31. August 2019

Alte Liebe rostet nicht  -  Weidatal Ultra Trail 2019

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:

Was lockst du meine Brut

Mit Menschenwitz und Menschenlist

Hinauf in Todesglut?

Diese und alle weiteren Gedichtzeilen stammen aus der Ballade „Der Fischer“ von Johann Wolfgang von Goethe

Verhaltener Trab, im Duo mit Heike, die hier zu Hause ist. Östliches Thüringen, Zeulenroda und Umgebung. Und diese Heike zählt zu den glühendsten Lokalpatrioten, die mir bislang untergekommen sind. Zeigt, erzählt, erläutert; voller Stolz, bisweilen schwingt sogar Begeisterung in ihrer Stimme mit. Als sie auf das turmartige Hochhaus an der Peripherie von Zeulenroda deutet zum Beispiel: Das zweithöchste Gebäude in Thüringen, nach der Wende erbaut, um darin eine Strumpffabrikation aufzuziehen. Also 200 neu geschaffene Arbeitsplätze in einer Region, wo man den „Aufbau Ost“ wohl eher mit der „Abwicklung“ ehedem „volkseigener Betriebe“ durch die treulose „Treuhandanstalt“ gleichsetzt. In mir finden ihre Sätze anfangs kaum Resonanz. Gelegentlich ein „Mhm!“, „Ach so!“, „Ah, ja!“ oder ähnlich kurzes Lebenszeichen. Will einerseits den „Empfang der Daten“ quittieren, nicht unhöflich sein, kämpfe andererseits gegen gleichermaßen bekannte wie ungeliebte Widerstände: Kurzatmigkeit und tonnenschwere Beine nach „Kaltstart“.

In gewissem Umfang scheint Heike die Symptome wachsender physischer „Vergreisung“ mit mir zu teilen, obschon sie noch um einiges jünger ist. Ob es am Alter liege, dass einem der Anfang immer schwerer falle, fragt sie nach den ersten Schritten. „Definitiv!“ Mit gleich vier in dieser Reihenfolge schwierig zu artikulierenden Silben ringe ich mir das letzte längere Wort für die nächsten Minuten ab. Während wir im sonnigen Samstagmorgen zwischen Feldern und Wiesen Fahrt aufnehmen - Tendenz: hangabwärts -, deutet Heike plötzlich nach rechts, in die Falllinie eines Grasbuckels. Der Hang stünde uns kurz vorm Ziel bevor und man könne ihm von hier oben nicht ansehen wie steil er in Wirklichkeit sei. Bange machen gilt nicht, denke ich unbeeindruckt. Dass sie mich damit auf die Schlüsselstelle meiner (teilweisen) finalen Niederlage hinweist, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen …

Die Route senkt sich mit wechselndem Gefälle der Talsperre Zeulenroda entgegen. Als ein Hotelkomplex in Sicht kommt, mausert sich der Feld- zum Spazierweg. Seitlich am Hotel vorbei, nun mit freiem Blick zum See aus Menschenhand. Natürlich erfahre ich aus Heikes Fundus an lokalem Wissen alles Nötige zur Hotelgeschichte. Damit ließe sich dieser Abschnitt „locker“ auf die dreifache Zeilenzahl aufblähen. Ich beschränke mich auf eine Ultrakurzversion: Erbaut zu DDR-Zeiten als Feriendomizil der „Werktätigen“ und nach der Wende zum Bio-Hotel „aufgehübscht (O-Ton Heike)“.

Wir folgen dem Ufer des Stausees auf fein geschottertem, mit Komfort und einigem Vergnügen zu laufendem Weg. So habe ich mir diesen Ultra vorgestellt, zumindest auf dem ersten Teil, ausgehend von Heikes Schilderungen auf Nachfrage meinerseits. Nachfrage als ich noch schwankte: Soll ich oder soll ich nicht? Auch, weil das mit dem „Vergnügen“ über Wochen höchst fraglich war. Ich litt (leide noch immer?) unter einer Art „läuferischem Burn Out“. Mit ähnlichen Symptomen und Folgen wie sie jemanden heimsuchen, der sich zu lange von seiner Arbeit stressen lässt. Ich war also keineswegs sicher, ob zwei Wochen nach den 100 Meilen in Berlin hier an den Start zu gehen sich als richtige Entscheidung herausstellen würde. Heikes „lockendes“ Zuraten erleichterte mir den Entschluss. Auf jeden Fall traf ich ihn bewusst und nach reiflicher Überlegung …

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Lockt dich der tiefe Himmel nicht,

Das feuchtverklärte Blau?

Lockt dich dein eigen Angesicht

Nicht her in ew'gen Tau?

Es gibt Menschen - Freunde, Bekannte, vielleicht auch unbekannte Leser der Laufberichte -, die meiner läuferischen Befindlichkeit Denkzeit widmen und sich wundern. Die vom herb mit Laufunlust abgestraften Udo eine Wettkampfpause erwarteten und sich nun mit fünf „druckfrischen“ Anmeldungen für Marathon- und Ultraläufe konfrontiert sehen. Wie geht das zusammen? Laufmüde sein, sich überdies in Berlin fast 22 Stunden lang in gefühlte Agonie getrabt zu haben, dann heimfahren und in einem Akt scheinbarer Verzweiflung ein ansehnliches Restwettkampfprogramm für 2019 eintüten?

Dafür gibt es sachliche und emotionale Gründe. Zunächst einmal „muss“ und will ich im Oktober in Italien einen Ultra laufen. 60 km weit, trailig, wenig Höhenmeter. Ein Muss, das mit meinem CO2-Fußabdruck zusammenhängt, der mir unterdessen zu tief und breit ausfällt. Vor ein paar Jahren hatte ich noch keine Bedenken für einen Marathon mal eben nach „Timbuktu“ zu fahren und gleich wieder heim. Unseligerweise bin ich nicht alt und/oder ignorant genug, um solches Tun nach dem beeindruckenden Auftritt einer minderjährigen, schwedischen Spaßbremse namens Greta und sich häufender Klimakatastrophen ohne Selbstkritik beizubehalten. In diesem Zusammenhang mag auch meine doppelte Großvaterschaft segensreich wirken: In was für einer Welt werden die beiden leben, wenn ich ihnen nur noch Erinnerung bin? - Lange Rede, kurzer Sinn: „Timbuktu“ kommt als Laufziel nur noch dann in Betracht, wenn ich es mit Urlaub verknüpfen kann. Eben den wollen wir uns im Oktober in Italien gönnen.

Und ich will in Italien laufen, weil Laufveranstaltungen dort anders sind. Auf anregende, willkommene Weise anders, normalerweise. Auf fremder Erde Laufschritte zu setzen bereitete mir immer ein außergewöhnliches Erlebnis, wie zuletzt beim Comrades Marathon in Südafrika (siehe Laufbericht). Bisweilen mündeten solche Läufe in einen Rausch der Sinne. Ausgelöst von Begegnungen, zauberhaften Bildern, reizvollen Geräuschen und Düften, die einem zu Hause nie durch die Nase ziehen … Zuletzt widerfuhr mir das in der Bilderbuchlandschaft der Toskana beim Tuscany Crossing auf 102 Kilometern. Noch heute, anderhalb Jahre danach, gerate ich ins Schwärmen und Träumen, wenn ich mich daran erinnere (siehe Laufbericht).

Also Italien, im Oktober, ultraweit laufen! Geht aber nur, wenn ich bis dahin meine Reichweite erhalte. Diesem Zweck dienen zwei Läufe, der eine drei, der heutige sechs Wochen vor Bella Italia. Dass ich es damit nicht bewenden ließ und zwei weitere Termine fixierte, ist a) einem Wesenszug der Art „Jetzt erst recht!“ geschuldet und hat b) mit dem Stoff zu tun, aus dem meine Unlust ist. Im selben Maß wie der Druck vor den 100 Meilen Berlin von mir abfiel, kostete mich das Schnüren der Laufschuhe wieder weniger Überwindung. Das Fünf-Wettkämpfe-Restprogramm ist demzufolge auch Ausdruck einer optimistischen Einschätzung der mittelfristigen Entwicklung meiner „Lauflaune“. Wenn es mir gelingt die Fehler auszumerzen, die zum „Burnout“ führten, werden wir uns bald wieder in inniger Leidenschaft zugetan sein, der Laufsport und ich …

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Ach wüßtest du, wie's Fischlein ist

So wohlig auf dem Grund,

Ich laufe mit der „Besenfrau“ Heike. Also am Ende des Feldes. Wie es dazu kam, dass eine Ultralauffrau ihrer Klasse diesen - wie sich herausstellen wird - undankbaren „Job“ übernommen hat, weiß ich nicht. Mir kommt es entgegen. Die Aussicht Heike zu begleiten und ambitionslos am Ende des Feldes dem Ziel entgegen zu „dümpeln“ hat mich schon mal positiv „vorgespannt“. Vorm Start konnte man heute sogar dem höchst seltenen Schauspiel eines munter plaudernden Udo beiwohnen. Wie lange wir als Duo unterwegs sein werden, ist ungewiss. Ohne Ehrgeiz, ja, jedoch der allzeit geltenden Maxime folgend: Jeden Meter laufen! Die ersten Geher werden die „Besenfrau“ zur selben Gangart nötigen, zugleich Heike und mich trennen.

Vor einem Seerestaurant endet die fußverwöhnende Seepromenade. Hier gilt es eine Treppenanlage - barrierefrei angelegt, wie Heike betont - zu überwinden. Rechts die breiten Stufen, links weit ausholende Serpentinen. Wo sonst Rollifahrer oder ihr Velo schiebende Radler verkehren, höchstens noch übermütig spielende Kinder entlang sausen, traben nun Heike und ich hinan. Heike bevorzugt Schlangenlinien statt Stufen. Weil sie auf diese Weise ihren Laufrhythmus beibehalten kann. Während ich noch darüber grübele, warum ich die Treppe trotzdem vorzöge, erreichen wir die erste Getränkestation.

Mehrstimmiges Hallo für Heike. Die kennt hier sicher jeder, der auch nur im Entferntesten mit der (Ultra-) Laufszene in Berührung steht. Nicht lange her, da startete die Powerfrau noch für Deutschland bei Weltmeisterschaften im 24 Stundenlauf oder mehrmals erfolgreich beim Spartathlon in Griechenland. Derzeit wissen wir uns einig in „temporärer Lauf-, mehr noch Wettkampfmüdigkeit“. - So etwas verbindet, wenngleich im Unguten. Davor begegneten wir uns häufiger im Guten und Schönen, auf Marathonpfaden in Weimar etwa, in Ungarn rund um den Plattensee oder auch auf dem Mauerweg in Berlin. Heike als „Fremdenführerin“ auf Heimaterde zu erleben, erweitert mein Bild von ihr um eine ungeahnte Facette.

Schlussläuferinnen haben viel Zeit und Bekannten an Getränkestationen einiges zu erzählen. Also mache ich mal die Vorhut und wende mich dem Waldrand zu. Nicht zuletzt, um mich nach ein paar Metern frei von Hektik zu erleichtern. Obschon unser „Tempo“ der Wortwahl keine Ehre macht, strengt es mich an. Nach erledigtem Boxenstopp auch nur für Minuten hinterher zu hecheln - nö, dazu fehlt mir der Antrieb. Im sanften Auf und Ab des Thüringer Hügellandes dem Waldsaum folgend „besteige ich neuerlich den Zeulenrodaer Hop-on-Hop-off-Bus“. Lasse mir von Heike staubtrockene, inzwischen höchst unansehnliche Stauden zeigen, Blühschönheiten im Frühsommer wie sie betont. Erblicke, Heikes verbalem Zeigefinger folgend, am Ende eines seewärts führenden Stichweges einen kunstvoll gezimmerten Rastplatz. Gefertigt von einem Hiesigen, der es sich Heikes Worten zufolge zur Aufgabe macht müden Wanderern mehr als nur nüchtern sachliche Ruhebänke anzubieten.

Sollte es Wissenswertes geben, das ich wissen wollte oder sollte. Fragen, die ich Heike nicht schon auf anfänglichen etwa sechs Kilometern stellte. Sehenswertes, auf das sie mich noch nicht hinweisen konnte. All das wird mir vermutlich zeitlebens verborgen bleiben. Knall auf Fall muss die „Besenfrau“ warten, um ein paar verirrte Ultra-Schäfchen - vom Weg abgekommen und nacheilend - wieder einzufangen. Schon mit einigem Vorsprung und in nunmehr fordernder Steigung wird mir klar: Dieser oder jener wird hier gehen, Heike notgedrungen auch. Folglich wird sie mich nicht mehr einholen.

Du stiegst herunter, wie du bist,

Und würdest erst gesund.

Von nun also alleine weiter. Im Wald einstweilen, meist ohne Sicht zum Wasser. Nur gelegentlich - einmal reizvoll in einer Waldschneise und aus erhöhter Position - zeigt sich der unter wolkenlosem Himmel grünblau leuchtende See. Auf brauchbarem Geläuf, das nur selten erhöhte Aufmerksamkeit einfordert, komme ich gut voran. Guten Mutes übrigens, was ich, Mal um Mal in mich hinein horchend, mit einiger Befriedigung zur Kenntnis nehme. Dieser Lauf mag die üblichen „Funktionen“ haben: Langdistanztraining, „Marathonzähler plus eins“, ein unbekanntes Stück vom Planeten Erde zu Fuß entdecken. Vor alledem jedoch hoffe ich nach langer Durststrecke, in der zu laufen bestenfalls Pflichtübung war, auf positive Signale: Freude am Laufen und Schauen, wenigstens zeitweise und so lange mich Erschöpfung noch nicht lähmt.

Brückenschlag vermittels Staumauer, eine Straße führt zur anderen Seeseite. Mit Umsicht trotz Streckenpostens überquere ich die Straße und werde drüben, vor der nächsten Tränke, von Christian (Lebensgefährte von Heike) und der Frau eines Mitläufers begrüßt. Dieselbe „Konstellation“ - Christian, Mitläufer-Frau und Verpflegungspunkt mit identischem „Personal“ - wiederholt sich nur knapp drei Kilometer später, auf der anderen Seite des Brückenschlages. Wieso dieser im Vergleich zur gesamten Wasserfläche winzige Zipfel eigens aufgestaut (abgetrennt?) wurde, erschließt sich mir nicht. Vielleicht brauchte man den Damm, um die vormalige Straßenführung zu erhalten.

Die Frage ist nur ein flüchtiger Gedanke. Stupst mich kurz an, will aber nicht lästig sein, beharrt nicht auf einer Antwort. Möglichst lange soll mir nichts schwer werden an diesem Tag. Will einfach so vor mich hin zuckeln, annehmen, was mir geschenkt wird. Empfindungen wiederfinden, die verloren gingen, die mich als Läufer ausmachen. Manchen Einfluss auf Entschlüsse begreifen wir erst hinterher: Wohl hauptsächlich um diesen Teil meiner Identität wiederzubeleben, kam ich heute hierher …

Lockt dich der tiefe Himmel nicht,

Das feuchtverklärte Blau?

Kilometer 14 bis 16: Der Weg ist nicht länger technisch unschwierig. Mehr oder weniger übergangslos liegt er mir nun als Trail zu Füßen, schickt mich zudem unablässig über Buckel. Buckel, noch keine Hügel. Höhenunterschiede, die jeweils nur ein paar Meter betragen. Der Untergrund setzt mir mehr zu: Häufig schmale Pfade, durchsetzt mit vielen Wurzeln, bisweilen auch Steinen. Das hatte ich so auf der ersten Hälfte des Kurses nicht erwartet. Nach ein paar Kilometern im wurzelbewehrten Auf und Ab korrigiere ich meine Schätzung: Unter sechs Stunden wird die Runde nicht zu machen sein, wenn das Gelände schon jetzt Vorsicht und damit Langsamkeit erzwingt.

Zwischendurch darf ich mich auch erholen: Erst auf einem Feldweg, am Rand einer Pferdekoppel, von der aus acht Augenpaare mein Treiben mit mäßigem Interesse verfolgen. Dann in einem Weiler, an dessen Dorfteich samt malerischen Fachwerkbauten ich ohne meinen Fotoinstinkt auszuleben nicht vorbei komme … Der unweit des Weilers gelegene Parkplatz zieht sich am Rande einer Ferienhaussiedlung hin, fällt dabei leicht ab, mehrere hundert Meter weit und schont meine Laufwerkzeuge. Allerdings hatte ich mich an Natur pur gewöhnt und beginne sie in touristischer Infrastruktur recht schnell zu vermissen. Was mir mit wachsender Unsicherheit einher trabend auch fehlt, sind Markierungen. Bin ich hier noch richtig?

Seit mehreren Kilometern durchstreife ich die Gegend solo. Ohnehin traten nur etwa 60 LäuferInnen zum Bewerb an, zudem entfernte sich das Hauptfeld anfangs rasch vom „Besenduo“. Ich zweifele nicht daran, den einen oder anderen noch einzusammeln, doch das wird dauern. Derzeit genieße ich die Einsamkeit, laufe, wie ich am liebsten laufe: Selbstbestimmt, frei von Versorgungsproblemen, mitten in der Natur. Da spielt es auch keine Rolle vom See durch blickdichten Wald getrennt zu sein. Selbst das nicht selten holprige Geläuf, mal von Feldfahrzeugen durchfurcht, bisweilen über Gras, immer wieder auch Stolperfallen bereithaltend, nehme ich frohgemut hin. Oft spendet Waldrand Schatten, während die Augen über riesige, überwiegend abgeerntete Felder schweifen. Ich komme gut voran, kann so bleiben …

Eine sich stauende Autokolonne bereitet mich auf eine Straßenquerung vor, die ich geländebedingt noch nicht einsehen kann. Schlussfolgerung: Streckenposten regeln dort den Verkehr, außerdem rennt gegenwärtig wer über die Straße, sonst gäb’s den Stau nicht. Wenig später geleiten die Streckenposten mich über die Straße. Drüben angekommen trabe ich am Rand einer schmalen Nebenstraße weiter. Pylone teilen eine Spur für Läufer ab. Bislang verschwendete ich an die Organisation des Laufes noch keinen Gedanken, komme nun aber nicht umhin ein positives Zwischenfazit zu ziehen: Getränke in kurzen Abständen, alle Straßenübergänge mit Streckenposten abgesichert und nun auch noch eine Extraspur am Straßenrand für Läufer. Ein gewaltiger (Personal-) Aufwand um 60 Paar Beine schadfrei und zufrieden durch die Gegend zu bugsieren! Was immer mir an Orga-Schwächen begegnen sollte, ich werde es klaglos hinnehmen.

Straße und Asphalt schmeicheln den Füßen erwartungsgemäß nur ein paar Minuten. Alsbald zweigt der Kurs Richtung Felder ab. Dort - nach der Hälfte der Strecke - überhole ich erstmals zwei Läufer. 2:53 Stunden sind bereits vergangen und die schwerere Hälfte liegt noch vor mir. Deutlich mehr Höhenmeter und wie „trailig“ die Sache noch werden wird, bleibt abzuwarten …

Der nächste Trail lässt nicht lange auf sich warten. Gehäuft Wurzeln und Steine auf schmalen Pfaden, unablässig auf und ab, sogar eine Treppe ist dabei. Fast kommt es mir vor, als wolle die Strecke nachdrücklich unterstreichen, dass sie noch einiges mit mir vor hat … Sicherheit vor Tempo! Sicherheit auch vor Aussicht! So sie sich bietet, wie hier, am Ufer einer sumpfig wirkenden Bucht des Stausees, verharre ich kurz zum Schauen und Fotografieren.

Und wie er sitzt und wie er lauscht,

Teilt sich die Flut empor:

Aus dem bewegten Wasser rauscht

Ein feuchtes Weib hervor.

Ohne Ortskenntnis und Abbild der Strecke im Kopf habe ich längst die Orientierung verloren. Zumal vom See längere Zeit nichts zu sehen war. Eigentlich müsste die zweite Schleife bald beginnen. Da die Route insgesamt und in grober Näherung eine „8“ beschreibt, kann ich den Anfang der zweiten Runde kaum verpassen: Durchs Tal und am gegenüberliegenden Hang empor. Das geschieht alsbald, jedoch anders als erwartet. Recht komfortabel, über eine Staumauer gelange ich zur anderen Talseite. Meine Verwirrung ist nun einigermaßen komplett. Einerseits, weil ich von zwei Stauseen ausging, zwischen denen die Route sich kreuzt. Zum anderen teilt das Bauwerk den See. Welchen der beiden Seen teilt sie? Und wieso: Normalerweise stauen Staumauern, diese hier teilt das Wasser.

Zwei Menschen, derselbe Gedanke: Eine Mitläuferin setzt vor mir über den Damm, wie ich in alle Richtungen fotografierend. Drüben angekommen stehen wir vor der nächsten Tränke. Scheinbar hat man in Erwartung hochsommerlicher Witterung ein paar Wasserstellen zusätzlich eingerichtet. Erst 27 km gelaufen und schon zum siebten Mal Gelegenheit zum Trinken. Durchschnittlich also keine vier Kilometer zwischen den Stationen. Was mir gleichfalls gut gefällt, ist die „Verbannung“ von Einwegbechern. Ein faltbarer Silikonbecher gehörte zum Startpaket. Den musste ich allerdings nur anfänglich nutzen. An dieser Tränke (und allen weiteren) stehen Mehrwegbecher bereit. Organisatorischer Mehraufwand, der in die Zeit passt. Nachhaltiges Wirtschaften nicht nur predigen, sondern mit Tatkraft umsetzen! Kunststoffbecher sollten ohnehin längst tabu sein. Aber auch Papierbecher verbrauchen zur Herstellung und Entsorgung unnötig Ressourcen und belasten auf diese Weise die Umwelt.

Der bisher längste Anstieg macht mir keine Freude. Zwar hält sich die Steigung in Grenzen, dafür martert grobes Geläuf die Füße. Unschön deshalb auch der Gedanke diesen Abschnitt nach Ende der zweiten Schleife ein zweites Mal unter den Füße spüren zu müssen. Nach bald 500 Metern endet der Wald. Weiter aufwärts unter fast wolkenlosem Himmel. Zur Mittagszeit dürfte das Quecksilber die 25°C längst überschritten haben. Schweiß rinnt unablässig und so bin ich dankbar am Ende dieser Rampe die nächste Verpflegungsstelle zu erreichen. Kaum mehr als einen Kilometer übrigens nach der letzten unten am See!

Beschilderung und die aus einer anderen Richtung kommenden Läufer des 11 km-Laufes verwirren ein wenig. In die vermutlich korrekte Richtung, wieder hangabwärts und auf den nahen Wald zu, verweist nur ein Pfeil des Crosslaufes (Start am späten Nachmittag). Logik und eine Mitläuferin bestärken mich darin diesen Weg dennoch einzuschlagen. Die vorhin mühsam erarbeitete Höhe gebe ich nun binnen Minuten komplett wieder auf. Als der Spiegel des Sees durch die Bäume leuchtet schickt mich die Wegweisung nach rechts auf einen Wanderpfad. Quer zum steilen Hang, mal rauf, dann wieder runter, bin ich fortan vor allem mit Achtgeben beschäftigt. Achtgeben, um auf dem manchmal extrem schmalen Pfad nicht versehentlich ins seitliche Nichts zu treten. Achtgeben auch auf Stolperfallen, die üblichen, die jederzeit auftreten können. Das Heimtückische daran: Oft lässt der gut ausgebaute Pfad fünf, zehn oder mehr Meter weit auf ebenem Geläuf die Aufmerksamkeit erlahmen. Um dann urplötzlich doch wieder den Weg mit einem Hindernis zu „garnieren“.

Befreites Laufen unweit des Seeufers durch eine Wiese, das ich jedoch nicht lange genießen darf. Alsbald gewinnt der Weg an Steigung. Im nahen Wald untergetaucht „versteilt“ sich der Hang zum bisher mörderischsten des Tages. Nur mit großer Mühe und einer kurzen Atempause kann ich meinem Vorsatz „alles laufen“ treu bleiben. Dann ist es geschafft und einmal mehr stehe ich vor einer Tränke.

Wer auch immer diesen Rundweg anlegte, Wanderers Kräfte zu schonen hatte er dabei nicht im Sinn. Nur ein paar Meter im Zenit und schon geht’s wieder abwärts. Für längere Zeit und meinerseits mit großer Vorsicht. Will weder einen Sturz noch das Aufmucken meiner gestressten rechten Patellasehne riskieren. Mit gedanklichen Wiederholungen wie ‚Es geht um nichts! Nur heil und laufend ankommen!’ ersticke ich jeden Funken Ehrgeiz im Keim. Verneine auch die Frage eines Vordermannes, ob ich vorbei will. Werde im Gegenteil langsamer, halte mehr Abstand, um den Mann nicht zu bedrängen.

Auf einem Kilometer minus hundert Höhenmeter - die mit Abstand längste Schussfahrt des Tages endet überraschend vorm Staudamm des Sees. „Touchiert“ zunächst dessen Oberkante, um dann weiter in die Tiefe, zur Basis des kasadenförmig angelegten Bollwerks zu führen. Beinahe eben dahin, parallel zur kaum Wasser führenden Abflussrinne der Anlage, ein paar hundert Meter weit. Dann gilt es die Krone eines weiteren Dammes zu gewinnen, der Wasser in einem vergleichsweise kleinen Becken zurückhält. Auf der Dammkrone zurück zum mächtigen Hauptdamm, dabei dessen rechten Rand anvisierend. Unter Garantie liest sich das einigermaßen verwirrend. Ist aber sicher weniger schwer zu verstehen, als Anordnung und Sinn der verschiedenen Staumauern und -becken.

Labt sich die liebe Sonne nicht,

Der Mond sich nicht im Meer?

Kehrt wellenatmend ihr Gesicht

Nicht doppelt schöner her?

Dass mir nach Grübeleien zur Bauweise der Wasserspeicher nicht der Sinn steht, hat auch mit der Schwere zu tun, die inzwischen, nach gut 33 Kilometern, von meinen Beinen Besitz ergriffen hat. Am Rande der Staumauer steil hinan strebend komme ich rasch ans Limit. Kurzzeitig nur, doch jeder weitere Anstieg wird mich nun weiter entkräften und verlangsamen. Oben und wieder runter. Textliche Wiederholung, dem Verlauf der Route geschuldet, die sich vertikal ständig selbst kopiert. Runter in eine grüne Au. Als ich den Kopf wende und dahin zurückblicke, wo ich gerade herkomme, bleibt mein Blick an einem weiteren Damm hängen. Nicht ganz so hoch und um einiges weniger breit als der Hauptdamm. Was für ein Aufwand, um ein „bisschen“ Wasser aufzustauen!?

Wasser in jeder Form, ob fließend oder stehend, als Tümpel, Weiher, See zieht naturverbundene Zeitgenossen magisch an. Das gilt sogar für künstliche Gewässer, wie jene die heute im Zentrum meiner Route liegen. Oftmals vergessen die Menschen, was und wie es vorher war. Wie Tal und Fluss vorm Dammbau aussahen, was an Natur für immer in den Fluten unterging. Das nimmt bisweilen groteske Züge an. Da wird Natur gepriesen, wo vordem Natur zerstört wurde. Wie bei mir zu Hause am Flusslauf des Lechs. Ein Gebirgsfluss, der zwischen den Bergen bei Füssen und der Großstadt Augsburg mit 23 Staustufen gebändigt wurde. Präzise und im Klartext: Die Stauseen zerstörten unwiederbringlich das ursprüngliche Landschaftsbild und Teile des Ökosystems. Was listige Menschen jedoch nicht hindert vielfach Lehrtafeln aufzustellen, auf denen dem Artenreichtum der Gegend gehuldigt wird … Ein geschickter Schachzug der Elektrizitätswirtschaft: Vergesst wie es war! Genießt wie es ist! Und die biologische Lösung sorgt dafür, dass es in absehbarer Zeit niemanden mehr geben wird, der sich erinnern könnte.

Der Rest von Schleife zwei - sechs Kilometer - hat überwiegend Trailcharakter. Will’s nicht in Prozenten fassen, weil ich mich sicher verschätzen würde. „Beinhartes“ prägt sich ein, an unschwieriges Geläuf erinnert man sich hernach kaum noch. Alles geboten, was „hart macht“: Wurzelpfade, mit Steinen jedweder Größenordnung gespickte Passagen, Treppen aufwärts, Treppe abwärts. Entsprechend langsam komme ich voran. Teilstrecke mit hohem Anspruch, aber nicht zu hoch. Keine Aufgabe, die ich nicht lösen könnte. Und entscheidend: Nichts, was mir die Laune verderben würde. Denn die hat sich, am Wetter orientiert, bei „erfreulich heiter“ stabilisiert. Wär’s grad nicht so anstrengend, würde ich vermutlich merken, dass der Laufspaß in meinem Oberstübchen wieder Einzug gehalten hat. Was Heike mir versprach, scheint sich zu bewahrheiten: „Du wirst es nicht bereuen bei uns zu laufen!“

Diesmal nähere ich mich von Norden, vor mehr als zwei Stunden schwenkte ich von Süden kommend auf den Weg zum Übergang ein. Die „unerklärliche“, den See zerteilende Staumauer läutet das Finale ein. Ungefähr fünf Kilometer noch, auf denen ich mich überwiegend bergwärts bewegen werde. Kein Ehrgeiz angebracht, also gemessenen (Lauf-) Schrittes hinan. Zunächst auf dem schon bekannten, ruppigen Weg hin zur Tränke am Berg. Dort gönne ich mir ein letztes Mal flüssige Labsal. Ohne Hast, Schluck um Schluck. Trinkend beobachte ich einen Verfolger, der sich unerwartet flink den Berg herauf kämpft. In einer Weise schwankend, als fiele er spätestens beim übernächsten Schritt vor Schwäche um. Aber das täuscht vermutlich. Ein- und Überholen lassen will ich mich nun eigentlich auch nicht mehr. Ich trinke meinen Becher in einem Zug aus und breche abrupt auf. Vorhin nach links zur zweiten Schleife, nun nach rechts in Richtung Ziel, noch vier Kilometer.

Minuten später jogge ich an der munter plätschernden Weida vorbei. Natürlich kann ich nicht sicher sein eben dieses Fließgewässer vor Augen zu haben. Andererseits heißt die Veranstaltung „Weidatal Ultra Trail“ und ein zweites Flüsschen dieser Größenordnung gibt die Gegend kaum her. So also hat es hier über etliche Kilometer ausgesehen, bevor die Menschen das Wasser - aus welchen Gründen auch immer - aufstauten. Auch nicht hässlich, eher im idyllischen Gegenteil. Das lieblich dahin glucksende Flüsschen kostet Zeit. Weil ich schaue und für verwacklungsfreie Fotos stehenbleibe.

Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;

Da war's um ihn geschehn;

Halb zog sie ihn, halb sank er hin

Und ward nicht mehr gesehn.

Weiter, stückweit noch am Wasser, dann aufwärts in den Schlussanstieg. Noch gut zwei Kilometer. Ich blicke mich um. Falls es ein Panorama zu sehen gibt, will ich’s nicht verpassen. Panorama gibt’s noch keins, dafür einen Verfolger, höchstens noch 50 Meter entfernt. Jener Kämpfer, der sich vorhin der Tränke näherte und mein hastiges Aufbrechen auslöste. Was den Mann jetzt beseelt, kann ich mir gut vorstellen: DEN DA VORNE sammele ich vorm Ziel auch noch ein! DER HIER VORNE hat zwar kaum noch Ladung im Akku, versucht aber dagegenzuhalten. Ein von jeglichem Ehrgeiz befreiter Lustlauf? Das war vorhin. Jetzt wird gekämpft! Im Grunde aus purer Lust am gegenseitigen Kräftemessen. So richtig machomäßig, weil ich nun mal kein Mädchen bin. Wenn nicht diesen im Grunde sinnlosen, welchen Sinn sollte die Aktion ansonsten haben? Trotzdem kann es nicht schaden sich die Lust am Duell schönzureden. „Küchenpsychologisch“ zu verbrämen, dass ich gerade meine über Stunden aus gutem Grund verfolgte Einstellung über Bord werfe. Also lasse ich mich denken: ‚So ein Wettlauf kann nicht schaden, umso leichter fällt mir der Schlussanstieg!’

Mein Vorsprung schrumpft. Bleibt die Hoffnung, dass der Kontrahent in der Falllinie des steilen Grasbuckels, der sich vor uns auftürmt, gehen wird. Gehen, das ich mir selbstverständlich nicht gestatte. Mich stattdessen infolge verstärkter Anstrengungen binnen Sekunden ans Limit bringe. In eben jener Steigung, vor der mich Heike heute Morgen als finale Heimsuchung warnte. Zum ersten Mal an diesem Tag höre ich das Blut in den Ohren rauschen. Was natürlich übertrieben ist, dafür den Zustand völligen Verausgabens bildhaft beschreibt. Ich haste da hoch, als hätte sich der Leibhaftige und nicht ein harmloser Mitläufer an meine Hacken geheftet. Schade eigentlich, denn der Blick von unten, über die Flanke des Hügels, hoch zum einzeln, vor blau-weißem Himmel stehenden Baum ist wunderschön. Und um diesen optischen Genuss bringe ich mich jetzt. Will einfach nur die verdammte steile Spanne bis zu dem Sch…baum hinter mich bringen, denn dort wird’s flacher …

Baum erreicht, dran vorbei. Blicke kurz zurück. Mein Verfolger hat zwar keine Gehschritte eingelegt, dafür ist der Abstand wenigstens nicht weiter geschmolzen. Weiter also, voran, voran … Dann ein Schrei, nach kurzer Pause noch einer. Ich drehe mich um. „Da geht’s lang!“ ruft mir mein Konkurrent zu und deutet in die von ihm eingeschlagene Laufrichtung. Sekundenbruchteile nur vergehen, um dreierlei glasklar zu realisieren: Erstens: Ich habe den falschen Weg genommen! Zweitens: Dadurch wurde nun ich zum Verfolger, mit etwa 50 bis 70 Meter Rückstand! Drittens: Was für ein feiner, fairer Kerl! Blieb sogar stehen, um mich auf den rechten Weg zurück zu bringen. Schließlich hätte er mich einfach ignorieren können.

Die vierte Erkenntnis dauert ein paar Minuten, ist dann aber genauso unumstößlich: Ich werde den Rückstand nicht aufholen können. Eine Weile verkürze ich den Abstand, komme bis auf etwa 20 Meter heran. Dabei verausgabe ich mich allerdings und muss gleich zwei Gänge zurückschalten, wodurch sich die Kluft wieder vergrößert. Okay, sei’s drum: Ich habe verloren, aber wenigstens gegen einen überaus fairen Laufkameraden!

Die letzten Meter, immer leicht aufwärts, dann vom Feldweg auf die Zufahrtsstraße. Schließlich zum Sportgelände hin abbiegen und wieder einigermaßen erholt nach 6:28:07 Stunden durchs Ziel.

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Meine Vorgabe war „laufend ankommen“ und die habe ich umgesetzt. Schon mal Grund genug für Zufriedenheit. Dass mir der Lauf zumindest phasenweise Spaß gemacht hat, erfüllt mich darüber hinaus mit Optimismus, dass die gärende Unlust der letzten Wochen der Vergangenheit angehört. Um diese Zuversicht zu nähren kam ich wohl hauptsächlich her, denn: Alte Liebe rostet nicht!

 


 

Fazit zur Veranstaltung

Die Strecke ist zweifelsohne wunderschön, ebenso zweifelsfrei aber auch anspruchsvoll. Nach den ersten vielleicht 14 Kilometern reiht sich Trail an Trail. Im steten Auf und Ab kommen immerhin über 900 Höhenmeter zusammen.

Die Veranstalter geben sich jede erdenkliche Mühe, um den Lauf zum Erlebnis werden zu lassen. Das gilt für alle Belange, davor, dabei und danach. Schwachpunkte Fehlanzeige! Ein großes Lob an alle Beteiligten!

Gelungen und sehr sympathisch auch das Gesamtkonzept der Veranstaltung: Mehrere Bewerbe unterschiedlicher Länge, dabei auch ein Crosslauf. Besonders hervorzuheben sind die Kinderläufe. Kurios und von den Kindern mit Begeisterung angenommen die Einstimmung auf den baldigen Start per Polonaise.

Fazit: Gerne wieder, wenn ich auf „so was Trailiges“ wieder mal Lust hab!

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