24. August 2022

So was hab ich noch nie gemacht!  -  Hohenlohe Marathon (3)

Als wollte sie mich schon in der ersten von drei Runden zu Dörrfleisch verarbeiten, brennt die Sonne am Himmel überm Hohenloher Land*. Gelingen wird ihr das nicht. Die zweite Hälfte des 14 Kilometer langen Rundkurses verläuft im Wald, zudem deponierte ich vorab zwei Trinkflaschen ungefähr in Höhe der Rundenhälfte. Als ich vorhin loslief, etwa Viertel nach zehn, stand das Quecksilber bei 21°C. Auf 28°C soll es bis heute Nachmittag steigen. Um es unmissverständlich zu Protokoll zu geben: I like it this way so much! Sonne von oben in warmer Luft, mit und ohne Schwüle, das ist mein Laufwetter. Gute-Laune-Laufwetter bei dem ich schwitze und schwächele wie andere auch, das mich mental aber nicht runterzieht. Ganz im Gegenteil!

*) Unter anderem die Gegend rund um Crailsheim, in der Nordostecke Baden-Württembergs, gehört zum so genannten "Hohenloher Land". Start und Ziel des Laufes liegen im dörflichen Crailsheimer Stadtteil Goldbach (mehr Infos zur Region Hohenlohe bei Wikipedia und im Laufbericht vom Februar).

In der Graswanne zwischen Goldbach und dem nahen Crailsheim ist Schatten Mangelware. Auf den anfänglich weitgehend flachen Kilometern ebenso, wie im beginnenden Aufstieg. Schon nach einem Kilometer war ich in Schweiß gebadet. Mittlerweile habe ich die ersten Buckel überwunden und heiße bereits jeden kühlenden Luftzug willkommen. Es mag physisch beschwerlich sein, meine Augen können sich trotzdem nicht sattsehen. Unter blauer, von hauchdünnen Cirren durchwirkter Kuppel erstreckt sich die hügelige, abwechslungsreiche Hohenloher Landschaft. Derzeit noch Wiesen beidseits des Feldweges, da und dort von Wäldchen, Buschgruppen oder Obstbäumen gegliedert. Später wird mich dichter Wald verschlucken ...

Die Wiesen sind grün. Nicht saftig grün, eher "trocken" grün. Aber grün. Anders als im verdorrten gelben Norden und Osten der Republik, wo ich kürzlich unterwegs war. Auch hierorts fürchten die Menschen die Sonne, wenngleich sich die Trockenheit vergleichsweise in Grenzen hält. Ich bin zum dritten Mal auf dieser Strecke unterwegs. Wie die Male zuvor an einem Mittwoch, losgelaufen nach eigenem, zeitlichem Gusto. Corona hat vieles verändert. Etablierte für meine Frau beispielsweise die dauerhafte Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten - so oft sie will (und sie will oft). Hauptsächlich für Marathonsammler wurden die Austragungsregeln bestehender und neu entstandener Marathonserien angepasst: Individuelle Starts und Nachweise per gpx-Aufzeichnung. Der Veranstalter gibt nur einen groben Rahmen vor, eine markierte Strecke beispielsweise, Start und Ziel. Wobei Start/Ziel, wenn sie im selben Punkt zusammenfallen zuweilen auch beliebig gewählt werden können. Irgendwo auf dem Rund beginnen und am selben Ort enden heißt es dann.

Die strengen Corona-Regeln gelten nicht mehr, die Flexibilität ist geblieben. Weil sie sich bewährt hat, weil sie nützt. Das gilt fürs Homeoffice ebenso, wie fürs Marathonsammeln im Rahmen von Marathonserien. Vielleicht gibt dir die Bezeichnung "Marathonserie" Rätsel auf!? - Dabei handelt es sich um eine Marathonstrecke/-veranstaltung, die mehrmals im Jahr zum Wettkampf angeboten wird. Nun gut: Von einem echten Wettkampf kann man bei so viel Individualität und Flexibilität nicht sprechen. Zumal man der "Konkurrenz" unterwegs nur zufällig begegnet, wenn überhaupt. Und natürlich beeinflusst der Startzeitpunkt das Ergebnis. Als ich vorhin am Auto zum Start letzte Hand an mich legte, beendeten zwei andere gerade ihre erste Runde ... Ich werde bei höher stehender Sonne und mehr Wärme also wesentlich mehr Schweiß durch meine Poren pumpen als diese beiden.

Um die Wette zu laufen liefert übrigens keinem im meist überschaubar kleinen "Feld" ein Motiv hier anzutreten. So allgemeingültig wie möglich formuliert: Uns treibt die Lust sich in nicht alltäglicher Landschaft laufend zu erleben und am Ende einen weiteren Eintrag im persönlichen Marathon-Erfolgsregister vornehmen zu können. Letzteres setzte bei mir schleichend ein. Die Anzahl absolvierter Marathons oder Ultras exorbitant zu vermehren kam in meinen Gedanken etliche Jahre nicht vor. Schon gar nicht als erstrebenswertes Ziel. Als ich jedoch von mehr als hundert Marathons und Ultras erzählen konnte, ertappte ich mich immer häufiger bei spekulativen Gedanken, wie oft ich die magischen 42.195 Meter bis ins Alter wohl noch laufend würde absolvieren können ...

Und am heutigen Tage? - Laufen, dabei die bekannte Hohenloher Kulisse im August erleben, "Plus eins" in der Marathon-Bilanz natürlich und nicht zuletzt einen "langer Lauf" unternehmen. Ich "muss" wieder in die (Marathon-) Spur kommen. Seit acht Wochen kein Marathonfinish mehr, bis zum vorletzten Wochenende blieb ich im Training stets unter der 15 Kilometergrenze. Aus sattsam in den letzten Laufberichten erläutertem Grund, den ich einstweilen, bis es Verlässliches mitzuteilen gibt, nicht mehr aufgreifen möchte. So was hab ich auch noch nie gemacht: Mit nur einem langen Lauf (30 km) als Vorbereitung zu einem Marathon antreten. Völliger Irrsinn, wollte ich dabei irgendwelche Lorbeeren ernten. Ausgerechnet ich, der stets nur über Trainingsfleiß, die hohe Kilometersumme, gute Ergebnisse einfahren konnte. Aber es geht ja um nichts außer "laufend Ankommen". 'Wenn du 30 km schaffst, dann gelingen dir auch 42. Ist doch nur ein etwas überzogener langer Lauf!" - so mein Kalkül. Was soll daran falsch sein?

Was daran falsch sein könnte, kommt mir während der ersten Runde nicht in den Sinn. Erstaunlicherweise geht mir der Kurs einigermaßen locker vom Fuß. Und das, obwohl mich vor drei Tagen der Teufel ritt und flotte 20 km weit rennen ließ. Nur die steileren der Anstiege lassen mich ächzen. Das ist aber nicht weiter verwunderlich, da ich über Wochen nicht nur lange Strecken mied, sondern auch um Hügel so gut es ging einen Bogen machte. Es staubt unter den Füßen. Dabei ist der letzte Regen gar nicht so lange her. Auch das abgeerntete, gepflügte und bereits geeggte Feld zu meiner Rechten erweckt den Eindruck als könnte der Boden einen mehrtägigen Landregen gut vertragen. Mit dem Weiher, drunten im jäh eingeschnittenen Hammersbachtal, finde ich den nächsten Beleg für spärliche Niederschläge in den letzten Monaten. Im Februar, wie auch im März, als ich zuletzt hier vorbei trabte, stand das Wasser mindestens einen halben Meter höher als derzeit. Offensichtlich verkommt der Weiher immer mehr zum Tümpel ...

Ein paar Sekunden Schatten im bewaldeten Tal wecken Sehnsucht nach mehr. Kurz wieder unter sengender Sonne, dabei aufwärts, zum nächsten von Bäumen beschirmten Abschnitt. Ein bisschen Spannung baut sich auf, nähere ich mich doch dem Feld mit der "Durchwachsenen Silphie". Eine mehrjährig zu beerntende, als Futter, im hiesigen Falle jedoch zur Energieerzeugung genutzte Kulturpflanze. Ich kenne den Acker lediglich als brach liegendes Stoppelfeld. An der kümmerlichen Ernte dieses Jahres wird der Bauer wenig Freude haben: Nur bis zum Bauch dürften mir die Stengel reichen, die, wenn sie in der Wachstumsphase ausreichend Niederschlag abbekommen, durchaus übermannshoch ins Kraut schießen können.

Ein paar Meter weiter komme ich jählings, als prallte ich gegen eine unsichtbare Wand, zum Stehen. Liefe ich achtlos weiter, ich träte das Schützenswerte mit Füßen. Ich verharre vor einem Bild, das sich mir nach mehreren ähnlichen Sichtungen über viele Laufjahre unauslöschlich einbrannte. Auf der Schotterpiste krümmt sich unverkennbar eine Ringelnatter. Eigentlich ein Ringelnatter-Baby. Nicht mal bleistiftdick und lang gestreckt kaum mehr als 20 Zentimeter messend. Sie liegt exakt auf der Fahrspur und stellt sich tot. Spürte das von meinen Füßen verursachte "Beben" lange bevor ich sie erspähte. Rasch schieße ich zwei Fotos, starte dann die Rettungsaktion. Das nächste Rad, etwa eines Treckers oder an Försters Jeep, würde das zarte Schlangenleben abrupt beenden. Mit dem Finger stupse ich das Tierchen am Schwanz. Es reagiert nicht. Also fasse ich das Reptil behutsam am hinteren Leib, um es seitwärts ins Dickicht zu befördern. Keinerlei Körperspannung, schlaff hängt die Ringelnatter zwischen meinen Fingerspitzen herunter. Ich bin zu spät gekommen. Irgendwer hat sie überfahren, auch wenn das äußerlich keine Spuren hinterließ. Ich werfe sie ins Gras und trabe wieder an - mit Trauerflor an tierliebender Seele. Der Verlust der possierlichen Kreatur geht mir nahe.

Letzte Meter abwärts, vorbei am Schafspferch, in dem zwei cremeweiße Wolleproduzenten im Schatten grasen. Restschatten, vom nahen Waldrand geworfen, den überwiegenden Teil der Wiese hat längst die Sonne erobert. Die Tiere folgen ihrem Instinkt, der Mensch Udo seinen Neigungen und Wünschen. Auch mir rät Instinkt zum dauernden Aufenthalt im Schatten und die menschliche Fähigkeit Situationen zu durchdenken pflichtet ihm bei. Menschen - wird behauptet - unterschieden sich vom Tier durch ihren Verstand. Jüngere Forschungsergebnisse ziehen diese Hypothese in Zweifel, billigen auch manchen Tieren ein gewisses Maß an Intelligenz zu. Wie wär's stattdessen mit dieser Abgrenzung: Der Mensch ist die einzige Spezies mit der Fähigkeit seine Instinkte auch ohne Not zu ignorieren.

Tatsächlich handele ich meinem Instinkt zuwider, laufe weiter, glaube Konsequenzen nicht fürchten zu müssen. Aufwärts nun, bereits mit trockenem Mund, nur noch etwa einen Kilometer von meinen Trinkflaschen entfernt. Steigung in drei Etappen: zunächst fordernd, kurzes Plateau, anschließend knackig fordernd, Rechtskurve und erneutes Plateau, zuletzt im spitzen Winkel links abbiegen und wieder hinan, vergleichsweise lange und ermüdend. Die Rampe geht mir aber noch gut vom Fuß. Vielleicht auch, weil ich mir beim Überholen des Duos w/m, das ich vorhin vorm Start begrüßte, keine Blöße geben will. Sie gehen in der Steigung, ich laufe. Natürlich laufe ich, weil ich auch in dieser Hinsicht meinem Instinkt zuwider handele. In dem Fall mit gutem Grund: Gehen macht mir schlechte Laune. Lieber physisch "bluten", als mental "verenden". Lange und längste Strecken läuft man mit dem Kopf, genauer: mit der "Software" darin. Trainierte Beine - die "Hardware" - bilden lediglich die unerlässliche Voraussetzung fürs Finish. Folge diesem Vergleich und erinnere dich an deine Erfahrung mit Computern: Was passiert, wenn die Software, das Programm, abstürzt?

En passant ringe ich mir eine Bemerkung zur schweißtreibenden Witterung ab. Weil man halt nicht schweigend an zwei von insgesamt nur fünf* Teilnehmern vorbei tippelt. Ginge gar nicht so was, auch wenn Gespräche so ziemlich das Letzte sind, wonach mir gegenwärtig der Sinn steht. Die Antwort der beiden verweist auf den beginnenden Wald, der ab hier die Schweißrate senken wird. Dann bin ich vorbei und stehe keine Minute später vor dem alten Baumstamm mit meinen Flaschen dahinter. Begnadet mit der vielfach erprobten Fähigkeit Unmengen an Flüssigkeit in kürzester Zeit schlucken zu können trinke ich gierig drauflos. Mengen, die viele andere wahrscheinlich erbrächen, sobald sie wieder den Laufschritt aufnehmen. Gerade noch rechtzeitig schiebt eine Eingebung meiner Zügellosigkeit einen Riegel vor: Ich komme hier dreimal vorbei, nicht zweimal, wovon ich fälschlicherweise ausging. Drei Runden, also dreimal trinken! Wie bitte? - Klar ist das klar, der Irrtum beruht auf Unterlassung. Ich unterließ es den Ablauf nochmal klar zu durchdenken. So schlich sich der Flüchtigkeitsfehler ein: zwei Flaschen, zweimal trinken.

*) Das DNF eines Teilnehmers dezimierte die Zahl der Finisher an diesem Tag auf leider nur vier.

Zurück im "Wettkampf" nähere ich mich abermals dem Duo, das mich in Höhe Wasserdepot wieder überholte. Wie sich zeigt durchdachten die beiden ihren geplanten Marathon noch weniger als ich, rühmen sie doch meine etwa zur Hälfte des Kurses gebunkerten Flaschen als kluge Idee. Die Idee ist weniger klug als naheliegend. Zumindest wenn man keine Lust hat sich mit Labsal abzuschleppen und am Ort der Deponie bei An- und Abfahrt ohnehin vorbeikommt.

Noch umfängt mich der Forst mit kühler Luft. Seltener als zuvor wische ich mir den Schweiß aus der Stirn. Nicht lange und ich versteige mich gar zur Hoffnung, dass pralle Sonne und Wärme heute nur geringen Einfluss auf mein Laufergebnis haben werden. Zu schaffen machen mir einzig die dauernden Steigungen. Gefühlt laufe ich ständig bergauf. Nach spitzwinkligem Abbiegen kämpfe ich mich die vielleicht rüdeste Rampe des Kurses empor, nur zweihundert Meter weit, dafür mit hinterhältig zum Ende hin wachsender Steigung.

Geschafft und damit - wie ich von vormaligen GPS-Aufzeichnungen weiß - am höchsten Punkt der Runde angekommen. Was aber nicht heißt, dass mich auf den verbleibenden vier Kilometern gleichmäßiges, effizient in Tempo verwandelbares Gefälle erwarten würde. Weitere vier, mehr oder weniger lästige Buckel gilt es abzuarbeiten, dabei zwei Straßen zu überschreiten. Und zum ruppigen Schluss stürze ich einen Knie und Oberschenkel schreddernden Hang hinab. Wie vorausgesetzt bereiten mir diese kleinen Gemeinheiten der Strecke keine ernsthaften Probleme. Ich erwarte auch keine in Runde zwei und für den abschließenden dritten Umlauf bemühe ich einfach mal das "Prinzip Hoffnung".

Mit prall gefülltem Wasserbauch breche ich zu Runde zwei auf. Ungefähr in Höhe des Kindergartens, vor dessen Tor sich die abholende Elternschar versammelt hat. Was mich ans Zwölf-Uhr-Läuten erinnert, das vor ein paar Minuten vom nahen Goldbacher Kirchturm herüber schallte. High Noon also und entsprechend heizt mir mein Lieblingsgestirn ein. Auf dem Weg durchs Dorf nutze ich noch Gebäudeschatten, dann geht's hinaus in die flache ungeschützte Graswanne. Im Winter ungeschützt vor Wind, jetzt im Hochsommer sengender Sonne preisgegeben. Mein Wetter!, was ich wiederholen muss, weil es sonst anklagend klingen könnte. Aber ich klage nicht, ich schwitze nur vehement, ergötze mich dennoch an der herrlich von der Sonne gefluteten Landschaft ringsumher ...

Daran ändert sich auch drei Kilometer später nichts, da ich wieder mit dem Anstieg beginne. Ein Anstieg, der sich gefühlt bis zum steilen "Absturz" kurz vor Ende der Runde hinziehen wird. Die Wiederholung der vielen Buckel macht ordentlich Dampf im Kessel, wächst sich nach und nach zu einem verheerenden Anschlag auf den Zweckoptimismus aus, der mich bislang einlullte. Unzureichend vorbereitet war ich, wenn nicht auf die Streckenlänge, dann ganz sicher auf die in ihr "verbauten" Hügel. Aber auch darüber klage ich selbstverständlich nicht. Was wäre das anderes als Wehklagen über die eigene Dumm- und Vermessenheit? Umso mehr von einem, der heute ein "Viertelhundert-Jubiläum" feiern wird, seinen 325. Marathon oder weiter, erstritten in demnächst 20 Jahren, seit dem Marathondebüt in Berlin. So einer musste wissen, was auf ihn zukommt. Ob es Wunder gibt in dieser Welt, kann er nicht ermessen. Allerdings verwettete er seine zwei gesunden Beine darauf, dass der Laufsport frei von Mirakeln ist. Am Beispiel mangelnden Ausdauertrainings erlebt er einmal mehr das Prinzip von Ursache und Wirkung.

Lassen sich die Rahmenbedingungen noch weiter verschlechtern? Und ob: durch den Verzicht auf Energiegel meinte ich mein Läuferschicksal zusätzlich herausfordern zu müssen. Motto: Wozu Gel?, geht ja um nix, nur ankommen. Und diesem Entschluss zur Kalorienabstinenz hänge ich einstweilen weiter an, obwohl die Beine mit jedem Höhenmeter schwerer werden. Fünf Päckchen Gel lagern im Kofferraum und da sollen sie auch bleiben ... Mehr als Schwäche setzt Durst mir zu. Trockene Mundschleimhäute sind nur ein Symptom wachsender Dehydrierung, Bilder von eiskalten Getränken vor dem geistigen Auge ein anderes. Sind die Wege staubiger als im ersten Umlauf, oder kommt mir das nur so vor? Alles um mich her vermittelt nun einen deutlich trockeneren Eindruck als am Vormittag ...

Tümpel im Taleinschnitt, Sylphie-Feld, Schafe am Wegrand, über all diesen und hundert anderen hübschen Eindrücken liegt einem durchsichtigen Schleier gleich die Sehnsucht nach meinen Trinkflaschen. Sie gehen mir nicht mehr aus dem Sinn und mehr als einmal errechne ich die verbleibende Distanz "bis Trinken". Noch drei Buckel "to go", dann zwei, endlich der letzte, sich hinziehende schon von Wald beschirmte. Ich muss an mich halten lediglich das "erlaubte" Drittel des verbliebenen Wasservorrats zu trinken. Beim nächsten Mal wird der Durst sicher nicht kleiner sein ... Viel zu rasch rinnt das Wasser durch meine Kehle. Mit den letzten Schlucken gehe ich achtsamer um, spüle den Mund aus, bevor ich schlucke. Es kostet mich enorme Überwindung die zweite, noch etwa zur Hälfte gefüllte Flasche wieder zurückzulegen. So schlimm kann Durst sein! Spätestens jetzt wären Schlussfolgerungen fällig, vielleicht sogar "Notmaßnahmen". Nichts davon hat Platz in meinen Gedanken. Es folgen die sechs Kilometer im Wald, da wird's schon nicht so schlimm werden.

Inzwischen steht die Sonne höher, die Waldwege liegen abschnittsweise in der Sonne. Wo immer möglich trabe ich am Rand, jedes noch so winzige Fleckchen Schatten mitnehmend. Die vielleicht 0,5 Liter Wasser aus meiner Trinkflasche konnten dem Durst nichts anhaben. Kaum aufgebrochen, meldete er sich als dominante Wahrnehmung zurück. Meist vermag ich ihn auszublenden, Bilder, Geräusche und nicht zuletzt Gerüche im ausgedehnten Forst helfen dabei. Ich kämpfe mich voran und aufwärts, vor allem Letzteres. Im steilsten Anstieg verhalte ich den Schritt für ein paar Sekunden. Müsste nicht sein, gönnt mir aber eine Sekunden währende Unterbrechung des widerlichen Schwächegefühls. Stehend empfinde ich: Durst! Gegen den hilft kein Päuschen. Also weiter, ab und auf, auf und ab, unentwegt voran, schlussendlich der zweite "Rücksturz" zum Auto in Goldbach.

Schwäche und Durst in böser Allianz erzwangen den Sinneswandel: Ich greife zu einem Päckchen Energiegel. Und während ich noch das erste Tütchen leere, entschließe ich mich zum Doppelpack, schicke eine zweite Ration hinterher. Die komplette Kohlenhydrat-Kehrtwende ist massiven Bedenken geschuldet auf Runde drei mein energetisches Waterloo zu erleben ... Sicherheitspolitisch ist derzeit die so genannte "Zeitenwende" in aller Munde, die genau besehen gar nicht stattgefunden hat. Objektiv betrachtet ist die Sicherheitslage heute nicht kritischer als schon vor ein, zwei Jahren, nur weil ein Krimineller mit kriminellem Handeln unsere sorgsam gehegten Illusionen zerbombte. Persönlich und das Laufen betreffend erlebe ich dagegen eine echte Zeitenwende. Bedenken einen überschaubaren Abschnitt von 14 Kilometern infolge Schwäche oder anderer subjektiver Umstände nicht laufend überstehen zu können überfielen mich früher nie. Für die Phase, die auf diese Zeitenwende folgt, verwendet man gemeinhin den Begriff "Alter".

Am Auto rastend ein weiteres Alarmsignal: Ich trinke nicht länger, ich saufe. Zwanghaft, von Durst gepeinigt pumpe ich mehr als eine komplette Trinkflasche Flüssigkeit in meinen Bauch. Kamele haben das drauf, bevor sie die Wüste durchqueren. Kamele und Udo - wobei eine solche Nennung zweier optisch grundverschiedener Spezies im selben Atemzug kaum zufällig sein kann ... Luken am Auto dicht, erste Gehschritte, dann wieder traben. In der prallen, inneren Zisterne, knapp unterhalb der Rippen, gluckert's vernehmlich - lange her, dass ich zuletzt so empfand. In zwei, drei Minuten werde ich leichte Unterleibsschmerzen bekommen, die erfahrungsgemäß jedoch rasch wieder abebben. Sobald mein von Panik ergriffener Magen die Flutkatastrophe kanalisiert haben wird (hoffentlich wie stets zuvor in gewünschter Richtung).

Verhalten trabend warte ich auf die Wirkung der 200 kcal aus zwei Tütchen Gel. Eine Hoffnung, die meiner Erfahrung widerspricht: Das Feuer loderte nie wieder auf, wenn ich versäumte rechtzeitig ein Scheit nachzulegen. Der Zunder glomm still vor sich hin, verhinderte allenfalls das endgültige Verlöschen der Glut ... Absichtslos erhasche ich einen Blick zur Tempoanzeige. Er bestätigt meine Wahrnehmung: Bald eine Minute pro Kilometer mehr als zu Beginn muss ich nun im flachen Teil der Runde investieren. Woraus besteht meine Wahrnehmung? - Alles andere beherrschend: Durst! Aberwitziger, selbst vom geschätzten dreiviertel Liter Wasser, den ich vor Minuten soff, keine Sekunde gelinderter Durst. Dazu: Wachsweiche aber tonnenschwere Beine, die keine andere Laufbewegung als Tippelschritte mehr gestatten. Egal, Tippeln ist mehr als Gehen, und darauf kommt es mir an.

In befinde mich zweifellos in arger körperlicher Bedrängnis. Mental sieht das ganz anders aus. Ich bin guter Dinge. Schwäche und Durst halte ich aus. Sie werden nicht verhindern, dass ich diese Runde erfolgreich abschließe und mir mein 325. Finish sichere. Erstens. Zweitens vermögen die Bilder des jetzt mit Schäfchenwolken belebten, azurblauen Himmels* und der herrlichen Hügellandschaft darunter mein Herz noch immer zu erfreuen. Begänne es jetzt aus heiterem Himmel zu regnen, empfände ich die Abkühlung natürlich als Segen. Aber wäre das auch "schön"? Es bedeutete das Ende des "schönen Wetters", das ich beim Laufen so liebe. - Später, auf der Heimfahrt, bei der ich SWR3 hören werde, wird der Moderator die Redewendung "Schönes Wetter" zur Diskussion stellen. Ob man angesichts der Tatsache weitgehend dürrer Fluren, trocken gefallener Bäche und der vielen glühend heißen Sommertage überhaupt noch von "schönem Wetter" sprechen könne.

*) Hinweis: Die zur Illustration des Berichts verwendeten Fotos entstanden alle in Runde eins.

Wie nicht anders zu erwarten werden sich überwiegend Zuhörer zu Wort melden, die "schönes Wetter" mit mehr Regen und erträglicheren Temperaturen verknüpfen. Ich ziehe diese Äußerungen überhaupt nicht in Zweifel, immerhin leiden viele Menschen im Sommer 2022. Dennoch gehören für mich zu "schönem Wetter" weiterhin Sonnenschein und Wärme. Was nicht heißen soll, dass ich ein weniger extremes Klima dem herrschenden nicht doch vorzöge. Was ich kritisiere ist die vom Moderater angezettelte, vollkommen überflüssige Diskussion. Was man als "schön" empfindet, war schon immer subjektiv, überdies von der Situation abhängig. Kaum einer der "Regen-herbei-Sehner" bliebe während eines total verregneten Urlaubs bei seiner Auslegung von "schönem Wetter". Wichtiger als sich in sinnlosen Schön-Wetter-Definitionen zu ergehen, wären Gespräche über die Ursache des zu oft zu schönen Wetters. Vor allem das Licht erhellend darauf zu lenken, das jeder von uns seinen Beitrag zu diesem zu oft zu schönen Wetter leistete. Dass uns folglich auch nur ein gemeinsam unternommener Kraftakt aus der Misere helfen wird ...

Im Nachhinein werde ich diesen Marathon dreiteilen: In Runde eins war ich mit Laufen beschäftigt, genoss die Eindrücke. Vor allem das farbenfroh lebendige Kleid, das der Sommer der zuletzt im Frühjahr erlebten, noch etwas tristen Landschaft übergestreift hatte. Im zweiten Umlauf mutierte Laufen zum Kämpfen. Weiterhin sinnliches Wahrnehmen - Sehen, Hören, Riechen - innerlich aber konterkariert von wachsender Anstrengung. Und nun Runde drei: Sie sieht mich vor allem leiden, energetisch und hydrostatisch. Wieder daheim werde ich erkennen, dass Ersteres nicht unmaßgeblich von Letzterem ausgelöst wurde; werde die leistungsmindernde Dehydrierung begreifen, da ich trotz post-marathonalen Einfüllens von etwa dreieinhalb (!) Litern Flüssigkeit auf der Heimfahrt keinerlei Harndrang verspüre (!).

Halluziniere ich im Durst-Delirium? Wo zwei Schafe grasten, zähle ich nun sechs!? Wo kommen die vier neuen her? Es bleibt bei der Frage. Zum Nachdenken fehlen Kraft und Konzentration. Reste davon brauche ich für die drei Anstiege vor meinem Flaschendepot. Ich zwinge mich Schluck um Schluck zu trinken, mir Zeit zu lassen. Physisch macht das keinen, mental womöglich einen riesigen Unterschied.

Dann weiter, noch sechseinhalb Kilometer. Fast ausschließlich im Wald, der nur leider seine kühlende Wirkung weitgehend einbüßte. Höher unterdessen die Temperatur und schweißtreibend verlängert die in Sonne gebadeten Passagen der Waldwege. Und dennoch wird mir die gewaltige Dehydrierung Rätsel aufgeben, hinterher, anlässlich der Ursachenforschung. In der Spitze 28°C (anfangs 21°C) empfinde ich als angenehm warm, nicht heiß. Zu keinem Zeitpunkt fühlte ich mich "überhitzt", bewegte mich überdies - alles in allem - zu etwa 40 Prozent im Schatten. Lediglich mit zu langen Trinkintervallen kann ich mir das enorme Maß der Austrocknung erklären. Ich schwitze enorm, erheblich mehr als andere Menschen. So lange ich rechtzeitig und ausreichend trinke, spielt das keine Rolle. Wie hätte ich sonst 246 km Spartathlon in Griechenland, zwei komplette Tagessonnenphasen bei 30°C ohne Wettkampfabbruch überstehen können? Doch beim Spartathlon werden den Läufern im Schnitt alle 3,5 km Getränke angeboten! Heute musste ich etwa die doppelte Spanne bis zum jeweils nächsten Trinkstopp überbrücken. Entschluss: Beim nächsten Hitzelauf auf derselben Strecke werde ich zwei Depots anlegen!

Die letzten Kilometer ziehen sich. Was wenig über die Tortur aussagt, der ich dabei ausgesetzt bin. Ich werde immer langsamer, fühle mich zuweilen "tattrig" wie ein Greis. Gerade, dass mich meine Beine noch tragen. Hin und wieder bleibe ich stehen, um das Gefühl zeitweisen körperlichen Kontrollverlustes zu unterbrechen. Auch, um innere Warnzeichen nicht zu überspüren. Aber es gibt keine. Mir ist weder heiß, noch schwindlig. Ich fühle mich "nur" schwach. Körperlich. Mental aber ungebrochen stark, weswegen ich mich immer wieder aufraffe und weiter dem Ziel entgegen tippele ...

Ich hatte mich frühzeitig damit abgefunden, dass es mit einer Endzeit von knapp unter fünf Stunden, die nach Runde eins noch möglich schien, nichts werden wird. Zwei, drei Kilometer vor Schluss einigermaßen verlässlich hochrechnend komme ich auf fast fünfeinhalb Stunden. Das soll nur den verheerenden Leistungseinbruch insbesondere in der Schlussrunde belegen. Ansonsten ist mir die Zeit von Herzen egal. Hätte ich vorab alle Rahmenbedingungen berücksichtigt und sie mit 20 Jahren Marathonerfahrung gewichtet, ich hätte gewusst, was geschehen wird; dass dieser Lauf tatsächlich nichts anderes werden konnte als ein (zu) langer langer Lauf. - Endlich keine Buckel mehr, vor meinen Füßen erstreckt sich ein fast flacher Waldweg zwischen hohen, alten Eichen. 800 dennoch mühsame Meter, bis ich meine Schritte schließlich in die abschließende Schußfahrt lenke. Nur noch ein Kilometer. Schlussendlich bleibt der Waldrand zurück und damit auch die Schotterpiste. Ein paar hundert Meter Asphalt, stark abschüssig, zuletzt aufs örtliche Freibad zuhaltend. Vor dessen Eingang überschreite ich die Ziellinie, nach 5:28:26 Stunden.

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe Laufbericht vom Februar.

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang