16. April 2022

Ein glücklicher Mensch  -  Ostermarathon Berlin 2022

Ein glücklicher Mensch muss wohl sein, wer an Karsamstag, mitten im familiären Ostertrubel, Zeit für einen Marathon findet. Umso mehr, wenn er dafür nach Berlin fährt und dort die wahrscheinlich schönste Marathonroute der Hauptstadt unter die Füße nimmt. 42,195 Kilometer, die Veranstalter Frank-Ulrich Etzroth, alias "Etze", bei der Einweisung so charakterisiert: "Wenn ihr kein Wasser mehr seht, dann habt ihr euch verlaufen!" Sonne aus zunächst locker bewölktem, nach einer Stunde aber schon uni-blauem Himmel über der Hauptstadt steigert mein Läuferglück, mehr noch begründete Hoffnung endlich mal wieder unbedrängt von Schwäche einen Marathon angehen zu dürfen.

Starten um 10 Uhr, nach einer auf etwa 20 Sekunden verkürzten Schweigeminute ("Etze" will dem Auskühlen seiner "Schutzbefohlenen" in morgendlicher Kälte vorbeugen). Schweigen für die Opfer - Tote, Verletzte, Obdachlose, Geflüchtete oder anderweitig Geschädigte - aller Kriege. "Etze" erwähnt in seiner kurzen Ansprache nicht nur die Ukraine, er schließt auch Syrien, Mali, Afghanistan und weitere Kriegsschauplätze ein, die mir infolge spontanen gedanklichen Abschweifens entgehen: Erst seit uns ein Krieg in Europa dicht auf die Pelle rückte - so mein Gedanke -, gehört unsäglichem Leid zu gedenken bei vielen Anlässen zum Prozedere. Doch blutige Kriege wurden zu jedem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte an unterschiedlichen Orten auf diesem Planeten geführt. Auch und gerade in den letzten Jahrzehnten. Nun reden Politiker von "Zeitenwende", als wären kriegerische Konflikte, der Genozid an Volksgruppen oder Überfälle auf Länder, um sie in Schutt und Asche zu legen, etwas unerhört Neues. Mitnichten ist das so. Und: Jeder weiß es!

Starten also, wie könnte es anders sein: mit Blick zum Wasser. Ein paar hundert Meter schnurgeradeaus auf asphaltiertem Weg am Ufer des Hohenzollernkanals. Zweimal durfte ich die Route schon erleben, 2018 bei nasskaltem Wetter und 2019 an einem strahlend schönen Frühlingstag, als ich mich schon auf den ersten Metern von Begeisterung mitreißen ließ. Heute kommt Frohlocken in 5°C kalter Luft über Ansätze nicht hinaus. Ich friere am ganzen Körper, vor allem jedoch an den bloßen Händen. Also hoffen: Hoffen auf Wärme von innen, die das Frösteln nach und nach beseitigen wird. Hoffen nicht zuletzt auf eine stabil (!) brauchbare Tagesverfassung, die mir die Runde um die Havel erleichtern kann. Wie ich heute drauf bin, werde ich bald abschätzen können - sobald die Kältestarre weicht und dem Laufgefühl eine Chance gibt.

Inzwischen haben wir das Kanal- gegen das Tegeler Seeufer eingetauscht. "Wir" entstand schon kurz nach dem Start, eine Vierergruppe, als deren Schlusslicht ich fungiere. Vor mir trabt Grit Seidel, die Spitze hält ein munter plauderndes, mir unbekanntes Laufduo m/w. Grit Seidel kenne ich unter anderem vom Mauerweglauf (100 Meilen Berlin). 2014 liefen wir auf dem Abschnitt durch Kreuzberg frühmorgens eine Weile Seite an Seite. Am Ende finishte Grit Seidel als schnellste Frau. Und auch ich war nicht "ganz schlecht", erreichte sogar rund eine Stunde vor Grit das Ziel. Heute untersage ich mir allerdings einstweilen tiefer in Erinnerungen an diesen oder zwei weitere Erfolge auf der 100 Meilen-Strecke zu graben. Am Ende beklagte ich nur wieder den gewaltigen Leistungsunterschied "damals-heute". Dass auch Grits Ultraform gelitten haben muss, obschon fast zwei Jahrzehnte jünger als ich, tut mir ehrlich leid, löst jedoch mein Ausdauerproblem nicht.

Aber ich bin nicht zum Jammern in Berlin, sondern zum Laufen und Schauen. Schauen mit ständiger Kopfdrehung nach links, wo unablässig Wasseransichten des Tegeler Sees vorbeiziehen - eine idyllischer als die andere. Nach und nach gelingt es mir die Kälte aus meinem Körper zu verbannen, endlich zu spüren wie ich laufe. Die Wahrnehmung lockerer, relativ flotter Schritte stimmt mich vorsichtig optimistisch. Mit einiger Konstanz absolviere ich die anfänglichen Uferkilometer zwischen 6:15 und 6:20 Minuten, ohne mich in die "Tempogestaltung" einzumischen. "Es laufen lassen" war zuletzt stets die bessere Alternative. Welchen Sinn sollte es auch haben mir eine anspruchsvolle Pace vorzugeben, von der ich nicht weiß, ob ich sie werde realisieren können?

Ich erkenne alle Uferansichten wieder, hätte nach drei Jahren Abwesenheit lediglich Schwierigkeiten sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die Wegbeschaffenheit wechselt ständig; mal fester, sandiger Waldboden, wenn der Weg etwas abseits des Sees im Waldrand verläuft, dann wieder feiner Schotter. Alles gut zu laufen und flach. Besonders von Letzterem erhoffe ich mir heute ein brauchbares Ergebnis. Das ich allerdings bereits nach etwa vier, fünf Kilometern in Zweifel ziehe. Es fällt mir nun schwerer Anschluss an meine drei Vorderleute zu halten. Kurz vor der Tegeler Uferpromenade muss ich den Kontakt abreißen lassen und befrage fortan in kurzen Intervallen den GPS-basierten "Tacho" meiner Uhr. Ich finde bestätigt, was ich vermute: Nicht ich wurde langsamer, die drei Mitstreiter dafür ein paar Sekunden auf den Kilometer gerechnet schneller.

Zwischen den ersten Alleebäumen der Tegeler Promenade trabend klafft schon eine Lücke von etwa 30 Metern zu den Läufern vor mir. Ausflugsschiffe liegen ufernah vor Anker. Wie jedes Jahr am Ostersamstag ohne Leben darauf, als läge die Wassersaison noch in weiter Ferne. Schipperte der Raddampfer Havel Queen den Mississippi rauf und runter, entlarvten ihn wohl nur nautisch geschulte Augen auf Anhieb als Imitation. Am Ende der Promenade erwartet mich der Treppenaufgang zur "Sechserbrücke". Die Stahlkonstruktion der Fußgängerbrücke überspannt seit 1908 die Einfahrt zum Tegeler Hafen. Brücke und Hafen umweht vor allem Nostalgie: Heute ist die Brückenpassage kostenlos, dereinst zahlte man einen "Sechser". Und im Tegeler Hafen wird keine Ladung mehr gelöscht. Rund ums Hafenbecken wuchsen im letzten Jahrzehnt attraktive Wohnanlagen aus dem Uferboden.

Fast zehn Kilometer liegen hinter mir, durchweg begleitet von berauschenden, den Elementen Wasser, blauer Himmel und strahlende Sonne beherrschten Bildern. Bilder, die ich leider nicht unbeeinträchtigt aufnehmen konnte. Endlich mal ein Tag, an dem ich genug Ausdauer für genussvolles Laufen zu mobilisieren vermag, an dem auch mein Rücken keinen Mucks von sich gibt. Doch wie schon in einem der letzten Laufberichte angemerkt: Irgendwas ist immer! Heute übernimmt Bauchweh die Rolle des Quertreibers. Es stellte sich nach ein paar Laufminuten ein und grummelt hartnäckig vor sich hin. Auf niedrigem Level, aber stets spürbar in der Größenordnung "nervig, lästig, halbwegs den Spaß verderbend". Begnüge ich mich eben mit der anderen Hälfte "Spaß", welche Alternative hätte ich auch sonst?

Ich stehe vorm ersten von vier Verpflegungsposten und trinke der Vernunft gehorchend gegen Durst, der vielleicht noch kommt. Nach gut einer Stunde Joggen, sparsam bekleidet in vormittäglicher Kälte, hätte ich liebend gerne auf den Trinkstopp verzichtet. Auch, weil ich fürchte mit dem kalten Nass meine grantige Bauchgegend noch ungnädiger zu stimmen. Trinken, Danke sagen und weiter ...

Wenige Schritte hinter der Tränke geht das Ufer des Tegeler Sees - von Ortsunkundigen schwerlich erkennbar - in das der Havel über. Der Charakter der Laufstrecke ändert sich nur insoweit, als wir jetzt an der Wasserseite von Ortsteilen des Bezirks Tegel entlang laufen*. Folgerichtig steigt die Dichte karsamstäglicher Freiluftgenießer sprunghaft an: Jogger, Gassigeher, Spaziergänger einzeln oder gruppenweise in jeder Konstellation, Gesicht-der-Sonne-Zuwender auf Ruhebänken, Menschen am Wasser. Beinahe unablässig springen Stege in die Havel vor, an denen Boote und Yachten unterschiedlichster Größe und Ausstattung vertäut liegen. Ein bisschen verwundert nehme ich zur Kenntnis, dass nach 12, 13, 14 ... Kilometern vom halben hundert gestarteter Läufer noch immer ein paar in meiner Nähe unterwegs sind - trotz meines Schneckentempos.

*) Erst Tegelort, dann Konradshöhe

Die Ausnahme von der Regel beginnt ziemlich abrupt und wie ich weiß im Stadtteil Heiligensee. Hier wendet sich die Route vom Wasser ab und der nahen Ortsdurchfahrung zu. Merke: Heiligensee ist anders. Anders jedenfalls als die bisher tangierten Satelliten des Bezirks Tegel. In Heiligensee befindet sich das komplette Havelufer in Privatbesitz. Vier lange Kilometer nutze ich nun Bürgersteige, um diesen - läuferisch betrachtet - hässlichen Teil der Strecke hinter mich zu bringen. Vier lange Kilometer, die einem mit jeder Minute länger vorkommen. Was dem lebhaften Autoverkehr, mehr noch der Beschaffenheit des Bürgersteiges geschuldet ist. Auf den ersten zwei, drei Kilometern muss man vor Wellen und Kanten kleinteiligen Pflasters auf der Hut sein. Vermutlich lebt keiner der Pflasterer mehr, die das Trottoir irgendwann vorm letzten Krieg hier verlegten. Nur kurz, für eine halbe Laufminute vielleicht, rückt wieder Wasser ins Blickfeld, dafür beidseits der Straße. Links die Havel, rechts der Heiligensee, Namensgeber der Ansiedlung. Per Autobrücke überwinde ich den nur etwa fünfzig Meter langen Stichkanal, der die Gewässer verbindet*.

*) In Heiligensee ist alles privat, sogar der Heiligensee selbst.

Weiter am Straßenrand, nach nun etwa 17 Kilometern im Gefühl etwas gegen aufkeimende Schwäche unternehmen zu müssen. Kurzer Stopp: Gelbeutel aus dem Gürtel bergen, aufreißen, schlucken, Wasser nachtrinken und weiter. Wo hat er das Wasser her? wirst du vielleicht fragen. Rund 10 km Distanz von Tränke zu Tränke erschienen mir zu weit, weswegen ich ein kleines Fläschchen in der Gesäßtasche bei mir trage. Überflüssigerweise bislang, statt zu schwitzen fror ich eher. Jetzt bin ich dankbar, denn noch trennen mich etwa zwei Kilometer vom nächsten Verpflegungspunkt ...

Als ich die Tränke in Höhe einer S-Bahn-Unterführung erspähe bin ich heilfroh, weil sie nicht nur Labsal offeriert, sondern auch das Ende des bohrend langweiligen Heiligensee-Abschnitts markiert. Im Bemühen keinem anderen Läufer im Weg zu stehen und keinesfalls das fällige Dankeschön an die Adresse der beiden Helferinnen zu vergessen, versäume ich mein Vorratsfläschchen aufzufüllen. Zwei- oder dreihundert Meter weiter fällt es mir siedendheiß ein. Umkehren? Ich entscheide mich dagegen, auch wenn die Umstände mit Durst drohen: Kein Schatten, keine Wolken, Mittag vorbei, infolgedessen rasch über 10°C ansteigende Lufttemperatur.

Ab jetzt, mit Überschreiten der ehemals mit dem Tod bedrohten, innerdeutschen Grenzlinie, bin ich auf dem Mauerweg unterwegs. "Hier waren Deutschland und Europa bis zum 13. Januar 1990 um 9:45 Uhr geteilt" steht auf der Gedenktafel. Eine weiße Linie durchschneidet die auf dem Schild schematisch braun dargestellte Landmasse Deutschlands und Europas. An ebenjenem 13. Januar vor rund 32 Jahren schienen goldene Zeiten anzubrechen. Und heute? - Dahin die Aufbruchsstimmung jener Zeit, die rauschhafte Freude einer friedlichen Wiedervereinigung. Dahin auch die Illusion gewalttätiger Totalitarismus gehöre in Europa für alle Zeiten der Vergangenheit an. In Wahrheit hatte die Trennlinie zwischen den Blöcken weiter Bestand und seit ein paar Wochen versucht ein auf Unterdrückung basierendes Regime mit dem Kriminellen Putin an der Spitze sie mit Waffengewalt in Richtung Westen zu verschieben.

Ich überschreite die Havel und folge weiter dem Mauerweg, trabe am Ruderclub Overhavel vorbei. Unter dessen Vordach am Bootsschuppen wird stets ein Verpflegungspunkt der 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf) eingerichtet. Nur flüchtig streift mein Blick den Ort, weil er Erinnerungen aufrufen könnte, die noch schmerzen. Noch. Wahrscheinlich werde ich nie wieder eine Distanz von über 160 km laufen können. Wahrscheinlich. Erst wenn das unumstößlich feststeht, kann ich mit der "Trauerarbeit" beginnen und dem Kapitel "SEHR lange Ultraläufe" abschließen.

Zum sechsten Mal messe ich diesen Teil des Mauerwegs heute per pedes ab. Dreimal anlässlich der 100 Meilen und gleichfalls zum dritten Mal am Samstag vor Ostern. Mehrfache Wiederholung konnte weder Reiz noch Grauen des Mauerweges aufheben. Mutter Natur hat sich in den mehr als 30 Jahren, die seit dem Zusammenbruch der DDR ins Land gingen, das Flussufer zurückerobert. Und die Sonne scheint freudestrahlend vom Himmel als hätte es den Schießbefehl und die ermordeten "Republikflüchtlinge" nie gegeben. Büsche und Bäume verdecken Narben. Aber nur die Narben der einst planierten, von Bewuchs befreiten, mit todbringenden Grenzsicherungsanlagen verminten, vergitterten, abgeriegelten Ufererde des Todesstreifens. Die Narben in den Herzen der Angehörigen der Maueropfer heilen niemals. Ich laufe und sollte Schauder empfinden. Stattdessen kommt es mir normal vor hier zu laufen, von keiner Mine zerfetzt und keiner Kugel niedergestreckt. Aber das ist keineswegs normal! Wer nach dem Geschehen in der Ukraine den Unfrieden in der Welt, zwischen Staaten, Ethnien, Religionen, auch innerhalb der Gesellschaft, noch immer nicht als Normalzustand begreift, wird nie verstehen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun müssen, um den Frieden in Freiheit zu bewahren.

Wer hinschaut wird auf Schritt und Tritt an die unselige Vergangenheit erinnert. Erst von der zitierten Gedenktafel, später immer wieder von orangefarbenen Stelen, die Sterbeorte der Maueropfer markieren. Das mit Abstand hässlichste, noch immer drohend aufragende Gedenken, ein ehemaliger Wachturm, steht am Streckenrand in Nieder Neuendorf. Ich registriere die Zeitzeugen und doch hat mehrfacher Schrecken keine Chance sich meiner zu bemächtigen. Hatte er nie, wenn ich auf dem Mauerweg oder Teilen davon unterwegs war. Ich zähle zu den Glücklichen, die in einem freien Land ohne unmittelbare existenzielle Bedrohung leben dürfen. Außerdem war ich stets intensiv damit beschäftigt mich in Bewegung zu halten, den physischen Härten ausdauernden Laufens zu widerstehen. So auch heute: Zum Glück verschwanden die Bauchschmerzen zwischenzeitlich, dafür wurden meine Beine immer schwerer. Damit steht fest, dass ich mich für diesen Marathon erneut vollends werde erschöpfen müssen. Zumindest, wenn ich mein Lauftempo nicht reduziere. Der körpereigene "Tempomat" hält es seit Stunden konstant, obwohl es sich anfühlt, als wäre ich langsamer geworden. Regelmäßige Kontrollen der Tempoanzeige widerlegen das Laufgefühl. Soll ich der "Automatik" ins Handwerk pfuschen und zum Selbstschutz einen Gang runterschalten?

Vor Schwäche und Überlastungsbeschwerden fürchte ich mich nicht. Also lasse ich "es" laufen. Vielleicht, weil ich mir die mögliche, endlich mal wieder brauchbare Endzeit nicht verderben will!? - Ufernaher Kiefernwald verschluckt mich, dünne Stämme dicht an dicht, zugleich steigt der Radweg leicht an. Der Wald ist definitiv nicht älter als 30 Jahre. Er bedeckt den ehemaligen Todesstreifen. Ich leide jetzt Durst. Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zum nächsten Verpflegungspunkt. Wo der Mauerweg sich westwärts wendet, halte ich Kurs auf dem Havelradweg. Zum Abschied schenke ich dem Mauerweg einen letzten Blick, gefolgt von einem wahren Sturzbach an Erinnerungen: Nach Wolkenbruch nass wie ein Pudel, die Schuhe voller Wasser, kam ich 2014 hier vorbei ... Erreichte halb erfroren den Verpflegungspunkt am vorhin passierten Wachturm und wurde von meiner Frau Ines neu eingekleidet. Ich von ihr, da kältestarr und ziemlich hilflos ... Dennoch bestritt ich in jenem Jahr auf dem Mauerweg rein sportlich betrachtet den besten meiner Wettkämpfe überhaupt. Siebzehnter im Gesamtklassement über 100 Meilen, altersbereinigt die drittbeste Leistung im Feld ... Ist denn von Bedeutung, was damals war? - Ja, ist es: Es muss sich glücklich schätzen, wer solche Erinnerungen zum Besten geben kann!

Am Verpflegungspunkt: Ich nasche das zweite Gel und spüle mit mehreren Bechern Flüssigkeit nach. Diesmal vergesse ich auch nicht das Trinkfläschchen in der Gesäßtasche nachzufüllen ... Nach kurzem Aufenthalt weiter, alsbald meldet das Zählwerk der Uhr Kilometer 30. Ich überhole einen zweifelsfrei deutlich jüngeren Mitläufer. Dergleichen ist immer geeignet ein paar Sprünge im zuletzt angeknacksten Selbstbewusstsein zu kitten. Nur deshalb ist die Episode von Bedeutung. Und wäre mir bewusst, was mir erst die Ergebnisliste offenbaren wird, bräuchte es nicht einmal das Überholmanöver, um mein Ego zu streicheln: Ich jogge ungefähr in der Mitte des kleinen Feldes und nicht, wie mir selbst unterstellt, an dessen Schwanzende.

Ein Streckenposten verlegt mir den Weg. Statt die Fußgängerbrücke über den an dieser Stelle abzweigenden Kanal zu nehmen, die sich als Fortsetzung des Havelradweges geradezu aufdrängt, tippele ich am Kanalufer entlang - schnurgeradeaus und in Erinnerungen wühlend. Nach ein, zwei Minuten bin ich sicher: Hier war ich noch nie! Eine Erkenntnis, die der GPS-Knecht am Handgelenk kurz darauf mit "gequältem" Quietschen samt Meldung im Display bestätigt: "Routenabweichung". Ich hatte mir den Track von 2019 auf die Uhr geladen, ihn bisher allerdings keines Blickes gewürdigt. Der Kanal entpuppt sich als "Sackkanal". An seinem Ende lenken mich Pfeile zur anderen Uferseite und zurück in Richtung Havel. Um gut einen Kilometer verlängert die "Schikane" die bisherige Streckenlänge. Weitere Änderungen der Route scheinen mir "zwangs-läufig". Um jeglicher Verwirrung vorzubeugen, lege ich mich fest: Keine Verwendung des Tracks bis zum Finish und ab jetzt noch aufmerksamer auf Streckenmarkierungen achten.

Sicher nicht verkehrt, weil mich die Pfeile alsbald vom Ufer weg in ein Wohngebiet schicken - vermutlich Randbezirke von Spandau. Die Sträßchen kommen mir zwar ausnahmslos bekannt vor, trotzdem versetze ich mein Orientierungsvermögen in eine Art Alarmzustand. Bei meinem ersten Ostermarathon hatte ich Mühe den Weg zu finden, übersah an einer Stelle die Markierung. Zum meinem Glück hatte sich ein Läufer schon vor mir verlaufen, der mich auf Abwegen einfing und ein nennenswertes "lost in time and space" verhinderte. Heute bleibe ich von solchem Missgeschick verschont, die von "Etze" und seinen Helfern ausgebrachten Pfeile und Flatterbänder sind nicht zu verfehlen. Sie leiten mich zurück zum Wasser, ans "Sackende" eines weiteren "Sackkanals".

Ich messe das Havelufer im Bezirk Spandau mit Schritten ab. Mal unmittelbar am Ufer, dann wieder in Wohnstraßen ein paar Meter davon entfernt, ohne Flusspanorama. Die meisten der hier erbauten, mehrstöckigen Häuser sind jüngeren Datums, gelten unter Garantie als ausgezeichnete und damit kostspielige Berliner Wohnlage. Vor allem Havel-seitig, mit Blick und Zugang zum Wasser. Ich halte mich am Ufer oder genauer gesagt: diversen Ufern, von denen ich alsbald nicht mehr zu sagen weiß, ob sie der Havel oder einem der von ihr abzweigenden Seitenkanäle und ehemaligen Hafenbecken zuzurechnen sind. Mehrfach die Richtung wechselnd erkenne ich diverse Ecken wieder, bin aber mindestens einmal sicher in den Vorjahren eine andere Route genommen zu haben. Beinahe mit Kinderaugen staune ich über städtebauliche Veränderungen, die in den drei Jahren meines pandemie-bedingten Fernbleibens die "Waterkant" Spandaus umkrempelten. In Höhe der ehemals hässlichen Lagerhäuser, die mich damals aus entkerntem, totem Inneren mit leeren Fensterhöhlen anglotzten, bliebe ich vor Überraschung fast stehen. Zwei von drei Blocks hat man inzwischen zu ansehnlichen Wohnstätten umgebaut (siehe Bild). Der dritte und letzte präsentiert sich eingerüstet und zum großen Teil bereits mit Fenstern verschlossen. Noch fehlen die schmucken, dunkelbraunen Balkone, von denen künftige Bewohner einen traumhaften Blick über das zum See verbreiterte Spandauer Havelbecken genießen werden ...

Erinnerung und Erkennen schwächeln: Dem Ufer folgend bin ich unsicher, ob mich die schon lange sichtbare, aus mehreren stählernen Segmenten bestehende Brücke zur anderen Uferseite bringen wird. Als ich mich ihr schließlich flussabwärts wie -aufwärts Fotobreitseiten verschießend anvertraue, muss ich mir eingestehen vom geschichtsträchtigen Spandau so gut wie gar nichts zu kennen. Erst daheim, beim Auswerten des aktuellen Tracks, fallen reihenweise Groschen. Zum Beispiel, dass die Brücke Große Eiswerderbrücke heißt. Und, dass sie so heißt, weil sie das Übersetzen zur Havelinsel Eiswerder ermöglicht. Dass die Insel Eiswerder einst Berliner Waffenschmiede und Munitionsfabrik war und erst nach dem Zweiten Weltkrieg einer friedlichen Nutzung zugeführt wurde.

Kilometer 38: Ich tippele ohne "Inselbewusstsein" jenseits der Brücke voran und wundere mich über brachliegende, ziegelrote Fabriken und die irgendwie seltsame Nutzung eines historisch anmutenden anderen Gebäudes. Zum Armheben und Fotografieren habe ich noch Kraft. Um mich mit intensiv forschenden Blicken der Unwissenheit zu erwehren, reicht die Restenergie nach 38 Kilometern jedoch nicht mehr. Über ein schmales Brücklein - wie ich später recherchieren werde die Kleine Eiswerderbrücke aus dem Jahr 1892 - erreiche ich wieder "Festland"; biege nach Norden ab, bleibe am Ufer und stehe keine zwanzig Meter weiter vorm vierten und letzten Verpflegungsstand.

Die beiden Helfer, Sie und Er, mühen sich um mein leibliches Wohl, das sich so kurz vorm Ende mit einem Becher Cola rasch befriedigen lässt. Die zwei in meinem Gürtel verbliebenen Gels taste ich nicht an. Vier bis fünf Kilometer finale Distanz werde ich auch mit muskulärer Restenergie bestreiten können. Ich bedanke mich fürs Ausharren und Versorgen und breche nach nicht mal einer Minute wieder auf ...

Ob ich diesen Teil des Ufers schon einmal ablief, vermag ich nicht zu sagen. Ufergestaltung und ufernahe Bebauung kommen mir jedenfalls fremd vor. Herrlich der Blick über den Spandauer Havelsee zum Gegenufer. Ich erkenne einige der Bauten wieder, in deren Schatten ich vorhin in Gegenrichtung unterwegs war; alsbald auch die Brücke mit den merkwürdigen, oberhalb der Brückenpfeiler thronenden "Türmchen". Noch seltsamer als die Türmchen kommt mir vor, die Auffahrt zur Brücke völlig gefahrlos überqueren zu können: Weit und breit kein Auto, von den am Brückenrand bis zum sichtbaren Scheitel parkenden abgesehen. Überhaupt sind in diesen ganz offensichtlich zu Wohnquartieren umgestalteten Teilen des Berliner Bezirks Spandau erstaunlich wenige Menschen unterwegs. Hüben wie drüben flanieren nur wenige Spaziergänger an weitgehend menschenleeren Ufern bei inzwischen bestem Ausflugswetter. Wo stecken die Leute, die hier leben? Ostervorbereitungen? Rendezvous mit dem Osterhasen? Eier verstecken?

Ab wo genau ich die Havel wieder gegen den Hohenzollernkanal eintauschte blieb mir verborgen. Etwa zweieinhalb Kilometer vorm herbeigesehnten Finish lassen geradliniger Uferverlauf und nahes Gegenufer daran jedoch keinen Zweifel mehr. Inzwischen beherrscht mich ein Gefühlsmix von Schwäche und Schmerzen in allen Fasern. Längst ist mein Tempo eingebrochen. Wie tief und schleichend ab wann, vermag ich nicht zu sagen. Auf Tempokontrollen verzichte ich schon lange. Eine Fußgängerbrücke taucht vor mir auf. An die Tatsachem, sie an zwei Karsamstagen zuvor zum Wechsel der Kanalseite genutzt zu haben, kann ich mich nicht erinnern. Und doch muss es so gewesen sein, weil kein anderer Übergang existiert. Liegt vielleicht an der Anstrengung der Schlussphase, damals wie heute, die meine Hirnchemie am Erzeugen von Erinnerung und dem Wiederaufruf gespeicherter Bilder hindert.

Noch ein Kilometer, geradeaus, am Wasser entlang, für das ich nun keinen Blick mehr übrig habe. In mir schreit alles an der Aufrechterhaltung von Laufschritten Mitarbeitende vor Schmerzen und fleht um Stillstand. Wie oft in der Schlussphase kommt es mir vor, als brächte ich Laufschritte einzig deshalb noch zustande, weil es unwiderruflich die letzten des Tages sein werden. Weit entfernt erspähe ich das Empfangskomitee, reiße mich zusammen und werde auf den letzten paar hundert Metern noch einmal deutlich schneller. Schwächer und schneller zugleich? Wie erklärt sich so ein Widerspruch? Vermutlich geht es mir wie der Flamme, die ein letztes Mal auflodert und dann erlischt ... Einhundert Meter noch, zwei, drei Anwesende beklatschen meine Ankunft ... und dann setze ich endlich, nach 4:34:30 Stunden, Fuß Nummer zwei von zwei hinter die Ziellinie.

---

Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) schreibt in seinem Werk "Die Welt als Wille und Vorstellung":

[...] Meistens aber verschließen wir uns der [...] Erkenntniß, daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern Jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Innern herumträgt. [...]

[...] So geht es denn [...] bis wir auf einen Wunsch treffen, der nicht erfüllt und doch nicht aufgegeben werden kann: dann haben wir gleichsam was wir suchten, nämlich etwas, das wir jeden Augenblick, statt unsers eigenen Wesens, als die Quelle unserer Leiden anklagen können [...]

[...] Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth [...]

Wenn Schopenhauer Recht hat und ich diese Zeilen richtig verstehe, insbesondere den letzten zitierten Satz, dann muss ich als Läufer im Ziel als wahrhaft glücklicher Mensch gelten. Denn im Zustand hochgradiger Erschöpfung Stehenbleibendürfen, keine Laufschritte mehr erzwingen zu müssen, empfinde ich häufig als Befreiung von Schmerz und Not. Und tatsächlich stellen sich nicht selten, auch nach dem Ostermarathon war es so, die zitierte "Befriedigung" und "Beglückung" ein.

 

Fazit zur Veranstaltung

Der Ostermarathon in Berlin ist zweifelsohne eine der lohnendsten Marathonveranstaltungen, die Deutschland zu bieten hat. Daran hat die grandiose Strecke, überwiegend am oder in der Nähe Berliner Gewässer, hohen Anteil. Aber auch Herzblut und Liebe, mit denen dieser Lauf von Frank-Ulrich Etzrodt und seiner Frau vorbereitet und durchgeführt werden. Dafür spricht auch die außergewöhnliche, österlich gestaltete Medaille, die mir im Ziel umgehängt wurde.

Beim Berlin Marathon im September 2002 finishte ich als einer von mehr als 30.000 Läufern meinen ersten Marathon. Der Berliner Ostermarathon 2019 war mein 250. Marathon, der jüngst beendete trägt die Nummer 315. Wenig Lust verspüre ich, mir den Auftrieb von 30.000 Läufern beim Berlin Marathon jemals wieder zuzumuten. Aber und das als ...

... Fazit: Wenn nichts dazwischen kommt, trabe ich am nächsten Samstag vor Ostern wieder auf der Strecke entlang der Havel!

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang