Ikarus und Sisiphos in Fürth  -  Marathon zum Welt-Down-Syndrom-Tag 2016

Ich kreise wieder im „Fürther Südpark“, nach 2013 und 2015 nun also zum dritten Mal. Wie vordem führt das Verb „kreisen“ den Leser in die Irre, denn eigentlich orientieren sich unsere Füße an der Form eines annähernden Rechtecks*. Die Strecke stellt nur eine von vielen Konstanten dieser Veranstaltung dar: Vom Eintreffen vor Ort bis zum Finish kann ich keine Änderung zu den Vorjahren registrieren. Warum auch ändern, was sich eingespielt hat? Sogar Petrus scheint sich für den Marathon-März-Sonntag in Fürth auf Jahre hinaus festgelegt zu haben: Kalt, vielleicht 4°C. Himmel grau in grau. Eisiger, zum Glück nur abschnittsweise spürbarer und nicht sonderlich lebhafter Wind. Kein Niederschlag. Die Welt ist dieselbe wie immer und doch ist heute alles anders. Das liegt natürlich an mir, an meiner „besonderen“ Situation.

*) Siehe Streckenabbildung im Laufbericht von 2013

Der Hauptlauf erstreckt sich über 6 Stunden. In meiner momentanen Verfassung traue ich mir das noch nicht zu. Also habe ich mich erstmalig „nur“ zum parallel ausgetragenen Marathon angemeldet. Ein Ultra, der sich keine 6 Stunden zutraut? Das schreit nach einer Erklärung, zumindest für jene Leser, die meine jüngere „Geschichte“ nicht kennen. Im Telegrammstil das Wichtigste: Ende Juni 2015 erleide ich einen Ermüdungsbruch des Schambeins, begleitet von Ödemen an den Adduktoren beidseits - ursächlich war der Start bei der Deutschen Meisterschaft im 24 h-Lauf - es folgen drei Monate Laufpause - Oktober 2015: extrem vorsichtiger Wiederbeginn - erstes Training: 4 km mit Gehpausen - erster Wochenumfang: sagenhafte 14 km - an Weihnachten überlaufe ich erstmals wieder die 20 km-Marke - Wochenumfang mittlerweile wieder ca. 80 km.

Seit Jahresbeginn absolvierte ich ausreichend lange Läufe, in der Spitze bis 34 km. Auch (für meine Verhältnisse) harte Tempoeinheiten, hauptsächlich Intervalltrainings und Fahrtspiele, stehen reichlich in meinem Lauftagebuch der letzten Monate. Als Rekonvaleszent und nach neun Monaten Abstinenz von wirklich langen Strecken wären mir sechs Laufstunden für ein Comeback dennoch zu gewagt.

Schon dieses Marathon-Comeback lastet wie ein Fels auf meinem Gemüt. Je näher der Termin rückte, umso intensiver ergriffen mich diffuse Ängste. Dabei habe ich allen Grund zu sprühendem Optimismus. Bedenkt man die Schwere der Verletzung, dann ist, was ich gelegentlich noch spüre, wenig mehr als nichts. Und das, obwohl ich seit Oktober letzten Jahres die Belastung in Quantität und Qualität stetig steigere. Die Restbeschwerden, das habe ich nach fast jeder Verletzung erlebt, werden sich erst über Wochen und Monate verlieren. „Das musst du dir rauslaufen, Udo!“ So formulierte es einst ein Laufbekannter. Ich weiß das. Doch nach einer derart krassen Verletzung krallt sich die Furcht in der Läuferseele fest. Vertreiben lässt sie sich nur durch wiederholte Lauferfolge. Erst einen Marathon laufen, dann noch einen und noch einen, irgendwann dann wieder ultraweit …

Heute allerdings nicht ultra- sondern „nur“ marathon-weit. Die Runde - pardon: Die „Eckige“ - am Rand des Südstadtparks misst exakt 1,3152 km. 32 „Eckige“ ergeben zusammen 42,0864 km. Wer genau nachrechnet, dem fehlen 108,6 Meter zum klassischen Marathon. Die werden dem verlorenen Häuflein von gut 30 Marathonstartern vor der ersten Runde abverlangt. Deswegen beginnen wir Marathonis unseren Lauf draußen, vor der Halle, während die 6-Stunden-Meute in der „Grünen Halle“ das Startsignal erwartet. 108,6 m : 2 = 54,3 m: Das genau um diese Distanz näher an der Halle stehende, zahlreicher besetzte Feld der Halbmarathonis wird vom Startschuss ebenso überrascht, wie wir. Nach zwei, drei Schrecksekunden drücke ich dann doch noch meine Uhr ab und setze mich in Bewegung …

Am Ausgang der Halle mischen wir uns unter die heraus flutenden 6-Stundenläufer. Für ein paar hundert Meter trabt man dicht an dicht. Durchaus nicht ungefährlich, da einen ständig langsamere Mitläufer ausbremsen. Abstoppen, beschleunigen, links vorbei, wieder einreihen, auch mal rechts vorbei … einen Laufrhythmus finde ich bei diesem Auftakt nicht. Doch schon vorm ersten Kilometer lichtet sich das Feld. Zwischenzeit für die ersten tausend Meter: Etwa 5:15 min. Das ist viel zu schnell! Also langsamer, Udo, langsamer!

Für mein Comeback steht keine Zielzeit im Raum, mithin auch kein konkretes Tempo. Heute will ich nur eins: Diesen Wackerstein von der Seele wälzen und mir beweisen: „Ich kann wieder Marathon!“ Und diesen Marathon will ich nach Möglichkeit ohne ernsthafte Beschwerden durchstehen. Nun willst du sicher wissen, was ich in diesem Zusammenhang unter „ernsthaft“ verstehe. Kurz ausgeholt: Auf dem Schlussabschnitt eines jeden meiner von Mal zu Mal länger werdenden langen Läufe spürte ich ein verhaltenes Ziehen im Bereich der Adduktoren rechts und dort, wo die unteren Bauchmuskeln am Schambein fixiert sind. Auch tags drauf zwickt es in diesen Regionen noch eine Weile. Beschwerden also, aber keine ernsthaften! Mein immer wieder konsultierter Sportarzt bestätigte die Auffassung, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche, wenn das „Zwicken“ nach einem erschöpfenden Training rasch wieder verschwindet.

Runde Nummer eins liegt hinter mir. Freie Bahn und Gelegenheit zur Tempofindung. Nicht zu schnell, nicht zu langsam, verträglich, flüssige Schritte … Zwischen den auf den Boden gesprühten Wegmarken „600 m“ und „1.000 m“ bestimme ich neuerlich meine Laufgeschwindigkeit: 5:40 min/km und damit verführerisch nah am Tempo für eine Zielzeit unter 4 Stunden. Unter normalen Umständen und auf flacher Strecke gelten mir „Sub4h“ als gesetzt. Für heute habe ich diese Selbstverpflichtung kategorisch außer Kraft gesetzt! Also was tun? Bewusst Fahrt rausnehmen? Ich entscheide mich für „laissez faire“ - machen lassen. Meine Beine machen lassen, wonach ihnen der Sinn steht. Und damit mein Ehrgeiz nicht dazwischenfunken kann, untersage ich mir weitere Tempokontrollen.

In diesen ersten Minuten erlebe ich weit mehr als ein Déjà-vu. Nach und nach hake ich die Bilder und Eindrücke vom letzten Jahr ab: Dieselben Trikots in der Nähe beheimateter Laufgemeinschaften, dazwischen kostümierte Läufer, häufige Wortwechsel in fränkischer Mundart. Ein DJ, der die Gegengerade beschallt, meist Asphalt als Geläuf, dann und wann aber auch Pflastersteine, die mir vertraut zublinzeln: „Ach hallo! Bist du auch wieder dabei?“ Inmitten der Schar kunterbunter Läufer auch jene mit der Genmutation, die man unter dem Begriff „Down Syndrom“ kennt. Jeder von ihnen wird von mindestens einem Betreuer begleitet. Es ist ihre Veranstaltung! Gäbe es sie nicht, dieser Lauf wäre nie ins Leben gerufen worden.

Einstweilen trabe ich noch ziemlich spaßbefreit durch den kalten, grauen Sonntagmorgen. Wahrscheinlich steht zu viel auf dem Spiel, um in dieser frühen Phase bereits lustvoll um die 90 Grad-Kurven zu wetzen. Wäre ich unzureichend für diesen Marathon gerüstet, säße ich jetzt zu Hause am Frühstückstisch. Doch selbst beim Anlegen strengster Maßstäbe lautet das Prädikat: Marathonreif! Wieso komme ich mir dann ein bisschen vor wie Ikarus, die Verkörperung menschlicher Vermessenheit? Bloß nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen, auch wenn sie der Mythologie entspringen. Bloß nicht zu hoch hinaus und zu nahe an die Sonne fliegen!

Ständig horche ich in mich hinein, versuche Wohl und Wehe der nächsten Stunden zu erahnen. Das ist zu diesem Zeitpunkt in jeder Hinsicht sinnlos. Weiß ich doch. Ein Knick in der Ausdauer kündigt sich nicht an und geschähe erst jenseits der 30 km. Möglich wär’s, denn ich ging ohne Regeneration in diesen Lauf, hatte mir Donnerstag sogar noch ein Intervalltraining verordnet. Einerlei! Die Ausdauer-Befindlichkeit ist mir heute von Herzen gleichgültig. Alle inneren Sensoren belauern die Körpermitte, jene Region aus der ich bitte, bitte, bitte, sehr lange keinen Mucks vernehmen möchte!

Wieder einmal rein in die „Grüne Halle“, über den roten Teppich, das Zielportal passieren und voraus über dem Hallenausgang gespannt zur Projektion der Zwischenzeitanzeige spähen: Am unteren Bildrand erscheint mein Name und wandert ruckweise mit jedem weiteren Läufer hinter mir nach oben aus. Gebranntes Kind scheut das Feuer: 2013 unterschlug die Anlage eine Runde. Erst nach Protest beim Zeitnehmer wurde sie mir gutgeschrieben. Heute will mich die Technik in Sicherheit wiegen, blendet brav nach jeder „Eckigen“ meinen Namen ein … zwei-, drei-, vier-, fünf-, sechsmal …

Direkt unter der Anzeige verlässt man die Halle durch einen etwa drei Meter breiten, ungefähr zehn Meter langen Gang. Diese paar Schritte wecken bei jedem Umlauf böse Erinnerungen. An der Schwelle der Ausgangstür blieb ich im letzten Jahr hängen, stürzte hart aufs Pflaster, rappelte mich benommen wieder auf. Niemand und nichts warnt vor der tückischen, höchstens einen Zentimeter hohen Metallkante, genau in der Mitte des Ausgangs. Sie wird nicht als Gefahr wahrgenommen. Doch setzt du deinen Fuß zufällig genau davor auf, dann … Ich passiere die Schwelle jeweils um einen halben Meter nach links versetzt und komme heute ungeschoren durch.

Das jüngste Opfer eines folgenreichen Sturzes habe ich kurz vor dem Lauf begrüßt: Kraxi! Der Steiermärker hatte ein Wochenenddouble geplant: Gestern einen Marathon im bayrischen Saaletal und heute hier in Fürth. Allein es kam anders: Beim Abschlusstraining am Freitagabend im Saaletal stolperte er über eine zwischen Betonpfosten gespannte, im Dunkeln unsichtbare Kette. Hässliche Folge: Prellungen an Handgelenk und Bein links, rechtes Handgelenk gebrochen, fünf Wochen Gips. Also musste er sich ohne Marathon wieder nach Hause chauffieren lassen. Gute Besserung Kraxi!

In ein paar Sekunden werde ich Runde 8 und damit ziemlich genau den Viertelmarathon vollenden. Anscheinend nie erlahmender Ehrgeiz erwartet gespannt die Hochrechnung auf das Finish. Rein in die Halle, Blick auf die Anzeige meiner Uhr, eine halbe Minute für die Startvorgabe abziehen, Ergebnis: Rund eine Stunde! Registrieren nur, bewerten kommt später, denn erst will ich meinen Namen überm Hallenausgang als Nachweis der Rundenregistrierung lesen … Na, wo bleibt er denn? Nichts! Ich tippele langsamer über den roten Teppich … noch langsamer … keine Bewegung in der Anzeige … die „klemmt“ anscheinend gerade … dann bin ich durch und nehme eine gehörige Portion Unsicherheit mit in Runde neun …

Ziemlich genau eine Stunde für den Viertelmarathon. Eine im Grunde bedeutungslose Zwischenzeit, auch wenn ein Teil von mir gerne anderes glauben würde. Tempokontrollen bleiben weiterhin tabu! Außerdem werde ich mutmaßlich irgendwann langsamer werden und die „doofe“ Vier-Stunden-Schallmauer am Ende um ein paar Minuten überschreiten. Diese eigentlich komplett überflüssigen Gedankengänge dienen rein der Beschwichtigung des Wettkämpfers in mir. Ich mache einen Strich drunter und bekräftige noch einmal das Tagesziel: Durchlaufen, Tempo den Beinen überlassen, mit wenig Beschwerden die 42,195 Kilometer abhaken!

Runde 9 abgeschlossen und ebendiese „9“ erscheint hinter meinem Namen in der Anzeige. Also war nach Runde 8 tatsächlich nur die Ausgabe der Ergebnisse blockiert, die Registrierung erfolgte fehlerlos … übern roten Teppich … Vorsicht Türschwelle! … und wieder raus in Runde 10 …

Wer hier so alles im eckigen Zirkel läuft: Am auffälligsten natürlich die Kostümierten; allen voran der barfüßige Pumuckl auf Spendenfang, später begleitet von Rotkäppchen. Nein, der Wolf lauert nicht im Südpark, dafür begegnet mir ein Bär und Biene Maja summt samt Doppelgängerin vorbei. Weißer und schwarzer Engel lassen mich - fruchtlos wie im Vorjahr - über das Hintergründige ihrer Verkleidung sinnieren. Ich überhole einen Römer in wallendem Gewand, einen Harlekin und den um propere Hüften wallenden „British Union Jack“. Und diverse Male streifen die Augen „Buntes“, das zu deuten meine Fantasie überfordert …

Wer hier so alles seine Runden dreht: 6h-Läufer, 6h-Staffelläufer, Marathonis, Halbmarathonis; später auch noch 10 km-Läufer, 1h-Läufer mit so genanntem Fanticket; auch ein paar Kinder tummeln sich für lau auf der Strecke, alle mit der symbolischen Startnummer 2121.

Wer hier so alles Kilometer sammelt: Tatsächlich auch einige, deren hauptsächliches Interesse dem sportlichen Sich-Miteinander- oder An-sich-selbst-Messen gilt. Meine rekonvaleszente Wenigkeit mal beiseite lassend, gelingt es mir nach und nach die üblichen Verdächtigen auf der Liste abzuhaken. Allen voran - um bei der Wahrheit zu bleiben: infolge fortgeschrittenen Alters eigentlich „allen hinterher“ - Gerhard; Spitzname „Wackeldackel“, weil er beim Laufen in unnachahmlicher Weise sein Haupt hin und her schwenkt. Anton, der rasende Reporter von marathon4you schaufelt wie immer massenweise Fotos in seinen Kameraspeicher. Dann das (Zwillings-?) Brüderpaar vom „Team Icehouse“, das mir zuletzt vor neun Monaten beim 24h-Lauf in Reichenbach/Sachsen begegnete. Daneben, dahinter, davor, diverse andere bekannte Konterfeis, über deren Anwesenheit ich mich hoffentlich noch ein paarmal in diesem Jahr freuen darf …

Apropos freuen: Das will mir heute so gar nicht gelingen. Bangemachen gilt nun nicht mehr, dazu bin ich bereits zu lange unterwegs. Was könnte sonst der Grund sein? Mangelnde optische Reize, da es doch so gut wie nichts zu sehen gibt, was ich nicht schon kenne? Wohl kaum. Wie könnte ich sonst Woche für Woche im Training altbekannte Strecken abarbeiten und dabei mit Spaß unterwegs sein? Schmollt vielleicht der Ehrgeizling in mir, dem ich verbiete sich hier auszutoben? Den ich gefangen halte, weil sich alles Traben dem Wiederaufbau nach Verletzung und der Vorbereitung auf mein „monströses“ Saisonziel unterzuordnen hat? Eine Antwort bekomme ich nicht aber noch bleiben mehr als zwei Stunden, um den Knoten platzen zu lassen …

Drehe Runde 16 und nähere mich der Halle. Der Halbmarathon steht an und damit die nächste Hochrechnung. Mein Laufgefühl will mir einreden im zweiten Viertel eine Idee schneller unterwegs gewesen zu sein, zumindest jedoch nicht langsamer als im ersten. Tatsächlich verbucht die Zeitmessung 40 Sekunden weniger fürs zweite Viertel. „Sollte, könnte, müsste ich jetzt nicht ... ?“ Mit Nachdruck bringe ich das innere Wispern zum Verstummen: ‚Was ist schon ein Halbmarathon? Kein Temporisiko! Das endgültige Ausheilen meiner Verletzung nicht gefährden! Schonend weiter wie gehabt!’

Die Bewerbe zum Welt-Down-Syndrom-Tag unterscheiden sich in vielerlei Belangen von anderen Laufveranstaltungen. Im Mittelpunkt stehen die Kinder mit Down- Syndrom. Einige als wechselweise Läufer und Geher im Rund, die übrigen als Nutznießer nicht unerheblicher Spendengelder, die als Überschuss der Veranstaltung übrig bleiben. Ansonsten dominiert der Spaß. Vor allem der Spaß dabei zu sein - auf welche Weise auch immer. Der Wettkampf tritt in seiner Bedeutung in den Hintergrund. Also übe ich mich in Toleranz, was mir eingedenk meines bescheidenen Tagesziels spielend gelingt. Ein paar törichte Menschen schaffen es trotzdem, mir dann und wann ein Kopfschütteln zu entlocken. Dabei formen sich Sätze in meinem Kopf, die allesamt mit einem „Wie kann man nur, …“ beginnen:

Wie kann man nur in Höhe des DJ ausgelassen bis wild bewegt Tänze aufführen und dadurch Kollisionen mit vorbei ziehenden Läufern provozieren?

Wie kann man nur so gaga sein und im Rund eines Stundenlaufes einen Kinderjogger vor sich her schieben? Nicht mal nur am Rand und draußen, sondern die Ecken des Kurses schneidend und die ohnehin schmale Gasse in der Halle halbwegs blockierend. Und wie kann man als Veranstalter solch riskantes Verhalten dulden?

Wie kann man nur gedankenlos die Laufstrecke queren ohne sich vorzusehen?

Wie kann man nur in schwatzenden Knäueln, kauend und schlürfend, den Verpflegungstand belagern und heran drängende Durstige beim Trinken behindern?

Wie kann ein Läufer nur so rücksichtslos sein und plötzlich einen Haken schlagen! Auf diese Weise den Läufer vor mir erschrecken, ihn zum Ausweichen zwingen, was wiederum mich ins Straucheln bringt.

Wie kann man sich nur als Staffelläufer derart rabiat und im Sprintertempo durch die Kette der länger Laufenden rempeln und dabei einen so grenzenlos dummen Spruch absondern wie: „Ihr müsst da schon mal Rücksicht nehmen und an der Seite laufen!“

Kilometer 25, 26, 27 … Es ist durchaus verständlich, wenn Männer auf einer Marathonstrecke nach und nach ein schmerzhaftes „Rühren“ in diversen Körperteilen verspüren. Die Gegend um und nahe des Schambeins (weniger schlüpfrig ausgedrückt: Beckensymphyse!) gehört unter „schicklichen“ Umständen eher nicht dazu. Bei mir „muckert’s“ da unten - dann und wann und ganz verhalten. Möglicherweise bilde ich mir das auch nur ein, weil ich nun schon bald drei Stunden auf die ersten missliebigen Signale warte. Wie gehe ich damit um? Kann ich was dagegen tun? Nein, kann ich nicht. Also einfach ignorieren …

Allen Helfern sei Dank! Wo blieben wir Läufer ohne die guten Geister am Streckenrand? Ein besonderes Lob verdienen sich die Streckenposten, die hauptsächlich an den Ecken des Kurses wachen und unausgesetzt die vorbei strömenden Läufer anfeuern. Klasse!

Was ich hier absolviere, ist einer der merkwürdigsten Marathon(ver-)läufe bisher. Nach 155 mal Marathon und weiter verfüge ich über genügend Vergleichsmasse, um die beinahe totale Leidenschaftslosigkeit meines heutigen „Auftritts“ zu erkennen: Ich bin weder gut noch schlecht gelaunt, empfinde keine wirkliche Freude, aber auch keinen Überdruss. Erreichen will ich nichts, einfach nur die Strecke hinter mich bringen. Strikt unterdrücke ich, was mich sonst stundenlang unterhält und die Kilometer verkürzt: Tempo kalkulieren und bei Bedarf ehrgeizig nachsteuern. Der Strauß positiver Gefühle, die sich mir üblicherweise mit dem Laufen verbinden, welkt still vor sich hin.

Ist das schlimm? - Für die Leser dieses Laufberichts eventuell schon aber nicht für mich. Trainings- und Wettkampfwege kennen Höhen und Tiefen. Ich war schon ganz weit oben, aber auch entsetzlich tief unten. Daran gemessen hat dieses Comeback nicht weniger als leicht unterdurchschnittlichen Unterhaltungswert. Leider kann ich dir, will ich ehrlich bleiben, dieses Unterdurchschnittliche nicht ersparen …

Runde 24: Bereits 30 km in den Beinen und erstaunlicherweise keinerlei Signale einsetzender Ermüdung. Meine Pace blieb auch im dritten Viertel stabil: 2:59:49 h werden hinter meinem Namen für den Dreiviertelmarathon eingeblendet. Also immer noch auf Sub-4-Stunden-Kurs, obwohl ich die Pace einzig meinem Laufgefühl überließ. Und nun will ich das mit der Mäßigung auch nicht übertreiben! Ließe ich nun im Schlussviertel das Tempo schleifen, wäre im Hinblick auf meine „Rekonvaleszenz“ nichts gewonnen, für meine Zufriedenheit nach dem Finish dagegen einiges verloren. Darum setze ich mir jetzt ein Ziel: Unter vier Stunden bleiben!

„ … noch knapp drei Stunden … “ Den Satzfetzen extrahiere ich aus dem Gespräch eines einträchtig Seite an Seite trabenden 6h-Duos. Spontane Regung in mir: Freude darüber nicht mehr so lange durchhalten zu müssen. Dass mich wirklicher Laufspaß immer noch nicht erquickt, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Sechs Stunden wären derzeit einfach noch zu lang. So weit bin ich noch nicht. In drei Wochen, in Nürnberg, werde ich versuchen die sechs Stunden zu packen. Allerdings auch dort noch sehr zurückgenommen, nicht viel mehr als 50 Kilometer sollen es werden. Ich erwäge sogar mich beim Zeitnehmer abzumelden, sollte ich die 50 km-Marke vorzeitig erreichen. Pure Vorsicht und so überhaupt nicht meine Art. Das lässt ahnen (auch mich selbst), wie tief die Furcht vor neuerlicher Verletzung noch sitzt. Im Mai steht dann der Supermarathon am Rennsteig an. 73 km über die Höhen des Thüringer Waldes. Wenn ich diese Nagelprobe gut überstehe, wird die Achterbahnfahrt zwischen Hoffen und Bangen wohl endlich Vergangenheit sein …

34, 35, 36 Kilometer … Die Schritte werden immer zäher, die Beine schwerer. Hüft- und Gesäßmuskulatur beginnen vehement zu protestieren und die Füße stimmen ein. Sollen sie, interessiert mich nicht. Entscheidend ist, wie sich Adduktoren und untere Bauchmuskeln anfühlen. Und dort spüre ich … nichts, was mich alarmieren würde. Ein leichtes Ziehen. Auf der Schmerzskala von 1 bis 10 nicht mal eine 1.

Für ein, zwei Umläufe überfällt mich die Wahrnehmung rasch fortschreitender Ermüdung. Doch bevor ich mich der Frage stelle, ob es nicht klüger wäre das Tempo zu drosseln und das Sub4Stunden-Ziel sausen zu lassen, verliert sich der Eindruck wieder. Noch vier Runden, schließlich drei, jetzt zwei … Nach jeder „Eckigen“ blicke ich auf die Uhr und rechne. Alle Resultate stimmen überein: Vier Stunden sind kein Problem! Kurz liebäugele ich mit dem Gag eines sekundengenauen Finishs bei 3:59:59 h. Das Risiko bei diesem Versuch die Ziellinie eine Sekunde verspätet zu queren und mich hinterher darüber zu ärgern, lässt mich den Jux allerdings recht schnell beerdigen.

Die Schlussrunde: Etwa Siebeneinhalb Minuten fehlen zu vier Stunden und das wird reichen. Den seltsamen Empfindungen dieses Marathontages füge ich eine letze hinzu, das Gefühl für diesen Marathonsieg Nummer 156 nicht wirklich gekämpft zu haben. Anscheinend brauche ich die finale Wahrnehmung versiegender Kräfte und brutal schmerzender Knochen, um vorm inneren Schiedsgericht mit Stolz zu bestehen … Nun auf die letzte lange Gerade, noch 500 Meter, 200, … schließlich stürme ich ein letztes Mal in die Halle, renne über den roten Teppich und passiere das Zieltor. Ein vernehmliches „Piep“ der Zeitmessung stoppt die Uhr bei 3:59:40 h.

„Udo Pitsch: 32 Runden und 42,2 km“- so unmissverständlich steht es in der Anzeige. Trotzdem bitte ich die Zeitnehmer zu überprüfen, ob ich den Marathon tatsächlich abgeschlossen habe. Nicht auszudenken, wenn ich irgendwas falsch interpretiere und am Ende der Ergebnisliste mit einem traurigen „DNF“* erscheine. Die Dame am Notebook hackt gerade ein irgendwelche Eingaben in die Tastatur, also warte ich geduldig auf mein „Urteil“. Nach zwei Minuten geht ihr Daumen hoch und mit einem „Du bist fertig!“ werde ich entlassen …

*) DNF = Did not finish

Schon während ich die völlig verschwitzten gegen trockene Klamotten tausche, stellt sich Zufriedenheit ein. Geschafft! Sisiphos wieder bei der Arbeit. Erstmals in diesem Jahr und nach neunmonatiger Zwangspause hat er seinen Felsbrocken auf den Berggipfel gewuchtet. Von den Göttern stammt die Verpflichtung diesen Kraftakt unausgesetzt zu wiederholen … Seht hin! Schon rollt der Fels wieder Richtung Tal und in zwei Wochen, nebenan in Nürnberg, wird Sysiphos einen weiteren Anlauf nehmen, danach wieder einen und wieder und wieder …

Sisiphos war König von Korinth, ein Hellene also. Mit Griechen, mit Alt- und Neugriechen, werde ich es in diesem Jahr noch häufiger zu tun bekommen. Freiwillig versteht sich und damit endet die Parallele zur Legende von Sisiphos, den die Götter auf die beschriebene Weise bis in alle Ewigkeit zu bestrafen suchten. Bis Ende September werde ich meinen Fels noch einige Male auf immer höher sich auftürmende Gipfel rollen. Bis ich schließlich bereit bin für den finalen Kraftakt, für den „Spartathlon“. Bereit für 246 km Distanz und 3.000 Höhenmeter auf dem Peleponnes. Bereit an der Akropolis in Athen zu starten und höchstens 36 Stunden später in Sparta anzukommen. Bereit, den längsten und sicher härtesten Lauf meines Ultraläuferlebens zu überstehen und dabei auch noch Freude zu empfinden. Zumindest in den ersten Stunden …

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe Laufbericht 2015

 

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