5. September 2020

Drei Augsburger in Thüringen  -  Weidatal Ultratrail 2020

Vereinsmeierei ist meine Sache nicht. Trotzdem kam und komme ich nicht umhin diversen "e.V." anzugehören. Vereine verbinden Menschen, die selektiv dieselben Ziele verfolgen. Und die Absichten meines Heimatvereins TG Viktoria Augsburg scheinen mir ebenso unterstützenswert wie jene der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung. Also bleibe ich beiden "Körperschaften" dauerhaft als Mitglied gewogen, auch wenn ich mich von dem, was man "Vereinsleben" nennt, weitgehend fernhalte. Solche Abstinenz bringt es mit sich etliche Mitglieder nicht zu kennen. Nicht persönlich und oft nicht einmal dem Namen nach. Ist das ein Makel?

Ganz sicher ein Makel - wenn nicht unerträglich - wäre es, meine beiden mehr als nur sympathischen Mitfahrer nach Zeulenroda-Triebes (Thüringen) nicht zu kennen - Sybille und Dennis. Weit entfernt des Ortes, wo unser Verein im Vereinsregister verzeichnet steht, werden wir heute versuchen "Ruhm und Ehre" an die Vereinsfahnen zu heften. Nun ja, das heroische Sprüchlein wird kaum verhehlen können, dass uns das Virus als Trio hier zusammenführte. Wer weiß, wo wir ohne das vermaledeite Covid-19-Problem an diesem Tage unseren Hut in den Ring würfen. Udo wäre ganz sicher nicht hier. Weil er den Weidatal Ultra erst im letzten Jahr unter den Sohlen hatte und sich einen anderen, der vielen verschobenen oder ausgefallenen Wettkämpfe ausgesucht hätte.

Und doch genieße ich es mit meinen beiden "Lieblings-Viktorianern" nach drei Stunden Fahrt um sieben Uhr früh hier zu stehen; im Freien, Startnummer gerade abgeholt, die Maske noch auf halb acht im Gesicht hängend. Kombiniert der werte Leser vorstehende Zeitangaben wird er unschwer erkennen, was im Vorfeld meine Lust auf diesen Lauf arg im Zaum hielt: Ich war gezwungen um drei Uhr nachts aufzustehen. Grauenvoll! Das frühe Aufstehen an sich, mehr noch die paar Stunden unruhigen Schlafes davor. Das ist jetzt alles vergessen. Und das strikte Hygieneregime, das man hier beim Weidatal Ultra wortgetreu exekutiert, kümmert mich keinen Deut. Für unbestimmte Zeit müssen wir halt damit leben. Basta. In acht verschiedenen Versionen anlässlich von acht Langdistanz-Wettkämpfen nach Aufhebung des Lockdowns ist in dieser Hinsicht zudem eine gewisse Gewöhnung eingetreten.

Gegen 7:30 Uhr, eine halbe Stunde vorm Start, stößt Heike zu uns. Heike wohnt hier in der Nähe. Für sie also ein Heimspiel. Heike, mit der ich letztes Jahr die ersten Kilometer am Ende des Feldes bestritt, da fungierte sie als Besenläuferin. Heike, die in dieser Woche einen herben läuferischen Schicksalsschlag hinzunehmen hatte: Angemeldet und bestens vorbereitet vereitelt nun die Absage des Veranstalters ihre erneute Teilnahme am Spartathlon. Grund: Griechenland änderte seine Corona-Richtlinie im Hinblick auf Laufveranstaltungen. Stattfinden darf nur noch, was hundert Teilnehmer nicht überschreitet und zwar inklusive aller Offiziellen und Helfer!

Kurz vor acht nehmen wir vorm Sportgelände auf der Straße Aufstellung. Dem Starter obliegt nicht nur das übliche Startkommando, er vollstreckt auch das Hygienekonzept. Fordert zur Seite, nach vorn und hinten die vorgeschriebenen 1,5 m Distanz einzuhalten. Und endlich: Los! ... Sybille und Dennis verliere ich sofort aus den Augen. Die beiden reihten sich ihrem Laufvermögen entsprechend weiter vorne ein. Von Sybille, der besten Ultraläuferin im Team der TG Viktoria Augsburg, erhoffe ich mir nicht weniger als einen Sieg in diesem Wettkampf. Und das, obschon sie nach langer Verletzungsmisere nicht über ihre Bestform verfügt. Dennis wird bei den Männern nicht in der Spitzenriege mitspielen, kann sich an einem guten Tag aber ziemlich weit vorne platzieren. Auch bei ihm ist nach Verletzung noch Luft nach oben.*

*) Sybille entscheidet tatsächlich die Damenkonkurrenz in 4:31:37 Stunden für sich. Und Dennis belegt mit 4:29:12 Stunden Platz 16 bei den Herren.

Ich beginne verhalten. Früher wollte ich, heute muss ich - nicht eingelaufen - Körner sparen. Taktisches Laufen, an das ich längst keine "laufkundlichen" Überlegungen mehr verschwende. Die Gesetze der Trainingslehre gingen mir vor gefühlt undenklichen Zeiten in Fleisch und Blut über. Feldwege zu Anfang, abwärts zumeist, was bis zum Ufer der Talsperre Zeulenroda so bleiben wird. Feldwege von befriedigender Beschaffenheit. Oder lasst es mich so ausdrücken: Daheim im Training würde ich meckern wie ein Rohrspatz, in Anbetracht dessen, was mich an Geläuf heute noch erwartet, hätte ich gute Lust auf die mittelprächtige, häufig Gras überwachsene Piste ein Loblied anzustimmen.

Einlaufen und konzentriertes Aufsetzen der Füße lasten mich koordinativ aus. Zusätzlich, wie im Hygienekonzept gefordert, jederzeit 1,5 m Abstand zu allen Mitläufern zu wahren ist schlechterdings ein Unding. Fotos schieße ich ohne hinzusehen, hoffe einfach, dass die übliche Ausbeute mir ein paar hinreichend scharfe Aufnahmen beschert. Wie häufig zu Beginn ranken sich Hoffnungen um mehrere Aspekte des Laufes. Möge mir beispielsweise kein Fehltritt beschieden sein, der meine noch immer nicht vollständig ausgestandenen LWS-Probleme neuerlich anfacht. Und mein rechtes Knie, obschon weitgehend befriedet, war von schlechten Wegen in letzter Zeit auch nicht sonderlich erbaut. Den dicksten Brocken Hoffnung widme ich allerdings dem Wetter, dem ich überhaupt nicht traue. Selbst Meteorologen dürfte es schwer fallen diesen merkwürdig dekorierten Himmel sicher zu lesen: Überwiegend bedeckt, hie und da ein wenig Blau im Grau, sich nach und nach von Westen her eindunkelnd. Als Laie schließe ich Gewitter nicht aus, Regen ohnehin nicht.

Schwüle überzieht meine Haut schon nach wenigen Minuten mit einem Schweißfilm. Zu meiner Überraschung, weil bei etwa 16°C in - für mein Empfinden - kalter Luft kein Empfinden von Schwüle aufkommt. Alsbald sehe ich mich zu stetem Schweißwischen gezwungen wie sonst nur bei Wärme oder wenn die Sonne brutzelnd am Himmel steht. Über ein paar Meter asphaltiertes Geläuf streben wir dem Seeufer zu. "Wir" bezeichnet, wen der Zufall zusammenführte: Heike, ein paar Damen ihres lokalen Bekanntenkreis und mich, der sich von hinten anpirscht. "Ihr sollt nicht reden sondern laufen!" gebe ich mich Heike scherzend zu erkennen. Tatsächlich dürfte es ihr schwer fallen sich in Wettkampfstimmung zu bringen - nach dem Spartathlon-Debakel und entlang des Seeufers, auf einem Weg, den sie als ihre "wochenendliche Brötchenrunde" bezeichnet. Häufig führe sie ihr Training vorm Frühstück hierher und abschließend zum Bäcker.

Auf nun drei überwiegend flachen Uferkilometern komme ich nach und nach ins Rollen. Soweit dergleichen überhaupt zu früher Wettkampfstunde abschätzbar ist, habe ich einen Tag mit brauchbarer physischer Verfassung erwischt. Aus bisherigem Schwanken, was ich mir denn heute zum Ziel setzen soll, reift der Entschluss "mich nicht zu schonen". Eine konkrete Zielzeit ins Auge zu fassen wäre auf später überwiegend "trailiger" Strecke unsinnig. Und meine Zeit aus dem letzten Jahr kenne ich nicht. In der Regel verzichte ich bewusst darauf erbrachte Leistungen nachzuschlagen, um mich nicht unter Druck zu setzen. Bei einigermaßen normalem Wettkampfverlauf sollte ich die bestehende Marke aber eindeutig unterbieten, weil ich damals die "Besenläuferin" Heike auf den anfänglichen Kilometern begleitete.

In Höhe eines Seerestaurants wendet sich die Strecke vom Ufer ab. Ich erstürme den Hügel über eine breite Treppe und stehe an deren Ende, nach etwa fünf Kilometern, vor der ersten Tränke. Drei Becher Flüssigkeit müssen rein, Cola, abschließend Wasser. Man schenkt mir ein - so verlangt es das Hygienekonzept - und das in einen mitzuführenden Becher - weniger der Hygiene als gelebtem Umweltschutz geschuldet. Den Becher fand ich wie im letzten Jahr in meiner Startertüte. Allmählich entsteht parallel zu meiner Medaillensammlung eine zweite aus Silikonbechern bestehende ...

Tatsächliche Wegeverhältnisse komplett ausgeblendet! Wie ist das möglich? Mehrmals stelle ich mir die Frage auf den nächsten Abschnitten, im Wald oder an dessen Rand entlang. Ständig weiche ich Wurzeln aus, versuche meine Schritte sicher zu setzen und trotzdem nicht zu sehr an Tempo einzubüßen. Wie konnte ich die fortwährend schlechte - oder soll ich sagen "anspruchsvolle"? - Bodenbeschaffenheit auf den Kilometern sechs bis zehn vergessen? Auch der eine oder andere böse Buckel war mir entfallen. Keinen der Anstiege in diesen Minuten hatte ich anders als völlig harmlos in Erinnerung!?? - Flottes bis schnelles Laufen setzt maximale Konzentration voraus. Augen die sich am Boden "festsaugen", die nichts Tückisches übersehen. Das geht zu Lasten des Laufgenusses, den ich nicht zuletzt an reizvollen Bildern festmache, die sich mir rechts und links des Weges bieten. Sie einzufangen gelingt ab und zu, oberflächlich, wenn ich den Blick für Sekundenbruchteile hebe. Leider lange genug, um festzustellen, dass der Himmel sich immer weiter eintrübt.

Nach Überqueren der Straße, die den Stausee auf einer Dammkrone* überspannt, erwartet mich Verpflegungspunkt Nummer zwei. Wieder trinke ich reichlich, um den Schweißverlust auszugleichen, versuche den Aufenthalt aber kurz zu halten. Ich bin gespannt, ob meine Erinnerung mir auf den nächsten, den südlichsten Zipfel des Zeulenrodaer Stausees umfassenden Kilometern, wieder einen Streich spielen wird. Mein Gedankenprotokoll bezeichnet ihn als flach und völlig unschwierig. Ich folge dem Seeufer, vom Wasser meist nur durch einem schmalen Vorhang aus Büschen und Ästen ufernah wachsender Bäume getrennt. Tatsächlich scheint mich der Weg für die erlittene Unbill mit ausgesucht gutem Geläuf entschädigen zu wollen. Mehrfach schweift mein Blick übers beinahe unbewegte Wasser. Trotz fehlender Sonne drängen sich reizvolle Ansichten auf. Reizvoll durch das viele Grün, die Spiegelungen im Wasser und den Hell-Dunkel-Kontrast in morgendlichem Gegenlicht. Lautes Geschnatter verrät die auf versunkenen Bäumen siedelnde Entenkolonie. Das Geschnatter an ebendieser Stelle erzeugt ein deckungsgleiches "Echo in meinem Memory", meine Senilität scheint sich folglich noch in Grenzen zu halten.

*) Das System der Talsperren Zeulenroda und Weidatal basiert neben der eigentlichen Staumauer auch auf so genannten "Vorsperren". Die im Text bezeichnete "Dammkrone", wie auch die nächste, im Text erwähnte Stauanlage gehören zu dieser Kategorie. Sinn von Vorsperren ist es, von Zuflüssen mitgeführte grobe Verunreinigungen zurückzuhalten.

Der ach so kommod zu umlaufende Südzipfel des Sees hat leider einen gewaltigen Nachteil: Viel zu kurz! Nach knapp anderthalb Kilometern geht es am Gegenufer schon wieder zurück in Richtung Damm. Dort angekommen stoße ich - wie erwartet - auf die nächste Tränke. Diesmal bescheide ich mich mit einer Becherfüllung, nach letzter Labsal vor nicht mal drei Kilometern. Zwei Feuerwehrleute geleiten mich sicher über die Straße. Ich grüße freundlich, signalisiere Hochachtung für ihren Beitrag zu unserem Vergnügen. Für mich alles andere als selbstverständlich, dass sich immer noch Menschen finden, die sich in den Dienst einer Sache stellen, von der sie nicht oder nur marginal profitieren. Ihr Beitrag und meine Reaktion darauf sei an dieser Textstelle stellvertretend erwähnt. Für die Feuerwehrmänner vorhin, auf der anderen Dammseite, und für jene, die meinen Weg in den kommenden Stunden sichern werden.

Dass es nach Überschreiten der Straße anstrengender und technisch schwieriger werden würde, hatte ich nicht vergessen: Kurze, dafür in Art einer Kette endlos aneinander gereihte Anstiege. Oft enge Pfade, vielfach mit Steinen und Wurzeln "vermint", reichlich Gelegenheit einzufädeln und sich blutige Knie einzufangen. Ich mache weiter "Dampf" achte aber sorgsam auf jede Unebenheit mit Stolperpotenzial. Fast bin ich geneigt mein Vorwärtskommen als "Genusstrailing" einzustufen. Ich fühle mich kräftig und allen Anforderungen gewachsen. Wie gut ich unterwegs bin, lässt sich auch an den bisweilen überholten Mitläufern ablesen. Es läuft gut. Fast zu gut, was meine Wachsamkeit eher schärft als erlahmen lässt. Rauf, runter, hin und her ... runter, rauf, her und hin. Minutenlang über Stock und Stein, und doch kein einziger Trittfehler, der mir unterliefe ...

Und dann, binnen etwa zehn Minuten, scheint sich mein Läuferschicksal zu wenden. Nein, kein Sturz. Mein mit baldiger Eruption drohender Unterleib leitet die Bredouille ein. Verlangt unmissverständlich nach Sichtschutz im Wald, sozusagen von jetzt auf gleich. Etwas in der Art stand zu befürchten, weil um drei Uhr nachts aufzustehen, meine Verdauung verwirrte. Ich schere auf einen Nebenweg aus und verkrümele mich in eine Schonung. Unterdessen trailen die jüngst überholten Läufer vorbei, nach einer Weile erkenne ich auch Heikes Stimme. Fünf unersetzliche Minuten verloren, über die ich mich in einem Maß ärgere, das ich mir gar nicht zugetraut hätte; das auch nicht falscher Ehrgeiz diktiert. Aber eben noch "locker flockig" unterwegs zu sein und dann so ausgebremst zu werden ... noch dazu von "etwas", das ich normalerweise vorneweg erledige.

Kaum wieder in der Spur sehe ich mich mit der nächsten Kalamität konfrontiert. Irgendwie ist es mir gelungen eine der Ösen der Startnummer abzureißen. Die baumelt nun nur noch mit einer Ecke am Startband. Habe ich schon erwähnt, dass ich heute ein kleines Jubiläum feiere? Bin drauf und dran meinen 275. Marathon (und weiter) zu vollenden. Und keinmal in all den Jahren musste ich um meine Startnummer bangen. Also, was tun? Einfach am verbliebenen Zipfel runterhängen lassen? Offensichtlich ist das Material der Startnummer nicht so unverwüstlich wie sonst. Was, wenn ich das Ding unbemerkt verliere? Auf der Rückseite kleben die Transponderstreifen für die Zielzeitname!

Bis auf weiteres achte ich nun nicht mehr nur auf Weg und Umgebung, vergewissere mich darüber hinaus auch noch ständig meiner "Ausschilderung". Und das nervt. Aber nicht so sehr wie das, was dann geschieht ... Ich folge weiter dem Trail und bebrüte das Ei des Kolumbus in Sachen Startnummernproblem - irgendwas Sinnstiftendes zwischen "hängen lassen" und "sicher verwahrt wegpacken". Doch es will kein Küken schlüpfen und zu allem Überfluss fängt es an zu regnen. Mist! Ganz großer Mist! Noch vor zehn Minuten spannte meine Haut vor prallem Optimismus und nun scheint sich alles gegen mich verschworen zu haben.

Nur ein paar Tropfen dringen durch, den Rest fängt einstweilen der grüne Schirm über meinem Haupt auf. Trotzdem nestele ich die Schildkappe aus dem Rucksack und verwüste mein Konterfei damit. Ein paar Spritzer auf der Brille würden genügen, um mein Sichtfeld zu trüben. Und das kann ich mir bei diesen Wegverhältnissen keinesfalls leisten. Jetzt also mit Zeitverlust, Startnummer auf "halbacht" und doofer Kappe unterwegs. Was kommt als nächstes?

Ich richte mich im Unabänderlichen ein, gewöhne mich, fange mich. Dass die Beregnung tröpfelnd bleibt, überdies nach wenigen Minuten endet, hilft dabei. Nach einer Weile nehme ich die Kappe ab und verwahre sie im Bund der Laufhose. Griffbereit, dem Frieden am grauen Firmament von Herzen misstrauend. Der Wald bleibt zurück. Über einen leicht ansteigenden Feldweg trabe ich auf ein Dorf zu. Rechterhand ein Anger, auf dem letztes Jahr Pferde grasten. Oder waren es Kühe? Heute kündet nicht mal ein Zaun von der Nutzung der Parzelle als Weideland. Die ersten Häusern des Ortes passierend erwacht die Erinnerung an einen Verpflegungspunkt, noch bevor ich ihn kurz darauf vor mir sehe. Ich lasse mir einschenken, trinke und habe eine Idee. Mit wenig Hoffnung auf positiven Bescheid frage die drei Helferinnen: "Habt ihr zufällig eine Sicherheitsnadel hier?" Es ist als stoppte jemand abrupt die Bildaufzeichnung. Wie eingefroren wirkt die Szene, während in drei Köpfen nach einer Sicherheitsnadel gefahndet wird. Plötzlich wetzt eine der Damen los und eine andere beruhigt mich: "Sie holt eine Sicherheitsnadel!" Am Becher nippend sehe ich die Dame in einem Hauseingang verschwinden und richte mich auf längeres Warten ein ... Trinke also noch ein Becherchen Cola, mümmele ein paar Salzstangen und ... unerwartet plötzlich kehrt sie zurück. Natürlich weiß die gut sortierte Hausfrau, wo genau in ihrem Haushalt sich eine Sicherheitsnadel findet! Insgesamt keine drei Minuten Aufenthalt.

Der Tag ist wieder heller geworden. Nicht weil das Grau am Himmel nun dünner wäre, die dunklen Wolken in meinem Bewusstsein lichten sich. Dank einer Helferin und ihrer Sicherheitsnadel: Optisch und technisch einwandfrei benummert kann ich nun wieder meine ganze Aufmerksamkeit der Strecke widmen. Und die bringt mich, in jeder Hinsicht unschwierig, alsbald zum Parkplatz einer Feriensiedlung. Das Beste an der Siedlung habe ich unter den Füßen: Asphalt der sich einschließlich Zufahrt über mehr als einen Kilometer hinzieht. Das Interessanteste an dieser aus zig Mietbungalows bestehenden Anlage bilden allerdings die überwiegend besetzten Parkplätze. Weil das im letzten Jahr nicht so war. Damals herrschte hier gähnende Leere! Wir leben im Jahr der Pandemie. Urlaub daheim steht maximal hoch im Kurs. Wenn die Medien von diesem Trend nicht schon seit Monaten berichteten, grübelte ich nun ergebnislos über der Frage, was sich hier am Zeulenrodaer Meer binnen Jahresfrist verändert haben könnte. "Zeulenrodaer Meer" ist übrigens ein Synonym für "Stausee Zeulenroda". Klingt besser, sorgt bestimmt auch dafür, dass sich das angestaute, thüringische Regenwasser besser vermarkten lässt.

Ich wusste es! Nur Minuten hinter der Feriensiedlung, momentan am Waldrand laufend, beginnt es wieder zu regnen. Beinahe übergangslos und dieses Mal ergiebiger. Kurz entschlossen schieße ich ein Selfie. Titel: "Udo mit Kappe" oder "Mut zu unvorteilhafter Selbstdarstellung". Einziger Grund für die Entstehung dieses epochalen Bilddokuments: Ort und Zeitpunkt des Regens festhalten, um mir die Arbeit am Laufbericht zu erleichtern. - Am Waldrand zu laufen erweist sich als unangenehm, weil der Wind Regenschwaden von der Seite heranweht. Um Brillen-trocken zu bleiben, muss ich die Kappe tief ins Gesicht ziehen. Wenig später entziehe ich mich dem Seitenwind im Wald und erreiche den nächsten Verpflegungspunkt. Drei ältere Herren erwarten mich unterm Partyzelt. Sitzend! Höchst ungewöhnlich, Helfer traf ich stets stehend an. Warum eigentlich? Getränke einschütten geht doch auch im Sitzen. Zwei Becher Cola rinnen durch meine Kehle, danke und weiter.

Weiter zwischen Wald und abgeernteten Feldern. Thüringische Felder, Felder mit DDR-LPG-Vergangenheit. Mithin riesige Ackerflächen, oft unüberschaubar und nur von topografisch Unabdingbarem, wie Bächen, Seen, Straßen oder Orten begrenzt. Entsprechend ausladend führt mein Laufweg daran entlang. Weitere Minuten Regenschutz zwischen und unter Bäumen, dann erneut am Feld entlang. Ein anderer Acker oder immer noch derselbe? Inzwischen schüttet es wie aus Kannen. Eine Wetter-Dramaturgie, die mich fatal an den Oberlausitztrail vor zwei Wochen erinnert: Erst Schauer, dann stundenlang Dauerregen bis ins Ziel. Doch auch dieser Guss entpuppt sich als Schauer, der gottlob nach einer guten Viertelstunde versiegt.

Der Feldweg strebt in spitzem Winkel einer Straße zu. Wie im Vorjahr und schon lange vorher auszumachen staut sich dort samstäglicher Verkehr. Als kurze Ziehharmonika "pumpt" die Autoschlange im Rhythmus der Läufer, die dort vorne die Straße überqueren. Zwei Minuten später ist die Reihe an mir. Um eine Buschgruppe biegend erfasse ich die erwartete Szene: Kein Läufer auf den nächsten mehreren hundert Metern vor mir, Stau unterdessen aufgelöst, Feuerwehrfahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht am Straßenrand, zwei Posten mit Kelle sichern die Straße in beiden Richtungen. Diesmal belasse ich es nicht beim ausgesucht freundlichen "Hallo!". Mir ist danach mich bei den Feuerwehrmännern zu bedanken!

Weiter oben im Text steht bereits eine Würdigung der Feuerwehrleute. Und tatsächlich wollte ich nicht noch einmal auf deren Rolle eingehen. Unterdessen kam mir allerdings in den Sinn, welchen Anfeindungen dienstbare Geister seit geraumer Zeit immer wieder ausgesetzt sind. Feuerwehrleute, Ersthelfer, Notärzte, Polizisten - Menschen, die in Not- oder Sondersituationen schützen und helfen. Menschen, ohne deren Einsatz eine Gesellschaft, ein Gemeinwesen, nicht funktionieren kann. Mitmenschen, die ihren Dienst häufig freiwillig und unbezahlt ableisten. Die dafür nicht selten verbalen oder gar physischen Attacken ausgesetzt sind, weil ein paar emotionale Tiefflieger ihre Ich-Bezogenheit rücksichtslos ausleben. Und musste ich nicht schon mehrmals anlässlich früherer Läufe fehlende Toleranz wartender Autofahrer zur Kenntnis nehmen? Maßlose Ungeduld, die sich hupend oder aus dem Seitenfenster schimpfend entlud? Und darum bedanke ich mich bei den Männern im Drillich, einer links, einer rechts von mir, für sicheres Geleit.

Pylone in Reih und Glied, die den Läufern auf ansteigender Straße eine schmale, von Regennässe glänzende Spur zuteilen. Wie im letzten Jahr, nur schien seinerzeit die Sonne. Wachsende Anstrengung aufwärts, vermehrte Muskelarbeit, die eine Art "Flashback" auslöst. Als wäre mein physisches Empfinden vor Jahresfrist in Oberschenkeln und Waden verwahrt und nicht im Oberstübchen. Unwillkürlich vergleiche ich: Seinerzeit und jetzt. Das Ergebnis gibt mir zurück, was an Optimismus nach dem Regen vielleicht noch fehlte! Denn damals fiel mir die Steigung viel schwerer als heute!

Keinen halben Kilometer weiter endet das Straßenintermezzo, ich biege auf einen Feldweg ab. Was mich hier erwartet, wusste ich schon vorher: Links in Stein gehauene Wegmarken, rechts der nächste Verpflegungspunkt. Auch Sanitäter bezogen hier Posten - hoffentlich benötigt niemand ihre Dienste. Trinken, danken und ab, ich verweile nur Sekunden, vergeude keine Zeit. Tatsächlich geht es mir nur darum: Keine Zeit vergeuden. Vorwärtsdrängende, aus Ungeduld oder falschem Ehrgeiz entspringende Eile spüre ich keine. Ließe sie auch nicht zu, weil sie mich erhöhtem Risiko aussetzte zu stürzen.

23 Kilometer, halbe Strecke, meldet der Entfernungsmesser, 2:41 Stunden die Uhr. Mal zwei ergibt 5:22 Stunden. Nicht mehr als eine "Größenordnung", die ich deutlich überschreien werde. Die zweite Streckenhälfte fordert mit dem Löwenanteil an Höhenmetern und schwierigen Trails. Realistisch geschätzt wird es mir allenfalls gelingen unter sechs Stunden zu bleiben. Und das auch nur unter der Voraussetzung keinen Tempoeinbruch zu erleiden.

Wasser, ob fließend oder aufgestaut, habe ich seit über einer Stunde keins mehr gesehen. Erst verwehrte ein schmales Handtuch dichten Waldes die Sicht zum Zeulenrodaer Meer und nun "traile" ich im Forst zwischen den beiden Stauseen. Auf und Ab, mehr oder weniger kurze Anstiege, gottlob nur selten steil, fast keine flachen Abschnitte, immer wieder auf hindernisreichen Pfaden. Der Regenguss war ergiebig, war jedoch zu kurz, um erdige Wegstücke in Rutschbahnen zu verwandeln. Und doch traue ich dem Frieden nicht, befleißige mich allergrößter Vorsicht auf steileren Metern abwärts. Wenn die Sohle nur einmal keinen Halt fände ... nicht auszudenken. Aber ich mache Fahrt, fühle mich nach wie vor kräftig und allem gewachsen. Überhole eine Mitläuferin, verfolge eine weitere. Eine Weile ist mir daran gelegen die Distanz nicht zu verkürzen. Silhouette der Läuferin zwischen Bäumen - ohne menschliche Bezugsgröße blieben Streckenbilder ausdruckslos. Mehrfach bleibe ich kurz stehen, um im Zwielicht des Waldes ein paar brauchbare Aufnahmen zu schießen.

Zuletzt, nach 27 Kilometern, trailen wir nur wenige Meter oberhalb des Wasserspiegels. Kurz darauf endet der schmale Wanderpfad vor einer Staumauer des Weidatal Stausees. Keine hundert Meter Pflasterweg bringen mich über die Vorsperre zur anderen Seeseite. Zwei Schwäne dümpeln querab in der beinahe stillen, graugrünen Flut. Dünne Nebelschwaden ziehen übers Wasser, verleihen der Szene einen geradezu mystischen Ausdruck. Weiter voran und das heißt jetzt für längere Zeit aufwärts. Aufwärts auf breiter Piste, die als Weg einzustufen einer Beleidigung von allem gleichkäme, was die Bezeichnung "Weg" tatsächlich verdient. Stelle dir grobe, lose Steine vor, tiefe, von Regenwasser ausgewaschene Rinnen, sandige Kuhlen, in denen eben diese Regenfluten abluden, was sie an Erdreich mitführten. Diese Vorstellung dehnst du auf etwa einen Kilometer aus, anfangs unter Bäumen, nach etwa halber Distanz zwischen Feldern.

Ich trabe hinan, weil es mir mein Selbstverständnis als Läufer auferlegt und weil ich es kann. Andere fordern sich nicht auf diese Weise. Erst überhole einen gehenden, dabei leise das granatenschlechte Geläuf beklagenden Ultra, danach noch zwei, drei Walker, die einem anderen Bewerb der Veranstaltung angehören. Sechs Minuten Tortur, sieben ... bald acht als mich die schon eine Weile sichtbare Tränke endlich vom Fegefeuer erlöst. Bier gibt's hier! Auf dessen herben Geschmack hätte ich ungemein Lust. Umso mehr fühle ich mich von der Tatsache verhöhnt lediglich Bier mit Alkohol vorzufinden. Alkohol und Ausdauerleistung widersprechen sich. Und Bier "alkfrei" wäre doch auch nicht teurer ...

Kaum die Höhe erklommen, gebe ich sie wieder auf. Mit prallem Cola-Wasserbauch stürze ich mich hinab. Fixiere argwöhnisch erdblanke, feuchte Stellen, die immer wieder zwischen Gras und Steinen lauern. Versuche sie zu meiden, bin, wo das nicht möglich ist, auf labilen Stand gefasst. Aufatmen nach etwa drei Minuten wider Erwarten ereignisloser Schussfahrt. Ein Wegweiser für die Strecken "46 km" und "21 km" schickt mich meiner Erinnerung entsprechend nach rechts auf den nächsten, "superschlanken" Wanderpfad. Auf dem muss ich mich zwar nur selten vor Stolperfallen hüten, dafür fordert er in stetem, manchmal herbem Auf und Ab. Jeder Fehltritt am extrem steilen Hang könnte der letzte sein! Oft passen kaum mehr als zwei Füße nebeneinander. Zu allem Überfluss lockt der See, ein paar Meter unterhalb des Pfades. Wer sich ablenken lässt, hat verloren!

Und doch mag ich diesen Trail, wie schon vergangenes Jahr. Fast fühle ich so etwas wie Bedauern als der Pfad in einem breiteren Waldweg aufgeht, der mich wenig später auf eine Hangwiese am Seeufer entlässt. Hier kreuze ich den Weg des Crosslaufes, der am Nachmittag auf dem Programm steht. Die Markierung der Crossstrecke führt hinunter zum Seeufer und ... offensichtlich ins Wasser!? Wie es aussieht müssen die Teilnehmer sodann ufernah und hüfttief durchs Wasser waten. Bis sie vielleicht hundert Meter weiter die Wiese wieder betreten dürfen. Auch wenn ich das in diesem Leben nicht mehr verstehen werde, so weiß ich doch: Parcours wieder dieser oder ähnliche liegen im Trend. Eins von diversen Mannbarkeitsritualen, die mir zeitlebens zuwider waren. Motto: Hauptsache nass und dreckig, egal ob Rugby, Hindernisbahn oder Muddy Run.

Mein Pfad wendet sich hangaufwärts, strebt dem Wald und einer "Aufgabe" entgegen, auf die ich mich mehrfach gedanklich einstimmte. Meiner Erinnerung zufolge beginne ich den härtesten Aufstieg der ganzen Strecke: Auf grobschlächtigem Geläuf steil hinan, kein Ende abzusehen ... Tippeln, immer weiter tippeln ... Wer diese "Chantal" sein soll, weiß ich zwar nicht, ihren Grund zu weinen verstehe ich dafür mit jedem Steppschritt besser. "Chantal, heul leise" steht auf der Tafel am Wegrand ... Fünf, sechs Minuten grenzwertige Schufterei, dann stehe ich "on top", auf einem Hügel namens Grobisch und erfreue mich der Aussicht über Stausee und Umland. Meine Freude speist sich jedoch nicht aus dem tollen Panorama allein: Letztes Mal hatte ich viel mehr Mühe diesen Steilhang zu packen als heute. Kam aus dem letzten Loch pfeifend hier oben an. Und heute? Natürlich fühle ich mich nach 32 Kilometer Knochenjob bereits "angefasst". Wirkliche Erschöpfung ist einstweilen jedoch nicht mehr als weit entferntes, schwaches Echo. Da geht noch was!

Gewohnt kurzer Aufenthalt vor der Tränke "on top". Cola, Wasser und ab, von einem Déjà-vu heimgesucht. Auf stark abschüssigem Weg, exakt an derselben Stelle, überhole ich wie im Vorjahr ein männliches Laufduo. Mühelos übrigens, weil beide sich recht defensiv hinab tasten. Vom breiten Ziehweg werde ich nach links, auf einen eher unscheinbar schmalen, leicht zu übersehenden Wanderpfad "befohlen". Der unübersehbar auf den Boden gesprühte Pfeil wäre Weisung genug, ein Fahrrad samt Kinderanhänger bergauf schiebender, vom Wettkampfgeschehen offenbar begeisterter Papa setzt noch eins drauf: "Hier geht's lang! Bravo! Weiter so!"

Binnen weniger Sekunden verliere ich die vorhin mühsam erklommene Höhe, hoch konzentriert, um bei der Schussfahrt nicht zu stolpern. Auch in fotografischer Hinsicht "fokussiert", um den richtigen Moment für ein gutes Bild nicht zu verpassen. Bald werde ich das Niveau des Stausees unterschreiten. Tauchen muss ich dafür nicht, lediglich dem Fuß der Staumauer folgen. Zunächst dem Mauerfuß, dann einem wahren Bollwerk von Erdsockel, schlussendlich dem betonierten Abfluss talauswärts. Ein paar hundert Meter weiter bietet sich Gelegenheit die Rinne zu überschreiten, um in Gegenrichtung wieder auf das Stauwerk zuzuhalten. Dabei berührt die Strecke ein weiteres, tiefer gelegenes und vergleichsweise winziges Staubecken. Um die Systematik mehrerer Zu- und Abflüsse und der verschiedenen Stauseen zu verstehen, müsste man sich näher mit der Weidatalsperre beschäftigen. Doch wozu? Ich begnüge mich mit ihrer Rolle als zwar künstliche, jedoch allseitig von üppiger Natur bedrängte, wirklich ausnehmend schöne Laufkulisse.

Ein hartes Stück Arbeit: Vor der Staumauer gilt es den steil aufragenden Erdsockel zu erklimmen. Ich steppe in der Falllinie empor, was mir binnen weniger Sekunden den Atem nimmt. Zum Glück reichen diese paar Sekunden, um die Steilwand zu überwinden. Schnaufend wie eine Dampflok wende ich mich vor der Mauer nach rechts und erarbeite mir weitere Höhenmeter. Zum Glück nur noch moderat ansteigend und damit gleichmäßig tippelnd zu bewältigen. Weiter in lichtem Forst, minimal auf und ab, superlangsam, um Atem- und Herzfrequenz wieder in den "grünen Bereich" zu drücken. Endgültig gelingt das auf der anschließenden, wenn auch kurzen Schussfahrt. Unten angekommen belohnen mich hundert flache Schritte, hin zur nächsten Tränke. Cola, Wasser, zwei, drei Salzstangen, um die inzwischen verhasste Süße im Mund zu killen. Danke. Ab.

Im Gehen leere ich den letzten Becher Wasser und betrete ein Asphaltsträßchen. Ein Schritt, der bisher verschüttete Bilder vorm geistigen Auge aufsteigen lässt: Ach ja! Nun geht es sofort wieder "mordsmäßig" steil bergauf! Aber auf bestem Asphalt, also steppe ich einigermaßen entspannt hinan. Ein kurzes, mental sogar erholsames Intermezzo. Endlich darf ich mal wieder etliche hundert völlig risikofreie Schrittchen unbedacht setzen ... Die seit etwa einer Viertelstunde vielfach warm durch die Wolken brechende Sonne lässt mein ohnehin auf hohem Level angekommenes Stimmungsbarometer weiter steigen.

Zurück in die "Wildnis" und wieder voran auf Pisten und Pfaden. Meist sind dabei nur ein, zwei, drei Meter auf- oder abwärts zu überwinden. Mürbe machen einen nicht die wenigen dabei gesammelten Höhenmeter, sondern die endlose Folge der Hindernisse. In übler Allianz mit sekündlich wechselnden Bodenverhältnissen, neuerlich fußfeindlich und schikanös: Wurzeln, Steine, Absätze, hohe Tritte, seitlich hängendes Geläuf. Sogar Stufen wie an dieser Stelle: Über mehrere hohe Tritte arbeite ich mich aus einem Geländeeinschnitt steil empor. Im Vorjahr nicht ohne Atempausen zu packen, diesmal fällt mir die Passage leichter. Leichter, nicht leicht! Oben angekommen pumpe ich wie ein Maikäfer. Schneller, tiefer, länger als je zuvor an diesem Tag. Erschöpfung ist nicht länger nur ein Echo, ich bin nicht mehr weit von ihr entfernt. Zum Glück aber auch nicht mehr vom Ziel: Noch gut zehn Kilometer.

Waldweg, breit, erträglich die Bodenverhältnisse, wenig Profil. Verhalten trabe ich voran, mehr Tempo wäre drin. Ich halte mich bewusst zurück, will mich ein wenig erholen und dabei Energie sparen. Energie! Noch ein Gel einwerfen? Von sieben blieb mir eines. Jetzt oder später? Noch mehr als eine Stunde bis ins Ziel. Zu früh! Im Grunde macht es mir die Piste leicht, technisch belanglos und kaum Anstiege. Umso eindeutiger die Diagnose: Inzwischen kostet mich jeder Höhenmeter vermehrten Willenseinsatz. Aber Willenskraft kenne ich als die zuletzt versiegende Ressource. Davon ist reichlich in mir, bislang weitgehend unangetastet. Also mit Zuversicht weiter auf unschwierigem Weg. Könnte bis Ultimo so bleiben, wenn es nach mir ginge. Ultimo in neun Kilometern.

Die "hinterhältige Attacke" beginnt bei Kilometer 39, nachdem ich mich an der vorletzten Tränke mit dem verbliebenen Gel, Cola und Wasser stärkte. Auftakt zum längsten und schon des späten Wettkampfzeitpunkts wegen härtesten Trails dieser Ultrastrecke. Knapp drei Kilometer am Stück, ausschließlich Pfad. Immer wieder blinkt der Spiegel des Stausees verlockend durch die Bäume. Ansichten, an denen zu erfreuen es mir aber an Muße und ausreichend Puste mangelt. Grund: Ohne Unterlass reihen sich kleinste, kleine und mittelhohe Buckel aneinander. Mit jeder verstreichenden Minute werden meine Beine schwerer. Schonungslos zeigt mir die Pfadspur jetzt die Grenzen auf. Wieder sind nicht die Höhenmeter entscheidend, so viele kommen da nicht zusammen. Auch das ruppige Geläuf für sich genommen wäre durchaus erträglich. Was mich schafft ist der dauernde Wechsel, das unablässige Auf und Ab, Hin und Her, die energiefressende Dynamik dieses Pfades ... Endlich die schon erwartete Treppe: Mindestens 30, wahrscheinlich mehr von Holzbrettern eingefasste Erdstufen, in steilem Winkel angelegt, sogar einen Handlauf anbietend. Gottlob muss ich da nur runter. Extensive Muskelarbeit, bremsen, koordinativ unschwierig. Ich gebe, was ich habe und das ist noch immer ausreichend, um erträglich rasch voranzukommen ...

... aber es reicht nicht mehr, um mich Minuten später vor dem längst fälligen Stolperer zu bewahren. Hoher Tritt über einen Stein. Anscheinend von Schwäche gelähmt hebe ich das Bein nicht ausreichend hoch, bleibe hängen, kippe vornüber, fange mich ab. Geschieht zum Glück fast aus dem Stand heraus. Folgen: Kleine Schramme am Knie, Dreck an Händen und Armen, leichte Prellung am Ellbogen (Letzteres werde ich erst morgen bemerken). Nichts von Belang, nichts, was ich nicht mit lautem Fluchen kurieren könnte. Weiter mit erhöhter Vorsicht!

Nicht mal mehr einen halben Kilometer dieser Heimsuchung von Pfad hätte ich ohne zu straucheln überstehen müssen! Zum zweiten Mal an diesem Tag überquere ich die Staumauer der Vorsperre. Angesichts zahlloser Verästelungen, Aussackungen und Umwege von einer "8" als Streckenbild zu sprechen wäre vermessen. Um zu verdeutlichen, weshalb ich zum zweiten Mal und in derselben Richtung über die Mauer zuckele, dafür provoziert die "8" eine geeignete Vorstellung. In diesem Augenblick vollende ich deren kleinere, obere Schleife. Jenseits zurück in den Wald und aufwärts. Der bevorstehende Anstieg ist bekannt, ich beschrieb ihn weiter oben so: "Aufwärts auf breiter Piste, die als Weg einzustufen einer Beleidigung von allem gleichkäme, was die Bezeichnung "Weg" tatsächlich verdient. Stelle dir grobe, lose Steine vor, tiefe, von Regenwasser ausgewaschene Rinnen, sandige Kuhlen, in denen eben diese Regenfluten abluden, was sie an Erdreich mitführten. Diese Vorstellung dehnst du nun auf etwa einen Kilometer aus, anfangs unter Bäumen, nach der Hälfte etwa zwischen Feldern."

Wie miserabel die Piste auch sein mag: Ich kämpfe mich mit kleinen Schritten hinauf. Meiner Selbstverpflichtung und unbeugsamem Willen Gehorsam leistend. Endlich erreiche ich den letzten, bereits bekannten Verpflegungspunkt. Der mit dem verlockenden, leider nicht "alkfreien" Bier. Ein schneller Becher Cola. Einer reicht, nur noch drei, höchstens vier Kilometer liegen vor mir. Auf zunächst flachem, dann leicht abschüssigem Feldweg komme ich noch einmal in Fahrt. Der "Wiederanlaufschmerz" hielt sich erstaunlicherweise in engen Grenzen. Auch mein unterer Rücken (LWS-Gegend) muckte heute kaum auf. Beides interpretiere ich als Aufforderung mich nun in keiner Weise mehr zu schonen. Also hole ich bergab aus meinen Beinen raus, was sie noch zu bieten haben. Rasch überhole ich einen Bemitleidenswerten, dem es unübersehbar (fuß-) dreckig geht. Sein Versuch zu laufen sieht mehr nach Humpeln aus. In Minutenfrist nähere ich mich einem schwarz gekleideten Mitläufer bis auf Rufweite.

Ich will spielen! Und den Mann vor mir unbedingt überholen. Nicht einer besseren Platzierung wegen. Ich gehöre zur Kategorie "ferner liefen". Welchen Sinn sollte es also haben sich um den Rang "Ferner-liefen-minus-1" zu duellieren? Es handelt sich um finalen Ehrgeiz, der mir helfen soll. Von hier - inzwischen wieder im Wald und am Ufer der munter plätschernden Weida - bis ins Ziel kennt der Kurs nur noch eine Orientierung: Knallhart bergauf. Und der Wettlauf gegen einen (vielleicht!?) schwächeren Kontrahenten lenkt von eigener Erschöpfung ab ... Der Mann macht es mir leicht. Zu leicht. Schon Sekunden später, am ersten markanten Buckel, fällt er ins Gehen, lässt mich widerstandslos passieren.

Nicht lange und ich erspähe den nächsten Kontrahenten, etwa 150 Meter voraus, wie erhofft in steilerem Gelände gehend. Wenig später lasse ich auch den hinter mir. Fortan verwende ich alle Mühe darauf diese Position zu verteidigen. Schwer genug, weil mich das Überholmanöver aufwärts natürlich ans Limit brachte. Schwer auch, weil es nun diesen verflixt steilen Grasbuckel zu erobern gilt. In Falllinie tippele ich auf eine Erlösung verheißende, auf der Kuppe thronende Eiche zu. Nur mit extrem verkürztem Steppen gelingt es mir so etwas wie "Laufschritte" zu vollführen. Unklug, ich weiß. Gehend kommt man an dermaßen steilem Hang schneller voran. Unklug, aber fürs Ego wichtig! Noch dreißig Meter, die Eiche "wächst", zwanzig, zehn, endlich links ab auf einen Feldweg.

Vom Blick zurück lasse ich mich nicht in Sicherheit wiegen: Höchstens dreißig Meter trennen mich von meinem Verfolger. Ich ignoriere das Gezeter eines unter Volllast arbeitenden Körpers und beschleunige den Schritt. Nichts wirklich Steiles mehr, also komme ich zügig voran. Ein von Hindernissen unbehinderter Blick Richtung Zielgelände bringt Klarheit: Höchstens noch ein Kilometer. Immer wieder Gras unter den Füßen, Dämpfung die zusätzlich Energie absaugt. Ein letzter heftiger Buckel, im rechten Winkel um ein Feld, kurzes Umwenden bestätigt: Kein Verfolger mehr in Sicht. Also genug Zeit für ein Selfie. Von unbemerkt geschossenen Fotos weiß ich: Udo guckt normalerweise beim Laufen recht sparsam und absolut spaßbefreit aus der Wäsche. Also setze ich ein Gesicht auf, von dem ich hoffe, dass es Vorfreude aufs nahe Finish ausdrückt. Unschwer zu erkennen, dass es bei der Absicht blieb ... Aber die Freude ist in mir und sie wächst auf den letzten Metern Straße, schießt gar ins Kraut als ich zum Sportgelände hin abbiege und mit langen Schritten aufs Schlusstor zulaufe. In Siegerpose nach 5:47:48 Stunden ins Ziel.

Dass ich meine Laufzeit aus dem Vorjahr toppen würde, war schon deshalb wahrscheinlich, weil ich seinerzeit anfangs über mehrere Kilometer, die Besenläuferin begleitend, am Feldende dahin dümpelte. Das stete Empfinden ungebrochener Ausdauer bis etwa 10 Kilometer vor dem Ziel bestärkte mich in diesem Glauben. Die letztjährige Leistung um etwa 40 Minuten zu unterbieten, versetzte mich dann doch in Erstaunen.

 

 

Ergebnisse:

Sybille: 4:31:37 Stunden, Platz 1 Frauen

Dennis: 4:29:12 Stunden, Platz 16 (von 80 Männern)

Udo: 5:47:48 Stunden, Platz 59 (von 80 Männern)

(Udo 2019: 6:28:07 Stunden)

 

 


 

Fazit zur Veranstaltung

Die Corona-bedingten Einschränkungen und Anforderungen meisterte die Organisation mit Bravour. Zur weiteren Einschätzung verweise ich auf meine Schilderung aus dem letzten Jahr.

 


 

Bildnachweis: Die beiden letzten Fotos im Text stammen von Dennis Grändorf, alle anderen Bilder: Udo Pitsch

 

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