Thüringer Doppel in Stadt und Land

Teil 1: Samstag, 27. April 2019

Ländlicher kann Land nicht sein - Bleilochlauf 2019

Vielfach, für Sekundenbruchteile linse ich zum Stausee hin. Richte die Augen aber sofort wieder auf den Pfad vor meinen Füßen. Wurzeln, Steine, herumliegende Stöcke, Löcher, Rinnen, Pfützen - andauernd schieben sich Hindernisse ins Sichtfeld, denen es achtsam auszuweichen gilt. Laufen am Wasser ist immer reizvoll, auch wenn ich wie jetzt nur stroboskopisch kurze Seitenblicke wage. Viele Momentaufnahmen vereinen sich zum unvergesslichen Panorama. Was für eine tolle Strecke! dachte ich beim ersten Mal. Dabei ist der See mit seinen zahlreichen Verästelungen nicht mehr als die Ouvertüre zu einer hinreißenden Aufführung. In einer grandiosen Arena der Natur, die ihresgleichen sucht.

Zehn Kilometer Uferweg liegen hinter mir. Wie viel Kraft sie bereits aus meinen Akkus saugten, spüre ich nicht. Spürt wahrscheinlich niemand, der ausgeruht an den Start ging. Und doch ist der Energieverbrauch enorm. Einerseits durch das ständige Auf und Ab der Buckel - wenngleich nur für ein paar dutzend Schritte. Dazu die Unebenheiten, die keinen Laufrhythmus aufkommen lassen. Schwer einzustufen das Geläuf: Mal schmaler Pfad, dann wieder fahrzeugbreiter Waldweg, aber immer knubbelig, holprig.

Heike habe ich aus den Augen verloren. Wir trafen uns am Start, rannten zwei Kilometer auf gleicher Höhe, dann verwickelte sie jemand in ein Gespräch und sie fiel ein Stück zurück. Heike stammt aus der Gegend. Vermutlich kennt jeder zweite im Feld die international erfahrene Ultraläuferin. Als erklärte Straßenläuferin zögerte sie lange sich die Bleilochrunde vor dem morgigen Marathon in Weimar anzutun. Meinen Füßen ergeht es nicht anders. Eigentlich hassen sie Wege, wie sie die Bleilochrunde aneinanderreiht. Vielleicht deshalb frage mich nicht zum ersten Mal an diesem Morgen, wie ich binnen zwei Jahren den miserablen Zustand mancher Abschnitte weitgehend verdrängen konnte …

Vermutlich gibt es dafür zwei Gründe. Den einen fangen meine Augen ein: An- und Aussichten, die man auf anderen Strecken so nicht findet, in die ich mich auf Anhieb unsterblich verliebte. Und dann ist da noch der Fuß schreddernde Abschnitt, irgendwo hinter Kilometer 30, ultimativ gemein, kriminell beinstellend, tückisch ohne Ende. Wurzel an Wurzel, Stein neben Stein, kaum Platz, um tragfähig einen Fuß aufzusetzen. Blanker Horror, der einem die übrigen Wegeverhältnisse glatt wie eine erst gestern asphaltierte Autobahn erscheinen lässt.

Mit ein wenig Fantasie und aus der Draufsicht betrachtet gleicht der Bleilochstausee einem feuerspeienden Drachen mit langem, in Schlingen auslaufendem Schwanz. Nach etwas mehr als zehn Kilometern trampele ich dem Ungeheuer gerade auf dem Kopf herum - auf kurzzeitig recht brauchbarem Fahrweg übrigens, der dem Ufer ohne markante Höhenunterschiede folgt. Zwei Seitentäler, nicht allzu tief, kürzt die Piste über aufgeschüttete Dämme ab. Leider erholen sich die Füße nur kurzzeitig. Nach kurzem Trinkstopp an der bereits zweiten Tränke wandelt sich der Weg zur Folterbank. Auf spitzen, kantigen, nach Pflasterart fest gefügten wie auch unberechenbar losen Steinen eiere ich am Ufer entlang. Zum Glück stecken meine Füße in beinahe fabrikneuen Schuhen, deren Sohlen die übelsten Dolchstöße kompensieren.

Die Streckenteilung 48/24 Kilometer erlöst Sohlenfleisch und Gelenke, dafür bekommen die Oberschenkel Arbeit. Der Weg kehrt dem Stausee den Rücken und erklimmt eine bewaldete Flanke. Ein paar auf ausgedehnter Lichtung erbaute Anwesen bleiben beidseits der Piste zurück. Zum dritten Mal, nach 2015 und 2017, frage ich mich, ob es sich bei den Häusern um lediglich zeitweise genutzte Wochenend-/Urlaubsdomizile handelt. Oder, ob sich hier ganzjährig Thüringer Waldschrate vor neugierigen Blicken verborgen halten. Menschen waren und sind jedenfalls nirgendwo zu sehen. Lediglich zwei um Anhänger verlängerte Pkw rollen mir auf der Piste entgegen, beide mit dem wahrscheinlich ländlichsten aller Thüringischen Kennzeichen: „SOK“ (Saale-Orla-Kreis). Na ja, müssen keine Eingeborenen sein, … stammen vielleicht aus der Nähe, wollen nur irgendwo Holz einschlagen …

Die Steigung ist moderat aber lang. Für viele meiner Mitstreiter Grund genug zu gehen. Entsprechend zügig überhole ich, arbeite mich auf jetzt angenehmen Waldwegen ein paar Plätze im Klassement voran. Nicht, dass ich daran ernsthaft Interesse hätte. Ich mag nur nicht gehen. Während einer Laufveranstaltung, wie auch bei Trainingseinheiten, zu gehen empfinde ich als Schmach. Übrigens nur bei mir selbst. Bei anderen nehme ich es als völlig selbstverständlich hin - was es im Grunde wohl auch ist - und denke mir wenig dabei. Vor allem kommen mir nie abwertende Gedanken in den Sinn. Mir dämpfen Gehschritte dagegen die Stimmung. Deshalb akzeptiere ich sie nur zum Verpflegen, weil das vielfach in der Bewegung nicht möglich oder sinnvoll ist.

Immer wieder einmal - jetzt auch - brüte ich über dieser Einstellung - oder ist es nur eine Marotte? Warum messe ich dem Wunsch jeden Meter Strecke zu laufen dermaßen viel Bedeutung bei? - Ich bin Läufer, kein Geher. Ein prägnanter, passender Spruch, entsprechend oft zitierte ich ihn. Genau besehen jedoch nur das: Ein Spruch, eine Floskel, keine Erklärung. Nach der suche ich. Alles innere Erforschen schlug bislang fehl. Anfangs war mir „alles laufen“ wohl nicht mehr als sportliches Bedürfnis. Vielleicht auch eine Herausforderung männlichen Stolzes, die mein Ehrgeiz bedienen wollte. Warum gehen, wenn ich laufen kann? - Mit reichlich Ausdauer und Kraft gesegnet, bereitete es mir lange Zeit kaum Schwierigkeiten diesem Grundsatz die Treue zu halten. Im Laufe der Zeit - unmerklich - erhob eine unbekannte Instanz meiner selbst das Prinzip zum Gesetz. Doch, warum sich das auf diese Weise in mir vollzog, ist mir ein Rätsel.

Zenit erreicht, der von Wald bedeckte Höhenrücken fällt wieder ab. Einige der jüngst überholten Marschierer stürmen ausgeruht an mir vorbei. Unter ihnen auch ein über und über tätowiertes, weißgrau-zottelbärtiges Unikum in pinkfarbenen Shorts. Infolge üppiger Gesichtsbehaarung bleiben Zweifel, aber … doch, ja, er widmet mir ein Lächeln … Auch wenn ich keine konkrete Erinnerung vorweisen kann: Wahrscheinlich nicht die erste Sichtung eines Mitläufers mit Nasenring. Unter Garantie aber das ergrauteste Exemplar dieser seltenen Spezies, das mir je über den Weg lief.

Die Piste windet sich in großzügigen Kurven talwärts. Auf gutem Geläuf komme ich zügig voran, werde nur von einer Verpflegungsstelle kurz aufgehalten. Heute gilt eine vom Üblichen abweichende Streckeneinteilung: Ich zähle die Kilometer bis ich Ines treffen werde. Ungefähr bei Kilometer 21 werde ich mir Unterstützung holen: Einen Kuss und das Lächeln meiner Frau, zwei Gels und Roxi, unsere Hündin …

Die gemütlich flotte Schussfahrt endet kurz bevor der Wirtschaftsweg auf die Saale trifft. Kilometer 19: Ein hölzerner Steg bringt mich trockenen Fußes über den zuletzt begleitenden Bach. Ab hier parallel zum Saaleufer bergauf. Einige hundert Meter weit hält die Route den Streckenneuling im Ungewissen: Bleibst du Weg oder schrumpfst du zum Pfad? - Alsbald finden die Füße nur noch mühsam ihren Weg zwischen herum liegenden Knüppeln, Steinen und sonstigen „Holprigkeiten“. Aufwärts, immer weiter aufwärts, bis lediglich noch eine Pfadspur die Richtung weist. Ab hier hat der Weg den Charakter eines anspruchsvollen, hypersteil zum Fluss hin abfallenden Trails. Seltsamerweise liebe ich diesen Abschnitt, obwohl er mir alles zugleich abfordert: Ausdauer in stetem Auf und Ab, Beinkraft, Trittsicherheit und volle Konzentration - schon der erste Fehltritt auf schmaler Standfläche könnte der letzte sein …

Trotzdem wage ich eine kleine Zirkusnummer: Selfie in der Bewegung. Zu derlei Unfug bedarf es einer gehörigen Portion Übermut, die ich nur gut gelaunt locker machen kann. Gut gelaunt? Wie das? - Okay, nicht mehr weit bis zum Treffpunkt, höchstens noch fünf Minuten. Und ja, der anfänglich - pardon - saukalte, graue Aprilmorgen zeigt inzwischen ein freundlicheres Gesicht. Bisweilen reißen die Wolken auf und die Sonne blinzelt hindurch. Zu guter Letzt kam ich bislang unerwartet flott voran. Hab’s nicht forciert, meine Beine eher gebremst. Tagesform recht brauchbar, zumindest das steht unterdessen fest. Wie ich aus der „Nummer“ rauskommen werde, ist allerdings noch unklar. Das größere Quantum an Höhenmetern und miesen Wegen steht mir noch bevor.

Eine Felsnase zwingt zu vorsichtig verhaltenem Auftreten. Ich schlüpfe drum herum, tippele ein letztes Mal bergab und schweißtreibend wieder bergauf. Schließlich mündet der nicht ungefährliche Trail in einen Waldweg. Ich fühle einen Anflug von Bedauern, dass dieser wunderschöne Abschnitt nun hinter mir liegt. Umso seltsamer, weil ich anspruchsvolle, zumal risikoreiche Trailläufe eigentlich meide wie der Teufel das Weihwasser. Weil sie mir motorisch nicht liegen. Mein Körperbau ist zu plump und schwer für koordinativ knifflige Untergründe. Zudem fordern solche Routen im Aufstieg mit zu vielen und zu langen steilen Passagen, die niemand laufend bewältigen kann. Egal wie jung und hochausdauertrainiert er auch sein mag. Irgendwie scheint mir der gerade bewältigte Trail jedoch zu liegen: Überwiegend Waldboden, nicht zu lange bergauf, insgesamt auch nicht weiter als vielleicht ein Kilometer, inmitten bezaubernder Natur …

Im Weiler Burgkhammer (dreieinhalb Häuser), in Höhe der Staumauer des gleichnamigen Wasserreservoirs, bekomme das Erhoffte: Kuss, Lächeln und Gel von Ines. Und nach kurzem Verweilen Roxi als Schrittmacherin. Mein „Lauf Roxi!“ hallt noch durchs Saaletal, da huscht Roxi bereits jenseits der Dammkrone um die Ecke. Endlich darf sie laufen!!! Für Uneingeweihte trabe ich auf den folgenden Kilometern ähnlich solo dahin, wie zuvor. Wenn ich sie nicht abrufe, eilt meine ungeduldige, schwarzfellige Begleiterin stets einen Steinwurf weit voraus. Ein Umstand übrigens, der mir keineswegs missfällt. Ganz im Gegenteil. Ihr Ungestüm dokumentiert besser als jedes andere Indiz, was die um die Schnauze graue, alte Dame läuferisch noch drauf hat - mit fast 12 Lebensjahren!

Wir folgen der Saale, meist knapp oberhalb der Uferlinie. Auch in diesem Bereich wurde der Fluss aufgestaut, wenngleich das andere Ufer kaum mehr als einen Steinwurf weit entfernt ist. Was dem Stausee an Breite fehlt, kompensiert er mutmaßlich mit Tiefe. Eine Vermutung, die von den dunklen, fast schwarzen Fluten des Gewässers genährt wird. Roxi ist hinter einer Wegbiegung verschwunden. Kein Grund zur Sorge. Wie gewohnt macht sie Sekunden später kehrt, tippelt ein paar Meter zurück, überzeugt sich, dass die lahme Ente noch hinterher watschelt.

Das Steilste vom Steilen, das der Kurs zu bieten hat, prüft meine Oberschenkel. Ein paar Buckel auf bombenfest und glatt geschottertem Radweg, danach sogar eine asphaltierte Folge von Serpentinen. Entsprechend gut vermag ich die Anstiege in einer Art „Spitzentanz“ zu bewältigen. Kein Grund zu gehen. Weil ich nicht darf, nicht will und zu meiner großen Freude auch nicht muss. ‚Und wie lange wirst du das noch können?‘ - Die Frage belästigt den Kopf, während Herz und Lunge schuften wie selten. Vermutlich stellt sie mein unbewusstes Selbst. Weil es mich vorbereiten will. Weil es schon nahen spürt, was zu denken ich nur selten bereit bin. Dass es mir in ein paar - genauer: in wenigen - Jahren nicht mehr gelingen wird alle Höhen im Laufschritt zu stürmen …

Wir schneiden eine Schleife des Flusses durch den Wald ab, verlieren auf gutem Waldweg an Höhe. Drei verhältnismäßig rasch und mühelos gewonnene Kilometer. Im Weiler Walsburg treffen wir wieder auf den Fluss, überqueren ihn auf einer Straßenbrücke. Unterhalb des von hier aus nicht sichtbaren Stauwerks wirkt die Saale wie ein schmächtiges, unbedeutendes Flüsschen. Entsprechend wasserarm und vergnüglich plätschert sie dahin. Das Dörfchen verwöhnt meine Füße mit ein paar hundert Metern Asphalt. Und am Dorfrand wartet Labsal an einer Verpflegungsstelle.

Mein Gedächtnis arbeitet unzuverlässig. In gewissem Umfang wird das jeder Mensch an sich bemerken, wenn er das Abbild von Erlebtem in seiner Erinnerung mit der Realität vergleicht. Dass ich die Distanz bekannter Abschnitte unter- oder überschätze, wenn ich eine Strecke nach längerer Zeit neuerlich unter die Füße nehme, bin ich gewohnt. Manchmal trabe ich auch verunsichert einher, weil mir eine Gegend unbekannt vorkommt, die ich definitiv bereits passierte. Eine so krasse Verfälschung der Wirklichkeit, wie in diesem Anstieg, kam mir allerdings selten unter. Viel kürzer habe ich ihn in Erinnerung und weniger anstrengend. Mehr als zwei Kilometer bergan im Wald. Nicht wirklich steil, dennoch fordernd, weil sich auf üblem Geläuf kein Laufrhythmus einstellt. Roxi tippelt stückweit voraus hinter zwei gehenden Mitläufern, die ich alsbald ein- und überhole. Hinter jeder Wegbiegung vermute ich das Ende der Steigung, um abermals überrascht deren Verlängerung vorzufinden. Endlich - endlich! - verlasse ich den Wald. Zwischen Weidezäunen kehrt der Weg in die Horizontale zurück. Zumindest an diese Stelle erinnere ich mich genau: Letztes oder vorletztes Mal weideten hier Kühe.

Keine Rindviecher heute, stattdessen riesige Pfützen, die wolkenbruchartiger Regen gestern und nächtens auf dem Feldweg hinterließ. Nicht jammern, Udo, nicht meckern! raunen die Wasserlöcher mir beim Slalom zu … bedenke wie übel dir der Regen mitgespielt hätte! Stimmt schon. Egal wie miserabel das Wetter auch sein mag, schlechter ginge allemal. Und mit zeitweise blauem Himmel, samt fünfeinhalb Sonnenstrahlen hatte ich heute ohnehin nicht gerechnet …

„Dörflas“ steht auf der Ortstafel: Siebeneinhalb bäuerliche Anwesen. Passt gut zu fünfeinhalb Sonnenstrahlen. Alles verlassen, wie ausgestorben. Im (wilden) Westen Amerikas redete man von einer Geisterstadt. Mein Gedächtnis - wie erwähnt - führt mich regelmäßig hinters Licht. Doch in Dörflas regt sich kein Zweifel: Auch 2017 und 2015 begegnete ich hier niemandem … Wir betreten Asphalt und ich hole Roxi an meine Seite. Asphalt = Autos, eine Gleichung die meist aufgeht. Einzige Unbekannte darin: Wann kommt das Vehikel? - Nicht hier, nicht heute, nicht im Weiler und nicht auf dem zum entfernten Waldrand hin ansteigenden Sträßchen. Außer joggenden Gestalten kein menschliches Leben, nicht mal motorisiertes. Ländlicher kann Land in Deutschland nicht sein.

Hinan verkürze ich die Distanz, wenn er geht. Abwärts und in flachem Terrain stellt er den alten Abstand wieder her. Ich verfolge den jungen, rot bemützten Kerl seit geraumer Zeit. Nun zerstört er unsere Ziehharmonika-Verbindung: Bleibt mehrmals stehen, richtet seine Handykamera talwärts auf das schimmernde Band der aufgestauten Saale. Stehenbleiben kann ich mir nicht leisten. Im Ziel werde ich 137 Aufnahmen „im Kasten“ haben. Opferte ich jedem Bild auch nur fünf Sekunden Stillstand, dann hätte ich für die Fotos rund 11 Minuten zusätzliche Wettkampfzeit zu entrichten. Also knipse ich meist aus der Bewegung heraus, was die Rate verwertbarer Schnappschüsse verständlicherweise reduziert. Wie dem auch sei: Schlussendlich wetze ich, fotografische Breitseiten feuernd, am Rotmützenmann vorbei. Er gibt sein Debüt auf dieser Route, wenn ich die hinter mir her schallende Begeisterung richtig deute: „Wahnsinn, was man hier für Motive findet!“

Furcht wäre übertrieben, aber Bammel hatte ich schon vor diesem Abschnitt der Strecke. Zunächst auf steilem Pfad zwischen hohen Fichten bergab, auf holprigem, „unaufgeräumtem“ Waldboden. Von benachbarten Hängen unterscheidet sich der „Weg“ eigentlich nur durch das Fehlen von Bäumen. Nirgendwo eine Pfadspur, die eine zumindest gelegentliche Nutzung durch Wanderer erkennen ließe. Ich „tanze“ über Knubbel, Löcher, Steine und herumliegende Äste bis hinunter zum Saaleufer. Dort geht der Tanz in die nächste Runde, deren unsteter Takt von dicht an dicht ausgreifenden Wurzeln bestimmt wird. Der mit Abstand übelste Trail nimmt seinen Anfang … Oft finden die Füße zwischen zwei Wurzeln nicht ausreichend Platz. Dann bleibt nur den Schritt unnatürlich zu verlängern, zu kürzen oder mit ungewissem Risiko auf eine Wurzel zu treten … ein Kilometer … dann noch einer …

Nichts an diesem Tag geht mehr in die Knochen und kostet mehr Körner, auch wenn auf diesem Wegstück so gut wie keine Höhenmeter anfallen. Ich finde keinen Rhythmus, stolpere mehr voran als zu laufen. Und doch hatte ich den Untergrund schlimmer in Erinnerung als er sich jetzt präsentiert. Wie schon erörtert: Erinnerungen trügen. Neidvoll schiele ich zu meiner hündischen Pfadfinderin hin, wie sie elegant und leichtfüßig über alle Fußfallen hinweg tippelt. Wie macht sie das? Immerhin muss ihr Hirn vier Füße koordinieren!?

Das üble Geläuf lässt den Lack abblättern, bringt die Wahrheit ans Licht: Ich bin müde. Drei Gels auf nun schon 35 Kilometern waren zu wenig, um lahme Beine zu verhindern. Noch etwa ein Kilometer einschließlich eines neuerlichen Anstieges, dann werde ich Ines treffen. Lachen, Kuss und Gel erwarten mich. Von eins und zwei darf ich unbegrenzt naschen. Gelportionen werde ich allerdings nur zwei erhalten … Die Sonne scheint und wärmt hier unten am Saaleufer. Extrem langsam „traile“ ich auf dem inzwischen klar erkennbaren Pfad voran. Erinnerungen steigen auf: So war das auch beim letzten Mal. Der Wurzelpfad brachte mich zur Strecke, danach hatte ich mich nicht mehr wirklich erholt. Steht mir heute Ähnliches bevor?

Ich kämpfe mich auf steinigem Weg bergan. Schloss Burgk ist nur noch vier, fünf Minuten entfernt. Mein suchender, lichte Baumkronen durchdringender Blick findet lediglich Himmel. Ich sollte es wissen, war schon zweimal hier: Erst hinter der Wegbiegung, weiter oben, wird das alte Schlossgemäuer zu sehen sein … Die Rampe strengt an, offenbart jedoch zugleich, dass sich meine Ermüdung noch in Grenzen hält. Ein ermutigendes Zeichen. Letzte Wegbiegung - da sitzt sie, auf einer Mauer unterhalb der Schlossfassade …

Wieder alleine unterwegs, Roxi blieb bei Ines zurück. Der Grund wird sich in einer halben Stunde als weiterer Trugschluss meiner Erinnerungen herausstellen … aber der Reihe nach. Fragt man mich nach dem spektakulärsten Abschnitt des Bleilochlaufes, dann brauche ich nicht nachzudenken. Ich habe ihn gerade jetzt unter den Füßen. Der schmale Wanderpfad verläuft im bewaldeten Hang oberhalb der Saale und offeriert ständig atemberaubende Tiefblicke. Die kann man sogar in der Bewegung genießen, weil das Geläuf kaum an Höhe gewinnt oder verliert. Wirklich absturzgefährdete Abschnitte wurden zudem mit Geländern gesichert. Und doch MUSS seinen Lauf unterbrechen, wer hier zum ersten Male vorbeikommt! Unterbrechen und die vorgeschobene Aussichtskanzel betreten, um das großartigste Panorama der ganzen Strecke auf sich wirken zu lassen.

Man kann die Aussicht nicht beschreiben, noch in Fotos naturgetreu wiedergeben. Stehen und Staunen, was Mutter Natur sich hier hat einfallen lassen. Wie sich die Saale, eine enge, von Wald gesäumte S-Kurve beschreibend, tief ins Erdreich grub. Kein Wunder, dass eines Fürsten Baumeister Hand anlegte, um dort drüben Schloss Burgk auf den Felsen zu setzen.

Steil abwärts auf schmerzenden Füßen, gottlob höchstens 70, 80 Höhenmeter. Auf ebenem, unschwierigem Uferpfad dürfen sich meine Gräten zehn Minuten erholen. Die Augen nicht. Denen wird neuerlich ein aufregender Anblick geboten. Der Pfad musste in teilweise senkrecht abfallenden Fels gehauen, gebohrt, vielleicht auch gesprengt werden. Wo nicht machbar, ermöglichen im Fels verankerte und mit Geländern gesicherte Stege das Fortkommen. Sage keiner ich könne nicht über Wasser gehen - die Erbauer dieser Anlage machen es möglich … Imposant, sensationell aber auch enttäuschend. Freilich nur für mich, der sich einmal mehr von seiner Erinnerung getäuscht sieht. Ich hätte schwören können, dass die Stege aus Metallgittern bestehen. Und die mochte ich Roxis Pfoten keinesfalls zumuten. Nur aus diesem Grund ließ ich sie bei Ines zurück. Tatsächlich liegen hier Holzbohlen …

Ein paar Meter aufwärts, dann bleibe ich mitten am Hang stehen und nestele das letzte Gel aus meiner Gesäßtasche. Das Härteste zum Schluss. Der längste und von der Höhendifferenz her forderndste Anstieg des Bleilochlaufes. Zum Glück auf unschwierigen Wegen, zudem nach und nach abflachend. 300 Meter Schinderei auf einer Pfadspur, dann ist das Schlimmste vom Schlimmen überstanden. Weitere 300 Meter ansteigender Quergang, bis der Pfad schließlich in einen gut unterhaltenen Wirtschaftsweg mündet. Man (-n) geht. Udo nicht. Der verflucht gerade mal wieder sein Gelübde - Laufen, nicht gehen! Gehen nur, wenn laufen nicht möglich ist!

Noch sieben Kilometer. Der Weg verlässt den Wald, bringt mich zwischen Wiesen voran. Wer hier erstmals entlang joggt, kann zwar den einen oder anderen Mitläufer beim Erstürmen der Kammlinie ausmachen, unterschätzt aber den Hügel. Fast anderthalb anstrengende Kilometer trennen mich von den „Winzlingen“ dort oben. Nicht mehr viele Höhenmeter, aber es sind die letzten einer wirklich auszehrenden Strecke und deshalb schlauchen sie enorm. Schritt für Schritt empor, Kraft ist noch da. Das Gelfutter vor wenigen Minuten erfüllt seinen Zweck …

Die letzte Tränke, ein letzter Becher Wasser … nein zwei, weil ich urplötzlich Durst verspüre. Die Luft hat sich erwärmt, zeitweise scheint die energiereiche Aprilsonne auf meine Haut, auch die Höhenmeter kosteten Schweiß. Das spielt nun keine Rolle mehr. Die letzten fünf Kilometer geht es stetig bergab. Und nur ein paar Minuten hinter der Verpflegungsstelle obendrein auf einem der glattesten Radwege, die je im Universum asphaltiert wurden. Was für eine Wohltat! Eine aufgelassene, zum Radweg umfunktionierte Bahntrasse bringt mich dem Ziel näher. Rascher natürlich als bisher. Stünde nicht morgen früh in Weimar neuerlich ein Marathon auf dem Programm, ich setzte auf diesem Abschnitt vermutlich alle verbliebenen Reserven frei.

Vernunft obsiegt, ich halte mich zurück. Zwei Kontrahenten, denen ich mich fast schon auf Berührweite genähert hatte, ziehen davon. Sollen sie. Hochgerechnet werde ich deutlich unter 5:30 Stunden im Ziel sein und damit meine Schätzung unterbieten. Mit 5:30 bis sechs Stunden Laufzeit hatte ich gerechnet. Noch vier, drei, zwei, schließlich der letzte Kilometer … Ich überquere einen Ausläufer des Bleilochstausees, hoch oben auf einer Brücke. Nebenan rauscht samstäglicher Ausflugsverkehr vorbei. Dann trennt sich der Radweg wieder von der Straße, neuerlich kehrt Stille ein. Stille die mir bis in Zielnähe erhalten bleibt. Dort umfängt mich zunächst Applaus verbliebener Zuschauer, dann überschreite ich die Ziellinie. Dahinter erwarten mich ein vor Freude kläffender Hund, meine glücklich lächelnde Ines und ein Kuss zur Belohnung.

Ergebnis: 5:22:50 Stunden, Platz 119 von 157 Männern, Platz 1 von 1 in M65 (an diesem Tag ältester Teilnehmer)

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe meine Erläuterungen in 2017.

 

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