28. Januar 2024

… zweitens als man denkt!  -  Vaihingen Marathon

So unruhig wie in der vergangenen Nacht schlief ich selten vor einem Marathon. Ungeplant um Viertel vor fünf Uhr war ich hellwach und stand kurz entschlossen auf. Der schlechte Schlaf dürfte Bedenken geschuldet sein, die ich mit mir rumschleppe, seit ich mich zum Vaihingen Marathon anmeldete. Bedenken, mich dem anspruchsvollen Profil der 10,5 km-Runde auf Stuttgarter Stadtgebiet mangelhaft vorbereitet auszusetzen. Mangelhaft meint mit zu geringer Ausdauer, dazu muskulär schlecht konditioniert für rund 800 Höhenmeter. Ich fürchte nicht weniger als ein Fiasko. Es wird sich bereits zur Hälfte ankündigen und spätestens auf der letzten von vier Runden wird man mir den Stecker ziehen.

Frühes Aufstehen, frühe Anreise, vergleichsweise früher Start um 8:10 Uhr. Als ich aufbreche geht über Stuttgarter Höhen gerade die Sonne auf. Was mir am zeitigen Start gefällt: Ich werde rechtzeitig genug wieder zu Hause zu sein, um bei drei Saunagängen meine Wunden lecken zu können. Dass ich welche davontragen werde, gilt mir als sicher. Drei Wochen seit dem letzten Marathon - quasi nebenan in Rutesheim - und seither nur einmal flotte 20 Kilometer als längste Distanz trainiert. Ewige Kälte, oft mieses Wetter - Verhältnisse, anlässlich derer sich der „reife“ Marathoni Udo trotz drohenden Untergangs nicht zu adäquatem Training aufraffen konnte.

Was mir an der frühen Startzeit überhaupt nicht gefällt, sind Unausgeschlafenheit und -3°Celsius eisige Luft. Muss ich jetzt noch erwähnen, wie viel Überwindung mich die ersten Schritte kosten? - Und doch müssen die jetzt sein, dafür bin ich schließlich hier. Erste Schritte in einer Wohnstraße, die noch komplett im Schatten liegt. Die beabsichtigte Lauftaktik „extrem verhaltenes Tempo“ auf stellenweise von Raureif überzogenen Asphalt zu tippeln gelingt mir infolge Lustlosigkeit und Kältesteife auf Anhieb. Falls du dich fragst, wieso ich mir diesen Lauf überhaupt antue, wo ich mit Kälte doch so miserabel klarkomme - ich frage mich das gerade selbst, obwohl ich die Antwort kenne. Sie ist grundsätzlicher Natur:

„Auch im Winter von Zeit zu Zeit ein Marathon“ entspricht keinesfalls meinen Neigungen. Auf diese Weise zu überwintern betrachte ich als schiere Notwendigkeit, um mich im Frühjahr nicht von nahezu null auf Marathonreichweite quälen zu müssen. Altersbedingt glaube ich mir die bis vor ein paar Jahren praktizierte Winterpause nicht mehr leisten zu können. Zu unsäglich der Aufwand, um wieder in die Spur zu kommen. Was mir rein physisch betrachtet einerlei wäre, fürchtete ich nicht die davon ausgehende Missstimmung könnte zur dauerhaften Sinnkrise mutieren. Ketzerisch formuliert: Lieber alle paar (Winter-) Wochen einen Tritt in den Hintern hinnehmen, als im Frühjahr mental Schiffbruch erleiden.

Ich laufe. Und sobald ich laufe, höchstens hundert Schritte nach dem ersten, zieht Unlust den Schwanz ein. Vor mir liegt eine Strecke, die wiederentdeckt werden will. Einmal war ich bereits hier, letztes Jahr im warmen Mai. Witzigerweise schon damals zu früh für meine Verhältnisse. In jenen Tagen hatte meine innere Uhr infolge mehrmaligen Aufstehens zu nachtschlafender Zeit ihren Rhythmus verloren. Rund 5:20 Stunden brauchte ich bei meinem Debüt im Mai. Beileibe keine Richtzeit, wenn ich die heutigen Umstände ins Kalkül ziehe. Zum Muffensausen vorm erwarteten finalen Siechtum tritt somit auch noch die „Schmach“ verheißende Vorstellung eventuell die Sechs-Stundenlatte zu reißen. Auch mit siebzig Lenzen liegen sechs Stunden Laufzeit für einen „normalen“ Marathon jenseits dessen, was ich im Grundsatz von mir fordere (Wie lange noch?). Die „Laufzeitüberschreitungsdrohung“ darf mich jedoch nicht zu überzogenem Tempo verleiten: Nur mit ausgesprochen „lahmarschigem“ Dahintippeln werde ich dem befürchteten finalen Knockout entgehen. Vielleicht. Hoffentlich.

Ich laufe. Durch eine der höher gelegenen Stuttgarter Wohnstraßen und am Rand eines Höhenzuges, der gen Norden in eine tief eingeschnittene Schlucht abfällt. Drei-, vierhundert Meter, die sich durch eine auf dieser Strecke seltene Eigenschaft auszeichnen: Sie sind flach. Fühlen sich jedenfalls flach an. Bei sicher 90 Prozent der 10,5 Kilometer-Runde überwindet man entweder Steigung oder lässt sich von der Schwerkraft bergab helfen. Markant der Einschnitt zur Mitte der Runde, der einen zur 150 Höhenmeter tiefer gelegenen Sohle des Kaltentales bringt, in eben jene, zu Beginn dieses Absatzes bereits zitierte Schlucht. Der Wiederanstieg auf Start-/Ziel-Niveau gestaltet sich dabei steigungsprozentual fordernder als der Abstieg. Je nach Gusto und Lauftaktik kann einem das zum Vor- oder Nachteil gereichen. Wer ohnehin die meisten Steigungen gehend absolvieren möchte, erarbeitet sich im moderaten Gefälle Zeitvorteile. Wer vorhat auch die „Steilwand“ tippelnd zu erobern - also ich -, wessen Ausdauer dazu noch auf Kante genäht ist - also wieder ich -, wird sich abwärts tunlichst zurückhalten und auf läuferische „Rekuperation“ setzen. Ein Begriff, mit dem nur technisch Versierte oder E-Auto-Fahrer etwas anfangen können, und zugegeben hier nicht ganz korrekt verwendet. Im E-Fahrzeug schaltet der antreibende Elektromotor auf Generator um, wenn man vom „Gas“ geht. Damit ist eine starke Bremswirkung verknüpft, gleichzeitig wird relevant Strom erzeugt und dem Akku des Autos zur Verlängerung der Reichweite zurückgegeben. Infolge Tempomäßigung „rekuperieren“ Läufer abwärts nicht wirklich, sie verbrauchen weiter Energie. Doch zumindest hoffe ich mit extremer Zurückhaltung meine Akkuladung zu „strecken“.

Ich laufe. Jetzt über eine elegant geschwungene Zwei-Etagen-Brücke. Die obere Ebene ist Fußläufigen und Pedalierenden vorbehalten, einen Stock tiefer rollen Autos. Die Brücke überwindet die Schlucht, gewährt zugleich reizvolle Aussichten. Zu dieser frühen Stunde zu Häuserzeilen am Gegenhang, die vom warmen Licht der jungen Sonne effektvoll in Szene gesetzt werden. Aussicht auch schluchtauswärts über bewaldete Stuttgarter Höhen. Sicher die landschaftlich außergewöhnlichste Metropole Deutschlands, dieses Stuttgart. Denk dir ein geografisch unterdurchschnittlich gebildetes Besatzungsmitglied des Raumschiffes Enterprise. Spinn den Gedankenfaden weiter: Angenommen der unbedarfte Raumfahrer ließe sich auf diese Brücke „beamen“. Oder zu einem der meisten anderen Punkte auf der Strecke. Nie käme er umherblickend auf die Idee nach seinem Trip durch den Hyperraum mitten in der Landeshauptstadt unter gut 630.000 Einwohnern rematerialsiert worden zu sein …

Die Brücke endet am Fuß zweier Serpentinen, anschließend geht's durch Wohngebiet. Nichts für die Augen, nur für die Vorstellungskraft, laufe ich doch nun tatsächlich durchs „Paradies“. Kein von Udo erdachtes Wintermärchen, so heißt diese Straße nun mal. Geparkte Autos, Vegetation, teils auch Bürgersteige und Straßen sind mit einer dicken Reifschicht überzogen. Derzeit -3°C werden sich, während ich hier vier Kreise vollende, in eher angenehme Plusgrade verwandeln. Bin gespannt, wann die Sonne dem eisigen „Zuckerguss“ den Garaus machen wird. Das „Paradies“ endet - man glaubt es nur, wenn man es riecht - zwischen Pferdekoppeln und -ställen. Und einen Steinwurf weiter joggt man dann schon durch „Mini-Manhattan“. Manhattan steht heute Morgen in Flammen. Die hinterrücks über den Horizont lugende Sonne taucht fades Fassadengrau in warme Gelb-Orange-Töne, lässt das winterliche Braun einer Hecke rotgolden aufleuchten. Ein elektrisierender Anblick, der mich die Nachteile des allzu frühen Loslaufens vergessen macht. Zwischen mehrstöckigen Bürogebäuden und einem Hochhaus voran, etwa vierhundert Meter weit, dann zurück ins private, ins Wohn-Vaihingen. In diversen Straßen nehme ich die Parade geparkter, unter Reif tiefgekühlter Autos ab, unterquere irgendwann auch die mehrspurige, Teile von Vaihingen abschneidende B14. Was hier unter der Woche an mieser Luft produziert wird, mag ich mir nicht vorstellen. Zu früher sonntäglicher Stunde rollen nur wenige Pkw vorbei, von denen ich, verborgen hinter hoch aufragenden Lärmschutzwänden, allerdings nur „Restfahrgeräusche“ vernehme.

Die Unterführung der Bundesstraße droht mit finsterem Schlund und ewiger Verdammnis, entlässt den Eingeschüchterten aber alsbald durch ein Portal gleißender Helligkeit zurück ins Leben. Einstweilen verbirgt dieser scharfe, die Augen irritierende Dunkel-Hell-Kontrast, was den Tunnel wirklich sehenswert macht … Vorhin im Paradies, eben kurzzeitig im Hades und jetzt, zum Abschied vom bebauten Vaihingen, trabe ich ein paar Meter im Himmel. Läge es in meiner Absicht diesen Laufbericht schicksalsschwanger auszuschmücken, die Stuttgarter Verwaltung (oder der Volksmund?) machte sich der Beihilfe schuldig. Wäre schon interessant zu wissen, wie die Straße „Im Himmel“ zu ihrem Namen kam.

Gegenüber von „Im Himmel 2“, einem biederen Einfamilienhaus, kaschiert ein beginnendes Wäldchen die B14-Lärmschutzmauer. Nicht Wald, eher Hain, fast noch ein Dickicht. Ein vom Veranstalter unseres Laufes, Christoph Holzapfel, gesprühter Kreidepfeil beendet meinen kurzen Aufenthalt „Im Himmel“, schickt mich auf einen sich im Wäldchen verlierenden Pfad. Keine Überraschung für mich, schon im Mai fand ich die Stelle dank Wegweisung auf Anhieb. Der Pfad hat seinen Charakter der Jahreszeit angepasst: Fehlendes Laub sorgt für gute Lichtverhältnisse, die auf gefroren knubbeligem Geläuf dem Stolpern vorbeugen. Der Frost ist allerdings nur oberflächlich, darunter ahnt man weichen Morast. Einstweilen sauberen Schuhs voran, alsbald in „erwachsenen“ Wald abbiegend.

Beißender Frost empfängt mich im Wald. Körperliche Wahrnehmung, die vom Anblick der blanken Eisfläche eines Tümpels optisch unterstrichen wird. Sein Wasser gefror am höchsten Geländepunkt, vielleicht nicht von ganz Stuttgart, doch zumindest unserer Rundstrecke. Voran auf gepflegten Forstwegen, die mir nun bis zum tiefsten Punkt des Kurses erhalten bleiben werden. Verlor sich das Verkehrsgeräusch der nahen B14 für ein paar Minuten, so schwillt es nun, da ich frontal auf die „Autostrada“ zuhalte wieder an. In weit gezogener Rechtskurve vermeidet der Weg die Straße zu kreuzen, kehrt in die Stille des Forstes zurück. Dabei genieße ich dauerhaft Unterstützung von Gefälle, mal mehr, mal weniger. Nach nur drei Kilometern ist das mit dem Genießen noch wörtlich gemeint.

Kilometer vier und fünf - weiter im Wald, keine besonderen optischen Vorkommnisse. Nur ab und zu blinzelt die wie verschleiert wirkende Sonne durchs Geäst. Das Doppelgleis einer den Wald schneidenden Bahnlinie überwinde ich auf verwahrlost wirkender Brücke. Gleich hinter der Brücke beginne ich mit der Suche. Gesucht wird ein Versteck für meine Trinkflasche, die ich in der Jackentasche verwahrt mitnahm, um sie in Höhe der Rundenhälfte zu hinterlegen. Ein Stück eines verwitterten Baumstamms bietet sich als Deckung an. Rasch trinken, Flasche deponieren und weiter. Will heißen: Weiter abwärts. Auf dem richtigen Weg zu sein muss ich mich nur einmal versichern, wo es den Hauptweg zu verlassen und einen unscheinbaren Abzweig zu nehmen gilt. Ich lasse mich im Gefälle treiben, versuche, meine Absicht der „Rekuperation“, den sparsamen Umgang mit energetischen Ressourcen, in die Tat umzusetzen. Im Mai rauschte ich hier definitiv forscher talwärts … Ein Gedanke, der mich die heutige „Verschwendung“ von Zeit geradezu körperlich fühlen lässt.

Weitere fünf Minuten verstreichen bis ich den tiefsten Punkt des Kurses im Kaltental ansteuere. Zuletzt eine aus Bahnschwellen gelegte, steile Stiege hinab zur Straße … Vorsicht!!! Die mit Reif überzogenen Holzschwellen sind mir nicht geheuer … Alles geht gut: Ohne auch nur ansatzweise zu rutschen gewinne ich den Straßenrand, dem ich keine hundert Meter bis zur Ampel folge. Wünscht jemand eine Erklärung, wie das Kaltental zu seinem Namen kam? - Er möge mich hier unten stückweit begleiten, dann werde ich ihm die Mär zähneklappernd zu Gehör bringen. - Straße überqueren, der Straße abwärts folgen, zweihundert Meter weiter rechts abbiegen und …

… damit beginnt der lange Aufstieg in der gleichfalls bewaldeten Ostflanke des Tals. Beginnt mit steilem, die Zuversicht des Läufers Udo infragestellendem Aufschwung. Gebärdet sich sodann ein wenig zahmer, um mich endlich in eine enge, trotz fehlender Belaubung noch dämmrige „Klamm“ zu entlassen. Schon beim ersten Mal, als ich dieses über die Jahrtausende ausgewaschenen, schroffen Geländeeinschnitts ansichtig wurde, ließ ich mich von Felsgebilden, den Windungen des Bachs und der beinahe mystischen, von dichtem Baumbestand unterstrichenen Atmosphäre dieses Naturwunders beeindrucken. Übrigens nicht letztes Jahr im Mai, sondern bereits im November 2017, als ich anlässlich des Ultras „RunMob Rössleweg“ das Stuttgarter Stadtgebiet auf 57 Kilometern umrundete. Auf besagtem „Rössleweg“, ein mit der Silhouette eines scheuenden Rappen markierter Wanderweg, liegen auch die „Klamm“* sowie Teile der Abstiegsroute von vorhin.

*) Bei dem von mir als „Klamm“ bezeichneten engen, v-förmigen Geländeeinschnitt handelt es sich um die so genannte „Schwälblesklinge“. Das kleine Kerbtal entstand durch Verwitterungs- und Erosionsprozesse.

Mehrmals bleibe ich stehen. Derzeit ausschließlich, um im spärlichen Licht hinreichend scharfe Fotos zu schießen. Atemstopps muss ich - eigentlich wider Erwarten - auf dem steilen Pfad noch nicht einlegen. Ich kämpfe mich aufwärts, verlasse die „Klamm“, trabe eine Minute erholsam talwärts, um dann meinen Zwist mit dem nicht enden wollenden Hang fortzusetzen. Der kommt auch beim „Wiedereintritt“ in die Vaihinger Wohn-Atmosphäre nicht zum Erliegen. Im Gegenteil: Alsbald stehe ich mächtig beeindruckt am Fuß einer Steilwand. Beeindruckt, weil mir die schwindelerregenden 20 Prozent Steigung dieses schmalen Sträßchens nur allzu lebhaft im Gedächtnis blieben. Lediglich 150 Meter Steigung klingen eher harmlos. Anschein, auf den ich gewiss nicht reinfalle. Ich steppe schneckengleich auf den Fußballen hinan, Schrittlänge gegen null strebend. Zu Anfang bequem auszuhalten, nach etwa der Hälfte der Distanz jedoch mit zunehmend brennenden, elefantös gewichtigen Oberschenkeln. Letztlich ist der Steilhang aber auch nur ein Widersacher, der sich meinem Willen beugen muss.

Noch etwa ein, entlang der Hangkante zu laufender, weitgehend flacher Kilometer trennt mich jetzt vom Auto. Gelegenheit sich bei langsamem Trab zu erholen und ein bisschen in die Sonne zu blinzeln. Freier, nur da und dort von ein paar Bäumen aufgehaltener Blick Richtung Süden über die unbebaute Hochfläche; über vom Raureif gefrostete Wiesen und vermutlich auch Felder. Allen Ernstes: Wer’s nicht weiß, käme nie auf die Idee sich in einer Großstadt aufzuhalten …

Nach der obligatorischen Verpflegungspause am offenen Kofferraum breche ich zur zweiten Runde auf; inständig hoffend, mein Magen möge nach eisiger Gel-Wasser-Mischung, die ich ihm vor Minutenfrist zumutete, keine Revolte anzetteln. Von der nun höher stehenden Sonne und mehr Passanten abgesehen, finde ich die Strecke unverändert vor. Noch immer Frost in der Luft und Reif auf allem Gegenständlichen, das noch kein Sonnenstrahl kitzelte. „Bei-läufig“ bebrüte ich das gedankliche, mir anlässlich der Begegnung mit Reinhold in der ersten Runde untergeschobene Ei: Soll ich einen Umlauf in Gegenrichtung wagen? Und falls ja: in welcher Runde? Zunächst tendiere ich zur Schlussrunde, vor allem um dem 20-Prozent-Mörderhang zu entgehen. Vermutlich könnte ich das Steilstück an diesem Tag und kurz vorm Finale nur in Etappen, nach kurzen Verschnaufpausen tippelnd bewältigen. Andererseits weiß ich nicht wie meine Beine auf mehr als drei Kilometer dauernde Steigung reagieren werden, die ich bisher als Gefälle unter den Sohlen hatte!? - Soll ich, soll ich nicht, wenn ja, wann? - das Abwägen zieht sich über Kilometer hin. Schlussendlich entschließe ich mich schon Runde drei gegenläufig zu absolvieren.

Als ich vorhin am Auto aufbrach konnte ich es - natürlich! - nicht lassen auf die Uhr zu schauen. Nur um bestätigt zu finden, was mein Laufgefühl mich längst hatte wissen lassen. Nimmt man das Debüt im Mai auf dieser Strecke als Maßstab, dann bin ich mit gehöriger „Verspätung“ unterwegs. Die abgelesenen 1:24 Stunden für Runde eins werden sich mit meiner bescheidenen Tagesform kaum wiederholen lassen. Vorsorglich gewöhne ich mich schon mal an den Gedanken die Sechs-Stunden-Schallmauer heute zu durchbrechen …

Runde zwei liefert keinen Aufschluss, wie sich die Energiesparstrategie, das bisher extrem verhaltene Tempo, zum Ende hin auswirken wird. Noch komme ich gut klar, noch zeigt mir keine Steilstelle die Grenzen auf. Sogar die Mörderwand nehme ich im zweiten Anlauf durchgängig tippelnd ohne Atempause. Vorsichtige Zuversicht macht sich breit … - Kurz vorm Rundenende großes Hallo: Veranstalter Christoph Holzapfel in weiblicher Begleitung beendet mein dumpfes Brüten, indem er das Wort an mich richtet. Das als Spaziergänger getarnte Duo streifte ich nur mit Tunnelblick, zum Erkennen reichte es nicht. Ein fiebriger Infekt zwingt Chistoph heute zum Verzicht - doppelt bitter beim Marathon vor der eigenen Haustür.

Runde drei nun also gegen den Uhrzeigersinn. Neben reizvollen neuen Perspektiven verspreche ich mir davon weiteren Mitläufern zu begegnen. Tatsächlich stoße ich alsbald auf Klaus Mantel, der von Christoph gleichfalls in ein kurzes Schwätzchen verwickelt wurde. Wenn Klaus seit Rutesheim (6. Januar) nirgendwo sonst kreiste, dann wäre er heute im 201. Marathon unterwegs … Minuten später erreiche ich das obere Ende der 20-Prozent-Rutschbahn. Rutschbahn ist wörtlich gemeint, an diversen Stellen haftet noch immer Reif auf dem Asphalt. Bereits vor einer Viertelstunde, raufwärts, legte ich mir eine Passage mit griffigem Geläuf zurecht - ein bisschen in der Art eines Skifahrers, der nach der Ideallinie zwischen Torstangen und Pistenbuckeln schaut. Was einen an Gefälle erwartet, daran lässt ein Verkehrsschild keinen Zweifel. Ich denke mir nichts dabei, bin auf Sohlen unterwegs, zudem vorgewarnt. Meine Nackenhaare versteilen sich just in dem Augenblick als mich eine Radlerin mit Karacho überholt und sich in die Kurve legt … „Das Glück ist mit den Dummen“ - unwillkürlich kommt mir der Spruch in den Sinn. Dreifaches Glück: Sie rutscht in der Kurve nicht weg, erwischt beim Bremsen weiter unten zufällig trockenen Asphalt und schafft es sogar unfallfrei über die mit Blankeis ausgefüllte Querrinne am Fuß des Hangs …

Was da so alles kreucht und fleucht im Stuttgarter Stadtwald! Kröten laichen in der mit Wasser gefüllten Rinne am Rande des Weges. Sicher jetzt noch nicht, aber dann im Frühjahr, wenn sie ihren Sexualtrieb hemmungslos ausgelebt haben werden. Hinweistafeln bitten darum das Biotop nicht zu zerstören. In so einem Fall frage ich mich manchmal, ob den Kreaturen mit „Geheimhaltung“ nicht mehr geholfen wäre. Welcher Mensch „guten und normalen Sinnes“ würde sich an einer sumpfigen Rinne zu schaffen machen? Und mörderische Frevler bringt so eine Etikettierung doch eher auf dumme Ideen!?

Ich kann mich nicht entscheiden, welche Ansicht der „Klamm“ mehr Reiz entfaltet. Jetzt von oben kommend oder vorhin bergauf. Für ein paar Fotos bleibe ich stehen, achte im Übrigen darauf auf dem weichen Pfad nicht auszurutschen. Dabei eilen meine Gedanken schon voraus: Wie werde ich den langen Gegenanstieg verkraften? - Er beginnt mit den zur Treppe kombinierten Holzschwellen, die meinen Puls in die Höhe schnellen lassen. Auf dem sich anschließenden Wanderpfad suche und finde ich einen auf Tippelschritten basierenden Rhythmus. Eine steilere Passage weckt für eine Minute Zweifel, ob der Richtungswechsel wirklich eine so gute Idee war …

Willkommenes Zwangspäuschen in Höhe meiner deponierten Flasche: Gel schlucken und mit immer noch eisigem Wasser nachspülen. Weiter aufwärts. Auch wenn der Hang endlos scheint und sich mein Sehnen nach der finalen Kuppe lange nicht erfüllt, komme ich doch stetig und ohne ernsthafte Schwierigkeiten voran. In Höhe des gefrorenen Tümpels weiß ich mich schließlich am höchsten Punkt angekommen. Von hier bis zum Auto noch etwa drei Kilometer, teilweise sogar mit Gefälle. Tatsächlich hält sich das Gefühl, dass mir die zuletzt gewählte Richtung leichter fällt, als die ursprüngliche mit den granatensteilen Abschnitten. Also lege ich mich fest: Auch die Schlussrunde werde ich gegen den Uhrzeigersinn laufen!

Wie erwartet begegne ich mehreren Läufern. Guten Bekannten wie etwa Ulli Tomaschewski, dem Ausrichter der Hohenlohe Marathonserie,* oder dem schnellen Jürgen, der für seine vier Runden heute nicht mal dreieinhalb Stunden brauchen wird. Ein paar Konterfeis kenne ich von früheren Läufen, wieder andere sind mir fremd. Bei diversen Begegnungen würde ich Wetten darauf abschließen, dass die betreffende Läuferin, der betreffende Läufer, mit unserem „Wettkampf“ nichts zu tun hat, auch wenn man sich en passant ein Lächeln schenkt …

*) Auch Ulrich Tomaschewski traf ich am 6. Januar in Rutesheim, wo er seinen 750. Marathon lief.

Und dann nähere ich mich dem Highlight des Tages, jener Unterführung, die ich bereits zweimal in Gegenrichtung passierte. Jeweils vom Gegenlicht geblendet entging mir die Farbenpracht der - wie ich jetzt feststelle - frisch gesprühten Graffiti an den Tunnelwänden. Diesmal ertappe ich sogar den Täter - Urheber zumindest jener Darstellung, an der er gerade letzte Sprühhand anlegt - auf frischer Tat. Ein paar Meter abseits harrt sein Werkzeug, eine gewaltige Batterie von Farbdosen, dem Zugriff des Meisters. Unerlässlich wohl auch der Ghettoblaster, dessen rap-pige Rhythmen die kreative Arbeit untermalen. Auch wenn der Mann sich sein Tun mutmaßlich von der Stadtverwaltung hat genehmigen lassen, will ich nicht zu aufdringlich erscheinen und laufe weiter. Fotos von den verschiedenen Darstellungen kann ich nachher in der Schlussrunde noch schießen.

Weiter durch Vaihingen, alsbald auch durch Mini-Manhattan, unter azurblauem Himmel. Inzwischen tauschte ich die wärmende Mütze gegen ein Schlauchtuch, das bis dahin meine Halspartie wärmte. Jacke offen, Handschuhe abgestreift - nur selten im Schatten gerate ich noch in Versuchung meine Rüstung wieder abzudichten. Erstmals überquere ich die das Tal überspannende Doppelbrücke in südöstlicher Richtung. Querab, Richtung Osten, erspähe ich den Stuttgarter Fernsehturm auf dem Killesberg, aus dieser Entfernung betrachtet ein unscheinbarer, dürrer „Spargel“.

Letzter Stopp am Auto: Gel rein, Wasser hinterher, ein weiteres Gel in die Jackentasche. Insgesamt werde ich es heute auf sechs Beutelchen Zuckerpampe bringen. Ich mache mir keine unnützen Gedanken darüber, ob solcherart zu „Klotzen“ wirklich nötig war. Entscheidend ist, dass ich jetzt, nach mehr als 31 Kilometern, noch kein Limit spüre. Mein Laufapparat versendet lediglich ein paar genervte Signale, insbesondere aus der Gesäßregion. Ich bin überrascht, denn mit so einer stabilen Verfassung war vorab nicht zu rechnen. Entsprechend guten Mutes breche ich zur Schlussrunde auf …

Einen Kilometer flach mit Blick ins Grüne, inzwischen vom Reif befreit. Einmal mehr stürze ich mich die Steigungen hinab, begegne dabei Ulli ein weiteres Mal. Holzschwellen aufwärts, gefolgt von der laaaangen Steigung. Meinen Bedenken zum Trotz, die mich in den letzten Tagen heimsuchten und zuletzt Schlaf kosteten, gehen mir auch diese finalen Höhenmeter erträglich vom Fuß. Auf halber Höhe das letzte Gel. Was ich an Wasser nicht trinke, schütte ich weg und schiebe mir die flache Trinkflasche hinterrücks unter den Hosensaum. Weiter aufwärts. Mit jedem bewältigten Höhenmeter wird zwar mein Körper schwerer, mir aber leichter ums Herz. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass ich nicht wie befürchtet „völlig zertrümmert“ finishen werde …

Letzter Halt: Graffitis! Ist das Kunst oder einfach nur farbenfrohe, gelungene Grafik? Das sollen andere entscheiden. Mir gefällt jedenfalls, was ich sehe. Vor allem, wenn ich mir die Alternative vorstelle: Eintönig grauer Beton. Bald zwei Minuten verstreichen, während ich die verschiedenen Segmente der Tunnel-Deko ablichte. Zuletzt höre ich einen Läufer im Stakkato-Schritt heran- und die Treppe herabstürmen. Ich bereite meine Kamera zum Schuss vor … Es ist schließlich Jürgen, der mir rasant vor die Linse wetzt.

Zwei Kilometer noch: Manhattan, Pferdekoppeln, Paradies, Doppelstockbrücke … Letzte Meter vorm Auto … Ich treffe noch einmal auf Christoph, der sich mit einer Läuferin unterhält und melde mich ab: „Geschafft!“ Ein paar Schritte noch, dann stehe ich am Auto und stoppe die Uhr: Lange 5:46:54 Stunden sind vergangen. Viel Zeit für den 364. Marathon investiert, doch dafür fühle ich mich weder zerschlagen noch gänzlich ausgelaugt. Das erklärt auch die relativ ausgeglichenen Rundenzeiten:

  1. Runde: 1:24 Stunden
  2. Runde: 1:25 Stunden
  3. Runde: 1:31 Stunden
  4. Runde: 1:27 Stunden

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe Fazit im Laufbericht vom Mai 2023