16. Februar 2022

Der die Wölfe heulen hört  -  Hohenlohe Marathon & Ultra

Marathon ist Pflicht, Ultra nicht mehr als beinahe aussichtslose Option. Will heißen: Was immer sich mir in den nächsten (fünf?) Stunden in den Weg stellen sollte, es wird mich nicht davon abbringen drei Runden und damit vermessene 42,195 km zu laufen. Heißt zu meinem Leidwesen auch: Für einen vierten Durchgang, insgesamt mehr als 56 km, bin ich aller Vorausschau nach nicht ausreichend vorbereitet. Fürs Pflichtprogramm und die unwahrscheinliche Kür fand ich im Veranstaltungskalender des 100 Marathon Clubs eine neue Strecke in mir gänzlich fremder Umgebung im Nordosten Baden-Württembergs. Die rund 14 Kilometer lange Runde beginnt und endet in Crailsheim-Goldbach.

Das in die Kreisstadt Crailsheim eingemeindete Dorf Goldbach liegt im südwestlichen Quadranten eines von den Autobahnen A6 und A7 aufgespannten Kreuzes. Die Gegend gehört zur Region Hohenlohe, einem Gebiet, das sich rings um die Flüsse Jagst, Kocher und Tauber erstreckt. Die Grenze zu Bayern verläuft nur ein paar Kilometer weiter ostwärts. Man spricht hier einen ostfränkischen Dialekt - behauptet Wikipedia, mit eigenem Hören belegen kann ich das nicht. Was daran liegt, dass mir infolge Covid-19-Austragungsmodus versagt blieb den Veranstalter Ulrich Tomaschewski kennenzulernen und die Handvoll Teilnehmer, mit denen ich ein paar Worte wechselte, von weiter her anreisten.

Genug der Einordnung. Gegen 9:45 Uhr schließe ich die Heckklappe meines Autos und marschiere zur Startlinie. Mutterseelenallein, weil ein jeder seine Startzeit individuell wählen kann. Wie üblich werde ich den Nachweis der erbrachten Leistung per GPS-Aufzeichnung führen. Ich drücke meine Uhr ab und laufe los. Auf den ersten Metern gehe ich in Gedanken noch einmal meine Ausrüstung durch. Alles dabei? Noch könnte ich abbrechen, den Fehler am Auto korrigieren und den Start wiederholen ... Alles in Ordnung, alles an Bord! In leichtem Gefälle trabe ich dorfaus- und westwärts, erreiche nach ein paar Minuten freies Feld. Während ich mich auf einem Radweg joggend orientiere, stoppt auf der benachbarten Straße ein Auto mit drei Insassen. Die Beifahrerin lässt die Seitenscheibe runter und spricht in mein sicher etwas irritiert dreinblickendes Konterfei: "Guten Lauf! Wir kommen gleich nach!"

Nur ein paar Meter weiter biege ich in Richtung Felder ab und habe bis auf weiteres das erhoffte Geläuf unter meinen Füßen: feste, geschotterte Wege. Wie "fest" die Wege sein werden, hängt vom Wegebau ab, den ich nicht kenne. Und natürlich von der Witterung. Die ist derzeit gut und schlecht zugleich. Schlecht bedenkt man, dass die Sonne scheinen und es wärmer als die tatsächlichen 5°C sein könnte. Den niedergehenden Sprühregen wird dagegen als relativ gutes Wetter werten, wer gleich mir Dauerregen und starken Wind befürchtete. Wind spüre ich durchaus, doch selbst dort, wo er mir frontal entgegen weht, geriert er sich nicht als ernsthafter Gegner.

Wofür ich herzlich Danke sage, weil diese weitgehend flache Ebene westlich von Goldbach keinerlei Windschutz bietet. Vor einem Hügel biege ich ab und freue mich über den prächtig aufbereiteten Weg - hoffentlich nicht voreilig. Feiner Schotter und kaum Unebenheiten laden Spaziergänger und Radler geradezu ein. Obschon ich keine Vermutungen zur Landschaft anstellte, bin ich überrascht fast ausschließlich Wiesen zu erblicken. Grasland, so weit das Auge reicht. Nach ein paar Richtungswechseln dann ein gepflügter Acker, der aber eindeutig die Ausnahme von der Regel darstellt.

Hinter einer Bodenwelle setzt sich die Graslandschaft fort. Noch erstaunlicher als die Dominanz der Wiesen in diesem Landstrich empfinde ich die völlige Abwesenheit von Zäunen. Das hat was von der Prärie Nordamerikas. Nun gut, die Prärie kenne ich nur aus einschlägigen Filmen. Und "Der mit dem Wolf tanzt" könnte seinem Gaul nur begrenzt die Sporen geben, dann verschluckte ihn der in der Ferne erkennbare Crailsheimer Stadtrand. Hier draußen im offenen, fast baumfreien Gelände weht mir der Wind ein wenig kräftiger, aber nicht wirklich bremsend entgegen. Ich ziehe den Schild meiner Kappe tiefer ins Gesicht, um die Brille vor Regenspritzern zu schützen. Was meine sonstige "Rüstung" angeht, scheine ich heute korrekt gewählt zu haben. Anfängliches Frösteln hat sich gegeben, ich fühle mich jetzt genau richtig temperiert.

Weniger zufrieden bin ich mit meinem Tageslaufgefühl. Die schweren Beine schon zu Anfang vermögen mich inzwischen nicht mehr zu erschrecken. Ich kenne es kaum noch anders. Dass sich aber nach zwei, drei Kilometern bereits das Ziehen im linken Gesäßmuskel einstellt, lässt mich dann doch einen harten Lauf mit desperatem Ende befürchten. Verschärft wird die Pein durch einsetzende, einem Muskelkater ähnliche Beschwerden im unteren Rücken.

Ich folge den roten, mit Sprühkreide vom Veranstalter ausgebrachten Markierungen. Hie und da, wo Pfähle das Anbringen gestatten, weisen auch winzige rote Aufkleber, mit ebenso winzigen schwarzen Pfeilen den Weg. Nur, wer bewusst danach Ausschau hält, wird diese Pfeilaufkleber wahrnehmen. Als Zusatzversicherung gegen Verlaufen "bastelte" ich mir aus der im Internet veröffentlichten Streckendarstellung einen gpx-Track und lud ihn auf meine Uhr. Allerdings traue ich diesem Wegweiser nicht zu hundert Prozent. Mehrmals zweifelte ich bei der Erstellung, ob ich in der Uhren-App von mehreren angebotenen den richtigen Weg auswählte. Ich werde den Track nur zu Rate ziehen, wenn die offizielle Markierung verwirrend oder unvollständig sein sollte*.

*) Letztlich erwies sich mein gpx-Track als völlig korrekt aber überflüssig: Die Markierungen ließen nirgends Richtungszweifel aufkommen.

Kilometer 3: Nach scharfem Richtungswechsel beginnt eine Serie von Aufstiegen. Jedenfalls entspricht das meiner Vorstellung, da mich die Route bislang mit flachen Wegstücken verwöhnte und für die 230 pro Runde angedrohten Höhenmeter nur noch 11 Kilometer übrigbleiben. Und richtig: Hinter der nächsten Wegbiegung, an der eine Bank unter Schatten spendender Fichte zum Verweilen und Schauen einlädt, nehme ich den ersten bemerkenswerten Buckel in Angriff. Und hinter dem erwartet mich eine ganze Serie von Anstiegen ...

Wer auch immer diese Landschaft formte - der liebe Gott oder die Gletscher während der letzten Eiszeit -, meinte es gut mit mir. Kein Anstieg zieht sich länger hin und jedem folgt ein kurzer, mehr oder weniger flacher Abschnitt zum Verschnaufen. Schon diese ersten Erhebungen schreiben fest, wie sich die Höhenmeter entlang der Route verteilen werden: Kurz und knackig aufwärts, oder lang gezogen dafür aber einigermaßen moderat. Das packe ich, ganz bestimmt auch in drei Runden nacheinander!

Der Regen hat aufgehört. Eine nette Geste von Petrus, der ich allerdings kein Vertrauen schenke: Die Schildkappe bleibt, wo sie ist. Ein paar hundert Meter Asphalt unter den Füßen entschärfen die bisher längste der Steigungen. Im "einstweiligen Oben" angekommen, hat die Umgebung ein wenig ihren Charakter verändert. Wie Inseln im Meer trotzen dicht mit Bäumen und Hecken bewachsene Haine der Flut sie einschließender Wiesen. Da und dort werfen sich auch einzeln stehende Baumgestalten in Positur. Eine trichterförmige Senke zu meiner Rechten wirft die Frage auf, welche Kräfte hier dereinst am Werk gewesen sein mögen.

Über eine Straße und weiter am Waldrand. Der Feldweg wird "feldwegiger", trotz Nässe aber nicht grundlos, nicht mal durchgehend schlüpfrig. Es sprüht wieder ein wenig aus dunkelgrau zerrissenem Himmel. Ich bemerke es kaum, da zu sehr mit Wegfindung und Fotografieren beschäftigt. Kein Motiv verpassen heißt die Devise, will die Kamera nach dieser Runde im Auto zurücklassen. Unschwierig für Achtsame sich zu orientieren, Ullis Markierungen leiten zuverlässig. Nun hinab in ein enges Tal mit künstlich gestautem Teich. Die mit erdbraun trübem Wasser randvoll gelaufene Pfütze legt die Vermutung kürzlich niedergegangenen, ergiebigen Regens nahe.

Während ich mich aus dem V-förmigen Geländeeinschnitt am Gegenhang empor arbeite, stellt die himmlische Brause ihre Beregnung ein weiteres Mal ein. Gerade so als wolle der himmlische Meteorologe uns Jogger ein wenig necken: Hahn zu, Hahn auf, Hahn zu ... Wiese und Feld auf weiträumiger Lichtung. Ungepflügt und auch sonst in keiner Weise bearbeitet vermittelt das Feld einen brachen, vernachlässigten Eindruck. Braunschwarze, unterarmlange Stängelreste ragen aus der Erde. Auf die welken Überbleibsel aufmerksam werde ich allerdings erst durch aufgestellte Schautafeln. Zweifellos sollen sie auf den nicht alltäglichen Anbau von was auch immer hinweisen. "Schöne Energie aus der Natur" steht werbend auf einem Schild, darunter die Bezeichnung der offensichtlich hier angebauten Pflanze: "Donau Silphie". Daneben stellte der Bauer drei Infotafeln mit massenhaft Textinformation auf. Zu viel für einen Läufer im Wettkampf. Ich sichere mir die Erläuterung in Form von Fotos, um sie daheim auszuwerten.

Selbstverständlich beschäftigt mich diese Beobachtung noch einige Zeit. Wenn man der Werbetafel glauben schenken darf, dann dient die auf dem Feld angebaute Biomasse der Stromerzeugung. Auf stilisierter Blüte war eine Biene dargestellt, was die Schlussfolgerung nahelegt, vor einer Kultur von Blütenpflanzen gestanden zu haben. Also taugt der Anbau nicht nur zur energetischen Verwertung, sondern auch als Bienenweide, die nektarsaugenden Insekten das Überleben sichert. Damit wäre die Donau Silphie schnödem Energiemais eindeutig vorzuziehen. Doch, wenn das so ist, wieso begegne ich der Donau Silphie* dann nur ausnahmsweise und sehe mich stattdessen in heimischen Gefilden von Maisfeldern geradezu umzingelt? Will mich die Infotafel manipulieren? Hat man mich nicht schon oft mit nur vordergründig plausiblen ökologischen Scheinargumenten aufs Glatteis geführt? Und ist nicht Realität, dass ich mir beim Einkauf im (Bio-) Supermarkt ein ums andere Mal zwischen teilweise widerstreitenden Grundsätzen öko-korrekten Konsums hin- und hergezerrt vorkomme? Die Milch von der Molkerei aus der Region vorziehen oder auf alle Fälle Bio-Milch, auch wenn die eine unverkennbare CO2-Reifenspur bei der Anfahrt aus Niedersachen oder Meck-Pomm auf Autobahnen hinterlässt? Um nur eine von vielen Entscheidungen zu beleuchten, die Verbrauchern heute ständig abverlangt werden - so sie ihnen nicht resignierend, ignorant oder infolge zu geringen Einkommens ausweichen.

*) Die "Durchwachsene Silphie" hat mit ihrer energiereichen Biomasse gegenüber Energiemais offenbar Vorteile. Beispielsweise durch mehrjährige Ernte (mindestens 10 Jahre) und als zusätzliche Bienenweide. Silphie-Bauern liefern ihre Ernte an spezielle Energieerzeuger, die daraus Strom und Biogas gewinnen. Ein griffiger Werbespruch eines solchen Unternehmens lautet beispielsweise: "Vertrag abschließen und im Sommer sehen Sie ihrer Energie beim Wachsen zu." Mehr Infos bei Wikipedia.

Kilometer sieben: Ich umrunde ein mir unbekanntes Dorf auf neuerlich angenehmen Wegen, teils auf Asphalt, mindestens aber auf festem, feinem Schotter. Wieder sind Steigungen zu nehmen, drei an der Zahl, die dem bereits geschilderten Muster entsprechen: knackig kurz oder moderat und länger, dazwischen jeweils einige flache Meter zum Durchschnaufen. Der stete Lastwechsel gestattet mir an der üblichen Absicht "Alles laufen!" bis auf weiteres festzuhalten. Auch wenn das heute so gar nicht mein Tag ist. Zähes Einlaufen zu Beginn wurde von dauerhafter Gliederschwere abgelöst. Ich mache keinen Versuch mein Körpergefühl näher zu beschreiben. Dafür fehlen mir passende Ausdrücke. Zum anderen verfestigte sich bei mir mehr und mehr der Eindruck, dass jeder etwas anderes unter dem versteht, wovon ich rede oder schreibe. Vermutlich kann das auch nicht anders sein, weil man zur Interpretation, Einordnung, Vorstellung oder Beurteilung der Empfindungen anderer den eigenen Erfahrungsschatz, selbst "Gefühltes" heranziehen muss.

Auch wenn's Laufen schwerfällt, schlappmachen werde ich nicht. Mit der alternativlosen Methode "Durchbeißen" kam ich noch jedes Mal ins Ziel. Dass dieses Ziel nach drei Runden bei Marathondistanz stehen wird, scheint mir mit jedem Gedanken daran sicherer. Die Steigung oberhalb des Dorfes bringt mich zu meiner Trinkflasche. Auf der Herfahrt stoppte ich auf einem Parkplatz nahe der Straße und deponierte die Flasche hinter einem Baum. Das mitgeführte Gel schluckte ich bereits vor Minutenfrist, nun trinke ich in kräftigen Schlucken nach. Pflichtgefühl lässt mich trinken, Durst habe ich keinen. Wie oft bei kaltem, regnerischem Wetter wird mich meine Blase auch heute häufiger Deckung am Wegrand suchen lassen.

Flasche wieder verstaut und weiter, von hier ab beständig im Wald, wie ich vom vorbereitenden Streckenstudium her weiß. Statt Gras nun Bäume ringsum, zuweilen auf etwas weniger komfortablem Geläuf unterwegs, hinsichtlich des Streckenprofils ändert sich nichts. Tendenziell scheine ich mehr und mehr an Höhe zu gewinnen. Vielleicht wollen meine unwilligen Beine mir das aber auch nur einreden. Irgendwann biege ich im spitzen Winkel ab und stehe am Fuß des vermutlich forderndsten Höhenunterschieds der gesamten Runde: steil, weniger steil, "sausteil" in exakt dieser Reihenfolge, vielleicht zweihundert Meter weit.

Auf dem Weg zur Kuppe braust und schwirrt es allenthalben. Zum Glück nicht in meinem Kopf als Folge erhöhter Anstrengung wie man vermuten könnte. Das beständigeRauschen geht von den Rotorblättern eines unweit des Weges errichteten Windrads aus. Hier oben und über den Baumwipfeln scheint der Wind mit mehr Macht zu pfeifen, als vorhin "drunten" in der "Prärie". Ich passiere eine Wegkreuzung, lasse den Stromerzeuger hinter mir, biege noch einmal ab und überquere wenig später eine Straße. Mit Vorsicht, zu der das von Ulli auf den Boden gesprühte Ausrufezeichen auffordert.

Gut 10 Kilometer liegen hinter, mehrere Steigungen aber noch vor mir. Mehrmals runter und wieder rauf, wobei einem vorausschauend das "Rauf" jeweils beim "Runter" schon mit Steilheit droht. Eine optische Täuschung, denn jedes Mal erweist sich das "Rauf" als vergleichsweise harmlos. Lediglich die letzte Steigung hat es dann noch einmal in sich. Weil sie sich ziiiiiiieht, einem einreden möchte ein böser Waldgeist schöbe das Ende immer weiter hinaus ...

Noch zweieinhalb Kilometer, noch immer im Wald, mehrmals biege ich ab; eine ziemliche Strecke fast flach dahin, schließlich in wachsendem Gefälle abwärts, minutenlang. Die Beine wollen weiter geradeaus, weiter hinab, dem Ziel entgegen. Und doch weiß ich, dass noch ein "Umweg" ansteht, ein finaler Zacken der Strecke, den ich voraus zwischen Bäumen bereits früh erahne. "Südhangstraße" wurde einer Holztafel eingraviert. An deren Pfahl bestätigt ein rosaroter Sprühkreidefleck die abweichende als korrekte Richtung. Dreihundert Meter Südhangstraße, dann in spitzem Winkel nach links und neuerlich stark abfallend voran.

Die Schussfahrt setzt sich fort als ich den ursprünglichen Weg wieder erreiche. Auf Asphalt und mit flotten Schritten wetze ich auf Goldbach zu, kurz darauf bleibt der Wald hinter mir zurück. Starkes Gefälle schont meine Ressourcen fühlt sich aber weitaus unangenehmer an als flaches Terrain oder Anstiege. Es zwickt im "Kreuz", womit die Instanz LWS bereits jetzt Sanktionen androht. Morgen wird sie mich mit Schmerzen für heutiges Freveln bestrafen, dass ich es wagte sie mit stetem Auf und Ab zu drangsalieren ... - Rechts abbiegen jetzt, alsbald aufs Goldbacher Freibad zu und unmittelbar davor über die Ziellinie - zum ersten Mal.

Zweihundert Meter weiter kreuze ich wieder die Startlinie. Natürlich erst nach dem obligatorischen Boxenstopp an meinem zwischen Ziel und Start geparkten Vehikel. Witterungstatsache eins: Es hat nicht wieder angefangen zu regnen. Allerdings traue ich dem Wetterfrieden noch immer nicht über den Weg. Das wogende Grau über mir vermittelt alles andere als Verlässlichkeit. Ist aber nicht weiter von Belang, da ergiebiger Dauerregen ausblieb und wohl weiterhin ausbleiben wird. Frau mit Kinderwagen auf der Dorfstraße. Drum herum und hinaus ins Grasland ...

(Um niemanden zu langweilen, beschränke ich mich bei der Beschreibung dieser Runde im Wesentlichen auf Unterschiede zu Umlauf eins.)

Witterungstatsache zwei: Der Wind hat aufgefrischt. Obschon die "Prärie" keine Deckung bietet, stört die Brise erst auf dem letzten, etwa einen halben Kilometer langen Abschnitt vorm Richtungswechsel und dem Beginn der Anstiegsserie. Die Bewölkung hängt immer noch in Fetzen am Himmel, der insgesamt jedoch formierter wirkt, mehr Helligkeit durchlässt. Im hügeligen Grasland empor, etwas angestrengter als beim ersten Mal, doch noch bei guten Kräften. Seit meiner Erkrankung im letzten Sommer ringe ich vergeblich um vormalige Leistungsstärke. Es fehlt an Reichweite und Tempo zugleich. Und doch scheint jenes alte, ehrgeizige Läufer-Ich im Unbewussten stets auf der Lauer zu liegen. Auch wenn ich nicht weiß, woraus sich heute sein Optimismus speist, so flüstert es doch von Zeit zu Zeit: Vielleicht klappt das ja doch noch mit dem Ultra!?

Auch die härteste Serie von Anstiegen, vor meiner Trinkflasche und später im Wald, bringt diese lästige Stimme nicht zum Schweigen. Vielleicht hätte ich den buckligsten aller Buckel, kurz vorm Windrad, nicht so zügig hinan traben sollen. Selbstverständlich fühlte sich das grenzwertig an, lässt sich aber auch so interpretieren, dass es defensiver gelaufen vielleicht weitere zweimal bis Ultra gelingt ... Das Brausen des Windrades hat an Intensität zugenommen. Beinahe vollkommene Windstille hier unten am Waldboden steht im krassen Gegensatz zur Hatz der Rotorblätter jenseits der Baumkronen. Hoher Winddruck biegt die sausenden Flügelspitzen weit nach hinten ... Ich arbeite die Berg- und Talfahrt der letzten Rundenkilometer ab. Anders als vorhin, kommt mir die Passage nun kürzer vor. Auch der letzte, etwas längere Anstieg sieht mich bei guten Kräften. Zuversicht macht sich breit: Zumindest Runde drei bis Marathondistanz sollte mir nicht allzu schwer vom Fuß gehen und dann schauen wir mal ...

Mein alterndes, zunehmend der Bequemlichkeit huldigendes Ich würde den Halt am offenen Kofferraum gerne verlängern, ein, zwei Minuten zusätzliche Erholung genießen. Der Rest von mir deklariert solches Verhalten jedoch als pure Zeitverschwendung. Also rasch trinken, zwei Gels schlucken, ein weiteres einstecken und nur wenig mehr als eine Minute verstreichen lassen. Ich breche wieder auf, falle in kurze Tippelschritte, laufe mich wieder ein ... Schon auf diesen ersten Metern in Goldbach und im anschließenden flachen Grasland fühle ich mich auf unbegreifliche Weise schwach. Geradeso als hätte die kurze Pause am Auto alle Aggregate zur Ruhe kommen lassen und nun stottert der Antrieb beim Versuch die Drehzahl wieder zu steigern. Schärfer könnte das Plädoyer gegen die vierte, die Ultrarunde vorm hohen Körpergericht nicht formuliert werden. Die ersten Anstiege werden den Richter geben und das Urteil sprechen. Nichts überflüssiger als den Spruch des Gerichts abzuwarten: Ich darf mich glücklich schätzen, wenn ich in dieser dritten Runde einigermaßen ungeschoren - will heißen: ohne gehen zu müssen - davonkomme.

Ich kann kaum fassen, dass ich in den letzten Anstiegen von Runde zwei noch brauchbar drauf war und jetzt vollkommen desolat vor mich hintrotte. Dazwischen lagen lediglich zwei (Ressourcen schonende) Kilometer Abstieg und das Päuschen am Auto. Wie immer in ähnlicher Situation bleibt die Frage nach dem Warum unbeantwortet. Nicht einmal auf Gegenwind kann ich mich rausreden. Der bläst nun zwar ekelhaft und kraftraubend, erwischt mich aber nur für ein paar Minuten. Alsbald wende ich ihm den Rücken zu und starte die dritte Aufstiegsserie.

Übel diese Schwäche, sehr übel. Ein Traktor mit Anhänger, der eben noch einen der Grashänge seitlich der Strecke herab tuckerte, nähert sich mir von hinten. Ich bin dem Bauern fast dankbar für die "Störung". Gibt sie mir doch Gelegenheit ein paar Sekunden seitlich des Weges in der Wiese zu rasten. Ich zähle verbleibende Kilometer rückwärts: noch 11, 10 ... jetzt einstellig, noch neun. Jeden einzelnen muss ich mir mühsamst erkämpfen. Vorm eigentlich geplanten Zeitpunkt konsumiere ich das letzte Gelpäckchen; will für die demnächst anstehenden kapitalen Buckel ein paar Kohlenhydrate zusätzlich verfügbar haben. "Hinten raus" wird der Energiebedarf geringer sein, zudem die Aussicht "bald geschafft!" mentale Unterstützung leisten.

Ich quäle mich entlang des unbekannten Dorfes bergauf. Ein altes, offenbar gebrechliches Paar sitzt auf einer Bank. Zwei Augenpaare blicken mir interessiert entgegen. Das mit der Gebrechlichkeit ist natürlich bloße Vermutung, wenngleich ein angelehnter Spazierstock und die Körperhaltung der beiden diesen Schluss nahelegen. Wie dem auch sei: Ich bedanke mich lautlos für ihr Interesse. Unter Beobachtung stehend bemühe ich mich nicht ganz so schlecht auszusehen wie ich drauf bin. Konzentriere mich darauf die Schritte flüssig zu setzen und überwinde auf diese Weise ein paar hundert Meter mit mehr Selbstachtung: Na also, geht doch noch!

Klar geht's noch, aber leider nur begrenzt. Auch deshalb begrenzt, weil nach und nach meine Motivation schwindet mich gegen diese vermaledeite (= gefühlt unverdiente) Schwäche zur Wehr zu setzen. Im "Steilhang" vorm Windrad offenbart sich die Erosion meines Durchhaltewillens in vollem Ausmaß. Urplötzlich bleibe ich stehen und genieße ein paar Sekunden das Abklingen des quälenden, von übermäßiger Anstrengung induzierten Sch ... gefühls in mir. Dieses Verharren wäre nicht nötig gewesen, ich hätte den Aufstieg auch ohne Unterbrechung geschafft. Dies zu wissen setzt mir mehr zu, als die physische Bedrängnis, die mich bis in jede Haarspitze ausfüllt. Vielleicht habe ich das gebraucht, jedenfalls kommt es fortan zu keiner derartigen "Entgleisung" mehr.

Noch zwei Kilometer Auf und Ab, dann ein Kilometer flach, schlussendlich der "Rücksturz zur Basis" in Goldbach. Irgendwie halte ich mich tippelnd auf den Beinen. Im Schlussgefälle heult mein "Kreuz" wie ein Rudel Wölfe bei Vollmond. Grausam. Ich halte es aus, wie auch die mental unschöne Realität erneut deutlich mehr als fünf Stunden in einen Marathon investieren zu müssen. Fast 700 Höhenmeter müssen als Erklärung herhalten, neben den hinlänglich bekannten anderen Gründen. Erleichtert sehe ich vor mir das Freibad Goldbach auftauchen und laufe nach 5:13:48 Stunden ins Ziel.

 

Fazit zur Veranstaltung

Abwechslungsreiche Naturstrecke über 14 Kilometer, die schon zur vegetationsarmen Winterzeit zu gefallen weiß. Halb Wald, halb Feld bzw. offenes Grasland ohne Windschutz. Der Kurs fordert den Marathoni auf drei identischen Runden mit insgesamt etwa 700 Höhenmetern in Auf- und Abstieg.

Rahmenbedingungen während der Pandemie: Startzeit individuell, Selbstversorgung, Parken am Schwimmbad von Crailsheim-Goldbach, Nachweis der erbrachten Leistung über die eigene GPS-Aufzeichnung per E-Mail an den Veranstalter Ulrich Tomaschewski, der im Gegenzug Ergebnisliste und Urkunde übersendet.

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang