Ostermarathon Berlin 2023
 

8. April 2023

„Waterworld“  -  Ostermarathon Berlin 2023

Schon damals 2018, vor meinem ersten Ostermarathon in Berlin, waren die Erwartungen an die Laufstrecke hoch. Wer sich die Karte anschaut, wird das von Frank-Ulrich Etzroth, alias „Etze“, Jahr für Jahr wiederholte Bonmot nicht in Zweifel ziehen: „Wenn ihr kein Wasser mehr seht, dann habt ihr euch wahrscheinlich verlaufen!“ Tatsächlich gibt es nur eine nennenswerte Passage, auf der die Sicht zum Wasser für eine Weile verloren geht. Überwiegend werde ich mich unweit von Seen oder der sich nicht selten als See tarnenden Havel bewegen. In einer von Wasser dominierten Landschaft - „Waterworld“ -, die mich noch jedes Mal zu begeistern wusste.

Ich begegne Bekannten am Start. Da ist zum Beispiel Roland aus der Nähe von Nürnberg, den du in diesem Jahr an jedem Wochenende treffen kannst, sofern du irgendwo in Deutschland Marathon läufst (PS: Durchaus wahrscheinlich, dass du dort auch über mich stolpern wirst ...). Andreas und Judith reisten aus München an, wo sie selbst wunderschöne, manchmal sogar kuriose Marathonläufe veranstalten. Von einem dieser Läufe, dem 50 Jahre Olympia Marathon München, kenne ich Alois. Anders als sein Vorname vermuten lässt, wohnt Alois nicht in Bayern. Vom benachbarten Bundesland Brandenburg hierher nach Berlin-Tegel fuhr er quasi zu einem Heimspiel. Um weitere Bekanntschaften zu pflegen, zumindest einen Gruß zu entbieten, bleibt leider keine Zeit.

Selbstverständlich gilt das nicht für Bruno, in der Berliner Laufszene bekannt wie ein bunter Hund. Bruno ist zwar nicht bunt aber Hund, Frank-Ulrich Etzroths treuer Begleiter, wenn der Läufe ausrichtet oder anlässlich der 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf) seinen Verpflegungspunkt betreut. 2014 drehte ich meine erste 100 Meilen Mauerwegrunde. Seitdem kenne ich das Gespann „Etze“ und Bruno und natürlich auch - ausnahmsweise last but ausdrücklich not least - „Etzes“ Frau, die stets im Hintergrund wirbelt und den Laden zusammenhält.

„Etze“ will niemand überhören, weil er wichtige Details erläutert, uns zudem pünktlich um 10 Uhr auf die Strecke schickt. Bruno kann niemand überhören, weil sich ihm die fiebrige Erregung vorm Start mitteilt, ihn zu ungehemmtem Bellen animiert. „Jemand muss Bruno festhalten!“ schallt Etzes Stimme aus dem Lautsprecher. Für diese mir ach so vertraute Szene habe ich lediglich ein gerührtes Schmunzeln übrig. Wie oft stand ich mit meiner jetzt in die nicht mehr lauffähigen Jahre gekommenen Hündin Roxi am Start und erlebte das völlige „Hundehirnversagen“ eines ansonsten willigen und gehorsamen Vierbeiners? Eine Zeitnehmerin packt Bruno schließlich am Halsband und belohnt seinen „lautstarken Auftritt“ mit Streicheleinheiten. Endlich das Startsignal, die Meute setzt sich am Ufer des Hohenzollernkanals in Bewegung. Bruno nutzt seine wiedergewonnene Freiheit und galoppiert in weiten Sätzen am Feld vorbei und voraus ...

Schnurgerade dahin am Kanalufer. Ich wechsele ein paar Sätze mit Alois. Bis mir urplötzlich mein Versäumnis siedendheiß einfällt: Der Gürtel mit den Gels ... im Auto vergessen! Mildes Erschrecken nur, weil ich demnächst, wo sich die Laufstrecke vom Kanal abwendet, an meinem geparkten Auto vorbei laufen werde ... Trotzdem ärgere ich mich über meine Schusseligkeit. Tatsächlich geschieht es inzwischen häufiger, dass ich irgendwann, irgendwo, irgendwas vergesse. Nicht nur beim Laufen. Unschön ist nicht die verlorene Minute, auch nicht dem Feld die rote Laterne hinterher tragen zu müssen. Bis auf weiteres fehlen Mitläufer, die meine Lauffotos beleben könnten. Also spute ich mich, versuche Anschluss zu gewinnen, auch wenn ich nur zu gut weiß: Kleine Sünden zu Beginn bestraft der Marathon zum Schluss. Dann werden die anfänglich zum Aufholen verschwendeten Körner fehlen.

Einstweilen bleibt der Finger überm Auslöser der Kamera entspannt. Zum Fotografieren ist es heute im ufernahen Wald zu dämmrig. Eine dichte Wolkendecke liegt über dem Tegeler See, dessen Ufer wir auf den nächsten 10 Kilometern erkunden werden. Einmal mehr entschied sich Petrus für „Zwischenwetter“. Witterung, die den Läufer Udo nicht eindeutig zum Ein- oder Auspacken auffordert, irgendwas zwischendrin. Bei 8°C am Start setzte die Mehrheit auf Komplettverhüllung. Meine Beine müssen „untenrum“ mit Frischluft klarkommen. An den Beinen fror ich stets zuletzt. „Obenrum“ mag ich's dagegen gerne mollig warm. Heute unter langem Hemd und Jacke, dazu Handschuhe und ein Schlauchtuch überm Kopf. Ich bin mir des Risikos zu überhitzen durchaus bewusst. Sollten die von der Wetter-App prophezeiten Aufheiterungen länger ausfallen, werde ich in Strömen von Schweiß Buße tun.

Im Grunde kommen wir mit diesem „Zwischenwetter“ ohne Niederschläge und Wind glimpflich davon. Bis gestern war die Prognose noch deutlich mieser. Das Glas ist also auch für einen extrem sonnenverliebten Läufer wie mich heute halbvoll und nicht halbleer. - Ein seltsames Paar, Sie und Er, ließ ich bereits hinter mir. Seltsam meint die Art ihrer Fortbewegung: Eine trabt, der andere nutzt einen Tretroller. So ein Teil mit fahrradgroßen Rädern, das auch auf dem zuweilen sandigen oder unebenen Boden am Seeufer gutes Rollverhalten zeigt. Erst glaubte ich in Ihr die Marathona zu erkennen und Ihn als Begleiter einstufen zu können. Doch dann wechselten die beiden: Jetzt joggt er und sie rollt ...

Das Bild zeigt die Strecke von 2022, die 2023 nur minimal abweicht.

Recht zügig verkürze ich den Abstand zu einer Vierergruppe. Darin Judith und Andreas, die Münchner, die mehrmals für Erinnerungsfotos stehen bleiben, mir so das Einholen erleichtern. Die ufernahen Ansichten sind mir samt und sonders geläufig. Nur ihre Abfolge vermochte ich mir nicht einzuprägen, zu häufig wechselt die Nutzung des Uferstreifens. Ich genieße Mutter Natur überlassenen Wald, trabe vorbei an Bootsanlegestellen, sandigen Badestränden und Segelclubs ... nach fünf Kilometern schließlich entlang der langen Tegeler Promenade, wo wie in jedem Jahr zwei große Fahrtgastschiffe vor Anker liegen. Augen habe ich wie stets nur für die Havel Queen. Welche Technik sich tatsächlich in ihrem Rumpf verbirgt, kann ich nicht wissen. Was ich sehe, wirkt wie aus Zeit und Raum gefallen. Schaufelraddampfer baut man heute allenfalls noch als Kuriosum für Touristen. Und Kähne wie die Havel Queen, die aussehen als schipperten sie den Mississippi rauf und runter, passen eigentlich nicht ins Berliner Bild.

Am Ende der Promenade geht's - treppauf, treppab - über die historische Sechser Brücke. Sie überspannt den kurzen Stichkanal zwischen Tegeler Hafen und See. Von dort oben genießt man freie Sicht zu den nagelneuen (garantiert sündhaft teuren) Wohnquartieren am alten Hafenbecken, die den nicht mehr rentablen Güterumschlag ablösten. Über Stufen hinab, zurück ans Seeufer und weiter daran entlang. Mehr und mehr weit in die Bucht vorspringende Stege samt daran vertäuter Boote rücken ins Blickfeld. Landseitig setzen sich die „Bootsparkplätze“ funktionell in Form von Bootshäusern oder Werkstätten fort. Erinnerungsbilder tauchen auf, frische legen sich darüber, in meinem Kopf dreht sich ein buntes Kaleidoskop von Wasseransichten. Es folgt der „Schlenker“ rund um die Dependance des Außenministeriums. Die Frau Bundesministerin des Auswärtigen gebietet auf der Halbinsel Reihenwerder über ein großes Areal mit Gästehaus und der Akademie des Auswärtigen Dienstes - alles verborgen hinter einer hohen Mauer.

Weiter im Wald, der bis auf weiteres wieder das Ufer einnimmt, gelegentlich aufgelockert von sandigen Badebuchten, einmal auch vom Strandbad Tegelsee. In seiner Naturbelassenheit vielleicht der reizvollste Abschnitt der Strecke. Ufernahe Bäume lassen ihre Äste ins Wasser baumeln. Manche der Baumriesen stürzten um, liegen mit halber Krone im Wasser. Mutter Natur als Künstlerin kreiert abstrakte, den Effekt der Spiegelung nutzende Baumskulpturen. In oder hinter Schilfgürteln schnattern Enten und andere Wasservögel. Totholz lügt mich an, erweckt es doch den Eindruck, als blieben die Menschen diesem Uferabschnitt fern - was unter Garantie so nicht stimmt. In Groß-Berlin finden die Leute zwar überall Natur und Wasserlandschaften, mehr als in jeder anderen deutschen Metropole, sie werden aber auch von knapp 3,7 Millionen Einwohnern zur Naherholung nachgefragt ...

Auf den ersten, seit einer Weile herbei gesehnten Verpflegungspunkt treffe ich nach gut 10 Kilometern an bekannter Stelle. Auf den ersten Blick inmitten einer Lichtung, schaut man genauer hin, erkennt man den Sandstrand nahe der Wasserlinie und damit die Badestelle. Ich trinke reichlich, verleibe mir dazu ein Stück Banane ein. Letzteres ist absolut untypisch für mich und einzig von Magenbeschwerden motiviert, die mich seit etwa einer Stunde belästigen. Ohne Einfluss aufs Tempo, aber intensiv genug mir die Stimmung zu vergällen. Danke an die Helfertruppe und weiter ...

... alsbald auf einem Uferweg zwischen Wohnhäusern im Stadtteil Tegelort und neuerlich massenhaft Bootsliegeplätzen. In diesem Bezirk Berlins betätigt sich anscheinend jeder Zweite als Freizeitkapitän!? Es lohnt sich den teilweise gepflasterten Boden im Auge zu behalten. Einerseits, um an Ecken und Kanten nicht hängen zu bleiben, zum anderen, weil altes, teils kleinteiliges Bodenmosaik das Auge Läufers staunen lässt: So was gibt's noch? Liege ich falsch, wenn ich den kunstvoll gelegten Ornamenten hundert Jahre „Boden-ständigkeit“ zubillige?

Will einem Radfahrer auf Gegenkurs ausweichen, den ich nur flüchtig registriere. Mein Hauptaugenmerk gilt dem Boden, um nicht zu stolpern. Wir erkennen uns erst kurz vor Begegnung und großem Hallo. Detlef wohnt unweit von hier, gehört auch ohne Verwandtschaftsgrad in gewisser Weise zur Familie. Und diese Familie hat ihm „gesteckt“, wann und wo ich in der Nähe seiner Behausung vorbei trotten würde. Detlef geht nun eine ziemliche Weile in seiner Mehrfachrolle auf: als radelnder Laufbegleiter, Anbieter von Erfrischungen, witziger Entertainer mit Berliner Zungenschlag und nicht zuletzt als Reporter in einer Live-Schaltung über WhatsApp. So erlebe ich denn im 339. Marathon oder weiter eine Premiere, winke meiner Frau Ines und ihrer Schwester Steffi zu, die fernab in der Republik meinen Jogg auf ihrem kleinen Handymonitor verfolgen ...

In Heiligensee verabschiedet sich Detlef. Seine guten Wünsche für den restlichen Wettkampf stoßen bei meinem Magen auf Gegenliebe. Der gibt sich endlich still und friedlich, signalisiert volle Leistungsbereitschaft. Nach unterdessen 15 gelaufenen Kilometern kann ich das von meinen Beinen eher nicht behaupten. „Unfrisch“ seit Anbeginn trifft es am ehesten. Über mehr als anderthalb Stunden ist es mir nicht gelungen das „Zähe rauszulaufen“, und daran wird sich nun auch nichts mehr ändern. Im Grunde habe ich im dritten Marathon binnen einer Woche, mit nur drei Tagen Abstand zum letzten, nichts anderes erwartet. Ich stelle mich infolgedessen auf beinharte Schlusskilometer ein. Mental gut vorbereitet zu sein ebnet den Weg zum Finish!

Heiligensee macht seinem Namen keine Ehre. Nur für Sekunden, beim Überlaufen einer Brücke, Sicht zum Wasser: Links zur Havel hin, rechts zum Namensgeber der Siedlung, dem Heiligensee. Der Rest ist Trottoir in jeder nur denkbaren Ausführung, von holprig, wellig alt bis jüngst erneuert und glatt. Und zu sehen gibt es auf fast vier Kilometern: rein gar nichts. Mithin optisch und zeitweise auch für die Füße eine Durststrecke. Gottlob die einzige und sie endet am zweiten Verpflegungspunkt, wie immer unter der S-Bahn-Brücke am Nordende von Heiligensee.

Weiter am Straßenrand in Richtung Havelbrücke und Minuten später überschreite ich die Ländergrenze von Berlin nach Brandenburg, ehedem die Staatsgrenze zwischen Berlin-West und der DDR. Schritte, die vor gut dreißig Jahren noch undenkbar waren. Schritte, die in umgekehrter Richtung, im Todesstreifen, mit einer MP-Salve blutig beendet worden wären. Eine unübersehbare Tafel am Wegrand erinnert daran: „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 13. Januar 1990 um 9:45 Uhr geteilt“. Angesichts des tödlichen Charakters der einstigen Demarkationslinie eine höchst verharmlosende Formulierung. In meiner grenzenlosen, aus Naivität geborenen Euphorie glaubte ich seinerzeit, anlässlich des Falls der Mauer, tatsächlich, „Friede-Freude-Eierkuchen“ wären nun weltweit nicht mehr aufzuhalten. Meinte der Siegeszug der besseren, menschlichen Bedürfnissen eher entsprechenden Staats- und Gesellschaftsform sei nicht mehr aufzuhalten ... Es kam anders, Chancen wurden verspielt, wie so oft in der Geschichte Europas. Die Teilung wurde erneuert, die Grenze verläuft jetzt viel weiter im Osten. Und zur Stunde wird blutig darum gerungen sie vielleicht doch stückweit gen Westen zu rücken. Es ist wie es immer war und vermutlich nie anders sein wird. Die Natur des Menschen hat sich seit Urzeiten nicht verändert. Er ist sich selbst der tödlichste und hinterhältigste Feind geblieben.

Ab der Gedenktafel entspricht die Laufstrecke dem so genannten „Mauerweg“. Er umringt das ehemalige West-Berlin, wurde, wo möglich, auf dem ehedem mit Doppelzaun oder Doppelmauer und Sicherungsanlagen befestigten Postenweg angelegt. Der Mauerweg bedeutet mir, der ich schon damals fernab in Bayern lebte, mehr als wohl den meisten Berlinern. Mehrmals, unter teils unsäglichen Mühen, war ich auf dem Mauerweg unterwegs. Dreimal als Teilnehmer an den 100 Meilen Berlin („Mauerweglauf“) und nun zum vierten Mal auf dem vom Ostermarathon genutzten Abschnitt am Westufer der Havel. Der erstreckt sich etwa 7,5 km weit, vom brandenburgischen Hennigsdorf bis zur Landesgrenze, wo der Berliner Bezirk Spandau beginnt. Schon auf der Havelbrücke überfallen mich Lauferinnerungen, die in Höhe des „Ruderclubs Oberhavel“ (einer der 26 Verpflegungspunkte beim Mauerweglauf) einen ersten Höhepunkt erreichen.

Weder Markierungen, noch gpx-Track auf der Uhr brauche ich auf besagten 7,5 Kilometern Mauerweg zur Orientierung; vermag alle Abschnitte aus dem Gedächtnis in korrekter Reihenfolge aufzuzählen; wüsste im Vorhinein Stellen zu bezeichnen, die mich für Fotografierwürdiges werden den Arm heben lassen. Vorbei am Bootshafen Hennigsdorf, wo gerade ein Hausboot ablegt und sich mit mehrköpfiger, augenscheinlich junger Besatzung auf den Weg macht. Ich tippele unter einer Bahnbrücke hindurch und am Gelände des Biomasse-Heizkraftwerks Hennigsdorf entlang. Jenseits des Maschendrahtzaunes rumort gerade ein Vehikel, für mich unsichtbar hinter doppelt mannshoch aufgeschichtetem Holz. Aufs Kraftwerk folgt das Werksgelände von ALSTOM (ehedem Bombardier). Auf parallelen Gleisen parken fertig montierte, verschiedenfarbig lackierte Züge. Anderthalb Kilometer folge ich dem Mauerweg zwischen Gleiskörper rechts und Havel links, bis der abzweigende Havelkanal meinem gleichförmig ruhigen Trabrhythmus ein Ende setzt.

Auf längst schweren Beinen entere ich die Brücke und trotte jenseits des Kanals an ersten Häusern von Nieder Neuendorf vorbei. Dem lebhaften Verkehr auf der Ortsdurchfahrt entkomme ich zur örtlichen Havelpromenade. Die zieht sich als abwechslungsreich gestalteter Park über mehr als zwei Kilometer zwischen Ortsrand und Wasser hin. In solcher, von Bebauung nicht unterbrochener Ausdehnung nur möglich, weil einst der breite Todessstreifen mit Sperranlagen den Zugang zum Ufer und jede andere Nutzung verwehrte. „Eyecatcher“ verführen auch diesmal zu Aufnahmen, obwohl ich dieselben Motive bereits mehr als einmal ablichtete. Auch in diesem Jahr vermag ich mir auf die etwa drei Meter hohe Holzplastik keinen Reim zu machen. Und einen Kilometer weiter komme ich einmal mehr nicht am schauderhaften, alten Wachturm vorbei. Man hat ihn (und einige andere) zum Gedenken an schlimme Zeiten stehen lassen und in seinem Innern ein kleines Museum eingerichtet. Zwei Gänse schnäbeln auf der Wiese davor nach Futter. Etwa dort, wo sich während zweier Augusttage die Teilnehmer am Mauerweglauf an einer Verpflegungsstelle laben. Wäre ich fähig Erinnerungen körperlich nachzuerleben, dann finge ich auf der Stelle an zu zittern. Nach einem Wolkenbruch klatschnass und ausgekühlt kam ich 2014 hier an. Am ganzen Leib unkontrolliert schlotternd gelang es mir nur mit Assistenz meiner Frau trockene Klamotten anzuziehen ...

Wie stets unterschätze ich die Länge des Abschnittes vom Wachturm bis zum Kiefernwald, in dem eine leichte Steigung beginnt. Junger Kiefernwald, nicht älter als 30 Jahre. Davor war das Areal bis zum Ufer hin planiert. Zur Installation todbringender Vorrichtungen und fürs Schussfeld. Und nichts durfte die Sicht im Schussfeld beeinträchtigen ... - Im Wald überhole ich einen Mitläufer und nehme das Manöver zum Anlass mal wieder mein Tempo zu überprüfen. Es pendelt unverändert zwischen 6:10 und 6:30 min/km, obwohl meine Muskulatur nach nun 27 Kilometern schon „unüberspürbar“ schmerzt - vor allem im Gesäßbereich, wie auf Marathonkurs in letzter Zeit üblich. Selbst zum Ende hin nicht dramatisch schmerzhaft, trotzdem nerven die zuverlässig wiederkehrenden Beschwerden. Weil ich jeweils lange dagegen anrennen muss, sie mir überdies den Eindruck vermitteln meine Trainingsmühen wären großenteils vergeblich.

Erst minimal aufwärts in der Kiefernschonung, nun Gefälle. Nicht mehr weit bis der Mauerweg (= Landesgrenze Berlin/Brandenburg) westwärts abbiegt, ich dagegen in Ufernähe im Ortsteil Hakenfelde, Bezirk Spandau, weiter in Ufernähe bleibe. Ein dritter Verpflegungspunkt hält mich einstweilen auf. Wasser und ein Gel müssen rein, noch trennen mich etwa 13 Kilometer vom Ziel. Nach gut einer Minute Verzögerung weiter, jetzt in Erwartung eines weiteren optischen Höhepunktes. „Formschön“ oder „mehrteilige, interessante Bauweise“ sind Beschreibungen, derer ich mich bedienen würde, müsste ich die Fußgängerbrücke beschreiben. Sie überspannt einen Stichkanal in angedeuteter Z-Form. Die nur bei oberflächlicher Betrachtung seltsame Ausrichtung der Brückenelemente rettete ein paar alte Bäume, die sonst der Brücke hätten weichen müssen. Auf Holzplanken tippele ich zum Brückenscheitel, von dem aus die Havel in beide Flussrichtungen weithin einsehbar ist. Just in diesen Sekunden bricht für kurze Zeit die Sonne durch die Wolken. Vielleicht dadurch animiert versteige ich mich zum Versuch eines Selfies ... Gemächlich tuckert unterdessen ein Hausboot vorbei. Ebenjene schwimmende Behausung, deren Fahrtantritt ich vorhin, ein paar Kilometer weiter nördlich beobachtete.

Bald nach der Brücke laufe ich auf einen Streckenposten zu, der uns Osterläufer am Abkürzen hindern soll. Verwehrt bleibt der Zugang zu einer Brücke, die uns gut einen Kilometer Umweg ersparen würde. Der „Umweg“ führt am Rand eines Gewässers mit Kanalbreite entlang, das allerdings nach ein paar hundert Metern endet. Auf der Gegenseite, gleichfalls am Gewässerrand, geht's wieder zurück zum Havelufer - 31,5 Kilometer, drei Viertel, des Marathons gelaufen.

Stückweit noch dem Ufer folgen, dann schicken mich Pfeile erst einmal weg vom Wasser, durch Wohn- und Geschäftsstraßen im Bezirk Spandau. Ich stelle meine Uhr auf Trackdarstellung um. Zwar erinnere ich mich auch in diesem Bereich an die vormalige Streckenführung. Die wurde jedoch in Hakenfelde/Spandau schon mehrmals verändert. Außerdem sorgte heute früh, anlässlich „Etzes“ Einweisung, eine erst jüngst erfolgte Sperrung der gewohnten Strecke für Verwirrung. Sorgen mache ich mir deshalb keine. Ich prägte mir die Umleitung ein, außerdem wird auch an der kritischen Stelle ein Streckenposten stehen. Obendrein ist die „Umleitung“ für uns Läufer markiert. Wie ich's erhoffte, so kommt es: null Komma null Mühe den rechten Weg zu finden. Wo ich im Vorjahr in Richtung eines Hafenbeckens abbog, weist der Helfer den Weg, danach reichen mich auf den Boden gesprühte Pfeile weiter ...

Nach ein paar hundert Metern, bei Kilometer 34, stoße ich wieder auf den bekannten Streckenverlauf. Seit einer Weile „duelliere“ ich mich mit einem Mitläufer, der natürlich nicht ahnt, dass ich ihn zum Konkurrenten kürte. Ich fordere mich ganz bewusst mit diesem Wettlauf heraus, er kommt zur rechten Zeit. Die Beine werden immer schwerer, die Beschwerden im Laufapparat mit jedem Kilometer intensiver. Ehrgeiz als zusätzlicher Antreiber hilft nicht zurückzustecken. Mehrfach wechseln wir uns in der Führung ab. Bleibe ich für Fotos stehen, gerate ich ins Hintertreffen. Gelegenheit dazu bietet sich reichlich. Etwa beim „Umlaufen“ zweier ehemaliger Hafenbecken, deren Kais entweder „chic“ bebaut oder zu Parks umgewidmet wurden. Auch an drei vor ein paar Jahren noch abbruchreifen Lagerhäusern, die - eins nach dem anderen - zu Wohnraum umgebaut wurden, komme ich nicht ohne Schnappschuss vorbei. Wer sich dort einmietet, genießt von seinem Balkon den direkten Blick zum Wasser. Unvermeidlich die Frage: Für wie viele Prozent (Promille?) der 3,7 Millionen Berliner wäre dieser Blick erschwinglich?

Kilometer 37,5: Der letzte Verpflegungsposten, ich kippe noch einen Becher Cola runter. Das dritte und letzte Gel verleibte ich mir schon vor einer Viertelstunde ein. Als ich aufbreche ist mein „Konkurrent“ noch mit Trinken beschäftigt und bleibt stückweit zurück. Dabei wird es bis ins Ziel bleiben, beschließe ich! Über die 120 Jahre alte Große Eiswerderbrücke setze ich zur gleichnamigen Havelinsel über. Dort erwartet mich eine Streckenüberraschung: Anders als dreimal zuvor verlangen Pfeile auf dem Bürgersteig zu einem ufernah angelegten Park abzubiegen. An dieser Stelle bin ich dann doch dankbar für den Track, wäre aus Gewohnheit vermutlich geradeaus gelaufen. Ein unbekannter Abschnitt verlangt vermehrt nach Fotos, wodurch mein „Häscher“ mir sukzessive auf die Pelle rückt. Als ich mich für ein letztes Foto hinter der Kleinen Eiswerderbrücke, selbst schon wieder auf „Festland“ stehend, umdrehe, hat er mich fast eingeholt.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Also ignoriere ich das Gezeter aus dem „Maschinenraum“ und investiere verbliebene Ausdauer, um meine vormalige Pace zu restaurieren. Gefühlt renne ich jetzt. Und das so lange, bis das Laufgeräusch hinter mir schon eine ganze Weile verstummt ist ... Die Augen „genössen“ (Konjunktiv ist angebracht) derweil das reizvolle Panorama der an dieser Stelle sehr breiten Havel. Einen Blick, der von modernen Wohnquartieren hüben, zu ebensolchen auf der anderen Seite reicht. Dort drüben trabte ich vor einer Viertelstunde noch in Gegenrichtung. Nach und nach erlahmen meine Beine, ins Ziel fehlen jetzt aber nur noch anderthalb Kilometer. Inzwischen bog ich vom Havelufer zu dem des Hohenzollernkanals ab. Voraus rückt die Brücke ins Blickfeld, die mich zur anderen Seite und damit zum letzten Marathonkilometer bringen wird.

Von meinem Verfolger ist nichts mehr zu sehen. Um die quälenden letzten Meter besser zu überstehen, suche ich unbewusst nach einer neuen Herausforderung ... und finde sie auf meiner Uhr: Das Finish könnte noch unter 4:50 Stunden gelingen!? Und schwupp ist es beschlossene Sache: Finish unter 4:50 Stunden! Reiner Selbstbetrug, weil ich die exakte Reststrecke bis zum Zielstrich nicht kenne. Schon ein paar Meter zu viel könnten mir einen Strich durch die Rechnung machen. Aber ich bin schon zu „kaputt“, um diesen Schwindel zu entlarven. Ein Auge richte ich auf die Uhr, das andere auf den Uferweg, den ich heute Morgen in umgekehrter Richtung und schnurgeradeaus schon einmal unter den Füßen hatte. Eins der Augen fokussiert sich von Zeit zu Zeit, schließlich immer öfter, auf einen Punkt in Bildmitte voraus. Schaut dorthin, wo das anfänglich winzige Ziel größer wird ... wächst und wächst ... bis es schlussendlich - will heißen: ganz zum Schluss und endlich!!! - mein Blickfeld vollends ausfüllt und ich unterm Beifall der Zeitnehmer nach 4:49:50 Stunden über die Ziellinie laufe.

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe meine Anmerkungen aus dem Vorjahr