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Ähnlichkeiten im Verhalten von (nicht wenigen) Menschen und Hamstern sind unübersehbar. Sie waren lange bekannt, bevor die Wissenschaft im biologischen Mikrokosmos unserer hoch entwickelten Aufrechtgeher-Gene nur geringfügige Unterschiede zu denen des possierlichen Nagers entdeckte. Hält man ihn unfrei im Käfig, krabbelt der Hamster immer wieder freiwillig in sein Rad und rennt los – scheinbar sinn- und zweckfrei. Menschen schaffen sich die unterschiedlichsten Tretmühlen, denen zu entkommen oft aussichtslos erscheint. Und manche betreten ihr Rad auch noch freudig erregt, um sich darin in einen Zustand völliger Erschöpfung zu versetzen …
Mein Hamsterrad steht heute in Fürth. Um genau zu sein, in der noch jungen Südstadt und dem keine zehn Jahre alten Südstadtpark. Gegen Ende des letzten Jahrtausends gaben die amerikanischen Streitkräfte ihre Kaserne in der Fürther Südstadt auf. In der Kernzone, dem ehemaligen Exerzierplatz, entstand ein rechteckiger Park, etwa 200 auf 500 Meter, mit viel Platz für Sport und Spiel. Ein paar darin wie versprengt wirkende Gebäude gerieten unter Denkmalschutz, wurden saniert oder umgebaut. Auch die „Grüne Halle“ gehört dazu; von den GI’s vormals als Sporthalle genutzt, dient sie in unseren Tagen als Veranstaltungscenter. Heute gehört die Grüne Halle den Läufern, die anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages im Rahmen mehrerer Benefizläufe starten. Halbmarathon, Marathon und 6h-Lauf werden auf der 1,3152 km-langen Runde im Park ausgetragen. Unter die Wettbewerber mischen sich auch Inhaber von so genannten „Fan-Tickets“, die für ihre Startgebühr eine Stunde im Kreis laufen dürfen. Der rote Teppich der Grünen Halle liegt im Laufweg, außerdem starten die 6h-Läufer „indoor“. Nachdem ich Park und Halle bereits anlässlich mehrerer Teilnahmen am Fürth Marathon (im Juni) kennen lernte, ist eigentlich nur eins unklar geblieben: Die Namensgebung der Grünen Halle. Der Außenanstrich erstrahlt in sattem Orange und im Inneren liefern lediglich ein paar zur Raumteilung aufgestellte Bäumchen kräftiges Grün.
Mein heutiger Lauf ist ein Benefizlauf. In einem älteren Laufbericht habe ich mich schon einmal dahingehend eingelassen, dass mir der gehäufte „Missbrauch“ von Laufveranstaltungen für karitative Zwecke Stirnrunzeln verursacht. Lass mich das aber klarstellen: Inzwischen muss man suchen, will man einen Lauf finden, dem nicht irgendein „guter Zweck“ beigestellt oder übergestülpt wurde. Wieso eigentlich? Läufer sind keine Gutmenschen, auch nicht hilfswilliger als der Rest der nicht laufenden Bevölkerung. Als häufiger Wettkampfteilnehmer stoße ich ständig auf die Bitte nach Unterstützung für und Hinwendung zu einer Hilfsidee. Und genau da liegt die Quelle meiner Bauchschmerzen: Ich mag mich nicht mit jedem dieser Projekte in aller Oberflächlichkeit auseinandersetzen. Also unterlasse ich es und kämpfe jedes Mal gegen einen Anflug von schlechtem Gewissen. Dieses Mal nicht. Die Startgebühr ist überdimensioniert, weil der Reinerlös der Veranstaltung als Spende abgeführt wird – an wen auch immer. Auch wir leisten unseren bescheidenen Beitrag, um die Welt nach Möglichkeit ein bisschen besser zu machen. Wer unsere Internetseite kennt, weiß, dass wir drei Organisationen unterstützen, mit deren Projekten wir uns intensiv beschäftigt haben. Wenn ich zu Läufen fahre, dann um dort zu laufen, zu trainieren und nicht um meine wohltätige Seele zu massieren.
Aber warum bin ich dann hier? – Mein Ultra-Saisonhöhepunkt im Juni (was genau steht noch nicht fest) verlangt diverse Aufbauwettkämpfe. Oft stand der Bienwald Marathon am Anfang einer Jahreswettkampfserie, dazu hatte ich in diesem Jahr aber keine Lust. Von Kraxi erfuhr ich, dass er hier beim Benefiz-Marathon startet und beschloss mein Laufjahr gleichfalls in Fürth zu eröffnen. Ein paar Mal schwankte ich vor der Anmeldung zwischen Marathon und 6h-Lauf, weil ich in diesem Laufjahr nur zögerlich in Form komme. Woran das liegt, weiß ich nicht. Altersbedingte Ausdauereinbuße? Zu tiefes Absacken der Vorjahresform, nach Umzug und Urlaub? Der harte, schneereiche Winter? Letztlich blieb’s dann doch bei 6 Stunden, was sich vor einigen Tagen als Fehlentscheidung herausstellte. Quälende Halsschmerzen, Kopfweh und leicht erhöhte Temperatur erzwangen einen Trainingsstopp, um Schlimmeres zu verhüten. „Schlimmeres“ blieb aus, dennoch zog sich die „Seuche“ hin. Erst am Dienstag stieg ich wieder ins Training ein, mit noch immer nicht intakten Schleimhäuten. Bei zwei weiteren Trainings fehlte mir noch ein Großteil meiner Kraft und so gehe ich heute mit dem Vorsatz ins Rennen bis zur Marathondistanz durchzuhalten und dann eventuell abzubrechen. Um es klar zu sagen: Noch kurz vor dem Start bin ich dazu entschlossen und schaffe mir mit Kraxi einen Zeugen: „Ich hoffe, ich besitze die läuferische Größe nach dem Marathon wirklich aufzuhören, wenn es nicht mehr geht!“
Ich treffe Kraxi (Hannes Kranixfeld, einer der besten Ultras aus Österreich) eine Viertelstunde vor dem Start. Lauffreunde kennen sich, da bedarf es nicht vieler Worte, auch wenn man sich schon Monate nicht mehr gesehen hat. Er sieht mir an – um die Augen rum, wie er sagt –, dass ich nicht gut drauf bin. Da haben wir heute eine Gemeinsamkeit. Wenngleich nicht optisch auszumachen, hat er sich nach eigenen Worten schon besser gefühlt. Ihn nervt der eisige Wind. Welcher Wind wirst du fragen und damit sind wir beim Wetter. Die Temperatur da draußen vor der Halle liegt gegenwärtig noch knapp unter dem Gefrierpunkt und von Südosten fegt ein beißender Wind über die weitgehend freie Fläche. Die meisten Zeitgenossen werden den Frühling herbei sehnen. Bei ambitioniert und beinahe täglich trainierenden Läufern verstärkt sich dieser Wunsch jedoch mit jeder kälteklirrenden Woche um eine Potenz. Ich hasse die Kälte, ich hasse den Schnee (wenigstens der bleibt uns erspart) und Wind hasse ich sowieso … Zu diesem 6h-Jogg trete ich vermummt an, wie seit 2008 nicht mehr in einem Wettkampf. Am 1. März 2008 bot ich dem Orkan „Emma“ beim Wintermarathon in Husum in derselben Verhüllung die Stirn.
Kraxi hat sich zum Marathonstart verabschiedet, der zur selben Zeit vor der Halle stattfinden wird. Ich stelle mich zur 6h-Horde ein paar Meter hinter der Startlinie. Zuschauer, Helfer und Läufer wimmeln durcheinander. Enge verhindert Übersicht. Wie immer lässt sich das Laufvolk mit Interviews, Hinweisen und aufputschenden Parolen beschallen. Plattes bis Dümmliches fehlt heute, was der beseelten und sachkundigen Moderation von Artur Schmidt zu verdanken ist. Artur Schmidt ist nicht irgendwer. Seit Jahren moderiert er unzählige, auch große Marathons und Triathlons in Deutschland mit unverwechselbarer Stimme. Jetzt wird gezählt. Nicht rückwärts, wie gewohnt, sondern vorwärts und bis … keine Ahnung … wahrscheinlich 21, weil der Laufclub 21 als Veranstalter fungiert. Dann wabert künstlicher Nebel durch die Halle, in dessen Schwaden sich etwa 180 Frauen und Männer auf die sechs Stunden lange Reise begeben …
Die quasi rechteckige Runde ist einfach zu beschreiben (siehe auch nebenstehendes Bild meiner GPS-Aufzeichnung): Wir verlassen die Halle annähernd in östlicher Richtung und schlagen sofort einen Haken nach Norden. Nach 70 Metern knickt der Kurs im rechten Winkel, leitet uns 130 Meter ostwärts. Ab hier einen langen halben Kilometer in südlicher Richtung, dann westwärts, erneut rechtwinklig abbiegend. Auf dieser kürzeren Seite des Rechtecks traben die Füße 160 Meter, dann geht’s einmal mehr nach Norden, zuletzt auf die Halle zu. Etwa 150 Meter vor der Halle, also im Freien (!), passieren wir das Läuferbuffet. Unmittelbar vor der Halle über grobes Kopfsteinpflaster – Achtung Stolpergefahr! – nach links, in spitzwinkligem Schlenker um Hallenecke und eine Pflanzung, dann enden 1,3 Kilometer auf dem roten Hallenteppich, in Höhe der elektronischen Rundenzählung.
Wie es sich für einen laufenden Reporter in eigener Sache gehört, verbringe ich die Warmlaufrunden mit der Suche nach eindrucksvollen Perspektiven und beredten Bildern für meinen Laufbericht. Das strenge, im Grunde nur von der im Laufweg liegenden Halle gebrochene Rechteck des Südstadtparks gibt schon ein paar attraktive Aufnahmen her. Weniger das Parkareal selbst, auch nicht die jungen, – pardon – noch „mickrigen“ Alleebäumchen beidseits des Weges. Dafür jedoch die restaurierten Gemäuer innerhalb des Parks und die Fassaden der modernen, ringsum errichteten Wohnanlagen. Ältere Gebäude an der Peripherie wurden modernisiert und harmonisch ins Ganze eingefügt. Eine Ausnahme bilden lediglich die in klotziger Nachkriegsgestalt hochgezogenen Wohnblocks am Südende des Platzes. Insgesamt wirkt das Zentrum der Fürther Südstadt einladend und freundlich, wie es scheint ein gelungenes Beispiel menschennaher Stadtplanung.
Laufveranstaltungen – zumal im Ultrasegment – erhalten ihren Charakter nicht zuletzt von den Menschen, die daran teilnehmen. Durch den Strom der eher Unauffälligen, zu denen ich mich selbst zähle, pflügen die „Typen“. Typ wird man auf verschiedene Weisen. Da gibt es die Gruppe der Hofnarren, die mitten in der Fastenzeit ein Stückchen Karneval aufführen. Herausragende Vertreter dieser Spezies heute: Der „grün-weiße Irokese“ trägt einen grünen (Schotten-?) Rock und sein mit Irokesenschnitt verzierter Blondschopf lugt aus grünem Oberteil. Die Füße stecken in grünen Laufschuhen, die Waden verhüllen je ein weißer und ein grüner Strumpf. Weiße Kleeblätter auf grünem Grund, dem Fürther Stadtwappen entlehnt, lassen keinen Zweifel über seine Herkunft aufkommen. Vielleicht – das vermag meine Beobachtung nicht zweifelsfrei zu klären – erinnert sein Habitus aber auch an den (schon längst verlorenen) Überlebenskampf der Spielvereinigung Fürth in der 1. Fußballbundesliga.
Nicht weniger spektakulär und viel bunter trabt der Clown einher: Mehrfarbig und vertikal gestreifte Dreiviertelhose, knallgelbes Hemd mit Puschelknöpfen auf der Brustseite, geschminkte Mund- und Nasenpartie, obenauf eine Perücke, die in allen Farben des Regenbogens schillert. Auch verrückt, allerdings dunkel und mystisch in flirrendem Umhang, dreht die Hexe ihre Runden. Keine „böse Hexe“ wie mir scheint, höre und sehe ich sie doch ausnahmslos lachen.
Nicht weniger „typisch“ präsentiert sich der Vier-Stunden-Zugläufer der Marathonis: Üppig und wolkenförmig wallende, grau-weiße Locken quellen unter einem Westernhut hervor. Auffälliger als die optische Kennzeichnung ist jedoch sein akustischer Beitrag. Unablässig und mit pastoral beruhigendem Timbre redet er auf die kleine Schar seiner Schäfchen ein. Eine fränkisch klingende Mixtur aus galgenhumorigen Sprüchen, Hinweisen und sonstigen gut gelaunten Anmerkungen ergießt sich unablässig über seine Zuhörer. Ab und an informiert er – ja wen eigentlich? – über seinen Auftrag, ruft „Zugläufer vier Stunden!“ und wieder: „Zugläufer vier Stunden!“ In Höhe der Läufertheke gibt er Regienanweisungen: „Becher mitnehmen und weitergehen. Nicht stehen bleiben, sonst behindert ihr euch gegenseitig!“ Ich weiß nicht, ob es an seiner in vier Laufstunden nimmer versiegenden Mitteilsamkeit liegt, jedenfalls beendet er seinen Job fast ohne Klienten …
Ich musste weit über 100 Laufveranstaltungen sammeln bis ich „ihm“ begegne. Er betreibt „Joggling“ (www.joggling.de). Trabt vorwärts und jongliert mit drei (oder vier?) Bällen vor der Brust. Kopfschüttelnd bewundere ich seine Koordinationsleistung! Absolut irre. Dass diese spezielle und weltweit verbreitete Laufdisziplin bestimmten Regeln unterliegt, erfahre ich erst daheim, bei einem Besuch der Joggling-Homepage.
Die Rangliste der nervigen Randerscheinungen ist nicht lang. Platz eins, mit weitem Abstand zu den nachfolgenden Rängen belegen die Kälte und mit ihr der eisige, aus Südosten wehende Wind. Jeweils etwa für die Hälfte des Rundkurses bin ich unendlich dankbar mich so dick eingepackt zu haben.
Ungut gestaltet sich auch die Läuferversorgung. „Wo steht Iso?“ frage ich einen Mann hinter den Tischen. „Haben wir nicht!“ lautet die ebenso klare wie ärgerliche Antwort. Kostprobe der Ausschreibung gefällig? Unter „Läuferverpflegung“ heißt es da: „An der Laufstrecke befindet sich eine Versorgungsstelle mit einem reichhaltigem Angebot …, auf jeden Fall, ISO, Wasser, Cola, Bananen, Kekse.“ Wer will sich bei einer Benefizveranstaltung schon daneben benehmen und sei es nur durch berechtigte Kritik. Also halte ich den Mund und bediene mich mit anderem. Meine Wahl fällt auf Tee, der enthält auch Zucker, den ich heute definitiv brauchen werde und außerdem ist er warm. Denkste! Eiskalt rinnt das Zeug durch meine Kehle und stachelt meinen Magen zu leiser Revolte an. Ziemlich enttäuscht* von der Organisation trabe ich davon und nehme mir vor künftig gleich zu wechselweise Cola und Wasser zu greifen, wenn ohnehin alles kalt ist.
*) Nach etlichen Teilnahmen an Laufveranstaltungen habe ich aufgehört mir jeden Missstand schönreden zu wollen. Grundlegende Dinge, wie reibungslose Durchführung, Sicherheit und eben auch die Verpflegung der Teilnehmer, müssen beanstandungsfrei klappen. Basta. Bei Kälte gehört ein warmes Getränk auf den Tisch und wenn Iso versprochen wurde, dann eben auch Iso.
Vor dem Start gaben sie Kostproben ihrer Sangesfreude in der Halle, ein Gospelchor samt keybord-endem Dirigenten hat an einer Langseite des Kurses Stellung bezogen. Zwar tönt der vorwiegend sakrale Chorgesang himmelweit jenseits meiner musikalischen Bedürfnisse, trotzdem anerkenne ich ihre Leistung mitten im schafskalten Nichtfrühling. Einige der Wettkämpfer klatschen im Vorbeilaufen, eine Läuferin höre ich sogar schwärmen: „Das klingt soooo schön!“
Zu späterer Laufstunde und bis zum Ende hallt unvermittelt rhythmisch brasilianisches Gewummer durch die Südstadt. Was für ein Kontrast! Vor Stunden die zarten, dünnen Stimmen, inhaltlich eher himmelwärts gerichtet, und nun mit Wucht pralles, irdisches Leben aus dicken Bäuchen von Sambatrommeln. Ob du willst oder nicht, ganz von selbst passen sich die Füße dem fordernden Rhythmus an. Fünfzig Meter, hundert, dann ebbt das Lärmspektakel ab, verliert seinen suggestiven Einfluss auf die Schrittfrequenz …
„Go! Runners go! – Go! Runners go! – Go! Runners go! ...” Eine Gruppe Cheerleader im blau-schwarzen Trainingsanzug, die Hände mit raschelnden Pompons bewehrt, feuert die zunehmend müder werdenden Beine an. Bemerkenswert und mich mit jeder Stunde ihres Eifers mehr begeisternd ist nicht die bloße Anwesenheit der Mädchen. Unablässig und geschlagene 6 (in Worten: Sechs) Stunden schallt uns ihr Schlachtruf entgegen!!! Am meisten verblüfft mich jedoch das Alter der Mädchen: Bei den jüngsten dürfte die Einschulung noch nicht lange her sein und die älteste hat noch etliche Schuljahre vor sich. Cheerleading muss wirklich großen Spaß machen, wenn Kinder es so lange und mit solcher Inbrunst betreiben. In den ersten Stunden brütenden Vor-mich-hin-Stapfens passiere ich die Darbietung eher gleichgültig. Umso mehr genieße ich ihre Gegenwart auf den letzten Runden, nach jedem Strohhalm der Ablenkung greifend, um durchzuhalten. Und dafür wandeln sie ihren Schlachtruf auch schon mal ab: „Go! Runners Go! – Go! Udo Go! …“ Hoffentlich hat sich keins der Mädchen im eisigen Zug erkältet!
Nach vier Runden überholt mich Kraxi zum ersten Mal – in einem Höllentempo, vergleicht man sein Rennen mit meinem verhaltenen Trimmtrab. Und doch geht ihm die Sache nicht locker vom Fuß, jedenfalls gibt er mir das zu verstehen. „Übernimm dich nicht!“ schicke ich ihm hinterher und zum „Abschied“ einigen wir uns noch auf die Formel: „Es ist ja nur ein Trainingslauf!“ – Bis zur nächsten Überrundung, in Runde neun, vergeht mehr Zeit. Noch immer klagt er über „Ladehemmung“, führt sie auch auf sein zu hohes Anfangstempo zurück. – Es ist unser letzter Wortkontakt. Anlässlich der nächsten Überholmanöver bleibt Kraxi stumm. Entweder fühlt er sich nicht gut oder meine, von zunehmender Anstrengung geprägte „Aura“ rät ihm zu schweigen. Einmal beobachte ich ihn noch bei ein paar Metern Kniehebelauf, die offensichtlich seine „steife“ Muskulatur lockern sollen. Oh, wie entsetzlich neidisch macht mich das. Touché! Was gäbe ich für seine Leichtfüßigkeit, hätte ich zu vorgerückter Laufstunde noch Lust und Körner für eine Gymnastikeinlage …
Schließlich, nach drei Stunden, will der Zufall, dass ich sein Finale miterlebe: Kurz vor der Grünen Halle schießt er an mir vorbei, wie ein Intercity-Express am wartenden Bummelzug. Seine letzte Runde, was mir aber erst bewusst wird, als ich selbst über den roten Hallenteppich stampfe und der Moderator seinen Zieleinlauf kommentiert: „Gratulation an Hannes Kranixfeld, aus der Steiermark in Österreich!“ Mehr verstehe ich nicht, aber sofort fliegt mein Blick auf die Uhr am Handgelenk: 2:59:xx!!! Ende gut, alles gut! Über den Umstand, dass er seinen „Trainingswettkampf“ als Sieger beendet, kann ich mich erst hinterher freuen, einstweilen entgeht es mir …
Ich war darauf vorbereitet und hatte es mir auch fest vorgenommen: Bei miserablem Wettkampfverlauf steige ich nach dem Marathon aus. Der Marathon ist natürlich Pflicht, den 101. Marathonsieg möchte ich mindestens mit heim nehmen. Erst das Laufduell mit dem Pacemaker 4 Stunden und seinen „Knappen“ über mehrere Runden macht mir mein Tempo bewusst. Ohne Absicht und mit weniger Mühe als befürchtet halte ich in den ersten Stunden eine Pace von etwa 5:40 min/km. Dabei fühle ich mich nicht in Normalform, aber auch nicht schwach. Dieses Tempo ist heute für einen 6h-Lauf zu schnell. Ich bremse mich dennoch nicht, spukt durch meinen Hinterkopf doch immer wieder der mögliche Abbruch nach dem Marathon. Stunde eins … Stunde zwei … schon eine Weile vor Stunde drei habe ich 30 Kilometer auf dem Zähler.
Dann, in Runde 21, also nach etwa 27,5 km, geschieht etwas ganz und gar Unerhörtes. Etwas, das mich die Entscheidung „Abbruch oder weiter?“ mehrmals verschieben lassen wird. Am Ende von Runde 21 vermisse ich das zwanzig Mal zuvor gehörte Piepsen der Messeinrichtung. Mein Blick schießt voraus, auf die per Beamer an die Hallenwand über dem Ausgang geworfene Rangliste. Dort fehlt die Startnummer 107 dieses Mal. Kann das sein? Gibt’s das? Eine Elektronik, die meinen Chip nicht registriert hat? Völlig verunsichert trete ich die nächste Runde an. Vielleicht waren 5, 6, 7 andere Läufer direkt hinter mir, so dass meine „Zeile“ mit Startnummer, Name und Platzierung einfach zu schnell nach oben auswanderte? Es werden nur die jeweils letzten sechs gemessenen Läufer eingeblendet. Kommt ein neuer unten hinzu, fliegt die älteste Messung oben raus. Ich werde es wissen, wenn ich das nächste Mal in der Halle bin, dann müsste mir die Anzeige 22 Runden gutschreiben …
Ich muss wirklich mehrmals hinschauen. Unglaublich! „Startnummer 107 – Udo Pitsch – 6h-Lauf – 21 Runden“ steht da. Auch wenn ich das zuvor ausgeschlossen hätte, es ist Fakt. Die Anlage hat mich beim letzten Mal nicht registriert. Runde 23 vergeht mit hektischem Grübeln: Ignorieren? Ist doch nur ein Trainingslauf … Ja schon, aber was wenn meine Depots gerade so eben für den Marathon reichen? Und überhaupt … es würde einige Überwindung kosten, sich mit dieser unerwarteten „Härte des Schicksals“ abzufinden – so weit kenne ich mich dann doch. Und warum nicht mal Protest einlegen? Das habe ich noch nie gemacht. Wäre eine neue Erfahrung. Aber wann und bei wem? Nach dem Wettkampf? Vergiss es, dann interessiert sich keiner mehr für einen M60-Läufer unter ferner liefen. Also gleich intervenieren, aber es darf mich auch nicht zu viel Zeit kosten.
Am Ende von Runde 23 (offizielle Anzeige 22) schere ich zu den Zeitnehmern aus, die sich hinter einer Phalanx von Laptops verschanzt haben. Vor einer jungen Frau baue ich mich auf, blicke ihr tief in die Augen und behaupte: „Bei der vorletzten Runde hat mich eure Anlage nicht registriert!“ Die guckt ziemlich verschreckt als wär’s ein Überfall. Sofort löst ihr Nebenmann den Kopf vom Monitor seines Notebooks und fragt: „Welche Startnummer?“ „107“ haucht die Verhuschte, „107“ liest er auch von meinem Bauch und greift augenblicklich beherzt in die Tasten seiner Maschine, anscheinend auf der Suche nach meiner „verlorenen“ Runde … Mehr als einen Moment der Unschlüssigkeit billige ich mir nicht zu, also nimmt meine „Hülle“ nach insgesamt kaum zehn Sekunden Verzögerung den Wettkampf wieder auf. Mein Geist hat anderes zu tun, brütet über der unerwarteten Reaktion der Zeitnehmer. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass sie die Unfehlbarkeit ihrer Anlage mit harscher Zurückweisung meines Einspruchs verteidigen würden. Und nun dies. Das kann doch nur bedeuten … Offenbar passiert das nicht zum ersten Mal. Heute? Generell bei diesem Messsystem? Oder vielleicht sogar bei allen ähnlichen Anlagen weltweit?
Was, wenn sie meinen Einspruch ablehnen? Den Nachweis, dass ich diese Runde tatsächlich absolvierte, kann ich nicht führen. Natürlich bezeugen die gespeicherten Zwischenzeiten, dass ich die ersten 20 Runden mit hoher Konstanz jeweils nach etwa 7,5 min beendete. Dennoch wäre es theoretisch möglich, sich genau diese Zeitspanne lang irgendwo auszuruhen, um dann den Rundenmalus in betrügerischer Absicht zu reklamieren. Ich stelle meine Zweifel zurück, bin gespannt welche Rundensumme beim nächsten Durchlauf in der Anzeige steht … … …
… … … „24!“. Da steht tatsächlich „24!“ Also wurde meinem Einspruch stattgegeben und die fehlende Runde addiert. Unglaublich! Natürlich bin ich dankbar für die faire Behandlung, aber auch irgendwie erschüttert. Bislang hatte ich nie Grund an der technischen Ausgereiftheit solcher Messsysteme zu zweifeln; hatte weder selbst dergleichen Versagen erlebt, noch jemals davon gehört oder darüber gelesen. Mein bisher blindes Vertrauen ist jedenfalls perdu!
Runde 29, noch 3 Runden bis zum Marathon. In der letzten Stunde hat meine Pace gelitten. Nicht viel und nicht absichtlich. Ich bin einfach schon ein wenig müde. Augenfällig wird mein schleichender Einbruch am 4 Stunden-Zugläufer, der Runde um Runde ein Stückchen weiter enteilt. Ich lasse es geschehen. Vielleicht höre ich nach dem Marathon doch nicht auf, dann werde ich froh sein ein paar Körner aufgespart zu haben.
Immer noch Runde 29, immer noch 3 Runden bis zum Marathon. Oder sind es noch vier? Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Marathondistanz in der Ausschreibung mit 32 Runden plus 103 Meter erwähnt war. Aber eben nur „ziemlich“ sicher. Was, wenn doch 33 Runden erforderlich sind? Ich beschließe auf Nummer sicher zu gehen und mindestens 33 Runden zu laufen.
Runde 30, noch 3 Runden bis „Nummer sicher!“ Wenn es um die ganz sicher gelaufene Marathondistanz geht, wird Udo zum hasenfüßigen Bedenkenträger. Angenommen der Rundenzähler, Zeitnehmer, Schiedsrichter – wer auch immer – streicht nachträglich die zunächst gutgeschriebene Runde wieder – aus welchem Grund auch immer. Stell dir das mal vor Udo! Also muss du, um auf „Nummer todsicher“ zu gehen, 34 Runden laufen!
Runde 31, noch 3 Runden bis „Nummer todsicher!“. Irgendwann zwischen zwei Schritten zischt die Erkenntnis einer Sternschnuppe gleich durch meine Synapsen: „Todsicher“ bedeutet 34 Runden plus 103 Meter. Nur kann ich nicht nach 103 Metern aufhören. Restdistanzen werden erst nach voller Wettkampfdauer ermittelt. Ich muss die angebrochene Runde zu Ende laufen und mich nach 35 Runden vom Wettkampf abmelden.
Runde 32, noch 3 Runden bis „Nummer todsicher plus fehlende Meter“. Ich verlasse die Halle, biege nach links ab, bald wieder nach rechts und gratuliere mir in Höhe der Cheerleader: ‚Geschafft! Jetzt habe ich den Marathon wahrscheinlich im Kasten!’ Die Uhr zeigt 4:02:xx h. Keine ganz schlechte Marathonzeit, aber mehr als vier Stunden und deshalb ein Verstoß gegen meinen Grundsatz jeden Marathon in Sub4h beenden zu wollen. Nur kurz stelle ich abwägend Soll gegen Ist. Die gerade erst und nur halbwegs überwundene Erkältung würde diesen „Sündenfall“ rechtfertigen. Also Schluss nach „Nummer todsicher plus 1“?
Runde 35. Ganz toll wäre, wenn man laufend – zum Beispiel wegen Sauerstoffmangels der grauen Zellen – nicht mehr rechnen könnte. Nur leider jongliere ich noch ganz brauchbar mit den Regeln des kleinen Einmaleins’ und kalkuliere, dass nach Runde 35 bereits mehr als 45 Kilometer auf meinem Konto stehen werden. Mit vier weiteren Runden addierte sich meine Distanz dann auf mehr als 50 Kilometer, was entschieden besser klingt als „nur“ Marathon.
So lange ich nicht fürchten muss hinter der nächsten Wegbiegung umzufallen, wird mich eine solche „Chance“ ausnahmslos bewegen weitere Schritte zu setzen. Auch wenn sie sich von Umlauf zu Umlauf immer träger aneinander reihen. Wie kann Ultralaufen Spaß machen, wenn man nach ziemlicher Distanz jeden weiteren Meter hart erkämpfen muss? Das wurde ich oft gefragt. Solche Skepsis schlug meist in Unverständnis um, wenn ich bekannte, dass der Spaß tatsächlich immer – im wahrsten Sinne des Wortes – auf der ultralangen Strecke bleibt. Natürlich empfinde ich jetzt alles andere als Spaß beim oder Lust am Laufen. Nur der unbedingte Wille durchzuhalten treibt mich weiter. Freude begleitet das Ultralaufen anfangs, auf etlichen Kilometern. Dann (ver-) schwindet sie, um kurz vor Schluss zurückzukehren, im sicheren Gefühl sich wieder einmal selbst überwunden zu haben.
Ultralanges Laufen konfrontiert mich auch jedes Mal mit der vollen Bandbreite meiner Persönlichkeit. Willst du wissen wer du bist? Was in deiner Seele alles an Für und Wider, an Gut und Schlecht, Hilfreich und Widerstrebend wohnt? Wie stark die verschiedenen Strömungen sind und unter welchen Bedingungen sich welche durchsetzt? Dann lauf einen Ultra! Schon auf dem Weg zu 50 Kilometern durchschaue ich die heutige, geheime Taktik meines ehrgeizigen Selbst. Sind es erst einmal 50, dann wird die letzte Stunde schon angebrochen sein …
Runde 40. Alle zum Abbruch ratenden Stimmen sind verstummt. Eine einfache Formel hat ihnen den Mund gestopft: ‚Nicht mal mehr eine Stunde! Das schaffe ich jetzt auch noch!’ Die Endgültigkeit dieses Entschlusses verschafft Erleichterung – mental –, obwohl mein körperliches Dahinsiechen die Schritte immer mehr zur Qual werden lässt. Dann fällt mir ein, dass es noch gar keine Wettkampfbilder von mir gibt. Also bitte ich einen weiblichen Streckenposten um ein Foto und übergebe meine Kamera. Einmal, eine Runde später noch einmal. Die letzte halbe Stunde fällt mir nicht mehr schwer. (Ultra-) Laufen ist großenteils eine Frage der mentalen Stärke. Über die verfüge ich anscheindend. Hundemüde schlappe ich dahin, habe aber Zeit. Mehr als 45 volle Runden (etwa 59 Kilometer) werden nicht zusammen kommen. Liefe ich nach Runde 45 weiter, ereilte mich der 6h-Zielsch(l)uss auf freier Strecke. In Kälte (immer noch kaum mehr als 5°C) und Wind beim Warten auf die Restmeter-Vermessung auszukühlen, will ich heute aber auf keinen Fall riskieren.
Runde 44 und 45. Ich verbrate Zeit, tippele so langsam wie möglich vor mich hin. Trinke noch zweimal, verharre für ein paar Fotos. Zwei Minuten vor X schlurfe ich auf die Halle zu, holpere ein letztes Mal über das grobe Kopfsteinpflaster (das mich zweimal fast zu Fall gebracht hätte), betrete die Halle, übe mit erhobenen Händen die Siegerpose, trabe bis zum gegenüberliegenden Ausgang und stelle mich zu zwei anderen Läufern in ein warmes Eckchen. Gemeinsam warten wir die letzte Minute ab, lauschen dem finalen Countdown.
59,2027 Trainingskilometer stehen am Ende zu Buche. Zwar hätte ich mir, besser trainiert und im Vollbesitz meiner Ausdauer, auch nicht mehr als vielleicht 60, 61 Kilometer zu Trainingszwecken „verordnet“; allerdings musste ich mich für die erreichten 59 in tiefe Erschöpfung laufen. Fast zwei Stunden lang zweifelte ich, ob es mit immer noch ramponierten Schleimhäuten richtig und vertretbar ist, über die volle Distanz zu gehen. Am Ende bin fast schon sicher keinen Fehler begangen zu haben. Gewissheit, ob die Quälerei ihren (Trainings-) Sinn erfüllt hat, werde ich jedoch erst morgen haben*.
*) Außer einer nachhaltigen alle Fasern durchziehenden Müdigkeit geht es mir tags drauf prächtig. Mein Körper verkraftet die Strapaze und ich erleide keinen Rückfall, was ich am meisten fürchtete.