozusagen im Obergeschoss, rumpeln S-Bahnen von hüben nach drüben. Einen Teil meiner Erinnerungen an diesen Arkadengang finde ich bestätigt: Auch diesmal campieren Obdachlose an geschützter Stelle. Was heute dankenswerterweise nicht meine Nasenschleimhäute beleidigt ist durchdringender Uringestank aus den Ecken des Gemäuers. Liegt’s an den Windverhältnissen? Oder daran, dass ich langsamer laufe und flacher atme als ehedem?

Drüben angekommen biegen wir in die Schlesische Straße ab, eine heruntergekommen wirkende Kreuzberger Amüsiermeile. Wir traben an Szenekneipen vorbei und begegnen Nachtschwärmern. Vor längst geschlossenen Etablissements kauern bisweilen wenig Vertrauen erweckende Gestalten. En passant streifen müde, desinteressierte Blicke unser Defilee, den Vorbeiflug bunt aufgetakelter Paradiesvögel. Was sind das für Leute? fragen sie sich vielleicht. Und, was sind das für Leute? frage ich mich. Frühaufsteher oder noch gar nicht zu Bett gegangen? Betrunken? Stoned? - Hinter der Brücke über den Landwehrkanal folge ich dessen Ufer, jetzt wieder im ehemaligen Osten. Auf dem einstigen Grenzstreifen mit seinen Sperranlagen lädt ein üppig begrünter Park zum Flanieren ein. Rein gar nichts erinnert hier mehr an die Mauer, die das Gefängnis DDR hermetisch abriegelte. Eine Gruppe von English-Native-Speakers (m/w/d) trabt vor mir her. Unvermittelt übermütiges Jauchzen und schon schert eine (britische?) Amazone zur mehrere Meter breiten Wellenrutsche hin aus; erklimmt den kleinen Hügel am Wegrand und rutscht auf dem Hosenboden mit hörbarem Vergnügen „downhill“. Verrücktes Volk, denke ich nur, und: für derlei Faxen wird euch in Bälde die Kraft ausgehen. Wetten dass?

Vor vier Jahren war ich hier in den frühen Morgenstunden auf Gegenkurs unterwegs. In der Nacht wirkte die stockfinstere Parkzone bedrohlich. Was man mir erzählte, dass hier massenhaft Drogen verkauft und konsumiert werden, glaubte ich unbesehen. Jetzt, am lichten Morgen, ist hier rein gar nix unheimlich. Spaziergänger mit und ohne Kinderwagen sind unterwegs, Gassigeher, Frühsportler - bürgerlich spießiger, zugleich friedvoller kann eine Szene nicht sein. Vom Park zurück ins Gewirr Berliner Straßen, in denen nichts Augenfälliges mehr an die 28 Jahre währende Einmauerung erinnert. Nur, weil mein Blick meist gesenkt bleibt, um nicht zu stolpern, bemerke ich die im Asphalt eingelassenen Pflastersteine. In Doppelreihe folgen sie dem ehemaligen Verlauf der Mauer …

Ich verlasse das Wohnquartier und trabe entlang einer Allee mit jungen (!) Bäumen mehr als einen Kilometer geradeaus. In Höhe des Denkmals für die Maueropfer im Bezirk Treptow biege ich neuerlich in einen Grünstreifen ab, dessen Breite sich mit der ehemaliger Sperranlagen deckt. Noch ein paar hundert Meter, dann nähere ich mich auch schon dem dritten VP.

VP 3 - Dammweg - Km 16,2 - Laufzeit 2:08:38 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 225 (gestartet: 403)

„Ich heiße Klaus. Mir geht es gut!“ - Ich kenne diesen „Klaus“ und sein dem VP-Team gewidmeter Scherz drang vor anderthalb Stunden, am Checkpoint Charlie, schon einmal an mein Ohr. Wir spielen in derselben Liga, Klaus und ich, zumindest was die Altersklasse angeht. In Sachen Marathon- und Ultraerfahrung ist er mir - so verblüffend das für manche klingen mag - mehr als 900 Wettkämpfe voraus.* Wenn er scherzt, geht es ihm wirklich gut, Klaus‘ Pokerface, das er üblicherweise zur Schau stellt, gibt darüber keine Auskunft. In dieser Hinsicht sind wir uns ebenbürtig. Auch ich fühle mich erstaunlich wohl, spüre rein gar nichts von den zwei mit Laufen verbrachten Stunden. Und auch bei mir bleiben jene 17 Muskeln reglos, die ein Lächeln ins Gesicht zaubern könnten. „Danke!“ kommt mir aber leicht über die Lippen. Und mit Dank spare ich nicht, spreche ihn nach jedem Befüllen der Flasche, des Bechers und beim Aufbruch zum Abschied aus. Also gut und gerne vier-, fünfmal an jedem Stand.

*) Stand Halbjahresstatistik 2023 des 100 Marathon Clubs hat Klaus Neumann 1.260 Marathons und Ultras erfolgreich absolviert.

Weiter im einstigen Todes- jetzt Grünstreifen, diesmal sogar unweit eines sumpfigen, von einem grünen Teppich aus Wasserlinsen bedeckten Wassergrabens. Vier Italiener, je zweimal „w“ und „m“ überholen mich. Als ich kurz stehenbleibe, um den Sumpf im Bild einzufangen, trabt auch Klaus vorbei. „Gib‘ alles Udo!“ - grüßt er herüber und ich versteige mich zu einem „Wie immer, Klaus!“ Mehr Konversation braucht es zwischen abgebrühten, überdies mundfaulen Laufopas auf Hyperultrakurs nicht. Das zeitweilig dichte Grün gibt mich unweit des „Britzer Verbindungskanals“, an dessen Ufer sich der Mauerweg fortsetzt, für ein paar Minuten frei. All diese Abschnitte des Mauerwegs könnte ich aus dem Gedächtnis „herbeten“, so vertraut sind sie mir. Lediglich ihre jeweilige Länge unterschätze ich regelmäßig und lasse mich auch von Besonderheiten am Wegrand überraschen. Wie jetzt die Gedenkstele für den letzten an den DDR-Grenzanlagen erschossenen Flüchtling Chris Gueffroy. Jedes Maueropfer ist zu beklagen, dem gewaltsamen Tod von Chris Gueffroy wohnt zusätzliche Tragik inne. Ich wünschte, er hätte seine Flucht ein paar Monate verschoben und sich der einsetzenden Massenflucht über Ungarn angeschlossen - so wie die Frau, mit der ich verheiratet bin …

Ein paar hundert Meter weiter dann die Kanalkreuzung: Der Britzer Verbindungskanal stößt auf den Teltowkanal, der hier von Süd nach West abknickt. Und von Norden her mündet der Landwehrkanal ein. Ich trabe unter der Autobahnbrücke der A113 hindurch und biege südwärts ab, halte bis auf weiteres Kurs am Kanalufer … Messtechnisch absolut betrachtet ist der nun zu überstehende, nahezu geradlinige Abschnitt immer gleich lang, fast sechs Kilometer … Im Kopf macht jedoch die Laufrichtung der 100 Meilen einen gewaltigen Unterschied! Jetzt, nach nur 20 gelaufenen Kilometern, bin ich guten Mutes, die Schritte gehen mir leicht vom Fuß. 2019 in Gegenrichtung und weit nach Mitternacht, mit bald 140 km in den Beinen, war das dramatisch anders. Sechs Kilometer fühlten sich an wie sechzig … Bloß nicht dran denken, immerhin droht mir in der kommenden Nacht Ähnliches, dann im Berliner Norden. Zügig voran zwischen Kanalufer und Lärmschutzwand der Autobahn, unter idealen Laufbedingungen: feiner Asphalt unter den Füßen, noch einigermaßen frische Haxen, windstill, angenehm warm. Optimismus flutet meinen Kopf, der die Pace stimulieren könnte. Sicherheitshalber und zum x-ten Mal kontrolliere ich mein Lauftempo: knapp unterhalb von 7 min/km. Passt soweit.

Sollte ich wirklich heute zum letzten Mal hier vorbeilaufen? Von momentaner Leichtigkeit eingelullt will ich die sich abzeichnende Konsequenz - nie wieder Strecken jenseits der hundert Kilometer! - nicht wahrhaben. Und doch ist meine Laufwelt dieser Tage eine andere als noch im November letzten Jahres, als ich mich zu den 100 Meilen anmeldete. Da spürte ich Rückenwind: endlich keine Medikamente mehr, die meine Leistung blockieren. Im Oktober in Graz gelang mir ein schneller Marathon. Damit einher ging die Gewissheit, dass ich mit dem Mauerweg „noch nicht durch bin“. Den Eindruck nahm ich letzten August von der Strecke mit, als ich einen anderen Läufer über den Tag hinweg unterstützte. Dazu kommt: Die 100 Meilen Berlin sind nicht irgendeine Strecke für mich. Hier bestritt ich meinen besten Wettkampf „ever“ und hier begleitet mich deutsche, auch persönliche Geschichte auf Schritt und Tritt …

Dann widerfuhr mir die Sache im „Kreuz“, drei Monate lang barbarische Schmerzen. Über den Jahreswechsel hinweg zusätzlich eine rätselhafte Viruserkrankung (mutmaßlich nicht Corona). Wochenlange Agonie, zeitweise Bettlägerigkeit, keine Kraft, kein Training. Seither reagiert mein Körper nicht mehr wie gewohnt auf Trainingsreize. Baut Ausdauer sehr zögerlich auf und widersetzt sich dem Versuch den Bewegungsapparat über sukzessiv gesteigertes Training abzuhärten. Nicht übertrieben: Noch vor einiger Zeit konnte ich ein Finish wie bei den 100 Meilen Berlin „planen“. In kurzen Intervallen gelaufene Vorbereitungswettkämpfe, von Mal zu Mal länger, darin wechselnde Bedingungen - Untergrund, Profil, Klima -, führte mich mit hoher Wahrscheinlichkeit zum ersehnten hyperlangen Finish. Das gelingt so nun nicht mehr, entsprechend angespannt bestritt ich die bisherige Saison. Absolvierte bereits zwanzig Wettkämpfe seit Anfang März - eine Zahl, die vor allem meine Verunsicherung und aufkommende Verzweiflung verdeutlicht. Quo vadis, Udo? - Es wird sich heute entscheiden. Nein: ich werde heute zu einer Entscheidung finden!

Lange geradeaus, sehr, sehr lange. Manche werden den Abschnitt hassen. Denke ich bei mir und trabe vor mich hin. Seltsamerweise mag ich diese weitgehend reiz- und ereignislosen Kilometer. Wieso? - Wenn ich das nur wüsste. Vielleicht, weil sie unschwierig zu laufen sind und ich noch im Vollbesitz meiner Kräfte (wozu der zeitgenau halbstündliche „Gel-Genuss“ einen nicht unmaßgeblichen Beitrag leistet). Wie wohl das italienische Quartett diese „autostrada“ empfindet? Ich verkürze den Abstand, überhole die Gruppe Minuten später. Blick zur Uhr: Nicht so toll, jetzt bin ich einen Tick zu schnell unterwegs …

VP 4 - Johannistaler Chaussee - Km 21,9 - Laufzeit 2:51:13 Std.

Platzierung Einzelläufer, Herren: 217

Wasser und Erdnüsse, dann rasch wieder aufbrechen. Ich verbringe weitere 20 Minuten zwischen Kanal und Autobahn, bis letztere stückweit voraus auf gigantischer Brückenkonstruktion ersteren überquert. Unter der Autobahnbrücke hält mich eine Fußgängerampel auf. Wäre dem nicht so, die auf dem Ampelpfosten pappende Vermisstenanzeige wäre mir entgangen. „Maria Fernanda Sanchez“ ist verschwunden. Vom Anschlag lächelt mir eine schlanke, hübsche Latina in Schwarz-Weiß entgegen. Ich werde der Frau auf dem Mauerweg nicht begegnen. Aber vielleicht ja einer der vielen anderen Menschen irgendwo in Berlin, die das sicher allerorten klebende Plakat studieren - weil eine rote Ampel sie zum Warten verdonnert …

Jenseits der Straße beginnt der Aufstieg, der nach einer Serpentine des Fußwegs auf Autobahnniveau endet. Parallel zur Straße über den Teltowkanal und jenseits wieder runter. Auch diese Teilstrecke des Mauerwegs taugt so recht zum „Kilometerschrubben“. Planer Asphalt und weitgehend flaches Terrain verwöhnen die Beine. Auch das warme Klima kommt mir entgegen, obschon ich mir nun, kurz vor zehn Uhr morgens, häufiger Schweißperlen aus der Stirn wischen muss. Die Sonne drückt mit Macht durch eine dünne Wolkendecke. - Abrupter Themawechsel: Wie werde ich die bloß los? Vom Start weg gelang es mir nicht der nervigen „Labertante“ zu entkommen. Eine Frau, die mit dem Gen „Pausenlos-Quatschen-ohne-Punkt-und-Komma-vorzugsweise-über-Belangloses“ zur Welt kam und ihre Veranlagung auf dem Mauerweg hemmungslos auslebt. Ihr Opfer ist männlich und trägt Orange. Wie hält der das aus? An seiner Stelle hätte ich die Quasselstrippe längst … na ja, ich will niemanden mit martialischen Gedanken erschrecken.

Früher grasten an dieser Stelle, rechts vom Mauerweg, im Landschaftspark Rudow-Altglienicke Wasserbüffel. Die Büffel sind verschwunden, das Wasser, in sumpfiger Niederung mit Teich, gibt es noch. Apropos Wasser: Meins treibt mich kurz danach, einmal mehr in die Büsche. Eindeutiges Indiz, dass ich mehr trinke, als mein Körper aufnehmen kann. Weniger Flüssigkeit ist jedoch keine Option. Ich bin auf die „bereitwillige Mitarbeit“ meines Magens angewiesen, muss also dafür sorgen, dass trotz des in kurzen Intervallen geschluckten Gels da drin nichts klumpt oder sich staut. Abhängig bin ich natürlich auch von Petrus‘ Kooperation. Der hatte in meiner Wetter-App gestern das Versprechen erträglicher Temperaturen und des Ausbleibens von Niederschlägen gepostet. Schaue ich voraus gen Westen, scheint sich ein Wortbruch anzubahnen. Dort ballt sich blaugrau „etwas“ zusammen. Schwül genug für ein Gewitter wär’s allemal. Mit mulmigem Gefühl überdenke ich meine Unterlassung: Leider entschied ich die Schirmkappe nicht mitzunehmen. Ich sinne auf Abhilfe: Sollten die Brillengläser nass werden, hätte ich zunächst eine Packung Taschentücher im Laufrucksack parat, um für klare Sicht zu sorgen. Und beim ersten Treffen mit Ines werde ich das „Anti-Regen-Accessoire“ anfordern.

VP 5 - Imbiss „Am Ziel“ - Km 28,5 - Laufzeit 3:44:52 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 220

Jetzt schon? - ein bisschen überrascht halte ich entlang einer Schatten spendenden Buschgruppe auf den nächsten VP zu. Und zu diesem Zeitpunkt noch überraschender: mein Dreier-Betreuungsteam „Ines-Steffi-Roxi“ wartet auf mich. Meine Frau Ines traf sich mit ihrer Schwester Steffi, die übers Wochenende bei einem Freund nächtigt und eigens zum 4. Mauerweglauf ihres Schwagers anreiste. Da fühle ich mich schon ein wenig geschmeichelt, was meiner Stimmung das i-Tüpfelchen aufsetzt. Nach herzlicher Begrüßung das „Geschäftliche“: Mein Gelvorrat ist zwar noch nicht erschöpft, dennoch stopft mir Ines die Rucksacktaschen mit weiteren Päckchen voll. Motto: Man kann nie wissen!

Die alte Hundefrau Roxi, vierbeinige Marathon- und Ultra-Laufbegleiterin früherer Tage, lässt sich streicheln und mampft zufrieden ein Stückchen Waffel, das ich ihr vom Läuferbüffet spendiere. Ihr Blick spricht Bände: „Brauchst du das wirklich nochmal alter Mann? 160 Kilometer rund um Berlin? Bei der Schwüle? Nix für mich!“ In Hundeaugen interpretieren Menschen vieles hinein, von dem vermutlich wenig tatsächlich in ihrem Gemüt widerhallt. - Ines will wissen wie ich mich fühle. Ohne Zögern und Schönreden aber vorsorglich relativierend antworte ich: „Bis jetzt noch gut!“ - Bis jetzt, da ich weiß wie rasch die Waage kippen kann … Mit dem letzten vollen Becher in der Hand verabschiede ich mich, stiefele davon, trinke zügig aus und trabe wieder los.

Ich bin in meinem Element. Ich laufe. Noch einigermaßen sorglos und unbedrängt. Wieso also nie wieder 100 Meilen? Die mentale und körperliche „Verspannung“ der letzten Monate kommt mir gerade ziemlich surreal vor. Die Beine trommeln einen stabilen Rhythmus auf den Asphalt und Beschwerden sind bis auf weiteres eine wahrscheinliche aber weit entfernte Möglichkeit. Es geht doch! Oder etwa nicht? Mit „hinten raus“ mehr Gel und weniger Tempo wird es gelingen. Die letzten beiden Male 2018 und 2019 kroch ich doch auch auf dem Zahnfleisch ins Ziel. He! das ist doch völlig normal auf so einer Distanz! - Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal erwische ich mich bei Verharmlosungen dieser Art.

Ländlich idyllisch präsentiert sich der nächste Kilometer: Koppeln mit Pferden und Ziegen säumen den Weg. Reichlich flaches Grasland und Felder zwischen Siedlungen in Brandenburg und dem Berliner Stadtrand. Kurz danach halte ich auf den Aussichtshügel „Dörferblick“ zu. Seit den 1950er Jahren Schuttberg und Müllkippe, inzwischen begrünt und ein „Must-see“ am Mauerweg. Vors Panorama, der Aussicht über Brandenburger Dörfer und nordwärts über Berlin, hat der Streckenplaner allerdings etwa 50 Höhenmeter gerückt. 2018 eroberten wir den Hügel über einen „Steilanstieg“ mit eingelassenen Treppenstufen. An dem führt mich die Markierung vorbei und ein halb beglücktes, halb enttäuschtes „also-doch-nicht-rauf-heute“ huscht durchs Oberstübchen. Ein paar Schritte weiter dann die Erkenntnis: Man hat sich lediglich für den weniger anspruchsvollen, dafür etwa 1.000 Meter langen Weg zum „Gipfel“ entschieden. In Form einer Spirale mit nur einer Windung arbeite ich mich aufwärts, horche dabei in mich rein … natürlich spüre ich den Anstieg nach 32 Kilometern, stoße jedoch nicht an Grenzen.

Für die Aussicht nordwärts, Richtung Berliner City, würde ich niemanden hier rauf schicken. Vielleicht lassen sich bei klarer Sicht mehr interessante Details ausmachen, heute ist die von Wohntürmen unterschiedlicher Höhe beherrschte Skyline schlichtweg unattraktiv. Südwärts blickend drängt sich der Vorschlag auf, den „Dörferblick“ in „BER-Blick“ umzutaufen. Unweit des Aussichtshügels erstreckt sich das ausgedehnte Gelände des Flughafens Berlin-Brandenburg (Kürzel: BER). Gleich mehrere Erinnerungen rivalisieren hier oben um Bedenk-Zeit. Die Älteste stammt aus dem Jahr 2012, als Ines und ich unsere Nordamerika-Reise planten; zunächst nach New York zum Marathon (der nach Sturmschäden bekanntlich abgesagt wurde), danach weiter in den Westen der USA. Unsere Tickets waren auf November 2012 und den Flughafen „BER“ ausgestellt. Wie heißt es in Wikipedia bedeutungsschwanger?: „Durch die Fehlplanungen und die explodierenden Kosten, […] wurde dieses Bauprojekt zum Sinnbild eines außer Kontrolle geratenen staatlichen Großprojektes.“ Erst 2020, mit unfassbaren neun Jahren Verspätung, konnte der Flughafen eröffnet werden. Weiter oben kommentierte ich das Geschehen bereits: Wenig ist wirklich gut in diesem Land und nichts perfekt.

Zwei Anekdoten zum Schmunzeln stammen vom Mauerweglauf 2018. Wir, mein Berliner Laufbegleiter Mike und ich, trafen hier oben den Österreicher Ernst, den ich von vielen heimatnäheren Läufen her kannte. Die zum Gel-und-Wasser-Support aufgestiegene Ines lichtete uns vor einem der Sitzsteine ab, wobei sich Ernst kurzentschlossen und feixend zwischen uns drängte. Noch eine schöne Begebenheit: Roxi war natürlich auch dabei und durfte mich hügelab und ein paar Kilometer weiter bis zur nächsten Rast begleiten. Geht nun leider nicht mehr: Selbst wenn die 16jährige Hundedame noch so weit laufen könnte, ich dürfte sie nicht mehr mitnehmen. Inzwischen untersagt das Reglement Hundebegleitung. - Über abwechselnd Wege mit Gefälle und Treppen springt Roxi quicklebendig vor mir her, freut sich ihres Hundelebens - endlich mitlaufen dürfen! Diesmal ist sie nicht mit von der Partie, in Gedanken jedoch immer noch bei mir. Eine innere Verbindung, die nie abreißen wird, besonders präsent auf Strecken, die ich mit Roxi gemeinsam bestritt … Nachempfinden kann das allenfalls, wer selbst einen an seiner Seite hat, wahrscheinlich davon auch nur jene, die mit ihrem Vierbeiner sportlich aktiv unterwegs sind.

Ich trete weitere vier Kilometer asphaltierten, beidseits begrünten Mauerwegs mit Füßen. Einzige, leider traurige Abwechslung im Einerlei der Büsche und Bäume bildet eine der orangefarbenen Stelen, die an Maueropfer erinnern. Und noch etwas sollte ich anmerken: Auf diesen ansonsten ereignislosen Kilometern 32 bis 36 sendet mein Körper erstmals Signale von „Anstrengtsein“. Unaufdringlich, nicht im Mindesten einschränkend, doch zweifelsfrei ein Hinweis auf später zu erwartende … Schwierigkeiten.

VP 6 - Buckow - Km 35,9 - Laufzeit 4:48:41 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 210

Beim Boxenstopp am VP6 erwarten mich keine Boxenluder - bin nur Ultraläufer, kein Formel-1-Pilot. Mich unterstützen Schwägerin Steffi, Ehefrau Ines und Ex-Laufbegleiterin Roxi. Während „Oma Roxi“ meiner Ankunft eher gelangweilt bis verhalten schwanzwedelnd entgegenblickt, wird mir von aufbauendem Schwesterlächeln untermalter Support zuteil. Flugs stopft Ines noch ein paar Gels in den Rucksack und verstaut die angeforderte Schildkappe griffbereit im hinteren Rucksackfach. Es drängt mich zum raschen Aufbruch. Wenn ich es recht bedenke, ein aussagekräftiges Indiz für zu diesem Zeitpunkt noch voll intaktes Laufvermögen. Erst später (ich hoffe inständig: sehr viel (!) später) werden sich Verweildauern infolge Ermüdung in die Länge ziehen …

Die ersten beiden Kilometer der nächsten Etappe erheben keinerlei Anspruch, sind weder optisch reizvoll noch lauftechnisch herausfordernd. Wie gehabt bestes Geläuf. Urplötzlich das genaue Gegenteil davon. In schmaler von Dickicht beschirmter Pfadspur lauern nun Hindernisse, nahezu unsichtbar; vor allem Wurzeln aber auch andere Stolperkanten. Augenblicklich schalte ich auf „Schleichfahrt“ zurück und verbiete den Augen sich vom Boden zu lösen. Der Mauerweg zeigt mir nun als Mauertrail die Zähne. Knapp zwei Kilometer weit, die mir aber um ein Vielfaches länger vorkommen …

Erinnerungen stellen sich ein. Auf dem Mauertrail 2019 in umgekehrter Richtung unterwegs, kurz nach Einbruch der Dunkelheit: Wie ein Besoffener stolperte ich durch dieses Gehölz. Purer Zufall oder glückliche Fügung? Jedenfalls schlug ich nicht hin, obschon zu jenem Zeitpunkt schon todmüde. Ich wetzte hinter meinem Laufpartner Mike her und schimpfte wie ein Rohrspatz. - Heute im Taghellen ist die Aufgabe um Potenzen einfacher zu lösen. Trotzdem läuft das Sturzrisiko mit. Dichte Belaubung an Büschen und Bäumen lässt stellenweise nur Dämmerlicht zu, außerdem heben sich die Fußangeln farblich nicht vom Boden ab. Meist erkenne ich ihre Konturen, manchmal nicht mal das. Adrenaliner Schrecken jagt wie ein Stromschlag durchs Fleisch … ein Ausfallschritt rettet mich. Trotz eindringlicher Ermahnung von mir an mich - Pass bloß auf! -, strauchele ich ein paar Schritte weiter erneut. Verdammt, verdammt, verdammt! „Sch…weg“! schimpfe ich - mindestens halblaut. Ändert nichts am Geläuf, lässt aber Dampf ab. Die Zehe, mit der ich gegen das Hindernis knallte, funkt schmerzhaft SOS, beruhigt sich gottlob rasch wieder. Fast eine Viertelstunde totale Konzentration, dann ist es geschafft. Mauertrail Ende.

Ins Berliner Wohnquartier Lichtenrade biege ich ab, weil die Pfeile es so wollen. Somit verlasse ich den eigentlichen Mauerweg, tausche ihn gegen das Trottoir der ehemals Westberliner Siedlung ein. Welchen Zweck der Streckenplaner mit der Abkürzung verfolgt, weiß ich nicht. Vielleicht lauert am Rand von Lichtenrade noch mehr „Trail“, den man den Läufern nicht zumuten will. Doch auch die Abkürzung hat es in sich. An der Peripherie im ehemaligen Westberlin blieben viele Bürgersteige im Originalzustand erhalten. Und wo anstelle kleinteiligen Pflasters etwas „modernere“ Platten verlegt wurden, sorgten mit der Zeit Aufwölbungen erst recht für Stolperkanten. Woher ich das so genau weiß? - 2018 setzte ich auf diesem Trottoir zum Tiefflug an. Die Landung war hart und schmerzhaft, schlug Wunden an Knien und Ellbogen. Ich bin also gewarnt, bleibe wachsam. Wo er mir zu holprig erscheint, wechsele ich vom Bürgersteig auf die Straße …

Ein Radler kommt nebenan auf der Straße längsseits. Vom Sturzrisiko eingeschüchtert wage ich keinen Seitenblick - bis er mich anspricht: „Hallo Udo! Wie geht’s dir?“ - Von vertrauter Stimme alarmiert schaue ich rüber. „Mike!? Du läufst nicht mit???“ - Die zweifelsohne törichte Frage ist Ausdruck meiner Verblüffung. Dass der Berliner Mike, 2018 und 2019 mein Laufkumpan, einen Mauerweglauf verpasst, verorte ich nahe an unmöglich. „Brauchst du was?“ fragt er. „Gel oder Wasser?“ Mit Hinweis auf mein Unterstützerteam lehne ich dankend ab. Und so radelt Mike alsbald seiner Wege. Von seinem „Erscheinen“ verwirrt versäumte ich nachzufragen, also schlussfolgere ich das Nächstliegende: Wahrscheinlich ist er verletzt. Und unterstelle: Wenn Mitlaufen nicht möglich ist, dann will er wenigstens auf dem Rad dabei sein …

VP 7 - Ninas Eltern - Km 43,3 - Laufzeit 5:51:22 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 209

Zum dritten Mal laufe ich meinem Helfertrio in die Arme und Pfoten. Zum Glück fragt Ines diesmal nicht, wie ich mich fühle. Lügen würde ich nicht wollen und die Wahrheit behalte ich lieber für mich: Erst ein Viertel der Strecke liegt hinter mir und schon zieht es im unteren Rücken und in der Gesäßmuskulatur. Meine Ausdauer ist dagegen ungebrochen, dank Gel und konsequent niedrigem Tempo.

Bevor ich aufbreche packt Ines meine Rucksacktaschen mit Gel voll. Unser nächstes Rendezvous plant sie erst in Potsdam-Babelsberg. Ich werde an drei VP, rund 25 km weit, mit meinem Kohlenhydratvorrat auskommen müssen. Es folgen: Endlose Geraden. Ich kenne jeden der langen Abschnitte, wiedererkenne da und dort charakteristische Wegmarken. Verloren ging allerdings die Vorstellung von der Weite dazwischen. Es fühlt sich an, als käme ich nicht vom Fleck und gelegentliche Blicke zum GPS-Kilometerzähler scheinen diesen Eindruck zu untermauern …

Mancherorts, wo der geradlinige Verlauf des Mauerwegs mehrere hundert Meter Sichtweite erlaubt, rücken etliche meiner Mitläufer ins Sichtfeld. So viele dicht vor mir? Die perspektivisch verdichtete Wahrnehmung des „Rudels“ vor mir verfestigt die (spätere Laufstatistik wird zeigen: irrige) Vorstellung als einer der Letzten dem Feld hinterher zu trödeln. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde. Ich kann ohnehin nichts an meiner Platzierung ändern. Das Limit gibt wie eh und je die mir mögliche „Schlagzahl“ - Schrittfrequenz mal Schrittweite - vor. Das war schon immer so, nur musste ich die Schlagzahl in den letzten Jahren stetig nach unten korrigieren. Zuversicht - aber nur ein klitzekleines bisschen - schöpfe ich aus der Verfassung derer, die ich dann und wann überhole. Manche mehrfach, weil sie schon in dieser „Frühphase“ der Veranstaltung zwischen Laufen und Gehen wechseln. Was der eine oder andere da vollführt, sieht um keinen Deut besser aus als ich mich fühle, im Gegenteil. Und glüht nicht in jedem von ihnen berechtigte Hoffnung die Megarunde bis zu einem guten Ende durchzustehen?

VP 8 - Osdorfer Straße - Km 49,6 - Laufzeit 6:43:30 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 203

Kein „Dreamteam-Empfang“ diesmal, dafür geben die Helfer am Büffet wirklich alles, um die herbei tröpfelnden Hundert-Meiler individuell (!) zufriedenzustellen. Man solle sich zu keiner Unhöflichkeit, gar Beleidigung der Helfer versteigen, droht bei solchem Benehmen sogar die Disqualifikation an. Unhöflich? Beleidigend? Es kommt mir abwegig vor, Menschen, die sich uneigennützig in meinen, in den Dienst der Sache stellen, anders als dankbar und freundlich zu begegnen. Wenn aber dezidiert zum Unterlassen schroffen Verhaltens aufgefordert wird, dann muss doch das Fass vordem schon mal übergelaufen sein!?

Weiter nach kurzem Stopp, weiter auf der Mauerweg-Autobahn. Danke für den flachen, asphaltierten, meine Schritte erleichternden Weg! In dieser Phase (Km 50+) umso wichtiger, als ich mir anschwellende Symptome von Abnutzung nun nicht mehr schönreden kann. Mein Einsatz - physisch und psychisch - hat sich spürbar erhöht. Genau genommen eigentlich nur mental, der Energiefluss zum unablässigen Setzen von Schritten blieb mit der Laufgeschwindigkeit konstant. Noch gelingt es mir das Tempo zu halten - belegen gelegentliche Blicke zum GPS-Tacho am Handgelenk. Die Frage ist jedoch: Wie lange noch?

Eine Begebenheit kommt mir in den Sinn, die sich bei meinem ersten Mauerweglauf unweit von hier ereignete. Zu Beginn, in Kreuzberg, war ich mit der späteren Siegerin der Damenkonkurrenz, Grit Seidel, unterwegs. Danach verloren wir uns mehrfach aus den Augen. Doch auf diesem Streckenteil, nach etwas mehr als 50 Kilometern, joggten wir wieder mal nebeneinander her. Mit der Bemerkung „So langsam spüre ich die Kilometer in den Beinen!“ wandte ich mich an die zeitweilige Laufpartnerin. Die Frau mit erheblich mehr Erfahrung auf überlangen Strecken hob hervor, dass das doch völlig normal sei. Und wie „normal“ ist heute, was ich spüre? - Natürlich kann ich meine damaligen Körperreaktionen nicht wiederbeleben, meine Verfassung folglich nicht mit der brandaktuellen vergleichen. Immerhin - und das stärkt mein Selbstvertrauen - spürte ich in dieser Wettkampfphase auch damals schon Verschleiß. Das ist neun Jahre her. Ich war in Topform und durfte auf dem Mauerweg meine läuferische Sternstunde erleben. Ich mag davor und danach sportlich bedeutendere Erfolge errungen erhaben, doch „besser drauf“ war ich nie. Erreichte sogar früher als Grit, die Damensiegerin, das Ziel und brauchte dafür nur 17:19 Stunden.

90-Grad-Rechtskurve: Ich passiere die ersten von 1.100 Bäumen der TV-Asahi-Kirschblütenallee.* Jetzt im August lediglich eine Doppelreihe grüner, vergleichsweise unauffälliger Bäume. Wie ehedem stellt sich der Wunsch ein die Allee im Frühling zu erleben, üppig rosa blühend, so wie ich sie von spektakulären Fotos kenne. Bahnlinie und Unterführung unterbrechen die Allee, jenseits der Barriere setzt sich das Geschenk eines japanischen Fernsehsenders aus den 1990er-Jahren fort.

*) Finanziert wurde die Pflanzung von insgesamt ca. 10.000 Kirschbäumen in ganz Berlin vom japanischen Fernsehsender TV-Asahi, der Geld im Rahmen eines Spendenaufrufes sammelte. Hier zwei Videos zur blühenden Kirschblütenallee: (1) (2)

„Cola, Wasser, Apfel, Banane, Bier! - Cola, Wasser, Apfel, Banane, Bier! …“ Unüberhörbar aus zwei weiblichen Kehlen schallt mir die Offerte entgegen. Zur Untermalung ihres Sprechgesangs schlagen die beiden Frauen luftgefüllte Bälge rhythmisch gegeneinander, hüpfen dazu auf der Stelle. Was für eine Energieleistung! Kann man - pardon: frau! - das zwei bis drei Stunden, vom ersten bis zum letzten vorbeilaufenden Athleten, durchhalten? Eine Hinweistafel wenige Meter vorm Labsal spendenden Büffet entwirrt meine verwirrten Gedanken: Kein offizieller Verpflegungspunkt. Trotzdem werden viele die Zwischendurchverpflegung dankbar begrüßen. Mit noch halbvoller Trinkflasche entscheide ich mich dagegen. Ein weiterer Halt brächte keinen Mehrwert, bräche aber meinen Laufrhythmus.

Also weiter, wenig später am Ufer des Teltow Kanals entlang. Von dessen Existenz ich lediglich weiß, der hinter undurchdringlichem Dschungel jedoch unsichtbar bleibt. Ich kenne den Abschnitt des Mauerwegs, wie sehr er sich in die Länge zieht überrascht aber doch … Auf den markanten Buckel muss ich entsprechend lange warten: Steilanstieg - steil ist nicht übertrieben - gottlob aber nur auf 30 Meter Weglänge. Jenseits hinab, voran und endlich nähere ich mich der bekannten Kanalbrücke. Erneut eine Stelle, an der sich die Route vom Mauerweg abwendet - diesmal aus logistischen Gründen. Entlang einer Straße, etwas abseits aber parallel zum Kanal, erarbeite ich mir den Kilometer bis zur Versorgung am Sportplatz Teltow. Das mit dem „Erarbeiten“ ist wörtlich zu verstehen und fällt mir nach gut 55 Kilometern alles andere als leicht.

VP 9 - Sportplatz Teltow - Km 56,1 - Laufzeit 7:39:24 Stunden

Platz, Herren: 189 - DNF (Abbrecher) bis zu diesem VP: 27

„Sportplatz Teltow“ ist Verpflegungs- und Wechselpunkt für die Staffeln zugleich. Das erklärt das Gewusel von Läufern, Radbegleitern, Helfern und Zuschauern, in das ich vor der Sporthalle eintauche. Offiziell gemeldete Radbegleiter dürfen ab hier ihren Läufer betreuen. Ich suche zunächst die Toilette auf. Nicht zum Ent- sondern zum Besorgen: Gesicht und Arme waschen. Ein bisschen Erleichterung, ein Hauch von Komfort. Anschließend die übliche „Revitalisierungsprozedur“ am Büffet. Alsbald, mit einem Becher Bier in der Hand, breche ich auf, wandere ankommenden Mitläufern entgegen; zurück zur Straße, die ich - auf Überleben bedacht - im beschleunigten Laufschritt überquere. Wozu bremsen? Die Straße gehört den Autofahrern. Also mir! Guck mal wie er wetzt, wie ein aufgescheuchtes Huhn! Ist das nicht lustig?

Vorbei an der Teltower Marina, wo diverse Freizeitboote vertäut liegen und Menschen in dicht besetztem Gastgarten den frühen Nachmittag genießen. Kurz nur der Impuls des Bedauerns, bei der Freizeitgestaltung einen anderen Weg, als den des süßen Müßiggangs gewählt zu haben. Am Kanalufer Richtung Osten, zurück zur Brücke, drüber weg und unmittelbar dahinter am Berliner Kanalufer westwärts weiter … Der hier ausgesprochen schlechte, brüchige Asphalt dirigiert den um seine Sicherheit besorgten Läufer in die Wegmitte. Ein paarmal bimmelt’s leise hinter mir … nach fast acht Laufstunden kein Geräusch, das meine Ohr-Hirnschranke überwinden könnte. Und selbst wenn: Ich halte Kurs und der Weg ist breit genug. Das scheint der wütende Pedalritter (die tatsächlich für den Herrn gedachte Bezeichnung ist nicht druckreif) aber nicht einzusehen. Teils unverständliche Schmähungen ausstoßend - darin Unterstellungen zum nicht einwandfrei funktionierenden Gehör - zischt er vorbei. War ich der Stein des Anstoßes? Ein Mitläufer wendet sich mir schulterzuckend zu, kommentiert lakonisch: „Typen gibt’s!?“

Es dauerte heute länger bis sich Beschwerden einstellten, doch nun plagen sie mich. Hinlänglich bekannte Störenfriede: Ziehen im LWS-Bereich und verhärtete Gesäßmuskulatur. Die übrigen „Aggregate im Maschinenraum“ geben sich dagegen neutral. Die Aussicht diesem schmerz-konzertanten Duo, in das womöglich bald andere einstimmen, nun bis Ultimo, bis zum fernen, ungewissen Finish, lauschen zu müssen, schiebt Tagträumereien einen Riegel vor. Transformiert das bisher naive „Schau an: Es geht doch!“ in: „Es geht zwar, tut aber weh.“ Ersatzweise bemühe ich die Hoffnung, dass mein Körper die Daumenschrauben nun nicht sukzessive anzieht …

Wieder fiele es mir leicht, die nächsten Streckenteile in korrekter Reihenfolge aufzuzählen: Dass sich der Weg vom Kanal abwendet, ein Gewerbegebiet durchquert, später ein Sumpfgebiet touchiert, sich schließlich inmitten Berliner Wohngebiete fortsetzt. Kein Echo hallt in meinem Kopf dagegen wider, was die schiere Länge dieser Abschnitte angeht. Sechs überlange, ansonsten ereignislose Kilometer bis zur nächsten „Tränke“.

VP 10 - Königsweg - Km 62,3 - Laufzeit 8:29:13 Stunden

Platz Einzelläufer, Herren: 178 - DNF bis zu diesem VP: 30

Ich versuche die Pause am Büffet kurz zu halten. Betanke Flasche und Bauch, greife abschließend zum nassen Schwamm, um salzige Verkrustungen von Stirn und Hals zu waschen. Danke und ab, nun mehrere Kilometer schnurgeradeaus im Forst. Wald und Bodenwellen schränken die Sichtweite ein. So bleibt dieser Teil der Route „mental erträglich“, auch wenn ich nun eine Dreiviertelstunde ohne relevante Richtungsänderung einher trabe. Kaum aufgebrochen überfallen mich schmerzhafte Erinnerungsbilder, mahnen zur Vorsicht. Stückweit noch Asphalt, dann wandelt sich der Weg zur Schotterpiste. Kurz hinter der Übergangsstelle, 2019 in Gegenrichtung laufend, blieb ich an einem Stein hängen und schlug der Länge nach hin. Blutende, verdreckte Schürfwunden an Knien, Ellbogen und Händen wusch ich notdürftig mit Wasser aus, das mir der Begleitradler eines ausländischen Teilnehmers spendierte. Müde nach demnächst 100 km Mauerweg war ich geschockt und vor allem sauer auf mich selbst: Nur ein paar Meter noch achtsam voran und ich wäre auf himmlisch glattem Asphalt in Sicherheit gewesen.

Dergleichen soll mir heute nicht passieren! Diverse Steine bitten mit höhnischem Grinsen zum Tanz - ich hebe meine Füße bewusst an und zeige ihnen den Mittelfinger. Trotzdem zügig voran. - Zeit das „zügig“ mal wieder per GPS-Tacho zu checken. Unzuverlässig die Anzeige unter Bäumen, drum schaue ich mehrmals hin. Die Tendenz belegt, dass mein Lauftempo noch immer um die 7 min/km pendelt. Nach einer Weile vernehme ich das lauter werdende Rauschen vorbeibrausender Autos. Mit Blick zum ehemaligen DDR-Grenzübergang „Dreilinden“ überquere ich die A115, die Verbindung des südlichen Berliner Rings (A10) mit dem Stadtgebiet am Funkturm.

Ich tauche wieder im Wald unter und trabe guten Mutes voran. Mein „Mut“ ist tatsächlich ungebrochen, wenngleich noch immer mehr als 90 km vor mir liegen. Neun Stunden bin ich jetzt unterwegs. Stoisch vor mich hin zu tippeln ist mit Mühe verbunden. Dennoch verspüre ich keine innere Entwicklung, die mich in absehbarer Zeit „abschießen“ könnte. Mit je einem „Extragel“ trachte ich in dieser und der nächsten Stunde dem Kräfteverfall entgegenzuwirken. Sollte sich mein „Müheempfinden“ auf gegenwärtigem Level verfestigen, werde ich wie vorgesehen auf 20-min-Intervalle für die Gels verkürzen …

Verdammt! - An einer Wegkreuzung schießt ein Radfahrer von links kommend heran, rücksichtslos vorbei, verfehlt mich um Haaresbreite. Und das auch nur, weil ich auf der Hut war und gerade noch rechtzeitig zum Stehen kam. „Mal wieder typisch! Mit’m Handy in der Hand Radfahren!“ kommentiert ein Mitläufer kopfschüttelnd den Vorfall. Was für ein Idiot! denke ich nur, heilfroh die Karambolage vermieden zu haben …

Vielleicht Zufall, vielleicht aber auch symptomatisch für immerhin schon zurückgelegte 65 km und die Schwüle auch hier im Wald: Deutlich mehr Läufer als bislang bewegen sich vor mir durch den Wald. Einige traben, viele gehen aber auch. Im entgegen kommenden Radler erkenne ich Mike, der mich vor Stunden überholte und nun offenbar auf dem Heimweg ist. Ob ich Gel brauche fragt er, was ich in Erwartung baldigen Nachschubs am nächsten VP verneine. Wasser könne er mir leider keins mehr anbieten, das hätte er schon an durstige Läufer vor mir verschenkt. „Warum läufst du nicht mit?“ - Der Umstand ist so außergewöhnlich, dass ich mit der Frage nicht hinterm Berg halten kann. Verletzungspech ist nicht die Ursache, wäre aber, gemessen am tatsächlichen Grund, den er mir verrät, das kleinere Übel. Wie ich Mike kenne, sieht er das genauso.

Ein paar Minuten bleibt meine Stimmung getrübt. Auf langer, unablässig fordernder Strecke richtet sich der Fokus jedoch rasch wieder auf elementar Notwendiges: Sich körperlich und mental bei Laune halten. Wobei Letzteres einen abrupten, überaus erfreulichen Schub erfährt. Freunde aus Augsburg, Silvia und Volker, stehen mitten im Wald rechts und links der Strecke, winken mir zu, applaudieren. Zufällig fiel ihr Berlin-Potsdam-Kurzurlaub mit den 100 Meilen zusammen. Also ließen sie es sich nicht nehmen mir entgegen zu radeln und mich anzufeuern. Ines schickte ihnen den Link meines „Live-Standortes“, den Google-Maps von meinem Rücken aus laufend in den Cyber-Äther pustet … Großes Hallo und kurze Pause. Was für ein Aufwand, um mir hier „aufzulauern“: Mit der S-Bahn von Berlin nach Potsdam, dort Fahrräder gemietet und hierher geradelt. Danke Silvia, danke Volker!

Ein paar Minuten noch im Forst, dann überquere ich den Teltowkanal und trabe zwischen ersten Häusern in Potsdam Babelsberg. Ich fände meinen Weg auch so, halte aber trotzdem Ausschau nach den weißen Pfeilen am Boden. In Babelsberg verlief ich mich 2014, hätte um ein Haar den nächsten Versorgungspunkt verfehlt. Zum Glück waren Freunde zugegen, die mich rechtzeitig zurückholten. Gut ein Kilometer Umweg brachte mir das ein. Heute kann nichts schiefgehen - dank Ortskenntnis, unübersehbarer Markierung und - im Zweifel - dem Track auf der Uhr. Ein paar Minuten noch, dann halte ich auf den ufernahen VP „Gedenkstätte Griebnitzsee“ zu und bin nach mehr als dreieinhalb Stunden wieder mit meinem Supportertrio „Ines-Steffi-Roxi“ vereint.

VP 11 - Gedenkstätte Griebnitzsee - Km 69,2 - Laufzeit 9:36:52

Platz Einzelläufer, Herren: 183 - DNF bis zu diesem VP: 37

Zunächst „tanke“ ich Wasser am Büffet. Ein Staffelläufer erkundigt sich: „Wie weit noch bis zum nächsten Wechselpunkt?“ Prompte Antwort von einem der Helfer am Stand: „Na, so ungefähr 6 Kilometer!“ Prompt aber falsch. Ein paar Sekunden sickert das Gehörte, bis mir der Fehler klarwird und ich vehement widerspreche: „Er hat nach dem nächsten Wechselpunkt gefragt. Der ist am Schloss Sacrow, drei VP’s weiter!“ - Offenbar ist dem Helfer ein Unterschied zwischen VP und WP gar nicht bekannt. Der bedeutet in Distanz ausgedrückt: Der nächste WP ist nicht 6, sondern etwa 18 km weit entfernt …

Meine Rast fällt länger aus. Einerseits will ich wissen, was die Supporter-Schwestern in der Zwischenzeit erlebt haben. Und mit eigenem Erleben halte ich natürlich auch nicht hinterm Berg. Kurz bevor ich aufbreche gesellen sich noch unsere Freunde Silvia und Volker dazu … Meine Lust auf weitere „Erforschung des Mauerwegs“ hält sich in Grenzen. Während ich den letzten Becher austrinke, stiefele ich zurück zur Strecke. Verlasse die „Gedenkstätte Griebnitzsee“, ohne sie heute auch nur eines Blickes zu würdigen. Was nicht tun sollte, wer noch nie hier war. Der Ort dokumentiert einen finsteren Abschnitt deutscher Geschichte. Unter anderem mit einem Stück im Original erhaltener Mauer …

Tippeln durch Babelsberg: Diesmal brauche ich eine ziemliche Weile, um wieder in die „Gänge“ zu kommen. Anzeichen fortschreitenden Verfalls der Kräfte und orthopädischen Verschleißes. Ich schaffe es nicht den Gedanken zu unterdrücken: Jetzt schon und noch nicht mal halbe Strecke geschafft … Tippeln durch Babelsberg: im exklusiven Potsdamer Wohnquartier protzen Villen. Historische, wunderschön restaurierte und neue, geschickt mit altem Baumbestand harmonierende. Tippeln durch Babelsberg: Alte Bürgersteige in miserablem Zustand. Uraltpflaster, so recht geeignet müde unachtsame Läufer zu Fall zu bringen. Wo immer möglich oder nötig weiche ich auf die Straße aus …

Schließlich bergab - steil bergab, lange bergab -, bis zur Brücke über den Griebnitzsee. Ungefähr ab hier, mit einem ersten Blick zur ausufernden Havel, teilen wir Läufer uns die Strecke mit Scharen von Touristen. Erst in Klein Glienicke, dann auf dem Weg zur und über die Glienicker Brücke - die berühmt berüchtigte „Agentenaustausch-Brücke“. Unmöglich alle Eindrücke aufzunehmen, selbst wenn ich hier noch weitere hundertmal vorbeikäme. Von der Brücke aus gelingen Schnappschüsse übers Wasser, hinüber zum Schloss Babelsberg … Da fehlt doch was! Mitten in der zum See erweiterten Havel sprühte sonst eine mehrere Meter hohe Fontäne, heute nicht. Ich stehe länger am Brückengeländer und lasse mir mehr Zeit für Fotos als erforderlich. Mein unterbewusstes Selbst wendet also bereits seine Verzögerungstaktik an. Jede Chance zu Stillstand oder Pause nutzen und in die Länge ziehen, um die Anstrengung nicht spüren zu müssen. Die Tendenz dazu wird sich verstärken und ich kann nichts dagegen tun. Habe nur Willenskraft dagegenzusetzen, doch die werde ich mehr und mehr brauchen, um mich überhaupt noch zum Laufen zu überwinden.

Jenseits der Glienicker Brücke, hinter den Säulen der Kolonnaden, trabe ich zum Havelufer hinab und unter der Brücke hindurch. Hieve mich dahinter wieder aufwärts und folge mit Abstand dem Havelufer. Der Streifen zwischen Bebauung und Wasser wurde auf den nächsten Kilometern als Park gestaltet. Zuvor hatte ich schon viele Eindrücke zu verdauen, nun stürmen sie noch dichter auf mich ein. Dem Läufer fehlt die Muße des Spaziergängers: bei Bedarf stehenbleiben und alles mit Sorgfalt in Augenschein nehmen. Etwa das braune Holzhaus, dessen zu Drachenhälsen verlängerte Giebelenden an eine Wikinger-Wohnstatt erinnern.* Oder die ufernahen Villen, deren Kauf- den Wohnwert noch bei weitem übertreffen dürfte. Wie jedes Mal verweile ich kurz auf dem Steg über den „Hasengraben“. Ein schmaler, weitgehend verkrauteter Kanal, der die Havel mit … ja womit eigentlich? … verbindet. Da gäbe es noch so viel Potsdam abseits des Mauerwegs zu entdecken … Doch selbst das mir nach mehrmaligem Vorbeilaufen Geläufige wirft Fragen auf: Was ist das für eine klotzige, fensterlose Hütte, nahe am Wasser?**

*) Kongsnaes, Kaiserliche Matrosenstation Potsdam (heute Restaurant)

**) Es handelt sich um die Einsiedelei am Potsdamer Jungfernsee, auch als Eremitage bekannt.

Laufgefühl zu dieser Zeit: Ich bin jetzt langsamer unterwegs als noch vorm letzten VP. Vielleicht ist das der Wärme des Nachmittags und der drückenden Schwüle geschuldet. Ich nehme beides eher als angenehm wahr, was aber nichts an der von diesen Bedingungen ausgehenden Leistungseinbuße ändert. Trotzdem überwiegt - und davon hätte ich in den letzten Wochen, angesichts schleppend verlaufener Vorbereitung, nicht mal zu träumen gewagt - noch immer die Freude am Laufen. Nach fast 75 km tippeln meine Füße weiterhin „willig“ voran, auf einem Abschnitt, der mit Natur und Baudenkmälern die Augen mehr als nur verwöhnt.

Ich muss zweimal hinschauen, um sicher zu sein: Steffi, die Schwester meiner Frau, kommt mir lächelnd entgegen. Sie wolle mich das Stück zum nächsten VP begleiten meint sie. Einträchtig traben wir nebeneinander her, bis mich das etwas abseits stehende Schloss Cecilienhof zu Fotos nötigt. Die Idee: Steffi soll sich in der Wiese vorm Schloss in Positur stellen … Gegenlicht verlangt einen Positionswechsel … anschließend Seite an Seite weiter zum VP. Glücklicherweise nur ein paar hundert Meter, weil Steffi mich unbeabsichtigt zu grenzwertigem Tempo nötigt …

VP 12 - Brauhaus Meierei - Km 75,9 - Laufzeit 10:45:15 Stunden

Platz Einzelläufer, Herren: 181 - DNF bis zu diesem VP: 52

Die Schnittmenge „Ultraläufer-Raucher“ dürfte sich in Grenzen halten. Pafft einer bei laufendem Wettkampf eine Zigarette, so wie hier am VP, dann hinterlässt mich das einigermaßen fassungslos. Wollte ich meine Finalchancen in ähnlichem Ausmaß schmälern, man müsste mir die Beine mit Gummibändern fesseln. Darf übrigens jeder halten wie er möchte. Gar nicht witzig finde ich allerdings, dass es nach Zigarettenrauch stinkt, während ich mich am Büffet versorge … Also rasch weg hier. Gute Wünsche von Steffi und Ines, dann breche ich auf … mit einem halbvollen Becher Bier in der Hand, Alibi für anfängliche Gehschritte.

Dicht am Ufer und mit unausgesetzt herrlichem Panorama übers Wasser unterwegs. Trotzdem ebbt der Drang die Aussicht im Bild festzuhalten dramatisch ab. Ein Zeichen, in welchem Ausmaß mich Ermüdung bereits lähmt. Auf der Hangkante des nun steileren Ufers thronen nigelnagelneue, bombastische Villen. Einzige Frage, die sich mir aufdrängt: Was war teurer, der Grund auf dem die Paläste errichtet wurden oder die Häuser selbst? - Alsbald vom ruhigen Ufer an den Rand der unruhigen, vielbefahrenen Bundesstraße 2 und nach ein paar Metern über die erste von zwei Brücken. Drunter her fließt … ach egal, rund um Berlin scheint jegliches Wasser, ob stehend oder fließend, mit Kanälen vernetzt zu sein. Eine rostige, aus dem Jahr 1950 datierende Tafel weist dem Bauwerk einen Namen zu: „Brücke des Friedens“. Widersinniger könnte eine Bezeichnung nicht sein. Schon vor 1950 und bis 1989 herrschte in diesem Teil Deutschlands innerer Unfrieden!

Zweite Brücke und auch hier holt mich die Politik ein, tagesaktuelle allerdings. Die auf dem Brückengeländer verewigte, mir durchaus sympathische Parole beschreibt ein sich stetig zuspitzendes Problem: „Nazis raus“ steht da schwarz auf blau. Ein paar Minuten später bin ich zum zweiten Mal an diesem Tag „a little bit“ fassungslos: Vom sicheren Trottoir weg schickt mich die Markierung durch ein Wäldchen, steil aufwärts, teils durch Sandkuhlen, auf einen mit Wurzeln durchsetzten Weg. Hinter dem Buckel leiten mich Pfeile wieder zurück an die Straße - ein ganz und gar unnötiger Schlenker. - Kann nicht mehr weit sein bis zum nächsten VP - so weit meine Einschätzung und Hoffnung, während ich laufe, laufe, laufe und … noch viel weiter laufe. Wieder kenne ich die Route „gut“, auch Einzelheiten am Rand, unterschätze jedoch ihre tatsächliche Ausdehnung beträchtlich …

VP 13 - Revierförsterei Krampnitz - Km 81,5 - Laufzeit 11:39:23

Platz Einzelläufer, Herren: 180 - DNF bis zu diesem VP: 60

Ich halte meinen Aufenthalt kurz, zumindest breche ich mit diesem Gefühl an der Revierförsterei Krampnitz wieder auf. Scheine schon jetzt ein bisschen verloren in „Raum und Zeit“. Vergaß ich doch vorm VP, am Ort halber Strecke, die Zeit zu nehmen. Also werfe ich jetzt einen „scheuen“ Blick zur Uhr. Da ich Laufzeiten nur gelegentlich und seit geraumer Zeit überhaupt nicht mehr ablas, bin ich dann doch positiv überrascht: Es fehlt sogar noch eine Viertelstunde, um 12 Stunden vollzumachen. Deckt sich überhaupt nicht mit meinem Zeitgefühl … - Stellt sich dir vielleicht die Frage, welche „Endzeit“ ich eigentlich von mir erwarte. Klare Ansage: Gar keine. Überlegungen bezüglich einer realistisch möglichen Endzeit stellte ich im Vorfeld natürlich an. Heraus kam dabei jeweils 25 Stunden oder länger - auf Basis der Laufzeit vor vier Jahren, meinen seither nachlassenden Fähigkeiten und diesjährigen Ergebnissen. Nichts davon gibt verlässlich Auskunft. Mein Zielzeit-loses Ziel ist bescheiden: Ankommen und alles laufen. Ob mir das - besonders letzteres - gelingen wird?

Seit dem Forsthaus laufe ich im Wald. Derzeit noch auf schmaler, asphaltierter Straße und von ständig vorbei tuckernden Autos belästigt. Touristischer und Wochenend-Ausflugsverkehr, wovon die aus nah und fern stammenden Kennzeichen beredtes Zeugnis ablegen. Ein älteres Ehepaar rollt im Schritttempo von hinten heran und mit geöffnetem Seitenfenster auf gleicher Höhe. Offenbar verunsichert von den vielen Läufern auf der Straße werde ich gefragt: „Haben wir was übersehen? Ist die Straße gesperrt?“ Beruhigt von meiner Antwort schleicht die „Motorsänfte“ samt Insassen von hinnen …

Gut ein Kilometer, dann biege ich von der Straße ab, halte mich weiter in Ufernähe des Krampnitzsees. Der Forstweg ist gottlob frei von Stolperfallen, also durchweg angenehm zu belaufen. Unterm dichten Blätterdach hielt sich angenehm kühle Luft in Bodennähe. Temperatursensible Läufer werden im wahrsten Sinne des Wortes aufatmen. Alle paar Minuten horche ich in mich rein, bewerte, was ich empfinde. Die Laufbeschwerden in Rücken und Gesäß haben sich nicht weiter verschärft. Stagnation oder eventuell sogar ein wenig reduziert? Schwer einzuschätzen. Wichtiger: Was ich im Einzelnen und in Summe spüre, gibt keinen Anlass am finalen Erfolg zu zweifeln - jedenfalls nicht mehr als bisher auch schon.

Wieder ein Weg, der einst viel kürzer war - will mein Gedächtnis mir weismachen. Viel Zeit verstreicht, in der ich minütlich erwarte den Park von Schloss Sacrow zu betreten. Um dann hinter diesem, dem nächsten und weiteren Schlenkern des Weges doch nur wieder eine längere Waldpassage vor mir zu sehen. Im Wald steht viel Grünes, wenig Einprägsames. Kein Wunder also, dass ich kurzzeitig sogar der abwegigen Idee einer Streckenänderung aufsitze. Dann endlich: Eine Tür im Zaun, dahinter beginnt der Park. Weiter voran zwischen lockerem Baumbestand mit gutem Blick zum etwa hundert Meter entfernten Seeufer. Auf der anderen Seeseite, Luftlinie kaum mehr als einen Kilometer entfernt, mache ich die Glienicker Brücke aus. Die Zeit von dort hierher in den Park - sie kommt mir ewig vor …

Ein italienscher Moment: Der über die Wipfel der Parkbäume lugende Kirchturm könnte genauso gut irgendwo in der Toskana stehen. Ich nähere mich dem Gotteshaus, weiß aber, dass ich auch diesmal nicht dort ankommen werde.* Vorher biegt der Weg im rechten Winkel zum Schloss Sacrow hin ab. Seine Kids, beaufsichtigt von Mama, holen den Läufer vor mir ab. Voller Freude begleiten sie ihren Papa, umringen ihn wie ein aufgeregter Schwarm Wespen; müssen sich von Mama gar ermahnen lassen anderen Läufern nicht den Weg zu verlegen. „Alles gut, das passt schon!“ höre ich hinter mir einen Mitläufer sagen - tiefenentspannter kann eine Stimme nicht klingen!

*) Heilandskirche am Port von Sacrow

Kurz vorm Schloss steht die angekündigte Erinnerungstafel/Pinnwand für das Maueropfer, dem der Mauerweglauf in diesem Jahr gedenkt. Erna Kelm ertrank im Jahr 1962 unweit von hier in der Havel. Wasserdicht am Körper verstaute Dokumente ließen keinen Zweifel aufkommen, dass sie schwimmend zum Westufer flüchten wollte. Eine „Aufsicht“ fragt mich, ob ich ein Kärtchen mit einer Widmung dabei habe. Als ich verneine, deutet sie auf einen Stehtisch mit Blankokärtchen. Ich will aber nicht schreiben, mir keinen in meinen Augen sinnlosen Kommentar abringen. Nichts, was ich zu Papier bringen könnte, änderte etwas am grauenvollen, sinnlosen Tod dieser bedauernswerten Frau. Und schon gar nicht würde es in Gegenwart oder Zukunft die Dinge auch nur um ein Jota zum Besseren wenden. Ich bitte die Frau von mir abzulassen, um Erna Kelm für einen Moment still zu gedenken. In dieser Absicht blieb ich stehen. Die Angesprochene weicht zurück und ich blicke der vor über 60 Jahren umgekommenen Frau ein paar Sekunden unverwandt ins Gesicht … Schließlich deute ich eine Verbeugung an und wende mich zum Gehen … gehe zwei, drei Schritte, trabe dann die letzten hundert bis zum VP.

VP 14 - Schloss Sacrow - Km 87,8 - Laufzeit 12:42:31 Stunden

Platz Einzelläufer, Herren: 165 - DNF bis zu diesem VP: 80

Wimmelbild Schloss Sacrow: Zahlreiche Zuschauer, Radbegleiter und Läufer - stehend, sitzend, liegend - vermitteln den Eindruck eines Heerlagers nach der Schlacht, samt voll belegtem Lazarett und Marketenderladen. Sacrow ist Verpflegungs- und Wechselpunkt für die Staffeln zugleich. Meine Pause zieht sich in die Länge (laut Track: 9 min). An einem Gartenschlauch mit Brause wasche und kühle ich Gesicht und Arme. Im Wald war’s zwar angenehm temperiert, reichlich Schweiß habe ich dennoch vergossen. Schließlich breche ich auf und gehe mit gefülltem Becher das Stück bis zur Straße. Ob mit gefülltem oder auch ohne Becher losgehen - ab jetzt unumgängliches Ritual …

Austrinken, schneller gehen, in langsamen Trab fallen, nach und nach flottere Schritte setzen - entlang der Dorfstraße in Sacrow und auch hinterm Ortschild, ab da wieder im Wald. Im Wald auf der Zufahrtsstraße, die sofort und fortlaufend an Höhe gewinnt. Eine Steigung kommt in meiner Erinnerung vor, jedoch nicht schon auf der Straße. Auch die geschlagenen 20 Minuten, zweieinhalb Kilometer, die ich nun auf dem Sträßchen hinter mich bringe, unterschlägt mein Gedächtnis. Wieso verkürzt es Distanzen so extrem? Das war nur dort anders, wo sich Spektakuläres mit Sehenswertem abwechselte: Anfangs in der Berliner Innenstadt und vorhin in Potsdam. Den Rest der Strecke scheine ich mir lediglich als Liliput-Welt mit geschrumpften Entfernungen eingeprägt zu haben. Endlich biege ich von der Strecke auf einen sandigen Abschnitt des Mauerwegs ab, der nach ein paar hundert Metern und weiterer Steigung eine Kuppe erreicht. Ab hier bergab bis zur nächsten Ortschaft, Groß Glienicke.

Groß Glienicke liegt am Glienicker See, von dessen Ufer ich nur einen kleinen Ausschnitt zu sehen bekomme. Immerhin ein idyllischer Uferabschnitt entlang einer kleinen Bucht mit vertäut liegenden Booten und einer Ente. Eine Ente, die - unzweifelhaft arrangiert vom örtlichen Fremdenverkehrsverband - auf einem ufernah aus dem Wasser ragenden Ast zur Erbauung der Passanten Modell sitzt. So hinreißend und malerisch, dass ich nicht umhin komme den Lauf für ein Foto zu unterbrechen. Natur kann zaubern, betören, faszinieren, den stillen Beobachter überreich beschenken. Und wir tun alles, um sie nach und nach zu zerstören!

Durch Groß Glienicke auf einer Dorfstraße, erst moderat rauf, dann runter, schließlich wieder rauf. Seltsam: hier stimmen die Dimensionen wieder mit meiner Erinnerung überein. Schließlich durchs erste Tor, bei dem ich mich jetzt zum vierten Mal frage, was es wohl mit diesem Portal auf sich hat. Zumal mich ein paar hundert Meter weiter ein zweites Tor aus diesem Areal - was immer es früher gewesen sein mag* - wieder entlassen wird. Allerdings nicht ohne vorher den Verlauf der Sperranlagen in Form eines Mauerrests vorgeführt zu bekommen. Diese Mauerreste - nicht nur hier, auch anderswo an der Strecke - bringen etwas in mir zum Schwingen, das ich unterschwellig registrierte (vor Jahren schon), gedanklich jedoch nie zu fassen bekam. Inzwischen schon: Sie werden für mein Empfinden zu „folkoristisch“ präsentiert, die Mauerreste. Vor der Mauer fehlen Bewacher mit Schusswaffen, freilaufende Hunde, Minen, Hochvoltzäune, Selbstschussanlagen - das ganze perfide Arsenal, aufgeboten von einem verbrecherischen System, um seine Bürger von der Flucht abzuschrecken. Es fehlt der breite als Sicht- und Schussfeld planierte Boden, auf dem nicht mal ein Grashalm geduldet wurde. Das Stückchen graue Mauer sieht vergleichsweise harmlos aus und brachte für sich genommen niemanden um … Also abreißen? - Nein, das natürlich auch nicht. Bin ein bisschen ratlos.

*) Was ich zur Stunde nicht ahne: Groß Glienicke erzählt Geschichten, wenn einer kommt, fragt und in diversen Archiven stöbert. Nur wenige Tage nach den 100 Meilen, just während ich diesen Laufbericht verfasse, beginne ich ein Buch zu lesen: „Das Sommerhaus am See“ von Thomas Harding. Es schildert die Geschichte eines Wochenendhauses am Groß Glienicker See und von fünf Familien, deren Schicksal mit diesem Haus verbunden ist. Dabei skizziert es 100 Jahre deutscher Geschichte. Nun weiß ich die Tore auf dem Mauerweg in Groß Glienicke, das Potsdamer und das Spandauer Tor, mit Namen zu bezeichnen. Ich lese dieses Geschichts- und Geschichtenbuch mit Augen, die erwähnte Schauplätze in Groß Glienicke bereits viermal schauen durften. Genauso oft lief ich unweit des Sommerhauses vorbei, ohne etwas von seiner Existenz und den Dramen rund um seine Bewohner zu ahnen. Zwei Links dazu: (1) (2)

Hinterm zweiten Tor erwartet mich eine Ampel: Rot, wie noch jedes Mal. Reagierte ich vor neun Jahren auf die „Störung“ meines Vorwärtsdrangs eher unwirsch, so kommt mir das Zwangspäuschen heute durchaus gelegen. Stehen, rasten, Augenblicke der Erholung. Dass ich es so auslege, spricht Bände über meine Verfassung. Weniger schön ist dann allerdings das Wiederanlaufen mitten im kleinen Läuferpulk, der sich in der Rotphase sammelte. Drüben empfängt uns ein Streckenposten, Mann mit Hund an der Leine. Das Team vom nahen Versorgungspunkt hat ihn herbeordert, damit keiner in der Nebenstraße, den Abzweig zur noch „nebeneren“ Kuckuckstraße verpasst. Mich müsste er nicht einweisen, ich fände „Pagel & Friends“ auch im Schlaf. Und ausgerechnet mich meint er als er fragt: „Bist du der Mann in weiß mit der roten Weste?“ Der fachfremde Terminus „Weste“ muss erst ein paar Synapsen anregen bis der Groschen fällt … Tatsächlich trage ich ein dünnes weißes Shirt und mit „Weste“ könnte mein roter Laufrucksack gemeint sein. Also gebe ich mich probehalber zu erkennen und vernehme mit Freude: „Na, dann warten am VP zwei Frauen auf dich!“ - „He! Gleich zwei Frauen! Alle Achtung!“ Der Machospruch meines Nebenmanns verlangt nach einem Machoecho, das ich noch spontan über die Lippen bringe. Wie es scheint bin ich zumindest im Kopf noch einigermaßen frisch …

VP 15 - Pagel & Friends - Km 95,4 - Laufzeit 14:05:07 Stunden

Platz Einzelläufer, Herren: 172 - DNF bis zu diesem VP: 91

„Pagel & Friends“ war schon immer mehr als nur einer von 26 Versorgungspunkten. Jeder Läufer wird über Lautsprecher begrüßt, und - so dem Moderator eins einfällt - auch mit witzig, motivierendem Bonmot empfangen. Läuferbegrüßungen unterbrechen das tanzbare Musikprogramm, mit dem das Viertel in gewaltiger Phonstärke beschallt wird. Anscheinend verfügt Familie Pagel, in deren Einfahrt und Garten das üppigste aller 26 Läuferbüffets steht, über tolerante Nachbarn, die das Getöse über viele Stunden bis in die Nacht ertragen können. Vielleicht wurden sie aber auch weggeschickt und weilen ganz in der Nähe in diversen „Sommerhäusern am See“. Meine Pause fällt länger aus*: Flasche auffüllen, Wasser trinken, mit Gel bestückt werden, Gesicht und Arme waschen, Erfahrungen austauschen … Zudem sündige ich, setze mich auf eine Bierbank am Straßenrand. Verhalten, das ich sonst mit den Worten „Mich hinsetzen bedeutet, dass ich wieder aufstehen muss!“ rundweg ablehne. Kaum etwas anderes ist meinem Wohlbefinden auf langen Kanten abträglicher als mich hinzusetzen. Das Verlangen dazu setzt ein, wenn die „Knochen“ schon mürbe sind. Wie mürbe sie tatsächlich sind und wie barbarisch nach dem Aufstehen schmerzen - glaub mir: das willst du nicht spüren.

*) Volle 17 Minuten verweile ich bei „Pagel & Friends“. Hätte ich eine Schätzung abgeben müssen, sie wäre kürzer ausgefallen. Ein Trick des Bewusstseins? Rastzeiten kurz erscheinen lassen, damit sie länger ausfallen?“

Ines und Steffi helfen mir beim Anlegen und Verstauen der Nachtausrüstung. Wir werden uns erst am übernächsten VP wiedersehen, die Dunkelheit wird vorher einsetzen. Die als Pflichtausrüstung vorgeschriebene Wärmefolie verstaut Ines in der hinteren Reißverschlusstasche. Dort verwahre ich auch Reservebatterien für die Stirnlampe, die ich hoffentlich nicht brauchen werde. Hantieren im Dunkeln - mit müdem Kopf und ebensolchen „Gräten“? Stets eine langwierige, überaus lästige Angelegenheit. Schließlich streife ich noch die reflektierende Weste über. „Over all“, weil sie weit genug ist, um den Zugriff auf Gels und Ausrüstung nicht zu behindern.

Den Becher mit Bier gefüllt gehe ich los. Trinke, gehe, trinke … gehe schneller, trabe an, laufe mich frei, nehme wieder Fahrt auf. Nur fünf Kilometer bis zum nächsten Verpflegungsstopp. Ich nehme mir vor nicht stehenzubleiben. Aus welchem Grund sollte ich das auch tun? Auf einem Radweg, der parallel zur Bundesstraße schnurgeradeaus führt und rechter Hand lediglich Felder, Wiesen und ein paar Bäume anzubieten hat? Der Himmel über dieser Landschaft ist zweigeteilt: Voraus ein blauer Fleck, über Feldern und Wiesen allerdings quellen Wolken, beschleunigen die anbrechende Dämmerung.

Ich komme zügig voran, wenngleich vermutlich langsamer als immer noch erträgliche Anstrengung mich glauben machen will. Obwohl eintönig und ereignislos sind die Kilometer bis zum „VP Karolinenhof“ für mich positiv besetzt. Demnächst werde ich die 100 Kilometer-Marke überschreiten! Dreistellig! Dann fehlt „nur noch ein überschaubarer Rest“ bis ins Ziel. Auch durch solche zugegeben einfältigen, eine gehörige Portion Selbsttäuschung voraussetzende Überlegungen vermag ich mich unterwegs bei Laune zu halten. Dabei weiß ich nur zu gut, dass die verbleibenden 60 km erst nach etlichen weiteren Stunden eskalierender Bedrängnis überwunden sein werden. Wie viel Zeit tatsächlich vergehen wird, wüsste nur Allwissenheit zu beziffern und ich - in dieser Hinsicht bin ich dann wieder gnadenlos ehrlich zu mir - bin froh davon nur eine ungefähre Vorstellung zu haben.

VP 16 - Karolinenhöhe - Km 100,4 - Laufzeit 14:51:34 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 168 - DNF bis zu diesem VP: 108

Kurz Verpflegen und rasch weiter. Beim Aufbrechen mit Nachdruck der Hinweis eines Helfers: „Schalte jetzt deine Lampe ein!“ - Also krame ich die Stirnlampe hervor und rücke sie in Position. Einschalten und los: Austrinken, dabei gehen, schneller gehen, antraben … Nachdem ich außer Sichtweite bin, lösche ich das Licht wieder. Noch genug Restlicht von oben, die Funzel verbraucht sinnlos Batteriestrom. Gelegentliche dunkle, tunnelartige Passagen unter Bäumen belehren mich bald eines Besseren: Licht wieder an.

Im Hellen - und nur zu solchen Tageszeiten war ich bislang hier unterwegs - war mir die asphaltierte, etwas bucklige Piste am Rand der Karolinenhöhe sympathisch. Ich empfand sie sogar als abwechslungsreich, insbesondere die Aussicht zum tieferliegenden Berlin oder über den begrünten Schuttberg - inzwischen ein Naturreservat mit seltenen Pflanzen. In rasch fortschreitender Dämmerung vermag die Umgebung kaum mehr optische Reize zu entfalten. Was bleibt, ist mehr und mehr der Wunsch den Abschnitt möglichst ermüdungs- und beschwerdefrei zu überwinden. Dunkelheit empfand ich oft wie ein schwarzes Tuch, das sich über meine Augen legt; mir erst die Sicht, alsbald den Spaß am Laufen raubt. Das mit dem Spaß fällt heute allerdings kaum mehr ins Gewicht, die „Spaßbremse“ wurde schon vor längerer Zeit angezogen …

Unterdessen wundere ich mich auch nicht mehr darüber, dass sich der Weg am Spandauer Stadtrand meiner Erinnerung zuwider in die Länge zieht. Es ist mir gleichgültig. Traben, traben, immerzu traben, Meter um Meter aneinander reihen. Bis die Meter einen Kilometer ergeben, endlich zwei … werden es drei? - Irgendwann steil bergab, begleitet von heftigem Ziehen in überlasteten Fasern. Muskeln meckern, Gelenke jammern, gestauchter Rücken jault … Alsbald flacher, dann flach und - juchhu! - eine rote Ampel. Auch mit diesen Ampelmännchen bin ich seit Jahren auf du und du. Umso schlimmer, dass sie mich heute im Stich lassen: Bevor ich zum Stehen komme, verkrümelt sich der rote Müßiggänger und der grüne Hektiker schreitet frohgemut aus …

Ich betrete den zu Spandau gehörenden Ortsteil Staaken. In der beleuchteten Nebenstraße schalte mein Kopflicht aus. Zu sehen gibt es: nichts. Zumindest nichts, was die inzwischen undurchlässige Schutzschicht aus Gleichgültigkeit und Lethargie durchdringen könne. Vorankommen will ich, weiter nichts. Dunkler Grüngürtel im Stadtteil: Licht an. Hindurch und wieder zurück auf beleuchtetem Weg: Licht aus. Dann und wann trifft mich ein Tropfen von oben. Nö, oder? Regen wäre wirklich das Letzte, was ich jetzt noch bräuchte … Beträufelung hört wieder auf, Zuversicht kehrt zurück. Weiter voran. Ah! da isse, die schon erwartete, weit über eine Bahntrasse gespannte Brücke. Ich gewinne an Höhe und blicke nach Osten übers nächtliche Berlin. Schwacher, weit entfernter, von ein paar Lichtpunkten durchsetzter Schein. Unbelehrbar wie eh und je versuche ich auch heute die Stimmung im Foto festzuhalten - was natürlich misslingt.

Hinterm Brückenscheitel wieder runter, weiter im Wohngebiet. Mal Lampe aus, dann wieder an - „Business as usual“. Bis es anfängt zu regnen. Von null Tropfen zu ergiebig pladdernd binnen weniger Sekunden. Mist! Mir bleibt keine Wahl, ich muss umrüsten. Der offene, überdachte Durchgang ein paar Meter abseits des Bürgersteigs kommt mir gerade recht. Dort im Trockenen fummele ich mühsam die verhakte Schildkappe aus dem hinteren Rucksackfach. Voll bei Sinnen kein Problem, jetzt ärgerliches Scharmützel: Ruckeln und Reißen, schlussendlich der Sieg. Rasch den Kopf dekorieren mit dem Ding. Den Kopf, auf dem jetzt blöderweise kein Kopflicht mehr Platz findet. So lange es regnet werde ich die Lampe notgedrungen in die Hand nehmen müssen. Hinaus in den Regen, zurück in die Spur. Wieder das Startritual: Gehen, schneller Gehen, antraben … Abgesehen vom lästigen Hantieren mit der Lampe in der Hand belästigt mich der Schauer nicht. (Schweiß-)feucht sind die Klamotten ohnehin und merklich kälter wird’s auch nicht. - Regnet es fünf Minuten, zehn, fünfzehn? Im Dunkeln löst sich mein Zeitgefühl nach und nach auf. Dann ist Schluss mit Wasser von oben (ein für allemal bei diesem Lauf, ich greife da mal vor). Letzte Meter der Etappe, zuletzt jogge ich auf einen hell erleuchteten Überweg an der Falkenseer Chaussee zu …

VP 17 - Falkenseer Chaussee - Km 106,9 - Laufzeit 16:11:15 Stunden

Platzierung Einzelläufer, Herren: 174 - DNF bis zu diesem VP: 118

Straßenlaternen und Scheinwerfer am VP ergänzen sich zur Festbeleuchtung. Und ein Fest wird’s, weil sein Empfangskomitee den Abgestumpften mit Lachen und Frohsinn empfängt und reanimiert. Ich stelle noch einmal vor: Mein Supporterteam, Ehefrau verstärkt durch Schwester (Roxi pennt im Auto). Dazu gesellte sich Detlef, ein guter Bekannter, bei dem Steffi übernachten wird. Seine Anwesenheit bedeutet, dass mich Ines von nun an solo betreuen wird. Wie lange? Mal sehen. Zur Sicherheit plante ich eine „einsame Nacht“ ein und schickte ein mit 20 Gels prall bestücktes Drop-Bag zum Wechselpunkt 3 (Km 125) voraus.

Ich verpflege mich am Büffet und … das ist doch Grit! Jene Grit Seidel, die vor neun Jahren die 100 Meilen gewann, mit der ich früh morgens die Straßen von Kreuzberg durchmaß. Ihr Verein betreut diesen Verpflegungspunkt. Wir begrüßen uns herzlich. Dieses Jahr begegnen wir uns schon zum dritten Mal: zuletzt vor wenigen Wochen in Neubrandenburg beim Tollensesee Marathon, davor anlässlich des Ostermarathons hier in Berlin … - Soll das heute wirklich mein letzter „Mauerweglauf“ werden? Alles in mir lehnt sich dagegen auf. Etlichen Bekannten begegnete ich heute schon im „Ultralaufzirkus Berlin“. Wurde sogar von Leuten angesprochen, deren Konterfei mir fremd war. Die mich erkannten, weil sie meine Laufberichte lasen. Natürlich renne ich nicht ultra-endlos durch die Lande, um Menschen zu begegnen, die derselben Leidenschaft frönen. Das ist lediglich ein Motiv von mehreren. In einem Augenblick wie diesem realisiere ich jedoch in aller Klarheit, dass ich wertschätze dem „Ultrazoo“ anzugehören. Es ist Teil des Erlebnisses, wie die Landschaft, durch die ich mich bewege, der geschichtliche Hintergrund, permanente, sportlich motivierte Selbstüberwindung und andere „Zutaten“. Soll das heute wirklich mein letzter Auftritt in der hyper-ultra-weiten Manege werden?

Denken und Fühlen stoßen bereits an Grenzen, ich kann meine Außenwirkung nur noch eingeschränkt kontrollieren. Dennoch hoffe ich Steffi mit genügend Wärme und Nachdruck verabschiedet und mich für die Tagesbegleitung bedankt zu haben. Bevor ich aufbreche, übergebe ich Ines die jetzt nutzlose Kamera. Wir vereinbaren das nächste Rendezvous am übernächsten VP. Ein letztes Winken - schon im Gehen begriffen - und nun ab in die Nacht … Rabenschwarze Nacht, denn nur wenige Schritte später verschluckt mich Wald. Welcher Wald, mit welcher Ausdehnung - ich finde in meinem Fundus keine Bilder dazu, kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Ich weiß noch: Etwa anderthalb Kilometer vor der nächsten Tränke wird er enden … Jetzt also im Wald. Vollkommen finster bis auf mein Kopflicht, das seinen Namen nach beendetem Schauer nun wieder verdient. Gelegentlich ein schemenhaft helles Wischen in Laufrichtung voraus. Kurz auszumachen, wenn Strecke und Dichte des Unterholzes es zulassen, dann wieder lange nichts. Ich tippele vor mich hin, gänzlich spaßbefreit. Kenne ich, halte ich aus, war im Dunkeln immer so. Nur einmal nicht, in einer hellen Vollmondnacht in Griechenland, vor nicht ganz drei Jahren …

Weiter voran, Schritte setzen, Tempo halten - auch wenn mein Tempogefühl keine verlässlichen „Daten“ mehr liefert. Dazu bin ich schon zu erschöpft und in Lichtlosigkeit gefangen fehlen optische Bezugspunkte. Fest steht einzig, dass ich vorankomme. Wie lange? Fünf Minuten, zehn, zwanzig? Ohne Messung ist auch Zeit relativ, ohne Dimension. Könnte es ändern, könnte Zeit und Raum bestimmen, müsste dazu auf die Uhr schauen. Doch wozu? Impuls zu schwach. Jeglichen Antrieb münze ich in Vortrieb um. Weg von hier, hin zum nächsten Zwischenziel … Das nirgendwo zu liegen scheint, zumindest aber hinterm Wald … der hört nicht auf. Noch ‘ne Kurve und noch eine … ein bisschen rauf und wieder runter … ich will hier endlich raus. Fühle mich verloren. Ein bisschen wie Hänsel ohne Gretel. Verirrten die sich nicht im Wald? Und zu böser letzt liefen sie der bösen Hexe in die Arme, fanden ihren „VP“ im Pfefferkuchenhaus …

Mir ist ein günstigeres Schicksal beschieden: Endlich - gefühlt nach Stunden, objektiv nach gut einer halben Stunde - bleibt der Wald zurück. Eine freie Fläche erstreckt sich zu meiner Rechten, die ich mehr ahne als sie mit Sinnen wahrzunehmen. Weit voraus ein paar Lichtpunkte. Von Pfeilen dirigiert halte ich darauf zu. Nach und nach vermehren sich die Lichterscheinungen, vereinen sich zuletzt am hell erleuchteten VP.

VP 18 - Schönwalde - Km 112,5 - Laufzeit 17:11:42 Stunden (Uhrzeit: 23:12 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 170 - DNF bis zu diesem VP: 131

Das Phänomen sich unbewusst aufblähender Pausenzeit gewinnt an Einfluss: Zu viele Minuten verrinnen, bis ich mich endlich verpflegt und abmarschbereit dem Streckenposten zuwende. Der passt auf, dass beim Überqueren der Straße keiner der möglicherweise übermüdeten Kämpen zu Schaden kommt. Allerdings verkehren um diese Uhrzeit ohnehin keine Autos mehr in der „Brandenburger Walachei“. In erster Linie betätigt der Mann sich als Wegweiser: „Drüben den Flatterbändern nach, ein paar hundert Meter dem Feldweg nach, dann stoßt ihr wieder auf den Mauerweg!“ Ach du liebes bisschen … Ich weiß, was mir auf diesen „paar hundert Metern“ blüht, war dort schon bei Tag unterwegs. Mit Dunkelheit als Tarnung, vom schwachen Schein der Stirnlampe nur unzulänglich angestrahlt, bleiben Vertiefungen und Rinnen nahezu unsichtbar. Breite und Länge schält die Lampe aus dem Dunkel, Vertikales bleibt verborgen. Und so torkele ich wie ein Betrunkener voran, knicke da und dort um, tappe in Kuhlen, werde ordentlich durchgeschüttelt. Meinem Körper missfällt mein Tun und deshalb macht er mir „Aua“. Sch… auf’s Prinzip! denke ich und gehe auf dem vermaledeiten Trail. Das leiste ich mir jetzt! Sturz- und Verletzungsrisiko sind mir einfach zu hoch.

Ein paar Minuten fluchen, leise bis halblaut, dann ist es geschafft, der Killertrail mündet in den von rechts kommenden Mauerweg ein. Erinnerungen stürzen sich auf mich, wie der hungrige Greif auf die erspähte Feldmaus. An dieser Stelle war’s, vor neun Jahren, als mich ein Unwetter erwischte. Orkanartige Windböen peitschten Regen heran. Ach was Regen: ein Wolkenbruch ging nieder. Im Nu nass bis auf die Haut, in meinen Schuhen stand Wasser und ich fror mir fast den Hintern ab. Auch damals empfing mich die gute Fee Ines am nächsten VP und kleidete mich neu ein. Mit froststeifen Gliedern wäre ich selbst dazu kaum mehr in der Lage gewesen …

Heute keine Dramatik, beschaulicher erlebe ich den Weg allerdings auch nicht. Wieder sehe ich: nichts. Berlin umgibt sich auf seiner West-, Nord- und Nortostseite mit Natur pur. Und Natur pur bedeutet völlige Dunkelheit von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang - so der Lauf der Gestirne nicht zufällig Vollmond arrangiert. Den Mond reklamiere ich heute als Totalausfall, konnte den treulosen Trabanten bislang nicht ausmachen. Von zeitweisen Wolken verhangen, noch nicht aufgegangen, schon untergegangen, Udo blind oder mit Honig im Kopf - was weiß ich. Udo joggt an einer hölzernen Aussichtsplattform vorbei, die seine Lampe schemenhaft dem Dunkel entreißt. Von da oben kann man Wasservögel „stalken“, auf einem Weiher hinterm Wall. Wald zur Linken, es duftet nach Eichen. Geruchssinn von Wohlgeruch stimuliert, immerhin etwas: Eichen sind Udos Lieblingsbäume. Was er nicht sehen kann, aber weiß: Er nähert sich dem Havelufer.

Meinem Erinnern und Empfinden zufolge müsste ich das Ufer der Havel längst erreicht haben, doch die Route „hält mich weiter hin“ … zehn Minuten, eine Viertelstunde … Ich habe ein klares Bild von der Stelle vor Augen, wo der Mauerweg von Westen kommend auf den Fluss stößt: Ein Ausflugslokal am Ufer, Sandstrand, auch ein Spielplatz, wenn ich mich recht entsinne. Achtmal lief ich dort schon vorbei, je viermal anlässlich der 100 Meilen und dem Berliner Ostermarathon. Endlich Licht zwischen den Bäumen. An der Umfriedung des Gasthofs biege ich nordwärts ab, folge nun dem Havelufer. „Live“ erkenne ich nur das Asphaltband unter meinen Füßen, Bäume links und rechts, ab und zu von Licht umflorte Gespenster voraus. Aus dem Gedächtnis krame ich andere Bilder: Wasser, das durch jungen Kiefernbestand schimmert, ein weithin einsehbarer Weg, der sich sanft hebt und wieder senkt … Zeit mutet mir eine weitere kleine Ewigkeit zu, bis mein Licht die ersten ufernahen Gebäude und Gärten erfasst. Endlich in Nieder Neuendorf, bald am alten Wachturm, bald bei Ines!

VP 19 - Grenzturm Nieder Neuendorf - Km 120,0 - Laufzeit 18:49:19 Std. (Uhrzeit: 0:50 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 179 - DNF bis zu diesem VP: 140

Die Sonne geht auf. Meine Sonne. Ines. Das sage/schreibe ich nicht nur so dahin. Gefühle bestehen aus Körperchemie und auf Nervenbahnen zirkulierenden elektrischen Impulsen: Aber sie sind konkret und real. Nichts in der Welt könnte wichtiger sein als meiner Frau leibhaftig hier zu begegnen. Schon gar nicht ein paar Gels, die sie mir ganz selbstverständlich wieder in die Taschen stopft, noch Wasserfassen mit Flasche und Becher!

Doch da ist noch jemand, der mir das Herz wärmt. Nein, nicht Roxi, die schläft im Auto. Es ist Bruno. Auch Bruno steht üblicherweise auf seinen vier Pfoten. Jetzt liegt er angeleint abseits des Weges, hebt nur müde den Kopf als ich ihn streichle. Auch Bruno ist Teil des „Marathon- und Ultrazoos“. So wie sein Herrchen „Etze“, den ich zunächst nirgendwo ausmachen kann … - Himmel, was passiert den jetzt?? Zwei Empfindungen alarmieren mich beinahe zeitgleich, fordern ultimativ sofortiges Handeln ein. Einerseits Schwäche, Schwindel, das Gefühl mich nicht mehr auf den Beinen halten zu können. Dazu aufkeimende Panik abbrechen zu müssen. War’s das jetzt? - „Unterzucker“ hoffe ich und greife instinktiv zu einem Gel. Runter damit!!! In der Krise die zweite dringlichere Krise: Ich muss aufs Klo. Sofort! Ich taumele zur Mobiltoilette … Besetzt! Und ein weiterer mit Notdurft steht davor! Der ist Begleitradler und räumt dem Läufer „Vorfahrt“ ein. War ich je so dankbar? - Aber im Gelass dauert „es“ … derweil der Druck wächst. Fieberhaft drehe ich den Kopf, leuchte mit der Lampe dahin und dorthin, suche Gebüsch, Deckung, einen Ausweg falls … mir bleiben nur noch Sekunden … Komm raus da, bitte, bitte komm raus! - Endlich öffnet sich die Tür: gerettet!

Nach überwundenen Krisen stehe ich entspannt bei Ines. Schwäche und Schwindel verschwanden wie durch Zauberhand. Wie ein bedrohlicher Schatten, den der Ängstliche aus der Nähe besehen als Sinnestäuschung entlarvt. Also tatsächlich Unterzucker. Viel hilft viel: Gleich noch ein Gel hinterher! - Dann doch noch der Auftritt von Ulrich Etzroth, alias „Etze“, Brunos Herrchen. Ich kenne ihn seit Jahren als Betreiber des „VP Grenzturm“ und Ausrichter des Berliner Ostermarathons. Inzwischen (er-) kennt er auch mich. Sogar im Zwielicht vorm Verpflegungspunkt. Wir tauschen uns aus, so viel Zeit muss sein. „Etze“ macht gleich noch ein bisschen Werbung für seine Läufe im nächsten Jahr. Wäre gar nicht nötig versichere ich ihm. Der Ostermarathon ist für mich seit Jahren gesetzt. Nur Verletzung, Krankheit oder eine doofe Pandemie könnten mich von der Teilnahme abhalten …

Schlussendlich findet sogar der von Laufunlust überwältigte Teil meines Egos keinen Grund mehr, den Aufenthalt zu verlängern. „Krisenmanagement“ und Gespräche addieren ohnehin schon fast eine halbe Stunde zur Laufzeit (gemäß GPS-Track). Ein letztes Strahlen meiner Sonne, dann leite ich die „Startsequenz“ ein: Gehen, schneller gehen, antraben, schneller traben, freilaufen - so weit noch möglich. Die Haxen schmerzen, ich nehme es hin. Große Freude nehme ich mit, sie überdeckt einstweilen alles: Ines wird mich durch die Nacht begleiten! Will da und dort, am VP auf mich wartend, eine Mütze voll Schlaf nehmen.

Der Havelpark von Nieder Neuendorf zieht an mir vorbei. Kenne dies und das, auch die nahe am Ufer stehende Skulptur. Eine Holzplastik, die mir schon im Hellen Rätsel aufgibt. Mal rechts, mal links, mal geradeaus, nur Minuten noch, dann ist das Ortsende erreicht und der „Test“ beginnt. Ich muss über eine ziemlich hohe Brücke, darunter irgendein Kanal. Zehn Höhenmeter? Mehr? Weniger? Genug, um dem Weg ein paar Grad Steigung zu verpassen. Und siehe da: Ausreichend Energie fließt in den Beinen, mein „Kraftwerk“ scheint wieder voll intakt.

Drüben dicht ran ans Ufer und weitere zwei Kilometer daran entlang. Rechts hinter Buschwerk Havelwasser, unsichtbar. Links Maschendrahtzaun, dahinter Gleisanlagen. Züge werden hier gebaut. Dieser Tage gehört das Werk zum französischen Konzern Alstom, vormals Bombardier, davor „Volkseigener Betrieb“. Also VEB (mit langem Namen) und davor gehörte der Betrieb zu AEG, ein Firmenname, den wirklich jeder kennt. Ich jogge an mehr als hundert Jahren Industriegeschichte vorbei. Hab ich recherchiert. Jetzt, mitten in der Nacht, sind mir die im Laternenlicht glänzenden Züge dort drüben nicht völlig „schnurz“, aber so gut wie. Will möglichst ungeschoren die paar Kilometer bis zum nächsten Treff mit Ines überwinden. Ein Zwischenziel. Obschon Schlafenszeit erlaube ich mir vom großen, vom Endziel, nicht mal zu träumen. Und wenn ich dran denke, dann in gemüts-verträglicher Form: Nicht mal mehr ein Marathon!

Die Etappe fällt mir vergleichsweise leicht. Vielleicht, weil sie nicht mal fünf Kilometer misst; wahrscheinlich auch, weil ich meist an erleuchtetem Terrain entlang jogge. Ja genau! und Grund optimistisch zu bleiben: ich jogge noch. Es fühlt sich sogar nach flüssigem Traben an, auch wenn - woran ich nicht zweifle - mein Tempo längst den Bach - genauer: die Havel - runterging. Endlich unter der Bahnbrücke hindurch, um ein (ungenutztes) Binnenhafenbecken herum - alles im Detail bekannt - und zuletzt aufs Gebäude des Ruderclubs zu.

VP 20 - Ruderclub Oberhavel - Km 124,7 - Laufzeit 19:45:56 Stunden (Uhrzeit: 1:45 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 173 - DNF bis zu diesem VP: 145

Unsere Wiedervereinigung dauert ein bisschen. Wasser ist gebunkert und getrunken, zuletzt kommt Ines aus dem Dunkel auf mich zu. Mein hier am Wechselpunkt deponiertes Drop-Bag mit 20 Gels hat sie bereits abgeholt, stattet mich mit einigen der Tütchen aus. Wir wechseln noch ein paar Sätze. Belanglos im Grunde der Inhalt, wichtiger ist der optimistische Klang ihrer Stimme, Zuspruch herauszuhören, ihr Vertrauen in mich zu spüren. Verbal und nonverbal: Du schaffst das! Wir vereinbaren das nächste Stelldichein. Da die nächsten beiden Verpflegungspunkte schwierig bis gar nicht mit dem Auto erreichbar sind, wird sie mich zwischendrin an der Strecke treffen. In einem Gewerbegebiet, wo sie mich 2019, gegen den Uhrzeigersinn laufend vormittags versorgte. Beide kennen wir die abgemachte Stelle gut, der Treff wird klappen.

Nach bewusst als Befehl gedachtem „Loslaufen!“ setze ich mich in Bewegung. Auf schonende Weise, die den Wettkampf letztlich auch in die Länge zieht: Gehen, schneller gehen, traben, schneller traben, freilaufen … - Sie mögen dich langweilen, lieber Leser, dennoch kann ich dir die Wiederholungen nicht ersparen. Nur durch sie wird deutlich, wie viel Überwindung mich der jeweilige Aufbruch kostet und wie schier endlos weit entfernt mir das Ziel erscheint. - Hinterm Ruderclub über die Havelbrücke, dann am Radweg an der Straße entlang. Selten ein Auto. Von je viermal 100 Meilen und Ostermarathon bestens bekannte Route. Schon tagsüber langweilig, in der Nacht gottverlassen trostlos. Dann links ab, in den Wald - Ostermarathon adieu! - und aufwärts. Ich hoffe nicht zu steil aufwärts, um meinem Vorsatz „alles laufen!“ treu bleiben zu können …

Gefühlt ohne Ende aufwärts und dauerhaft geradeaus. Trugschluss, weil meinem Blick die Weite fehlt. Der reicht nur bis zum Horizont des Lichtkegels, ein paar Meter vor meinen Füßen. Und die Füße traben, traben, traben, … Jetzt hier zu laufen ist: auf unangenehme Weise anstrengend und ohne Unterlass Beschwerden verursachend. Zum Glück aushaltbare Beschwerden, auf seit Stunden scheinbar unverändertem Niveau. Entweder stagnieren die Schmerzen tatsächlich oder ich habe mich an sie gewöhnt. Schmerzgewöhnung soll aber gar nicht möglich sein!? - las ich irgendwann.

An diese Verlorenheit in Raum und Zeit werde ich mich definitiv nie gewöhnen. Liegt der Abschied von Ines eine Viertelstunde zurück oder schon eine halbe? Auch beim Schätzen von Entfernungen läge ich jetzt um einiges daneben. Die GPS-Anzeige ist objektiv und unbestechlich: Wieder nur zweihundert Meter zurückgelegt, geschätzt hätte ich wesentlich mehr. Irgendwann ein Lichtschimmer voraus. Offenbar kein Läufer, die Erscheinung bleibt stationär. Eine Minute später stehe ich vorm VP.

VP 21 - Frohnau - Km 130,1 - Laufzeit 20:50:00 Stunden (Uhrzeit: 2:50 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 174 - DNF bis zu diesem VP: 149

Gefühlt ein kurzer Aufenthalt. Nur Wasser fassen, danke sagen und ab. Unmöglich dafür drei Minuten verweilt zu haben, wie meine Uhr behauptet (nachträglich ausgewertet). Weiter jetzt, Startsequenz einleiten, losgehen … Nur ein paar Schritte hinterm VP, mit noch zur Hälfte gefülltem Becher in der Hand, reißt mich das Schwarze Loch wieder an sich.

Ab und zu schält mein Lampenschein etwas aus dem Dunkel, an das ich mich zu erinnern glaube. Ein „Hier war ich schon mal“ mit Garantie habe ich aber nur einmal anzubieten: Eine Bahnunterführung, hinter der ich links abbiege und am Fuß des Bahndamms weitertrabe. Vollkommen ist selten etwas im Leben. Jetzt und hier zweierlei: Dunkelheit und Stille. Ach je, streng genommen nicht mal das. Schließlich schiebe ich diesen schwachen Lichtkegel vor mir her und höre meine Schritte. Weiter voran mit Leerlauf im Hirn. Das wäre okay, dürfte ich schlafen, müsste nicht immerzu denken. Wach sein und nicht denken? Unmöglich. Was ich denke? - Belanglos, kaum ausgedacht, schon vergessen. Wie ein Fixstern dagegen mein Ziel, zu dem mich meine Füße tragen werden. Ich werde die Dunkelheit aus eigener Kraft überwinden. Ein Delinquent, den man in Dunkelhaft sperrt, kann das nicht. Weiß vielleicht nicht mal wann, oder ob seine Haft je endet. Lange Wachperioden zwingen ihn zu denken. Irgendwas denken. Ich glaube zu verstehen, dass Gevatter Wahnsinn die Enge der Zelle mit ihm teilt. Ein Kumpan, der den Geist jener Unglücklichen übernimmt, denen es nicht gelingt die Gedanken in sinnvolle Bahnen zu lenken.

Wieder Licht, spärlich, schwache Straßenbeleuchtung. Ich laufe durch die Invalidensiedlung. War das mal was Militärisches oder eine Arbeiterwohnsiedlung? Vielleicht eine soziale Einrichtung für bedürftige Familien? Ich weiß, dass ich es wusste. Dreimal wusste ich es schon, weil ich Wikipedia befragte. Und nun beim vierten (vielleicht letzten) Mal weiß ich es schon wieder nicht. Das Schwarze Loch wirbelt nicht nur rings umher, der Strudel füllt auch mein Gedächtnis aus!

Weiter über bekannt unbekannte Straßen in Berlins nördlichster Ecke und dann rein ins Gewerbegebiet. Irgendwo in dieser Straße wartet Ines auf mich. Ich habe ein Bild vor Augen: Heller Morgen, die winkende Ines vor geöffneter Heckklappe. Und diese Imagination zugrunde legend scanne ich nun den linken Straßenrand vor mir ab. Wieso den linken? Weil ich links laufe, was vermutlich dem Umstand geschuldet ist, dass sie damals auf dieser Seite stand. Aber der Straßenrand ist leer. Auch weit voraus kein Fahrzeug, woran die Straßenbeleuchtung keinen Zweifel aufkommen lässt. Na, dann steht sie eben „weiter hinten“. Etwas in der Art geht mir gerade durch den Kopf, als ich Ines‘ Stimme höre. Von hinten!? Wie angewurzelt stehenbleiben und mich umwenden sind eins. Da steht tatsächlich unser Auto. Und nur unser Auto. Keins sonst, am rechten Straßenrand. Ja zum Teufel, wo denn sonst? In diesem Land herrscht Rechtsverkehr. Von nun an werde ich mir nicht mehr trauen, mich mehrfach der Unzurechnungsfähigkeit verdächtigen. Wie in aller Welt konnte ich auf übersichtlicher, erleuchteter, weithin einsehbarer Straße das einzige - noch dazu ein mir bekanntes - Auto übersehen???

Nächster Treff in der Oranienburger Chaussee, übernächster VP. Ines wird alsbald hinfahren und hoffentlich ein bisschen Schlaf finden … Nur zwei Minuten später verlasse ich das Gewerbegebiet und setze meinen Fuß in ein Wäldchen. Dahinter, vielleicht 200 Schritte weiter, werde ich wieder auf Asphalt unterwegs sein. 200 Schritte und schon nach den ersten stolpere ich. Sollte ich geschlafen haben - jetzt bin ich wieder hellwach. Wurzeln! Zu meiner Sicherheit entscheide ich mich auf dem kurzen Stück für die Gangart „Gehen“. Bei Gefahr im Verzug werden Prinzipien obsolet. Ich gehe zügig aber achtsam, weiche allen Fußangeln aus. Aufatmend betrete ich neuerlich Asphalt und trabe wieder an. Nicht weit allerdings, voraus erkenne ich bereits den nächsten VP.

VP 22 - Naturschutzturm - Km 135,3 - Laufzeit 21:56:27 Stunden (Uhrzeit: 3:56 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 178 - DNF bis zu diesem VP: 152

Mal nicht die übliche VP-Litanei herunterbeten, lieber eine Anekdote zur Unterhaltung meiner Leser erzählen: Kommt eine Staffelläuferin angeflitzt, noch ausgeruht, jung, auf rasches Weiterlaufen bedacht - früh morgens kurz vor vier. Bedient sich hastig am Büffet, fragt nach, ob man ihr einen speziellen Wunsch erfüllen könne. Bin zunächst mit nötigen Handgriffen zur Versorgung „mental ausgelastet“, bekomme nicht mit, was genau die Frau möchte. Einer vom Helferteam kümmert sich. Älterer, gemütlicher Herr, nimmt die Eilige mit „Berliner Schnauze“ verbal auf die Schippe. „Für dich mach ick doch allet!“ und weiter: „Sind doch alle nur hier, weil wa nich schlaf‘n könn‘ und froh, wenn wat los is!“ Gedanklich inzwischen Teil der Szene schmunzele ich und - oh Wunder, damit war nun wirklich nicht zu rechnen! - gebe meinen Senf dazu: „Stimmt! Ich jogge um die Zeit auch nur durch die Gegend, weil ich nicht schlafen kann!“ Alle lachen, nur die flotte Junge nicht. Zu hektisch und „dienstbeflissen“ die Dame, vor allem zu jung. Muss erst altern, um dem Humor älterer Herren folgen zu können. - Um nicht missverstanden zu werden, erläutert der Spötter ihr seine wahren Beweggründe: „In Wahrheit finden wa supertoll, wat ihr hier macht! Und deswejen sind wa hier!“*

*) „Berlin-native-Speakers“ bitte ich mir „dialektische“ Fehler zu verzeihen. Der Authentizität wegen wollte ich auf lokalen Sprachkolorit nicht verzichten.

Zurück in den Wald, zurück in vollkommene Dunkelheit. Abwechslung, auf die ich allerdings gerne verzichtet hätte, offerieren gepflasterte Forstwege. Pflaster, das zwei Weltkriege überdauerte und von anfänglichen Nutzern sicher als Teil des Fortschritts freudig begrüßt wurde. Heute hemmt es meinen Fortschritt, lässt sich dabei von moderater Steigung unterstützen. 2014 erstmalig nächtens in dieser Richtung laufend kam mir die Pflasterdistanz immens lange vor. 2018 spielte Erschöpfung mir vermutlich einen Streich, zeugte Verwunderung, weil ich denselben Abschnitt als kurz empfand. Und heute? - In dieser Nacht schließt sich der Kreis zu meinen Mauerweganfängen, gefühlt endlos reihe ich Schritt an Schritt … Unmöglich in Worte zu fassen wie sich das körperlich anfühlt. Es ist hart, fordert unaufhörlich, tut weh. In den Kanon seit Stunden unaufhörlich klagender Körperteile stimmen nach und nach auch die Füße ein. Der Rechte schwingt sich gar zum Solisten auf. Mir ist klar, was das bedeutet: Blasen. Auch wenn ich eher nicht dazu neige, Blasen sind eine Frage der Laufdauer. Mein Vorteil: Von Blasen ausgehende Schmerzen konnte ich noch immer gut ausblenden …

Außer dem Universum selbst ist in diesem Universum nichts von Dauer. Der Wald bleibt zurück, ich trabe durch ein Wohnquartier. Straßen ohne Leben, Menschen noch im Tiefschlaf, nicht mal eine Katze, die zur Unzeit um die Häuser schliche. Laternen verbreiten trübes Licht, also schalte ich meines aus. Die Straße steigt beständig an, entsprechend zäh komme ich voran. Aber ich komme voran, überdies noch immer im Laufschritt, und nur das zählt. Ich erreiche die Oranienburger Chaussee. Viel Licht von benachbarten Anwesen - Geschäfte, Gewerke, eine Tankstelle - erhellt die Straße. Jetzt noch etwa einen Kilometer geradeaus bis zum VP. Der mich allerdings weit weniger anzieht als die Aussicht auf eine Laufpause und - „first of all“ - meine Frau wiederzusehen.

VP 23 - Oranienburger Chaussee - Km 139,8 - Laufzeit 23:02:05 Stunden (Uhrzeit: 5 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 183 - DNF bis zu diesem VP: 156

Zwei Helfer und eine Helferin stehen hinterm „Tresen“, einschließlich mir zwei Läufer davor. Man schenkt mir Wasser ein, während ich den Umkreis nach einem blauen Auto absuche. Kann Ines jedoch nirgends entdecken. Während ich in kleinen Schlucken trinke (große kriege ich nicht mehr runter), tippele ich vorm Büffet hin und her, recke den Hals, spähe hierhin, bald dahin. Der Helfertruppe muss mein Gebaren sonderbar vorkommen. Was mögen sie denken? - Ist der Mann geistig und/oder körperlich außer Kontrolle? Sollten wir den nicht besser aus dem Wettbewerb nehmen? - Schlussendlich deutet man(-n) meine Ruhelosigkeit richtig: „Suchst du was?“ Dass ich meine Frau suche, die mich hier am VP erwarten wollte, tue ich kund. Was genau Beate*, die ich erst jetzt wahrnehme und erkenne, mit Ines „angestellt“ haben will, entgeht mir. Kann auch nicht nachhaken, weil sie eine Frage nachschiebt: „Weißes Auto? So eins ist vorhin da drüben auf den Parkplatz gefahren!“ Weiß und Blau sind selbst in mäßigem Laternenlicht gut zu unterscheiden. Also verzichte ich auf eine Parkplatz-Razzia. Als die Zeit zum Aufbruch reif ist, bitte ich Beate Ines zum übernächsten VP zu schicken, falls sie mich hier suchen sollte …

*) Beate ist eine liebe Bekannte, der Ines und ich schon mehrfach begegneten (ursprünglich beim Marathon in Eisenhüttenstadt und auch mehrmals anlässlich der 100 Meilen in Berlin). Wir trafen sie schon gestern Vormittag an einem anderen Verpflegungspunkt im Süden Berlins.

Ich mache mich auf den Weg, gehe, trinke aus. Das Gedankenkarussell beginnt sich schneller zu drehen: Wo könnte sie sein? Ich sorge mich natürlich, habe aber Skrupel zum Handy zu greifen. Wahrscheinlich schläft sie und wecken will ich sie nun wirklich nicht. Ich überquere eine abzweigende Seitenstraße, blicke an deren Trottoir entlang und … da steht unser Auto! Ein Blick durch die Seitenscheibe bestätigt meine Vermutung: Ines schläft. Offenbar so fest, dass nicht mal der helle Lichtschein meiner Lampe in ihrem Gesicht sie aufwecken kann. Was tun? Ich gehe zurück zum VP, bitte um Papier und Stift. Hektisches Kramen von Beate und Co. Leider Fehlanzeige. Bis einer der Helfer ein Blatt von der Küchenrolle abreißt und es mir samt dickem Filzstift in die Hand drückt.

„Bin weiter. Komm‘ zum übernächsten VP!“ kritzele ich auf den Fetzen, male einen Smiley und ein durchschossenes Herz darunter - so viel Zeit und Liebe muss sein! Danke ans Team und ab. Absicht: Meine Botschaft unter den Scheibenwischer klemmen. Wozu es allerdings nicht kommt: zurück am Auto blinzelt Ines mir verschlafen entgegen. Offenbar hat sie mich so „rasch“ nicht erwartet, ihren Handy-Wecker dementsprechend zu spät gestellt.

Ich jogge durch noch immer wie ausgestorben wirkende Straßen, werfe einen prüfenden Blick gen Himmel: Wie erwartet dämmert es schon. Erstmals werde ich es nicht schaffen das Ziel noch vor Tagesanbruch zu erreichen. Unvorsichtige Kalkulation: Noch trennt mich ein Halbmarathon vom Ziel. Boaah, ein Halbmarathon, so weit noch. In der Maßeinheit „Halbmarathon“ hätte ich mir die Reststrecke lieber nicht vorrechnen sollen. Die Vorstellung zieht mich runter. Weiß ich doch wie verdammt weit sich ein Halbmarathon ziehen kann - nein, nicht kann, sich mit Gewissheit ziehen wird! Ich pariere den mentalen Upper Cut, beweise Nehmerqualitäten: Mit welchen Worten und im Brustton der Überzeugung konterte Ines meine Zweifel? - „Du schaffst das schon!“ Natürlich schaffe ich das!!! Ich bin jedes Mal angekommen, musste nie aufgeben - ich werde auch heute ankommen! Und 20 km vor Schluss lasse ich mir ohnehin nicht mehr die Butter vom Brot nehmen - nicht nach 140 hart erkämpften Kilometern!

Dieser Berliner Stadtteil will kein Ende nehmen. Ein Kilometer, zwei, endlich lasse ich die letzten Häuser hinter mir und finde mich mitten im Grünen wieder. Ausreichend Licht von oben inzwischen. Ich reiße mir die lästige Lampe vom Kopf und verstaue sie im Rucksack. Die Pfeile schicken mich durch eine zumeist unbekannte Landschaft. Schaute sie ja auch nur einmal vor vier Jahren, dazu in Gegenrichtung. Wiesen, Brachland, ab und zu ein Wäldchen, in einer Senke ein Teich, von dem ich zwischen Buschgruppen allerdings nur eine flüchtige Ansicht erhasche. Horizont erweitert, ich kann meine Umgebung wieder wahrnehmen, Eindrücke aufnehmen, verarbeiten. Kein Leerlauf mehr im Hirn, das sinnlos, oft fragmentarisch vor sich hin „philosophieren“ müsste. Das erleichtert mir den unerbittlichen Kampf. Nichts anderes war und ist der Mauerweglauf seit Stunden für mich als Kampf und Leiden. Unaufhörlich dem Sehnen nach Stillstand widerstehen, stattdessen weitere Schritte setzen, die davon herrührenden Schmerzen ertragen …

Oh, mein Gott! Was für eine Steigung!? Aus stoischem Dahintippeln aufgeschreckt blicke ich voraus, zugleich hinauf. Ich wusste, dass da noch ein heftiger Buckel zu überwinden sein würde, geradlinig voran und unmittelbar vor der nächsten Tränke abflachend. Doch bisher war‘s dunkel, wenn ich da rauf musste. Ich mobilisiere verbliebene Kraft und Entschlossenheit und trabe hinan. Schrittweite minimal, Schrittfolge so weit reduziert, dass es noch als „Laufen“ durchgeht. Tippeln oder Steppen, scheinen mir allerdings als Bezeichnung besser zu passen … Der Schrecken flaut ab, ich münze ihn Vortrieb um. Stelle nach einer Weile mit einiger Genugtuung fest, auch nach 24 mit Laufen verbrachten Stunden ausreichend Power im Leib verfügbar machen zu können. Laufend steil aufwärts … und es gelingt mir mit weniger Mühe als befürchtet.

VP 24 - Lübars - Km 145,3 - Laufzeit 24:02:45 Stunden (Uhrzeit: 6 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 182 - DNF bis zu diesem VP: 157

Erst 145 km gelaufen, also immer noch 16 km von hier bis ins Ziel? Meine Uhr behauptet standhaft etwas anderes. Ihr „Global Positioning System“ billigt mir fast drei Kilometer mehr zu als die Tafel am Verpflegungspunkt. Also werde ich mich weiteren zwei Stunden dauernder Selbstgeißelung unterziehen müssen. Tatsächlich werden es sogar deutlich mehr als zwei Stunden sein - was ich weiß aber so genau gar nicht wissen will. Aussichten, die mich innerlich aufstöhnen lassen. Umso mehr, weil längst überholt ist, was bis vorm Morgengrauen noch galt. Die gnadenhalber lange stagnierenden Beschwerden haben ihr Stillhalten beendet, drehen seit einiger Zeit die Daumenschrauben fester an. Das mit dem „Freilaufen“ nach mehr oder weniger langer Pause funktioniert auch nicht mehr. Mit dem halbvollen Becher in der Hand marschiere ich los, trinke aus, gehe schneller und wechsle in noch möglichen „Tippeltrott“.

Nach und nach werden meine Schritte etwas länger, die Schmerzen lassen allerdings nicht mehr nach. Ich spüre in mich rein und bewerte die Situation: Kann ich aushalten. Auch über die noch bevorstehenden zweieinhalb Stunden. Leiden kann ich. Wenigstens eine Laufeigenschaft, die der Alterungsprozess nicht kappen konnte. Je älter ich werde, umso weniger physische Kräfte mir folglich verbleiben, umso wichtiger werden mentale: Willenskraft, Leidensfähigkeit, Durchhaltevermögen. Aber auch dem mentalen Einsatz sind Grenzen gesetzt. Sie ergeben sich im Grundsatz aus dem, was ein Mensch objektiv aushalten kann. Im Falle einer mit Leidenschaft betriebenen Freizeitbeschäftigung wie dem Laufsport subjektiv aus dem, was der Betroffene bereit ist zu erdulden. Also: was ich bereit bin mir zuzumuten. Ich habe mich entschieden und den gestern an den Tag gelegten, bis in die Nacht gepflegten Wankelmut aufgegeben. Dies ist mein letzter Wettkampf auf Distanzen von mehr als hundert Kilometern! Was ich nun schon seit vielen Stunden ertrage und noch länger werde aushalten müssen, um den finalen Erfolg einzufahren, überschreitet die Grenze des Zumutbaren. Ich will das nicht mehr. Nicht so verteufelt lange in dieser Intensität!

Solche gedanklichen Eier ausbrütend trotte ich voran. Durchquere „Landschaft“, so viel ist sicher. Was da wächst? Keinen Schimmer, interessiert mich nicht die Bohne. Die Gnade wieder sehen zu dürfen - ich nutze sie allenfalls unterdurchschnittlich. Durchquere ein Gewerbegebiet mit totaler Gleichgültigkeit gegenüber dem, was in den Werkshallen und Gebäuden wochentags entsteht. Heute Sonntagsruhe, Stillstand, außer dieser oder jener Läufernase kein Leben in den Straßen. Durchquere Wohngebiete, begegne einer Gassigeherin, zweimal auch Joggern. Wie geschmeidig man laufen kann! Und wie grässlich aussehen muss, was ich noch zuwege bringe. Ich kann versiegende Kraft, ruinierte Schritte, mein läuferisches Siechtum sogar hören. Seit langem schlurfe ich mehr als ich liefe. Lupfe die Füße nur minimal an, so dass sie beim Aufsetzen schleifen. Wie ich dieses Geräusch hasse! Mehrfach habe ich schon versucht - versuche es nun wieder - meinen Kniehub zu verbessern. Hält ein paar Schritte vor, bis die Konzentration nachlässt und das scheußliche Schaben wieder einsetzt.

Bahndamm rechts. Eine S-Bahn rumpelt vorbei, dann wieder Stille. Sonntagfrüh, zwischen sechs und sieben, wer will da schon unterwegs sein? Der Bahndamm bleibt mir erhalten, der Charakter des Streifens, auf dem ich laufe, ändert sich. Mal mehr, mal weniger als Park gestaltet. Zuletzt eine breite, wunderhübsch angelegte Grünanlage, sogar mit Blühstreifen für klitzekleine, geflügelte Berliner. Bekomme ich gar nicht mit. Nichts davon. Aber meine von der unterdessen warmen Morgensonne beglückte, liebe Ehefrau wird es mir in ein paar Minuten erzählen. Wird vom tollen Morgengassi mit unserer Hundedame berichten, das sie in diesem Park zelebrierte. Dann werde ich den VP erreicht haben und mich von ihr „Reloaden“ lassen. Mit Gel, Frohsinn und der unwiderlegbaren Überzeugung, wie schön doch dieser Morgen ist!

VP 25 - Bahnhof Wilhelmsruh - Km 151 - Laufzeit 25:03:50 Stunden (Uhrzeit: 7 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 180 - DNF bis zu diesem VP: 157 (unverändert)

Mein Zeitempfinden ging vollständig den Bach runter. Weder wie lange ich Ines nicht mehr sah, noch die Dauer des Aufenthalts hier an der „Tränke“ könnte ich abschätzen. Ich trinke wieder mehr, die Sonne wärmt bereits beträchtlich. Ob ich die Kamera mitnehmen möchte, fragt meine Frau. Ich denke darüber nach. Wahrscheinlich brauche ewig, ihr meinen Entschluss mitzuteilen. Blut und Gedanken kreisen mit der Konsistenz von Sirup … Eigentlich fehlt mir der Antrieb für weitere Fotos. Aber ich war auch immer Fotoreporter in eigener Sache. Also her mit dem „Dings“. Damit es sich keine allzu großen Hoffnungen auf Benutzt-werden macht, deponiere ich das „Bums“ in der Rucksacktasche. Ach ja: Lampe und Reflexionsweste - ich gebe die überflüssigen Utensilien an Ines weiter. Dann der Abschied. Wie ich glaube bis ins noch 10 km entfernte Ziel. Doch zu meiner Freude will Ines mich auch am letzten VP, keine fünf Kilometer entfernt, ein letztes Mal „supporten“.

Sehr lange mache ich keinen Gebrauch von der Möglichkeit meinen Laufweg wieder fotografisch zu dokumentieren. Nichts erscheint mir fotogen oder wichtig genug, um Muskelkraft zum Bedienen der Kamera abzuzweigen. Beinahe übermächtig durchzieht Erschöpfung alle Fasern. Gel hilft nur noch bedingt, muss aber rein, um nicht doch noch gehen zu müssen - diszipliniert alle 20 Minuten 100 Kilokalorien. Ich schlurfe voran, getrieben von Sehnsucht. Es ist nicht die Sehnsucht des Liebenden nach der Geliebten. Ankommen, nicht mehr laufen „müssen“, ist alles wonach mir jetzt noch der Sinn steht. Und meine Siegesgöttin Ines wird auch da sein, das ist sicher.

Ein Rampe für Fußgänger und Radler kommt in Sicht: Okay, da muss ich rauf, vermutlich um das Bahngelände zu überqueren. Seltsam: Gefühlter Hinfälligkeit zum Trotz setze ich ausreichend Beinkraft frei, um auch dieses Hindernis tippelnd zu überwinden. Es war fraglich, nun bin ich sicher: Es wird mir gelingen auch diesmal die 100 Meilen komplett laufend durchzustehen, wenngleich seit geraumer Zeit mit erhöhtem Sohlenabrieb. Die gigantische Fußgänger- und Radfahrerbrücke mit Blick zum Fernsehturm reizt mich dann doch wieder zu Fotos. Vielleicht erliege ich auch der Raffinesse meines Unterbewusstseins, das sich auf diesem Weg eine halbe Minute Stehpause ergaunert …

VP 26 - Mauerpark - Km 156,8 - Laufzeit 25:59:18 Stunden (Uhrzeit: 8 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 177 - DNF bis zu diesem VP: 157 (unverändert)

Am Fuß der mit konstantem Gefälle auslaufenden Brücke wartet der letzte Verpflegungsposten auf Kundschaft. Ich trinke nochmal, halte unterdessen Ausschau. Wo ist Ines? Will mich nicht lange aufhalten, will jetzt endlich ins Ziel. Gehe also los, trinke aus, … fühle mich dann doch verunsichert und will nicht ohne Antwort weiter: Wo ist meine Frau? Habe ich sie missverstanden? Vor einer Mauer bleibe ich stehen, streife den Rucksack ab und krame das Handy raus. Noch bevor es mir - von Erschöpfung verzögert - gelingt Ines‘ Nummer zu wählen, kommt sie mir entgegen: Wiedervereinigung. Durchaus passend zum Hintergrund des Mauerweglaufs.

Ines schwärmte vom Mauerpark, den sie besichtigte, sich dadurch verspätete. Ich laufe dran vorbei und blicke gänzlich emotionslos drüber weg. Was soll da sein? Da ist nichts, was ich irgendwie zuordnen, verstehen, erkennen könnte. Mein Geist scheint im selben Maße verkleistert wie mein Körper erschöpft.Vielleicht noch ermatteter, trägt er doch seit den Nachtstunden über Aushalten und Weiter-Wollen die Hauptlast im Wettkampf. Nicht mal das heutige, historische Datum ist mir bewusst: 13. August. Auf den Tag genau vor 62 Jahren begann die Errichtung des "Antifaschistischen Schutzwalls". Berlin-West wurde abgeriegelt. Es enstand das Paradoxon "Berliner Mauer". Paradox war: Obwohl eingemauert waren die West-Berliner frei zu gehen, wohin sie wollten. Und die DDR-Bürger vor der Mauer lebten im größten Konzentrationslager, dass es in diesem Land je gab. Will das heute noch jemand wissen?

Hinterm Mauerpark rechts … nach einer Weile erkenne ich die Gegend wieder: Bernauer Straße. Ein ausgesprochener Schandfleck deutscher, genauer: der DDR-Geschichte. Auch hier wurde auch auf der Flucht gestorben, mehrfach und mit Publikum, bei verzweifelten Sprüngen aus Fenstern … Daran denke ich jetzt nicht. Weil für geschichtliches Erinnern und Empathie längst keine Energie mehr vorhanden ist. Selbst die wirklich noch den hartgesottensten Zeitgenossen bewegende Gedenkstätte zur Berliner Teilung, dort drüben, auf der anderen Straßenseite, rührt nicht mehr an mein Innerstes. Da drin tut‘s einfach nur weh, so weh … ich will nicht mehr laufen, einfach stehenbleiben. Aber dieser unbeugsame Teil meines Egos, der verdammte Schinder in mir drin, der mich unerbittlich vorwärts peitscht gibt nicht klein bei. Befiehlt: Lauf! Verdammt nochmal lauf! Du bist gleich am Ziel!

BIN ICH EBEN NICHT! schreit es in mir. Am Besucherzentrum biege ich rechts ab. Weil’s der Läufer vor mit so hielt und weil’s die doofen, weißen Pfeile so wollen. Oh Mann! Ich kenne diese Straße, weiß, dass sie sich ewig hinzieht und nirgendwo ein Eisstadion mit Zielbogen versteckt sein kann … Minutenlang geradeaus auf barbarisch schmerzenden Beinen. Auf Füßen, die mich jetzt spüren lassen, was ich ihnen mit 160 Laufkilometern antat …

Unterführung, links abbiegen. Ich verrenke mir fast den Hals beim Kopfdrehen, um dieses blöde Eisstadion zu orten. Noch mehr Strecke machen, wieder geradeaus und immer noch diese unsägliche Pein. Dann rechts ab … Eine Frau kommt mir applaudierend entgegen … Selbst schuld, dass sie jetzt hier lang kommt! „Wo haben die dieses blöde Eisstadtion versteckt!“ mache ich meinem Leiden Luft. „Gleich hinter der nächsten Ecke! Bist fast da!“ klärt sie mich lächelnd auf. Schließlich um die Ecke und dann liegt es tatsächlich vor mir - das Eisstadion. Noch hundert Meter bis zum Tor, dann rein … Ehrenrunde um’s eisbefreite Freifeld. Wundersame Wandlung in Udo: Kein Schmerz dringt mehr durch und keine Erschöpfung - die letzten Meter. Einmal rum, jetzt aufs Zieltor zu. Und auf Ines, die dahinter wartet! Kein Triumpf, kein Glück, eine Schlacht geht zu Ende. Und doch sind meine Augen feucht. Finaler Schritt über die Ziellinie, ich bin „laufend angekommen“.

Ziel Erika-Hess-Stadion - Km 161,3 - Laufzeit 26:43:08 Stunden (Uhrzeit: Viertel vor 9 Uhr)

Platzierung Einzelläufer, Herren: 176 (von 251 Finishern)

157 Läuferinnen und Läufer gaben auf (ein Drittel aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer).

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„Was empfindet man in dem Moment?“ wird mich einige Tage später mein Masseur fragen, während er meine LWS-Region malträtiert. „Was man empfindet …“ werde ich antworten „… weiß ich nicht! Mich beherrschte nur grenzenlose Erleichterung nicht mehr laufen zu müssen!“ - Dazu die Freude mit meiner Frau vereint zu sein. Auch Freude ins Hotel fahren, duschen anschließend üppig frühstücken zu können. Rückgewinnung von Annehmlichkeiten, während sich zugleich meine unteren Extremitäten anfühlen als hätte man mich aus einem Schredder gezogen. Freude über und Zufriedenheit mit meiner Leistung stellen sich nur zögerlich ein, später bei der Siegerehrung und an den Tagen danach. Zunächst musste ich die Tortur von 26:43:08 mit Laufen und Schlurfen verbrachten Stunden emotional verdauen.

 

Fazit zum Wettkampf und Vorschau

Es war der erwartet schwere Wettkampf, auch wenn es sich im ersten Drittel leichter anließ, als befürchtet. Dadurch und infolge ständiger Begegnungen mit meinem „Dream-Supporter-Team“, mit Freunden und vielen Laufbekannten, konnte ich das Flämmchen „Laufvergnügen“ lange am Flackern halten. Mit einsetzender Dunkelheit erlosch es endgültig. Von da an musste ich mehr und mehr kämpfen; auf dem letzten Drittel, immerhin mehr als acht elend lange Stunden, mich zunehmend quälen. Möglich war diese Leistung nur auf Basis der vielen konsumierten Gels. Etwa 7.000 kcal in fast 27 Stunden.

Es war aus sportlicher Sicht, was Freude am Laufen angeht und auch hinsichtlich des Faktors „Leidenmüssen“ der am wenigsten gedeihliche meiner vier Mauerwegläufe. Aus den oben schon dargestellten Gründen, war es auch der letzte. Überhaupt der letzte Wettkampf jenseits der Marke 100 Kilometer.

Ich laufe jetzt in Altersklasse M70. Die nicht enden wollende Tortur auf einer so langen Strecke möchte ich mir nicht mehr zumuten. Noch weniger den irrsinnigen Aufwand des Trainings davor. Und auch nicht den mentalen Druck, unter den die brutale, nicht mit erforderlichem Forschritt verlaufende Vorbereitung mich über Monate setzte. Letztlich konterkarierte sie den Spaß am Laufen, das wichtigste aller Motive.

Entscheidend ist auch mein Anspruch an mich selbst: Ich bin Läufer. An Veranstaltungen, die ich mutmaßlich nicht von Anfang bis Ende laufend bewältigen kann, will und werde ich nicht teilnehmen. Außerdem möchte ich das Ende auf der jeweiligen Distanz selbst bestimmen und nicht unterwegs die rote Karte gezeigt bekommen. Auch in diesem Sinne ist es Zeit von hyperlangen Strecken Abschied zu nehmen.

Eine Rolle spielt auch fehlende Motivation: Ich habe inzwischen alles erreicht, wovon ich läuferisch träumte. Sogar mehr als das: Ich errang zwei deutsche Meistertitel im 24-Stundenlauf in meiner jeweiligen Altersklasse, finishte den Comrades Ultramarathon in Südafrika und den Ultraklassiker der Straßenläufer schlechthin, den Spartathlon. Für Veranstaltungen, deren Anforderungen diese Erfolge noch toppen könnten, bin ich inzwischen zu alt und leistungsschwach. Nicht schlimm, ich bin mehr als zufrieden mit dem Erreichten.

Künftig werde ich kleinere Brötchen backen, die in Relation zu meinem Alter aber immer noch groß genug ausfallen werden. Nicht mehr laufen wird jedoch so lange keine Option sein wie mir Leben und Mobilität erhalten bleiben.

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe mein Fazit von 2014 plus Ergänzung von 2019.

 

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