13. Mai 2023

Finger dick, Kopf leer  -  Supermarathon am Rennsteig

Es gab eine Zeit, da plante ich meine Saison wie die Bahn ihren Fahrplan - Zug um Zug in Tabellenform gelistet. Damals unterschied mich Pünktlichkeit, mit der ich die Liste übers Jahr „abarbeitete“, von der maroden Eisenbahn. In den letzten Jahren ließ nicht nur die Zuverlässigkeit der Bahn immer mehr zu wünschen übrig. Bis dato absolut verlässliche Marathon- und Ultralaufkalender fingen sich Corona ein und lagen danieder. Planung? Ausgeschlossen. Als die Kalender allmählich genesen, treffen dafür mich ernste gesundheitliche Nackenschläge. Ironie meiner Krankengeschichte: Genug Heftiges gab’s auszukurieren, nur Covid nicht. Fast drei Jahre gingen so ins Land. Sie formten aus dem (durchaus noch) „Comrades-Helden 2019“ den gealterten, leistungsschwachen Läufer dieser Tage. Ich wehre mich, halte dagegen, indem ich erstens kämpfe. Will heißen: Permanent am Limit viele lange Kanten laufe, dabei die Daumenschrauben (Länge, Höhenmeter) immer weiter anziehe.

Als weitere Konsequenz verzichte ich auf einen fixen Fahrplan. Es ist nicht sicher, dass ich mein Saisonziel in diesem Jahr werde antreten können. 100 Meilen in Berlin (Mauerweglauf) zu laufen kommt mir einstweilen noch galaktisch weit vor. Freigaben für die jeweils nächste Eskalationsstufe, heute eben der Supermarathon am Rennsteig, erteile ich mir sukzessive. Späte Anmeldung bedeutet das, weswegen ich mit der hohen, nicht mit Vornamen personalisierten Startnummer 2652 ins Rennen gehe. Ein „Rennen“, von dem ich nicht weiß, wie es ausgehen wird. Natürlich hoffe ich auf und glaube an den Erfolg. Und Erfolg definiere ich so: Ankommen und möglichst viele - idealerweise: alle - Anstiege laufend bewältigen. Als Basis für Zielzeitschätzungen dient die Laufzeit aus dem Vorjahr. Damals blieb ich mit rund 9:57 Stunden knapp unter der Zehnstundenmarke. Das sollte zu schaffen sein, auch wenn ich derzeit mutmaßlich weniger „fit“ bin als 2022 zur selben Zeit.

5:45 Uhr, noch eine Viertelstunde bis zum Start. Und ich habe absolut keine Lust zum Laufen. Nicht die bevorstehenden 74 km weit und 1.800 Höhenmeter hoch, ehrlicherweise nicht mal drei Schritte. Was ich fühle, ließe sich zur Formel „Warum in aller Welt tue ich mir das in meinem Alter noch an!?“ verdichten. Damit meine ich zunächst mal den Rahmen des Ganzen: Weite Anreise solo, schwierige Logistik einer Punkt-zu-Punkt-Strecke und Aufstehen zu nachtschlafender Zeit. Insbesondere Letzteres traf mich heute extrem hart. Seit dem Wecksignal um 4:30 Uhr stehe ich total neben mir. Vorhin verzog ich mich ins Rennsteiglauf-Zelt, weil’s drinnen erträglich und draußen mit 9°C viel zu kalt ist. Um nicht lange anstehen zu müssen, besinne ich mich bald eines anderen, ziehe die Fleecejacke aus, liefere meinen Kleiderbeutel am Lkw ab und mich selbst der Kälte aus. Reumütig kehre ich ins Zelt zurück, das sich schon zu leeren beginnt. Und siehe da: Da sitzt einer, den ich kenne. Ernst, ein Österreicher aus der Nähe von Steyr, mit dem mich diverse Lauferinnerungen verbinden. Sechs, sieben Minuten bis zum Start müssen nun reichen, um sich gegenseitig „notdürftig“ auf Stand zu bringen. Abschließend gute Wünsche fürs Rennsteig-Abenteuer und als der Startschuss über den Platz hallt, geht jeder seiner Wege …

Strecke Supermarathon am Rennsteig (Quelle: www.rennsteiglauf.de)

Während die mehr als zweitausend Köpfe zählende Meute dem schmalen Trichter Starttor zustrebt, klingt die Begegnung mit Ernst, ein unverdienter Glücksfall, noch in mir nach. Zur Startlinie drängen nicht zwei Udos, der desorientierte neben mir wurde wohlwollend wieder aufgenommen. Lauflust fehlt noch immer, doch wenigstens fühle ich Entschlossenheit, diesen Weg zu gehen, besser: zu laufen. Furcht verspürte ich ohnehin keine. Und auch „berechtigte Bedenken“ fliegen jetzt gen dämmrigen Morgenhimmel … hin zum kreisenden Hubschrauber, dessen Rotor sie in alle Winde zerstreut.

Über die Startlinie, unmittelbar darauf windet sich der bunte Lindwurm durch die Eisenacher Fußgängerzone. Zwei Minuten später zum Stadttor hinaus, ums Eck und übergangslos beginnt, was mich nun mehr als drei Stunden im wörtlichen Sinne in Atem halten wird: Der Anstieg zum Großen Inselsberg, 700 Meter Höhendifferenz auf den ersten 25 Kilometern. Rechnet man die gelegentlichen Ab- und neuerlichen Gegenanstiege hinzu, addieren sich auf diesem ersten Stück bereits etwa die Hälfte der insgesamt 1.800 Höhenmeter. Es war der Rennsteig selbst, der mich lehrte auf diesen ersten 25 Kilometern Zurückhaltung zu wahren, sie als entscheidenden Abschnitt des Supermarathons zu werten. Wer auf dem Weg zum Inselsberg überzieht, schießt sich ab. Und das lange bevor er es bemerkt! Auf noch ausgeruhten, wenig strapazierten Beinen ist diese Gefahr riesengroß. Woher ich das wohl weiß?

Rasch taucht die vielfarbige Flut der Läufer im Laubwald unter, füllt die alte, steile Straße in voller Breite aus. Schon hier gehen die Ersten, ähneln im Fluss verkeilten, von Wasser umspülten Ästen. Debütanten können es nicht wissen: Sich hier zu beeilen bringt ohnehin nichts. Obschon kein Neuling und in Kenntnis dessen, was gleich geschehen wird, trabe auch ich stur hinan: Nur ein paar hundert Meter weiter verengt sich der Kurs zum Wanderweg, Stockungen, sogar Staus sind die Folge. Meine Uneinsichtigkeit hat stets denselben Grund: Ich wünsche mir sehnlichst alle Passagen im Laufschritt zu bewältigen. Um es zum x-ten aber sicher nicht letzten Mal zu erläutern: Es geht mir dabei nicht allein um meine Einstellung zum Laufsport: Ich bin Läufer, kein Geher! So empfinde ich durchaus. Noch mehr Gewicht hat, was Gehenmüssen in meinem Kopf anrichtet: Früher oder später Übellaunigkeit.

Anlässlich Supermarathon Nummer eins (2008) und zwei (2013) nervte mich die vom verstopften Wanderpfad verursachte „Temponötigung“ noch. Das ist lange her und hielt einen damals leistungsfähigen Läufer auf. Auf dem Weg zum fünften Finish nehme ich die Behinderungen gottergeben hin. Nutze sie sogar, für Fotos und um mehrfach wieder vollen Atem zu schöpfen. In etwa einer Stunde werde ich einem gewissen Daniel die Ursache meines Gesinnungswandels so beschreiben: „Altersbedingter Leistungsverfall lässt sich nicht weg-diskutieren und auch nicht weg-trainieren!“

Schon der Weg durch den mit frischem, hellgrünem Laub gesegneten Forst, etwas, an dem ich mich nie werde sattsehen können, war reizvoll. Und doch warte ich gespannt auf die Lücke im Laubwald. Auf die Aussicht ins Tal über eine von Weidezäunen umfriedete Grasfläche hinweg. Der vorhin noch durchs Blätterdach blitzende, glutrote Ball der aufgehenden Sonne verschwand zwar hinter einer Wolkenformation, trotzdem werde ich nicht enttäuscht. Selbst das Herz des bekennenden Morgenmuffels Udo schlägt bei diesem Anblick höher. Ein Anblick, den mein Foto nur mangelhaft wiedergibt und vor dem mein Wortschatz versagt. Und ich bin nicht der Einzige, den die von Nebeln im Tal und dem Strahlenfächer der Sonne komponierte Stimmung packt. Auch andere stehen und schauen. Einer kommentiert gar mit Andacht: „Schau dir das an! Ist das nicht fantastisch?“

Weiter im Wald, weiter auf einem Pfad mit ständig wechselnder Steigung. Immer wieder umtippele ich Geher. Kluge Menschen, die ihre Körner sparen wollen. Das Geläuf des Rennsteigzubringers - der eigentliche Rennsteig beginnt erst bei Kilometer sieben - ist in besserem Zustand als nach der Regenflut der letzten Tage zu befürchten stand. Nur gelegentlich Pfützen oder Morastlöcher, denen ich mühelos ausweichen kann. Die Distanz bis zum nächsten, mit Spannung erwarteten „Viewpoint“ zieht sich in die Länge. In der Erinnerung schrumpfen Distanzen häufig, vor allem, wenn sich lange nichts zeigt, das im Gedächtnis Anker werfen könnte. Aufwärts, vorwärts, beidseits Wald, Laubwald, mal älter, bald jüngere Bestände - dabei ertrabe ich mir die Kilometer drei bis sechs. Und dann ist es so weit, wieder öffnet sich eine Sichtschneise.

Was für eine zauberhafte Aussicht, welche Magie! Lass dich drauf ein und es ergreift auch dich. Dafür musst du weder gläubig noch in deutscher Geschichte belesen sein. Brauchst nichts von Luther wissen, der dort drüben in Klausur und unterm Patronat des sächsischen Königs die Bibel übersetzte - dort drüben auf der Wartburg. Schon letztes Jahr und heute wieder ein Bild zum Einrahmen, das mich, wäre ich Poet, zu Versen animierte …

„Schau mal!“ ruft sie ihrer Begleiterin zu … „Ja, okay, was ist denn da?“ tönt es halbherzig interessiert zurück und deshalb setzt es eine verbale Ohrfeige: „Na, du musst schon herschauen!!!“. Gelächter im Pulk der Ehrfürchtigen, das Resten verbliebener Andacht das Licht ausbläst. Weiter also, wieder antraben, stückweit noch aufwärts zum ersten Verpflegungspunkt (VP) bei Kilometer sechs. Ich trinke Cola. Viel Cola. „Viel“ in Anbetracht der hohen Schweißrate bergauf. Und „Cola“, weil sie Zucker enthält. Anders als sonst werde ich jede VP-Gelegenheit nutzen, um Extra-Kalorien zu bunkern. Auch das Stück Banane, das ich mir beim Aufbruch noch rasch in den Mund schiebe, ist Teil dieser „Überlebensstrategie“. Die Basis externen Kohlehydratnachschubs bilden wie stets Energiegels (heute 10 Beutel im Laufrucksack).

Kurz hinter der Tränke mündet der Zubringer in den eigentlichen Rennsteig. Wie jedes Mal und dem nahen Parkplatz geschuldet, bildete sich hier eine Zuschauerkolonie. Angehörige der Läufer vermutlich, wer würde sonst um diese Zeit freiwillig sein Bett räumen? Die Schlachtenbummler sparen angesichts der nun schon aufgelockerten, auf die „Rennsteig-Autobahn“ einbiegenden Läuferkette nicht mit Beifall. Nirgendwo findet man den Rennsteig breiter und weniger uneben vor als auf den nächsten Kilometern. Bestes Geläuf unter den Füßen, dessen Wert Rennsteigläufer zu dieser frühen Wettkampf-Stunde noch gar nicht zu schätzen wissen. Das kommt später, nachdem ihnen der Rennsteig zigmal gemein gegen die Knochen getreten hat …

Ich bin gut drauf: Kopf inzwischen frei, zum Erfolg entschlossen, Anstrengung reinigte das frühmorgens verschmutzte Gemüt. So weit zum Geistigen, das natürlich am Physischen hängt, von dem ich aber auch nur Gutes zu berichten weiß. Bergauf joggen fällt einem stämmigen M70er zwar niemals leicht. Doch … wie sag ich’s, so dass es jeder richtig einordnen kann? … meine Beine kommen überraschend gut klar; sind nicht schwer, was sie dieses Jahr schon oft waren und signalisieren Reserven für unabsehbare Zeit. Mein Laufrhythmus wird nicht von übermäßiger Zurückhaltung bestimmt, enthält aber auch keine Spuren dummen Ehrgeizes - abgesehen natürlich vom Vorsatz alles laufen zu wollen. Die Beine formen nicht zu kurze, keine zu langen und angemessen getaktete Schritte. Das Tempo richtet sich nicht nach Vorgaben, es bleibt wie üblich inneren Automatismen überlassen. Ich werde überholt und überhole selbst. Vielfach handelt es sich dabei um dieselben Frauen und Männer. Nicht nur jetzt - ich greife mal vor -, letztlich bis ins Ziel. Profil und individuelle Lauftaktik bestimmen die Verschiebungen im Feld. Udo trabt/tippelt/steppt aufwärts immer, was ihn jeweils in Front bringt. Abwärts gerät er wieder ins Hintertreffen. Natürlich geht auch Zeit zum Fotografieren, beim Verpflegen an VP oder durch sonstige Stopps verloren.

Laubwald, dessen Blattkleid sich im nasskalten Frühjahr noch nicht vollständig entfalten konnte, begleitet beidseits des Rennsteigs meine Schritte. Zu lange zu kalt, was mich allerdings mit dem optischen Genuss frischen Grüns beschenkt. Der Himmel tendiert anhaltend zu schönem Wetter. Ist überwiegend zwar noch wolkenverhangen, die Lücken werden aber größer. Gelegentlich bricht die Sonne durch und entfacht im Thüringer Wald hellgrüne Leuchtfeuer … Dass mich immer wieder Schatten einfängt, ist hinnehmbar. Hauptsache kein Regen! Erste mit Fichten bestandene Flecken mogeln sich zwischen die Laubbäume. Um genau zu sein: Vorzeiten wuchsen hier Nadelbäume. Jetzt sind die meisten Flächen entweder kahl oder mit Baumnachwuchs bepflanzt in Wiederaufforstung. Wo die einst stolzen Fichten noch stehen, ragen sie zu hunderten abgestorben, ihrer Nadeln und Rinde beraubt, als Mahnmale in den Himmel. Heute gelingt es mir zu dieser Verheerung innerlich Distanz zu halten. War auf solche Bilder vorbereitet, zudem hat das Waldsterben am Rennsteig nicht jenes apokalyptische Ausmaß, das mich heute vor zwei Wochen im Harz* bis ins Mark erschütterte. Im Vorgriff auf die nächsten gut 60 Kilometer: Vielerorts leben die Fichten im Thüringer Wald noch. Wie gut oder schlecht, kann ich als Laie nicht einschätzen.

*) Harzquerung, 53 km

Beim Abfassen von Laufberichten misslingt bisweilen der Versuch, Versunkenes dem „Schwarzen Loch meines Gedächtnisses“ zu entreißen. Das betrifft mehr oder weniger lange Abschnitte ohne fulminante oder wenigstens einprägsame Bilder und Erlebnisse. Passagen, auf denen ich lediglich Schritte aneinander reihe und vor mich hin brüte. Gedanken kommen und gehen, unter ihnen kein einziger von Belang, nichts, das im Gedächtnis dauerhaft Spuren hinterließe. Ein unablässiger Mahlstrom vergehender Ideen oder in Worte verwandelter Wahrnehmungen, oft auch nur Fragmente davon. Manches wird im Strom der Laufzeit mehrfach ins Bewusstsein gespült, wie in einem Wasserwirbel gefangene Holzstücke. Entlang eines Weges wie dem Rennsteig, wo es ausgedehnt nichts weiter zu sehen gibt als Pflanzengrün und bunte Läufer, unterliege ich diesem Effekt vermehrt.

Mit diesem Trio, eine Frau und zwei Männer, die „irgendwie“ zu ihr gehören, verhält es sich anders. Was erstens daran liegt, dass wir uns während bald zweier Stunden vielmals gegenseitig den Rang ablaufen. Gründe dafür? - Siehe drei Absätze weiter oben. So kommt es, dass ich detektivisch - quasi als Zeitvertreib - auf der Basis von Beobachtungen und unüberhörbaren Bemerkungen das Beziehungsgeflecht der drei zu entschlüsseln suche. Dabei liege ich, wie ich später erfahre, bei einem Schenkel des Dreiecks durchaus richtig. Dennoch werde ich diesen Teil des erstellten „Dossiers“ nicht enthüllen. Erstens steckt nichts dahinter, woraus „seriöse“ Medien, wie beispielsweise die BILD-Zeitung, eine emotionale Schlagzeile dichten könnten. Und zweitens wahre ich gerne die Anonymität mir unbekannter Mitläufer, die im Bericht Erwähnung finden. Für eine Ecke des Dreiecks gilt das jedoch nicht. Selber schuld! da er mich mit Namen anspricht und es nicht lassen kann mir für die vielen Laufberichte zu danken. Insbesondere für jenen vom Spartathlon, der nicht nur ihm, sondern auch einem Bekannten ausnehmend gut gefallen habe. Daniel verfügt offensichtlich über die Fähigkeit Wesentliches in knapper Rede auszudrücken. Mit drei Sätzen lässt er mich erkennen, wie tief er in die läuferische Gedankenwelt einiger meiner Berichte eintauchte. Nicht zuletzt mit der (vorläufigen) Schlussbemerkung, mir kein Gespräch „aufdrängen“ zu wollen.

I’m amused and also deeply impressed! während sich das Prozedere des Überholens und Überholtwerdens zwischen Trio und Udo unablässig fortsetzt. Sobald ich wieder einmal Daniels Rückfront ansichtig werde, kann ich mich eines Schmunzelns nicht erwehren. Tatsächlich zehre ich von dieser Begebenheit, die sich nur infolge zufälliger räumlicher und zeitlicher Koinzidenz ereignete. Eine Art Kurzfilm mit Fortsetzung, da Daniel ein weiteres Mal „längsseits kommt und andockt“. Und mich vor Vergnügen beinahe zum Quietschen bringt, bittet er doch tatsächlich um ein gemeinsames Foto. O-Ton: „ ... wenn sich schon mal die Gelegenheit ergibt!“. Gerade so als joggte hier ein Promi über den Rennsteig.*

*) Solche Leute können dir im Laufzirkus durchaus begegnen. Der Regisseur Volker Schlöndorff lief mir einst leibhaftig beim Spreewald Marathon über den Weg. Und vom Komiker Wigald Boning weiß man, dass er nicht nur Blödeln und rosa Maßanzüge tragen, sondern auch marathon- und ultraweit laufen kann.

Apropos „rosa Maßanzug“: Ich kann nicht an mich halten diese Anekdote zum Besten zu geben, obschon sie rein gar nichts mit dem Laufen zu tun hat: Vor bald 30 Jahren wollte es der Zufall, dass ich in einem Linienflieger zufällig neben Wigald Boning saß. Er trug seinerzeit - standesgemäß, sozusagen als Arbeitskleidung eines Komikers - einen quietsch-rosa farbenen, witzig gemusterten Anzug. Das Bizarre der Sitzordnung, das mich heute noch amüsiert, war der Kontrast unser beider Staffage. Ich war damals noch Soldat und dienstlich nach Köln unterwegs. Und nun stelle dir vor: Wigald in rosa und daneben Udo in dunkelblauer Luftwaffen-Ausgehuniform. Zumindest optisch eine kritische Masse aus Feuer und Wasser. Mindestens eine Kettenreaktion mit anschließendem Lichtblitz über deutschen Landen wäre die Folge gewesen, hätten sich unsere Ärmel auch nur berührt …

Nett, dass Daniel meinen verglühenden Stern am Laufhimmel noch einmal aufpoliert. Und vielleicht überrascht ihn sogar, dass ich aktiv das Gespräch mit ihm suche. Dabei erfahre ich unter anderem, dass er sich ausgerechnet von meinem läuferischen Glaubensbekenntnis „Ich bin Läufer, kein Geher!“ inspirieren lässt. Gleich mir trachtet er danach jeden Meter einer Strecke zu laufen, piepegal wie steil sie auch sein möge. Ich relativiere natürlich, spreche von Kompromissen, die in Abhängigkeit von Geläuf und Erschöpfung einzugehen sind. Laufen ist Leidenschaft, da sind wir uns einig. „Leidenschaft, die Leiden schafft!“ lasse ich mich spruchklopfend ein, weil mir das Bonmot so gut gefällt. „Schau’n wir mal …“ meint Daniel nur, nicht offen aber offensichtlich widersprechend. Wie es scheint ist er für den Supermarathon, sein bisher längstes Laufziel, bestens konditioniert!*

*) Daniels spätere Endzeit unter neun Stunden beweist wie richtig er mit der unausgesprochenen Selbsteinschätzung lag.

Auch diese beiden „mittelalten“ Läufer gehören „irgendwie“ zusammen. Freunde vielleicht. Einer trägt Laufrucksack, der andere ist ohne Ballast unterwegs, wenn man vom Smartphone in seiner Hand absieht. Dessen Monitor traktiert er gerade eifrig mit den Fingerspitzen, wischt, tippt, verkündet schlussendlich: „Er ist schon an der Grenzwiese*! Will wissen wie’s uns geht.“ Der andere brummt nur: „Sag ihm: Die Finger sind dick und der Kopf ist leer!“ Herrlich, was man an kuriosen Sprüchen auf langen Strecken so aufschnappen kann … Allerdings ist es ein bisschen früh für Leere unterm Schädeldach. Beipflichten würde ich allenfalls einem „leer“ im Sinne von „sorgenfrei“ oder „Frust abgebaut“. Nicht „leer“ im Sinne von „hohl“, ausgebrannt, im Tunnel laufend. Kann/wird mich auch heimsuchen, aber bitte erst zum Ende hin.

*) VP hinterm Großen Inselsberg

Schlussanlauf auf den Großen Inselsberg, dessen turmbewehrtes Haupt mehrfach von ferne schon auszumachen war. Ich wappne mich im Stillen vor der erwarteten Härte, schwöre mich noch einmal auf meine Absicht ein: Alles laufen! Etwa zwei Kilometer vorm Gipfel beginnt die Serie steiler Anstiege, gottlob mehrfach unterbrochen von flacheren Abschnitten zur Erholung. Zumindest mich bringt die Serie ans Limit. Ich tippele hinan und bilde unter Vernünftigen die störrisch dumme Ausnahme. Alle (!) anderen handeln effizient und gehen. Nach einer Weile bleibe ich schnaufend stehen, sammele Fotos und komme rasch wieder zu Atem. Tippeln … kurz schnappatmen … wieder tippeln … schnappatmen … klitzekleine Steppschritte … Und doch fühle ich mich „gut“, erweist sich meine Tagesform doch genau jetzt als belastbar. Es geht, ich komme bergwärts voran. Musik schallt mir aus einem Ghettoblaster entgegen, den der applaudierende Mann - Streckenposten? Bergwachtler? Rennsteiglauf-Fan? - hier herauf schleppte. Eine Weile steppen meine Füße im Rhythmus von Rainhard Fendrichs Hit „Es lebe der Sport“ gen Inselsberg.

Ich befrage meinen GPS-Wecker, dessen Kilometerzähler ich vorhin mit der Weitenangabe auf einem Wegweiser eichte: Noch etwa 500 Meter bis zum Gipfel … Der Weg flacht ab, ich gebe mir die Sporen: Jetzt keine Verschnaufpause mehr! Der Wald lichtet sich, hohe Gebäude rücken ins Blickfeld, Antennen on top. Den Höhenrekord hält sicher ein Fermeldeturm, dessen Spitze ins Himmelblau piekt. Wieder mitreißende Musik, die den Vorbeitrottenden Beine macht, diesmal aus leistungsstarker Lautsprecheranlage. Ein Plakat am Maschendrahtzaun dahinter soll Läufer zum „Thüringen Ultra“ locken! Aufgehängt von „Werbetreibenden“, die den Zug der Atemlosen anfeuern. Unter ihnen … das ist doch … kein Zweifel, da steht Gunter Rothe, der Veranstalter des im Juli stattfindenden 100 km-Laufes. Kaum erkannt, kommt er auch schon auf mich zu: „Da ist noch einer!“ und: „Wann war das noch?“ - Mit diesen Worten hebt er nicht auf meine zwei Teilnahmen an seinem „Thüringen Ultra“ ab. Es gibt eine weitaus stärkere gemeinsame Erinnerung, eine die zwei Menschen auf Lebenszeit untrennbar verschweißt. Gleich wie selten sie sich sehen und wie unterschiedlich sie auch sein mögen. Ich lernte den Spartathlon-Mehrfach-Finisher Gunter Rothe 2016 in Griechenland näher kennen …*

*) Meine Anmerkung ist nicht Ausdruck elitären Dünkels. Dergleichen liegt mir fern. Nur wer dabei war, vielleicht nicht mal das Ziel in Sparta erreichte, versteht, was einem Teilnehmer der Spartathlon bedeuten kann. Auch entwickelt sich ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, dem sich sicher nur wenige entziehen können.

In Hochstimmung über den Großen Inselsberg, die rein gar nichts mit der Höhe hier oben zu tun hat. Alsbald wieder hinab und rein in die Zerreißprobe für Muskeln, Sehnen und Bänder. Anfangs über Treppenstufen, aus Bahnschwellen zurecht gezimmert - noch einigermaßen erträglich. Später auf asphaltiertem Pfad steilst (!) hinab, zu überaus kurzen Schritte genötigt, um nicht die Kontrolle übers eigene Gewicht zu verlieren. Trotz defensiver Laufweise schreien meine Oberschenkel alsbald ihre Not heraus. Ich brauche fast zehn Minuten für gut einen Kilometer - bergab wohlgemerkt. Dabei bin ich noch vergleichsweise flott unterwegs, überhole andere, die noch vorsichtiger zu Werke gehen …

Die brutale Schussfahrt endet unmittelbar vorm VP „Grenzwiese“. Einer jener „Haupt-VP“, die das berühmt-berüchtigte Spezialangebot des Rennsteiglaufes offerieren: Mit Schmalz, Wurst, Käse oder Leberwurst bestrichene Brotscheiben, Dauerwurststücke und nicht zu vergessen der legendäre „Schleim“. Abstoßend allein schon das Wort, sieht darüber hinaus aus wie schon mal gegessen und schmeckt wässrig fad. Und doch überwinde ich mich und würge ich die Haferflockenpampe heute an zwei Stationen runter. Ein Heer von Helfern müht sich ständig um Nachschub auf dem Tresen, der natürlich auch all das feilbietet, was es bei anderen Laufveranstaltungen zu naschen gibt. Nur kein Wasser. Wasser ist aus! Ausgerechnet Wasser? Da bin ich dann doch verblüfft und lasse die verlautbarte Begründung „Kein Wunder bei dem schönen Wetter!“ nicht mal ansatzweise gelten. Vor diesem gingen bereits 49 Rennsteigläufe über die Thüringer Waldbühne. An Erfahrungswerten unter verschiedensten Bedingungen mangelt es wahrlich nicht. Wie kann es da passieren, dass man zu wenig Wasser vorhält?

Mit prall gefülltem Bauch (Schleim, Brot, eins meiner Gels und reichlich Cola) wende ich mich dem nächsten Streckenabschnitt zu. Von dem erwarte ich vor allem eins: Weniger Beanspruchung durch Höhenmeter. Tatsächlich komme ich zügig und noch gut bei Kräften voran. Weniger Höhenmeter bedeutet aber beileibe nicht flach. Da und dort schnellt mein Puls dann doch wieder in die Höhe, auch ohne Steilhänge, die Atempausen wie am Inselsberg erzwingen würden. Was sich diesseits des Großen Inselsberges mehr und mehr Laufzeit-verlängernd auswirkt, sind Streckenteile mit zum Heulen schlechtem Geläuf.

Persönlich beleidigt fühle ich mich von einem kleinen, vorwitzigen Stein, der es unternimmt in die Fersenkappe meines Schuhs zu hüpfen. Obwohl ich zur diesbezüglichen Abwehr das bestgeeignete Modell meiner Laufschuhsammlung auswählte. Das Teilchen ist zu groß und kantig, um es zu ignorieren. Also stehen bleiben, Schuh ausziehen und den Übeltäter entsorgen …

VP „Possenröder Kreuz“: Trinken, Gel rein und weiter, nun schon mit Haken hinter Kilometer 33. Wieder eine Riesenstrecke, Kilometer 34 bis 37 bis zum VP „Ebertswiese“, die in meinem Gedächtnis nur schwache Fußabdrücke hinterlässt. Lediglich zweierlei ist sicher: Ich bin sie gelaufen! Und der „Ebertswiese“ nähere ich mich mit Vorfreude, weil sie auf halber Strecke liegt. Ein Ort auch, der ein vorläufiges Fazit geradezu herausfordert: Natürlich haben 37 km und mehr als 1.000 Höhenmeter meine Beine unüberspürbar beansprucht. Die Ausdauer hat darunter weniger gelitten, als die Stabilität meines Bewegungsapparats. Eine Verhärtung der Gesäßmuskulatur und daraus resultierend leichte Beschwerden bereiten mir jedoch keine Sorgen. Wird sich geben, gefährdet nicht das Finish.

Gab’s am VP „Ebertswiese“ schon immer Wiener Würstchen? Üblicherweise verschmähe ich alle VP-Genüsse, fülle nur Gel und Wasser in meinen Magen. Heute empfinde ich fast schon kindliche Freude mir die Leckereien zu gönnen. Alles eine Frage der Begründung: Ich brauche Kalorien und Wiener Würstchen enthalten viele Kalorien. In mir steckt genug Lauftheorie und praktische Erfahrung, um auszuschließen, dass ich mich hinsichtlich der laaangsamen Verwertung fettlastiger Läufernahrung selbst belüge. Stattdessen male ich mir ein Diagramm vorm geistigen Auge, in dem sich Verwertungskurven überlagern: Rasch gelangen die Gel-Moleküle ins Blut, verzögert die Kohlehydrate aus Schleim oder Banane und zum Schluss belegte Brotscheiben oder Wurst. In der Summe also ein steter Zufluss von Kalorien. Oder etwa nicht?

Unmittelbar hinter der Ebertswiese hätte ich nicht übel Lust den Inhalt meines erneut prallen Bauches hinter einer Deckung zu entsorgen. Einmal mehr anspruchsvoll und lange aufwärts, dabei „verdauen“ und irgendwie den Laufrhythmus vor der Rast restaurieren. Nach und nach gelingt es, zumal ein paar flache Passagen den Weg zum vollendeten Marathon ebnen. Irgendwann spricht es einer hinter mir aus: „Den Marathon haben wir!“ - Reden kann er, weil er geht. Die Puste hätte ich nicht. Seit einigen Minuten tippele ich gegen die zweite von drei geharnischten Flanken an, die im ohnehin buckligen Profil der Strecke besonders ins Auge stechen. Vorzeiten der Inselsberg, jetzt diese Rampe und zum Ende hin die „Besteigung“ des Großen Beerberges. Wiederholt stehenbleiben und Atem schöpfen, so geht’s. Und bei „nur noch“ etwa 30 Kilometern Restdistanz bin ich schon jetzt davon überzeugt mit dieser Taktik zu überleben.

Die Knochen jammern, der Untergrund wird immer schlechter. In Teilen natürlich nur, doch summa summarum vermag mein Körper nicht alle auf ihn einprasselnden Schläge zu parieren. Mangelnde Robustheit kristallisiert sich immer mehr als mein in diesem Jahr größtes Manko heraus. Anfangs tat es weh, später weher, und so beginne ich zwischen Kilometer 45 und 50 mit dem, was ich zwar gut kann aber überhaupt nicht mag: leiden. Mental hält mich meine Finish-Garantie schadlos: Ich bin immer angekommen, also wird es auch heute klappen! Außerdem habe ich schon doppelt so viele Kilometer in den Beinen als noch vor mir liegen.

Bislang verzichtete ich auf Tempomessungen und werde ausgerechnet jetzt, da sich Schwierigkeiten anbahnen, nicht damit beginnen. Für mich steht auch so fest, dass die fortschreitende (vor allem orthopädische) Abnutzung seit einiger Zeit bremst. Man spürt das Erlahmen des eigenen Vorwärtsdrangs. Da mich weiterhin meist dieselben Rückfronten „unterhalten“, weiß ich: Anderen geht es nicht anders. Unter ihnen ist auch Tilo. Tilo gab sich schon vor Stunden zu erkennen. Seither „rennen wir gnadenlos um die Wette“, schenken uns inzwischen, mangels Energie für die Stimmbänder, aber nur noch Blicke. Bis auch dafür die Kraft nicht mehr reicht, jeder in sein Kleinstuniversum abtaucht und ich ihn aus den Augen verliere. Angekommen ist er, so viel steht fest. Eigentlich kenne ich Tilo nicht - genauer gesagt: nicht mehr. Vor etlichen Jahren verfasste ich ein Trainingskonzept. Bevor ich es auf unserer Laufseite veröffentlichte, bat ich Leser eines Läuferforums um Korrekturlesung und konstruktive Kritik. Einer der Rezensenten war Tilo.

Verpflegungspunkte, also Labsal und kurzes Verweilen, bilden inzwischen Zwischenziele. Die Zeit dazwischen zieht sich in die Länge wie ausgeleierter Hosengummi. Seltsamerweise wird mir diese Zeit aber nicht lang, obschon ohne Unterlass einen Fuß vor den anderen zu setzen alles Selbstverständliche verloren hat. Ich kämpfe, komme aber gut klar mit mir, schon physisch, mental noch besser. Auf dem letzten Stück vor Oberhof formte die letzte Eiszeit von Buckeln weitgehend freies Terrain und Menschenhand legte Wege mit passablem Zustand an. Ich kreuze ein schmales Asphaltband, das sich in Schlangenlinien durch den Fichtenwald windet. Die Warntafel davor lässt mich kurz stutzen: „Achtung! Sportler haben Vorrang“. Mein Stutzen beruht zu fast hundert Prozent auf Begriffsstutzigkeit, die ihrerseits fortgeschrittener Ermüdung geschuldet ist. Das Schild meint durchaus mich aber nicht als Sportler. Eher schon als Radler oder Fußgänger. Vorrang hat, wer auf der Asphaltspur daherkommt. Also vorzugsweise Spitzensportler, im Winter auf Langlaufskiern und in der schneefreien Zeit auf deren rollenden Mutationen. Für wahrscheinlich wenige Sportinteressierte, die es nicht wissen: Oberhof im Thüringer Wald gilt als eines der deutschen Langlauf- und Biathlonzentren.

Oberhof ist in diesen Sportarten auch international ein Magnet, richtet nicht selten internationale Meisterschaften oder Weltcups aus. Das setzt anscheinend Millionen Kubikmeter verbauten Betons voraus. Beton, der als Biathlon Stadion, Langlaufhalle, Riesenparkplatz und in diversen anderen Zweckbauten Flächen bedeckt, die zu Zeiten meines ersten Supermarathons (2008) noch von Wiesen bedeckt waren. Ein Erinnerungsbild, das stets ein paar Kilometer vor Oberhof aufsteigt, gaukelt mir ein Läuferzelt vor. Es steht auf einer grünen, von Wald umrahmten Wiese. Noch letztes Jahr hielt das Trugbild aus der Vergangenheit bis zum Waldrand, bevor es graue Betonrealität im Handstreich hinwegfegte. Diesmal bröselt die Erinnerung lange vorher, was den Wahrnehmungsschock aber kaum mildert. Ich bin selbst Sportler, habe also ein Herz für jeden anderen, der sich sportlich fordert, gleich auf welchem Niveau. Aber bewusst provokativ gefragt: Muss man Sportstätten so bombastisch und Natur zerstörend, dazu potthässlich bauen? Braucht es wirklich Flächenfraß in der Größenordnung von zig Fußballfeldern, zugeballert mit Sportinfrastruktur? Nicht mal ein Grashalm, der das Betongrau auflockern würde. Vielleicht sieht das unter dicker Schneedecke weniger grässlich aus. Vielleicht. Doch jetzt, in der schneefreien Zeit … bloß weg hier!

Widerwillig und deshalb ultrakurz die Rast am „Grenzadler“, diesen hehren Namen tragen Ort und Verpflegungspunkt am Rande der Verheerung auch heute noch. Ich flüchte in den Fichtenwald, der hier flächendeckend, scheinbar resistent gegen Trockenheit und Borkenkäfer wie eh und je den Weg säumt. 55 Kilometer gelaufen, noch 19 „to go“. Längst zähle ich rückwärts und feiere jeden Tausend-Meter-Abschnitt, hinter den ich einen Haken setzen darf. Vom Ort Oberhof selbst bekommt der Supermarathoni nichts zu sehen. Tatsächlich war ich noch nie da und abgeschreckt von Betonödnis wird es dazu wahrscheinlich auch nie mehr kommen. Ich arbeite mich - wie könnte es anders sein - in einer weiteren, langen Steigung ab. Objektiv kein Hindernis, subjektiv auf von 55 km Rennsteig gestressten Beinen sehr wohl. Im Grunde beginnt schon jetzt der Anlauf auf den dritten „bösen“ Buckel im Profil, den Großen Beerberg. Auch wenn mich von diesem höchsten Punkt der Strecke noch fast sieben Kilometer trennen …

Wieder runter und alsbald mit Linksdrall über die Rennsteig-Fußgängerbrücke und eine Landesstraße. Jenseits vorbei am so genannten „Rondell“, einem runden Platz, auf dem seit dem 19. Jahrhundert ein Obelisk an den Bau der soeben überquerten Straße erinnert. Brücke und Rondell empfindet der Rennsteigläufer wie eine Lichtung in ausgedehntem Forst. Und in dem tauche ich nun wieder unter, um … na klar: den nächsten Hang in Angriff zu nehmen …

Und es ist beileibe nicht der letzte, an dem ich vorm Großen Beerberg Leidens- und Durchhaltefähigkeit demonstrieren darf. Inzwischen habe ich mich „autistisch eingeigelt“. Ein Zustand in dem mir jedweder „Außenkontakt“ zuwider ist, in dem ich ausschließlich darauf fixiert bin weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dass meine Fotoausbeute auf diesem Abschnitt gegen null tendiert passt ins Bild. Ich will’s nur noch zu Ende bringen und genau das rede ich gebetsmühlenartig immer wieder an mich hin. Ob das Mantra was bringt? fragst du. Auf jeden Fall bleibt nach jeder Wiederholung der Formel weniger Reststrecke übrig …

VP „Sommerwiese“, fast 59 Kilometer gelaufen. Wie divers Läufer in der „Birne verdrahtet“ sein müssen, wird mir hier demonstriert. Am Streckenrand harrt sitzend ein „Moderator“ aus, ein redefreudiges, mutmaßlich ortsbekanntes Original. In Intervallen jauchzt er Jodler ins Mikro, die eine kapitale Lautsprecheranlage um etliche Dezibel verstärkt in die thüringische Atmosphäre pustet. Zwischen den Jodlern quatscht der Mann ausgesprochen dummes Zeug. So empfinde ich es. Andere werden ihn seiner lustigen Anmerkungen wegen rühmen und ihre Lebensfreude von den Jodelintervallen neu angefacht erleben. Auch okay. Überdies handelt es sich um Laufmenschen, die noch Energie zum Anspannen der Lachmuskeln abordnen können. Schon das schaffe ich nicht mehr. Mit anderen Worten: Jodeln und Blödeln gehen mir aber so was von am Allerwertesten vorbei.

Cola und ein weiteres Gel im Bauch, ich verlasse den VP und nehme die drei Kilometer Schlussanstieg vorm „Großen Beerberg“ in Angriff. Lächerliche 130 m Höhenunterschied registriert der recht zuverlässige barometrische Protokollführer am Handgelenk laut späterer Auswertung - natürlich fühlt es sich nach erheblich mehr an … Daran ist auch der Trailcharakter dieses letzten brachialen Anstieges beteiligt. Nicht alle, aber einen Großteil meiner Schritte setze ich auf unberechenbar steinigen oder von Wurzeln verminten Boden. Unter dann geschieht es. Es ging zu lange gut, ich bin wieder mal „fällig“, außerdem einen verfluchten Augenblick lang unaufmerksam. Die rechte Fußspitze knallt gegen einen Stein, ich schlage der Länge nach hin. Einen Wimpernschlag - wirklich nur Bruchteile einer Sekunde - später liege ich flach ausgestreckt auf dem Boden.

Im Reflex gelang es mir noch die Arme hochzureißen. So konnte ich einen Teil der Wucht des Sturzes mit den Händen abfangen und Schlimmeres verhüten. Wie betäubt liege ich ein, zwei Sekunden auf dem Bauch, unfähig mich zu bewegen. Dabei bin ich bei vollem Bewusstsein, frage mich sofort: Kann ich weiterlaufen? Eine Läuferin und ein Läufer sind rasch bei mir, kümmern sich. Wollen wissen, wie es mir geht, ob ich verletzt bin oder aufstehen kann. Fragen, auf die ich noch keine Antwort weiß. Zunächst drehe ich mich auf die Seite, erwarte Blut zu sehen … Bisschen was sickert aus Abschürfungen am linken Knie, das rechte blieb unversehrt. Dafür eine blutende Schramme an der rechten Hand und das war’s auch schon. Versuch mal mit 60 km Rennsteig in den Knochen nach so einem Sturz aufzustehen … Es will mir nicht gelingen, dazu bin ich viel zu steif. Nicht kraftlos, auch nicht benommen, mein Kopf war noch nie so klar heute. Aber unfähig die Gliedmaßen zu koordinieren und zu „knicken“, um hochzukommen. Mir wird geholfen: Er rechts, sie links, mit vereinter Kraft stellen sie mich wieder auf die Beine. „Wird’s denn gehen?“ Im Moment weiß ich gar nichts sicher, entgegne aber: „Es muss!“ und: „Alles gut. Ich danke euch für die Hilfe! Lauft zu, ich bin okay!“

Ob ich wirklich okay bin, müssen ein paar Gehschritte zeigen … … Gehen geht. Das lädierte Knie muckert ein bisschen, vermutlich eine leichte Prellung. Ich gönne mir eine Eingehminute, dann trabe ich wieder an und bin erst mal beruhigt. Offenbar kam ich glimpflich davon. - Verdammter Stein, vermaledeite Unachtsamkeit! Keine Minute weiter wird’s flacher und der Weg paradiesisch einfach zu belaufen. Wieso durfte ich nicht noch diese eine Minute länger unfallfrei überstehen?

Der Große Beerberg ist eigentlich gar kein Berg. Anspruchsvoll sind die Hänge bis etwa einen Kilometer vor dem höchsten Punkt, dann flacht die Kuppe zusehends ab. Schon von Weitem erkenne ich die Tafel: „Großer Beerberg (974 m) Höchster Punkt des Laufes“. Ich ringe mich zu einem Selfie durch, obschon ich noch immer mit den mentalen Nachwirkungen des Sturzes kämpfe. Pflicht-Selfie erledigt und nun weiter, dabei einen Seitenblick zum offiziellen Rennsteig-Hinweisschild werfend. Muss nicht hin, weiß seit letztem Jahr, was drauf steht. Der Ort markiert nicht nur den Zenit des Laufes, er entspricht zugleich der höchsten Stelle des gesamten, insgesamt 170 km langen Rennsteiges.

Erst einige hundert Meter weiter, allmählich, geht flaches Terrain in Gefälle über. Merke es kaum, trotte enttäuscht, zugleich verwirrt, auch ein bisschen besorgt vor mich hin. Der Sturz, keine 10 Minuten her, hat diesem Durcheinander von Gefühlen allenfalls den Boden bereitet. Ausgelöst wurde es von einem Blick auf die Uhr: Ich werde deutlich länger als die erhofften 10 Stunden bis ins Ziel brauchen. 12 Kilometer Rest und 9:50 Stunden Laufzeit verbraucht. Die anvisierte Zeit nicht mehr realisieren zu können wird zusätzlich Minuten kosten. Wozu sich jetzt noch den Hintern aufreißen?

Während ich auf gutem Geläuf Höhe aufgebe, kaue ich auf dem Rätsel herum. Eins das kaum jemand als solches erkennen wird, d’rum rasch umrissen: Letztes Jahr Finish nach rund 9:57 Stunden. Damals noch unterm Ausdauer-dämpfenden Einfluss eines Beta-Blockers. Dass der bremste, zeigte sich nach dem Absetzen im Sommer: Ohne mein Training zu verändern war ich schlagartig etwa 10 bis 15 Sekunden in allen Belastungsbereichen pro Kilometer schneller unterwegs. Ohne medikamentösen Dämpfer hoffte ich heute den Supermarathon mindestens in derselben Zeit zu schaffen. Und jetzt das! Zuletzt standen alle Ampeln auf grün, nun hält neuerlich Verunsicherung Einzug. Mein Alter allein erklärt es nicht. Auch nicht der Umstand, dass ich noch einen gewissen Trainingsrückstand aufzuholen habe. Je tiefer ich gedanklich grabe, umso mehr Einfluss schreibe ich fehlender Robustheit zu. Mein Bewegungsapparat steckt Belastungen in dieser Saison spürbar schlechter weg als zuvor. Möglicherweise büßte ich überproportional an Muskelkraft ein, obwohl ich altersbedingten, muskulären Verfall mit regelmäßigem Krafttraining einzudämmen versuche.

Am letzten VP vor dem Großen Beerberg hörte ich jemanden von den Helfern sagen: „Noch das Stückchen hoch auf den Berg. Ab da nur noch runter nach Schmiedefeld! Fast geschafft!“ Tatsächlich überwiegen auf den Schlusskilometern die Gefällestrecken. Zwei, drei Gegenanstiege liegen aber noch vor mir und die haben es in sich. Nur Rennsteig-Debütanten führt man mit dem Gerede der Art „Der Rest ist ein Fest!“ in die Irre. Schon einen Kilometer hinterm „Gipfel“ des Beerbergs martert ein weiterer Anstieg die maroden „Knochen“. Nichts Gewaltiges auf weiteren gut tausend Metern, dennoch anspruchsvoll wegen „Länge potenziert mit dem Faktor Ermüdung“ …

Aber nun: Fünf Kilometer abwärts in wechselndem Gefälle. Wer nun glaubt ich könne flott „downhill“ flitzen, der irrt gewaltig. Lange, schnelle Schritte werden erstens von steifen, schmerzenden Beinen unterbunden. Auf ihnen erreiche ich den vorletzten VP „Schmücke“. Dahinter im Wald bremst ein Trail meinen Vorwärtsdrang. Endlos viele Wurzeln angeln nach meinen Füßen, wollen mich erneut zu Fall bringen. Vielleicht käme ich schneller voran, wenn ich den Mut dazu aufbrächte …

Schließlich wieder bestes Geläuf, ein Schotterweg, dafür teilweise steil abwärts. Ein Stück Wiesenweg schließt sich an - auch hier aufpassen, Feldmäuse buddeln Löcher. Rechts abbiegen, runter, runter, runter. Eine Serpentine nehmen und wieder runter. Es folgen fast anderthalb Kilometer flache Wegstrecke. Schön gell? Nö, eigentlich nicht. Flach: ja. Eben: nein. Holprig voran auf kippelnden Füßen. Bis ich sie vor mir sehe, die letzte, noch einmal alles abfordernde Rampe. Ich packe das. Selbstverständlich. Etwas anderes lasse ich nicht zu. Tippele aufwärts, verweile ein paar Sekunden, wenn nötig. Auf halber Höhe die Kilometertafel mit der „69“. Noch 4,9 Kilometer, wenn das Schild nicht lügt. Tut es sicher nicht, denn die „69“ grüßte vorbei schleichendes Fußvolk jedes Mal an dieser Stelle.

Rampe gepackt, voraus der letzte Verpflegungspunkt. Ich halte mich an die Vereinbarung mit mir selbst und trotte rastlos vorbei. Wozu jetzt noch trinken? Schon in Oberhof ballten sich am Himmel wieder Wolken, die sich alsbald zur geschlossenen Decke vereinten und der Sonne keine Chance mehr ließen. Seitdem vermisse ich meine Armlinge, die ich bereits hinterm Inselsberg abstreifte. Vorhin erschreckten mich gar ein paar verirrte Regentropfen. Doch einstweilen hält Petrus noch Frieden. Also wozu jetzt noch trinken? Das hieße auch länger als ein paar Sekunden stehenbleiben, „einrosten“ und wieder schwerfällig in die Gänge kommen …

Bald Kilometer 70, irgendwann 71. Das einzig Positive, das ich dem Schlussteil abgewinnen kann: Jeder Schritt subtrahiert einen vom Rest. Okay, ich will nichts Gutes unterschlagen: Der Waldweg ist vom Allerfeinsten: bombenfest, eben, fast wie Asphalt. Ansonsten: Wald. Wie schon seit Stunden. Ich mag Wald. Sehr sogar. Aber zehn Stunden Wald sind eindeutig genug. Ein optischer Leckerbissen noch: Aussicht zum tiefer liegenden Schmiedefeld. Obzwar: Diese Aussicht zu schaffen setzte voraus eine Skipisten-breite Schneise in den Wald zu schlagen. Und der zugehörigen Liftanlage gewinnt wohl auch nur ein Skitourist Schönes ab.

Mag sich so lesen, aber ich bin nicht mies drauf. Allerdings auch nicht von Siegesgewissheit beflügelt wie im Vorjahr. Irgendwas dazwischen. Ich habe mir läuferisch mehr von diesem Tag erhofft. Noch anderthalb Kilometer, nun wieder stärkeres Gefälle. Letztes Jahr wetzte ich hier auf schmerzenden Beinen entlang, als wäre der Leibhaftige hinter mir her, wollte auf Biegen und Brechen unter 10 Stunden bleiben. Heute schiebt mich kein solcher „Ehrgeiz-Booster“ an. Ich zuckele ambitionslos in Richtung Ziel, überquere vor Schmiedefeld die Straße und gehe das letzte Waldstück an. Kaum einer unter den Neulingen wird so kurz vor Ultimo noch Anstiege erwarten. Und dennoch gibt es sie. Drei, vier Bodenwellen, ein paar Meter rauf, wieder runter. Sogar noch in Schmiedefeld, wo dir vom Straßenrand und aus jedem zweiten Garten Applaus entgegenschlägt. Schließlich die finale Rechtskurve, dem Wummern der Lautsprecher entgegen, endlich die Zielgerade, noch 150 Meter und … Stopp! Kurz vorm Ziel noch ein Selfie, mit dem Rücken zum Zieltor. Letzte Schritte, dann setze ich nach 10:21:55 Stunden den finalen Laufschritt.

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Verhältnisse beim Rennsteiglauf ändern sich über die Jahre kaum, wenn man von Startgebühren, Wetter und ein paar Details absieht. Daher verweise ich an dieser Stelle auf mein Fazit von 2013 und die ausführlichere Darstellung anlässlich des Laufberichts 2008.