Samstag, 22. April 2017

Der Ochsentour erster Teil:

Ein Dackel an der Saale   -   Bleilochlauf 2017

Man möchte den Augenblick konservieren, sich für alle Zeiten erinnern. An Menschen um einen herum, Umstände, das Erlebnis als Ganzes. Hauptgrund für Fotos, die seit Erfindung der digitalen Fotografie in inflationärem Ausmaß Speichermedien füllen. Viele „Gruppen-Selfies“ sind darunter. Verpixelte Empfindungen von Zusammengehörigkeit und Herzensverwandtschaft. In diese Schublade passt auch das Selfie von Sybille, meiner Vereinskameradin, und mir. Eins, das leider unter unschönen Randbedingungen entsteht: Wir stehen beengt unterm Vordach, weil gerade ein veritabler Schauer im Startbereich niedergeht …

Wenn ich dem noch die Info „4°C“ hinzufüge und kurz mein Bangen hinsichtlich Achillessehne und Co. belichte, dann ist eigentlich schon alles über meine Lauflust an diesem Samstagmorgen, am Ufer des Bleilochstausees, nahe der Ortschaft Saalburg-Ebersdorf, in Thüringen, gesagt. Nun gut, an mir kennt man das: Bei Sonne hui, isses regnerisch und kalt, dann pfui. Aber auch Sybille fühlt sich nicht sonderlich wohl in ihrer demnächst nassen Haut: „Was in aller Welt tue ich hier?“ - Ein in ihrer Situation doppelt verständliches Infragestellen: Montag noch in Boston bei deutlich über 20°C Marathon gelaufen, leidet sie aktuell unter ziemlichem Schlafmangel infolge verstellter innerer Uhr. Die Zeitverschiebung lässt grüßen …

8:56 Uhr, noch vier Minuten. Im Startbereich herrscht weitgehende Leere. Die meisten der ca. 170 Ultrakämpfer harren unterm Zeltdach des Veranstalters aus. Gleich uns hoffen sie aufs Versiegen der himmlischen Brause in letzter Sekunde. Die Strategie scheint von Erfolg gekrönt: Auf den letzten Drücker mischen wir uns unter die herbei strömenden Mitläufer, zugleich fällt der Regenschauer in sich zusammen. Keine Zeit mehr stehend zu frieren - Startschuss und los geht's …

Sybille misst die Runde heute zum dritten Mal ab. 2015 waren wir gemeinsam hier, also kenne auch ich Streckenverlauf und Highlights. Letztere erwarten uns reichlich, weil Natur und kreativ ordnende Menschenhand ein wunderbares Landschaftserlebnis schufen. Ein Teil des Bleilochstausees wird laufend umrundet, immer in Ufernähe, meist mit Blick zum Wasser. Dem folgt die Überwindung eines Höhenrückens und die berückend schöne Tour im Tal der Saale. Flussansichten, schluchtartige Uferverläufe, Romantik in Form eines gut erhaltenen Schlosses, landschaftliche Idylle, abenteuerliche Stege, Trails, Wälder … viel Einzigartiges, auf das man sich freuen darf - wenn man sich freuen kann …

Wie erwartet verliere ich Sybille mit dem Startschuss aus den Augen. Trotz unguter, individueller Voraussetzungen wird sie deutlich vor mir das Ziel erreichen, wenn auch nicht in Bestzeit, eingedenk unserer geplanten „Ochsentour“: Heute „Bleiloch“ morgen „Marathon in Werdau“. Was mich angeht, so erwarte ich von diesem Trainings-Double eine klare Aussage, wenn’s dumm läuft gar eine Entscheidung: Spielen Sehne und Co. mit, dann habe ich eine Chance mein geplantes Programm einschließlich Saisonhöhepunkt zu realisieren. Womit beschrieben ist, welche Art „Aussage“ ich mir erhoffe. Sollte mein orthopädisches Sorgenduo - Achillessehne und Oberschenkel hinten links - hingegen exzessiv revoltieren, dann werde ich den Abbruch meines Vorbereitungsprogramms samt Stornierung des Saisonhöhepunkts ernsthaft in Erwägung ziehen. Damit ist beschrieben, wovor ich mich fürchte …

Erste flache Meter auf asphaltiertem Radweg. Lautlos nehme ich mich in die Pflicht: ‚Lauf um Himmels Willen langsam und guck nicht auf die Uhr! Kein Funken Ehrgeiz! Extrem vorsichtig! Dein Ziel lautet „laufend ankommen“! Und das ohne orthopädische Katastrophe!’ - Entsprechend lahmarschig trotte ich hinterm Hauptfeld her, entsprechend ängstlich horche ich in Richtung „links unten“. Bergab im Ort Saalburg. Ziel ist die Brücke über eine Engstelle des Bleilochstausees, die ich als instabil schwingendes Bauwerk im Gedächtnis habe. Minimal unter den Tritten wippend, wie man das von manchen Fußgängerbrücken kennt. Anscheinend war die Brücke tatsächlich instabil, weil dem Abriss aktuell der Neubau folgt. Autofahrer müssen weite Umfahrungen in Kauf nehmen. Per Pedes nutzen wir einen provisorisch errichteten, hölzernen Steg, um auf die Westseite des Stausees zu wechseln. Dort und für die nächsten gut zehn Kilometer besichtigen wir das Seeufer. Nicht pausenlos mit Blick zum Wasser, weil die in viele Seitentäler „ausfransende“ Gestalt der aufgestauten Saale einen durchgehenden Uferweg verhindert. Die entstandene Wasserfläche vermittelt in der Draufsicht ein wenig das Bild einer Krake mit gierigen ausgestreckten Fangarmen.

Bisweilen rauf und gleich wieder hinab. Schmale Uferpfade - mit Geländern gesichert, wo der Absturz am Steilufer droht - wechseln sich mit Waldwegen ab. Noch mault meine Sehne nicht, aber was heißt das schon, nach erst fünf Kilometern? Vom See, vom Blütenfrühling an seinen Ufern und der übrigen Landschaft bekomme ich indes wenig mit. Schuld ist das Geläuf: Bisweilen rutschig, manchmal matschig, immer wieder gilt es Pfützen auszuweichen, will ich meine Füße nicht frühzeitig einweichen. Schon deshalb haftet der Blick meist am Boden. Zudem versuche ich eine spezielle „Ideallinie“ zu finden. Die Superlative „kürzester“ Weg oder „geringster“ Kraftaufwand spielen dabei keine Rolle. Ich suche eine Route „minimaler Unebenheiten“: So wenig wie möglich auf Steine, Wurzeln oder anderweitige „Knubbel“ treten. Will meiner Sehne die übelsten Quer- und Drehbewegungen ersparen. Allerdings: Wer je am Ufer des Bleilochsees wanderte, kann ermessen, dass auch eine „knubbel-minimierte“ Ideallinie genügend „Reize“ bereithält, um Frau Sehne zu necken …

Nach nicht mal einer Dreiviertelstunde bewege ich mich bereits in relativer Einsamkeit. Hin und wieder nur Blickkontakt zu einem bunten Punkt vor mir, ab und zu von hinten nahende Trittgeräusche, wenn wieder einer zum Überholen ansetzt. Einer, der seine Kräfte über- und die Schwierigkeiten auf der zweiten Hälfte des Weges unterschätzt. Mir kann das nicht passieren, weil das dauernde Gefühl auf einem orthopädischen Pulverfass mit glimmender Lunte zu laufen jedwede Tempokapriole im Keim erstickt.

Mein „Outfit“ hält mich im Großen und Ganzen warm. Drei Schichten: Unterhemd kurz, Hemd lang, über allem das Singlet mit den Vereinsfarben. Dazu Handschuhe, Halstuch und die weiße Kappe mit weit vorspringender Krempe - letztere bei Regenwetter unabdingbar für einen laufenden Brillenträger. Ein Muss also, auch wenn ich dieses Kleidungsstück mit Inbrunst hasse. Darin komme ich mir vor wie ein moppeliger Dackel. Fehlen nur noch wackelnde Segelohren, um Hundefängern gierige Blicke zu entlocken … Untenrum präsentiere ich mich bedeutend luftiger: Kurztight und Kompressionsstulpen geben Knie und eine Handbreit Haut darüber frei. „Untenrum“ friere ich nie. „Untenrum“ arbeiten die Muskeln und halten mit der Wärme verbrannter Kalorien die Kälte in Schach.

Leichte Windböen verursachen mir dennoch ein Frösteln. Und die Aussicht über den See, zum Gegenufer und den Hügeln dahinter, setzt mental noch eins drauf. Trist grauer Himmel, trist graues Wasser, wenn überhaupt, dann stumpfe Farben. Weiß blühende Büsche entschuldigen sich mit hängenden Zweigen. Geben sich zerknirscht angesichts mangelnder Leuchtkraft und ihrer gegenwärtigen Unfähigkeit wie gewohnt Frühlingsblütenduft zu verströmen: „Bitte sei uns nicht böse, aber bei Regen und ohne Sonne …“

Ein fester, breiter Fahrweg, unmittelbar am Ufer, löst Pfade und rutschige Waldwege ab. Weniger Achtgebenmüssen bedeutet das nicht. Kantige Steine, Rillen, Absätze, zahllose, mit Regenwasser angefüllte Schlaglöcher - unmöglich die Füße bei jedem Schritt auf planen Untergrund zu setzen. Und das ist mir heute wichtiger als alles andere. Die Sehne gibt sich kooperativ und das soll so bleiben. - Aber halt, ehe ich es vergesse: Meinem Körper fällt immer wieder Neues ein, um mich ein wenig zu triezen. Heute drückt von Beginn an der Schuhrand unterm Sprunggelenk links außen. Bei jedem vom Untergrund erzwungenen Einknicken schmerzt die Stelle. Zum Verrücktwerden. Was ist das jetzt wieder? Die Schuhe sind zwar relativ neu, aber auch schon in langen Läufen und auf Ultrastrecken erprobt. Heute zu fest geschnürt? Ich bin kein Freund bequem geschnürter Schuhe. So lange sie bombenfest saßen, blieben Blasen und blaue Zehennägel aus. Folglich widerstrebt es mir vorschnell, zumal auf anspruchsvollem Kurs die Schnürung zu lockern …

Der Regen macht eine Pause, befeuert die Hoffnung Rolands Vorhersage könnte sich erfüllen. Laut seiner „Äpp“ soll’s zur Tagesmitte hin aufklaren. Roland, der Deutschland-Lauf- und Spartathlon-Kandidat. In diesem Jahr auf fast jeder mindestens marathon-langen Veranstaltung im süddeutschen Raum anzutreffen. Vorm Start kurz gesprochen, beim Start auf und davon. So gut wie er drauf ist, wird er das Ziel sehr lange vor mir erreichen …

Einstweilen verabschiede ich mich vom Wasser, trabe in Höhe der Streckenteilung (48/24 km) bergwärts durch Wald. 14,5 km meldet mein GPS zu diesem Zeitpunkt. Vorsichtig, wie auf rohen Eiern wandelnd, reihe ich Schritt an Schritt. Aufwärts ist die Spannung in der Sehne am größten … Ein paar Minuten, nicht allzu steil, noch fühlt sich alles „normal“ an. Eine Lichtung, darauf ein hübsches Fachwerkhaus, dran vorbei und wieder flach dahin im Wald. Straße überqueren, guter Waldweg, zuletzt in einem hübschen Seitental der Saale abwärts. Kurve um Kurve sanft hinab. Kurzer Halt an einem Verpflegungspunkt …

… ich trinke einen Becher Wasser und stopfe mir ein Stückchen Banane in den Mund. Warum eigentlich? In Bauchgürtel und Gesäßtasche trage ich sechs Portionen Gel (jeweils etwa 100 kcal) spazieren. Wozu dann Banane? - Auf den ersten Kilometern reifte der Entschluss heute mit möglichst wenig Gel auszukommen. Auch wenn das bedeutet morgen mit noch schlechter gefüllten Speichern den zweiten Marathon antreten zu müssen. Ich will meinen Gel-/Kalorienkonsum bei Aufbauwettkämpfen reduzieren. Training ist umso effektiver, je weniger Kalorien ich zuführe. Das Bananenstückchen schenkt mir Geschmack aber kaum Energie. Wer anderes glaubt, macht sich was vor. Eine „normal“ große Banane liefert etwa 150 kcal. Davon mampfe ich jetzt vielleicht ein Achtel …

Kurz hinter der Verpflegungsstelle rücken die bewaldeten Flanken des Tales näher heran und nur Minuten später schimmert bereits die Saale durch die immer noch weitgehend kahlen Äste des Laubwaldes. Mein Gedächtnis hatte vorm Start nicht alle Streckenabschnitte parat. Trotzdem tauchen nun nach und nach alle Ansichten vorm inneren Auge auf, bevor ich sie mit dem äußeren tatsächlich erblicke. Und dann ist es, als wäre ich erst letzte Woche hier vorbei gekommen und nicht vor zwei Jahren. Am Saaleufer entlang und alsbald moderat aufwärts. Der Weg schmiegt sich an den Hang, der zunehmend steiler zum Flusslauf hin abstürzt. Sekundenlang taste ich mich durch eine schlammig glitschige, etwas abfallende Passage - zehn Meter mit aufgestellten Nackenhaaren. Will mir gar nicht erst vorstellen, wie ich aussähe, wenn ich mich hier auf den Hosenboden setzte. Eine Minute weiter wäre Stolpern oder Ausrutschen sogar lebensgefährlich. In stetem Auf und Ab windet sich der schmale Pfad um Felsen, schickt mich an Bäumen vorbei, gibt den Blick frei, jäh hinunter zum Fluss. Der gähnende Abgrund gaukelt mehr Fallhöhe vor, als die tatsächlichen vielleicht zwanzig, dreißig Meter. Schwindelfrei sollte man auf dem Bleilochrundkurs trotzdem sein, um Angstschweiß zu vermeiden.

Wieder festen Boden unter den Füßen und 21 Kilometer liegen hinter mir. Nahe dem Weiler „Burgk“ überwinde ich die Saale auf einer Staumauer. „Burgk“ gibt auch den Namen des Schlosses wieder, das jenseits der aufgestauten Flut auf einem Höhenrücken thront. Das Schloss werde ich mir später - 15 km später, um genau zu sein - noch aus der Nähe ansehen. Einstweilen wende ich mich dem Saaleufer zu, folge dem Bogen, den der Fluss hier beschreibt. Unmöglich die vielen Haken, die der Streckenverlauf schlägt, in andere als langweilige Worte zu fassen. Also versuche ich es gar nicht erst. Beim Laufen unterhält einen der stete Wechsel von Bildern und Aussichten. Das gilt auch für die neuerliche Überquerung der Saale, diesmal auf hölzerner, überdachter Fußgängerbrücke. In deren Obhut verweilte ich gerne länger, denn längst haben sich die himmlischen Schleusen wieder ergiebig geöffnet …

Dem Saaleufer auf brauchbarem Fahrweg folgend, unschwieriges Dahintraben … Zeit für eine Zustandsbeschreibung: Das Tempo fordert mich in Maßen, wird also bis auf Weiteres zu halten sein. Lediglich in Anstiegen spüre ich mein Limit, dafür dann deutlich. Die Sehne spielt mit. Es ging ihr schon mal besser, meint sie, verzichtet aber darauf mich erwähnenswert zu nerven. Dasselbe gilt für das Ziehen im Oberschenkel hinten links. Ab und zu meldet es sich zu Wort, um ein paar Schritte später wieder zu verstummen. Was bleibt, ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es schlimmer werden wird. Mehr zu schaffen macht mir die Witterungstristesse. Bei Kälte und Nässe „funktioniere“ ich als Läufer erheblich schlechter. Bin physisch wie gelähmt und mental schlecht drauf. Ich empfinde tiefes Bedauern in einer der schönsten deutschen Landschaften unterwegs zu sein und mich nicht darüber freuen zu können. Freuen, wie vor zwei Jahren, als das Juwel Saaletal einen Sturm der Begeisterung in mir entfachte.

Brachialer Anstieg. So steil, dass der Fußweg zwei Kehren benötigt, um den Höhenrücken zu erklimmen. Außerdem hat man diesen Abschnitt asphaltiert, weil Wolkenbrüche rasch tiefe Rinnen ausspülen würden. Meine läuferischen Prinzipien mögen an diesem Tag der „orthopädischen Ideallinie“ untertan sein, jenseits der gelten sie jedoch wie eh und je. Zum Beispiel dieses: „Alles laufen, gehen nur im Notfall!“ Also tippele ich den Steilweg rauf, mache mich mal wieder in den Augen eines dabei überholten Mitläufers zum Affen. Alle gehen hier, zumindest im letzten Drittel des Feldes, dem auch ich angehöre. Rasch arbeitet meine Lunge auf Hochtouren. Hart, sehr hart, aber auszuhalten und nur darauf kommt es an. Alsbald wieder flach und abseits des Flusses durch dichten Forst.

Im Weiler Walsburg bringt mich eine Straßenbrücke ans andere Saaleufer, wo der nächste Anstieg wartet: Weder moderat, noch steil, dafür mit etwa einem Kilometer die bisher längste Rampe … Jeder Schritt empor unterstreicht die Richtigkeit meiner von Beginn an umgesetzten Taktik: Langsam und mit Vorsicht! Wäre ich auf flachen Abschnitten flotter unterwegs gewesen, fehlte mir hier, nach bald 30 Kilometern, die Kraft für Laufschritte. Aber auch die „angeschlagenen Knochen“ könnten mehr Tempo mutmaßlich nicht verkraften. Mühsam tippele ich aufwärts, doch weitgehend beschwerdefrei - immer noch!

Mit dem Wald endet auch der Anstieg. Vorläufig. Urplötzlich finde ich mich in bäuerlich geprägter Landschaft auf einem Höhenrücken wieder. Links des Weges eine Koppel mit mittelgroßen, gescheckten Pferden. Der Anblick einer Stute mit Fohlen nötigt zum kurzen Fotostopp. Weder Mutter noch Kind trauen dem merkwürdig gekleideten Zweibeiner. Beide beäugen mich argwöhnisch. - Ich passiere einen winzigen, vollkommen ausgestorben wirkenden Weiler. Drei Höfe oder so, kaum mehr als zwei Handvoll Einwohner. Was Wunder also, wenn niemand von meinem Treiben Notiz nimmt. Meine Belohnung ist Asphalt, ein schmales, fußschonendes Sträßchen, zwischen Feldern, zuletzt gegen den Waldrand ansteigend …

Keine Ahnung wo ich mich befinde. Fest steht nur, dass ich schon mal hier war. Ich erkenne die Wegführung wieder. Wahrscheinlich fließt rechts unten, wo der steil abfallende, dicht bewaldete Hang endet, die Saale. Mehrfach auf- und wieder abwärts, meist von Wald umfangen; nur einmal noch, für ein paar Minuten, zwischen Feldern, reicht der Blick weiter hinaus. Schließlich beginnt der erwartete Abstieg hinunter zum Fluss, in dichtem Nadelwald auf zuletzt geradlinigem Weg, der dennoch meine volle Aufmerksamkeit fordert. Zweifellos ein Weg, auch wenn keine Pfad- oder Fahrspuren nach unten führen. „Unaufgeräumt“ wirkt die Passage, ist übersät mit Zapfen und vom Wind gekappten Ästen. Hier kommen nur Fußgänger vorbei und die vermutlich nicht in Massen. Zuletzt, ganz unten am Saaleufer, eine Spitzkehre. Hier beginnt der übelste Abschnitt, mehr als zwei Kilometer dem Flussufer folgend …

Mein Raumgewinn strebt gegen null. Häufig bleibt zwischen zahllosen Wurzeln nicht mal eine Fußlänge Platz, um dort die Sohle aufzusetzen. Dabei will und muss jeder Schritt bedacht sein. Zumindest von mir, mit immer noch „gewaltbereiter“ Sehne: Wenn du mir weh tust, mach’ ich dich fertig! Also vollführe ich eine Art Veitstanz, einzig dem Zweck dienend meinen Füßen unnatürliche Verrenkungen zu ersparen. Auf uneingeweihte Beobachter muss das extrem lächerlich wirken. Einerlei, denn niemand sieht mich hier. Keine Mitläufer in der Nähe und neugierige Blicke vom anderen Saaleufer verwehren Wald und dichter Uferbewuchs. Minutenlanges „Eiern“ unter Fichten, kein noch so schmaler Pfad, der mir das Fortkommen erleichtern könnte. Erst nach und nach addieren sich Trittspuren zu einer Art Steig, der so etwas wie Lauftempo wieder zulässt …

Habe ich mich je über einen Anstieg so gefreut? Ich erkenne den Weg wieder, in den der Ufersteig mündet, weiß, dass er mich binnen Minuten rauf zum Schloss geleiten wird. Zum Schloss und zurück in fußschonende Gefilde. Hinter einer Wegbiegung ragt die imposante, mit ihren schroffen Mauern mehr an eine Trutzburg erinnernde Schlossanlage vor mir auf. Ein Anblick, der mich ohne Erinnerungsfoto nicht passieren lässt. Dasselbe gilt für die „Frau mit Hut“. Zum dritten oder vierten Mal taucht sie unvermittelt an der Strecke auf, lupft wortlos ihre Kopfbedeckung und verbeugt sich tief vor mir. Beim ersten Mal war ich noch geneigt ihr Verhalten als Marotte abzutun, inzwischen ist mir klar: Die meint das ernst! Später im Ziel, nach getaner Arbeit, wird sie meine Interpretation der Anekdote bestätigen: „Vor euch kann man nur den Hut ziehen!“

An der Verpflegungsstelle vorm Schloss zwinge ich mich zu einem Becher Wasser. Bloße Pflichtübung. Durst habe ich keinen, musste überdies bereits zweimal überschüssige Flüssigkeit entsorgen. Ich bedanke mich artig und mache mich wieder auf den Weg. Auf ein Wegstück, das ich mit einiger Spannung erwarte. Es hat da und dort die mit Abstand spektakulärste Aussicht der Route zu bieten: Tief unter mir windet sich die aufgestaute Saale in engem Zirkel um eine Landzunge, um einen halben Flusskilometer weiter mit ihren Wassern gegen eine Staumauer zu drängen. Jene Staumauer, über die ich vor bald zwei Stunden meine Schritte lenkte. Nur kurz verharre ich in einer Aussichtskanzel, um meine Erinnerung aufzufrischen und zwei Fotos zu schießen. In immer noch „unterkühlter“ Stimmung gelüstet es mich eigentlich nur nach einem: Baldmöglichst finishen - nur noch 12 Kilometer …

Der schmale Wanderpfad hält etwa anderthalb Kilometer weit die Höhe. Pfützen gilt es auszuweichen, Stolpern und Absturz in jähe Tiefen zu vermeiden. In Felspassagen, wo jedes Missgeschick fatale Folgen haben könnte, bieten notfalls Holzgeländer dem Strauchelnden Halt. Meine Beine lassen mich spüren, dass sie unterdessen schon 36 schwierige Kilometer meistern mussten. Daran gemessen hält sich der Protest von Sehne und Co. in überraschend engen Grenzen. Ich beginne zu hoffen, dass ich das Bleiloch-Abenteuer orthopädisch ungeschoren überstehen werde. Sogar an morgen zu denken gestatte ich mir und einige Zuversicht an den zweiten Marathon zu verschwenden …

Steil hinunter zum Saaleufer. Ich bin auf den malerischen Anblick vorbereitet und bleibe deshalb rechtzeitig stehen. Kamera einschalten, Foto schießen. Zur Sicherheit gleich noch eins. Blühende Obstbäume vor der Schlosskulisse. Wunderschön. Wieder einmal hadere ich mit dem Schicksal der miesen Witterung. Wie viel mehr an Liebreiz wohnte diesem Anblick unter blauem Himmel und strahlender Sonne inne!? - Apropos Wetter: Irgendwann hat der Himmel die Dauerberieselung eingestellt und sich aufgehellt. Wird er meine Hoffnung auf trockene Restkilometer erfüllen?

Mit einem letzten Höhepunkt will die Strecke noch punkten. Diesmal lockt keine spektakuläre Aussicht, die Wegführung an sich atmet das „Abenteuer“. Zeitweilig blanker, nahezu senkrechter Fels, gegen den die Fluten der Saale drücken - eigentlich kein Durchkommen. Diverse Stege und im Stein verankerte Galerien ersetzen den Wegebau im Fels. Die Füße tappen zwei Meter über dem Wasser, so nah war ich dem Fluss allenfalls auf der hölzernen Fußgängerbrücke. Zwei-, dreihundert gleichermaßen komfortabel laufbare, wie eindrucksvolle Meter, die in einem Seitentälchen vor einem Bachlauf enden.

Regen hat das Rinnsal zum echten Hindernis anschwellen lassen - zumindest gilt das für ermattete, fußlahme Kämpfer wie mich. Ein Mitläufer sucht bachaufwärts nach einer Furt … Offenbar trockenen Fußes überwindet er den Bach, saut sich dafür aber die Schuhe im matschigen Terrain ein. Ich vertraue einem kleinen, teils überspülten „Knüppeldamm“, setze den Fuß auf ein dünnes Birkenstämmchen und … - Patsch! - stehe bis zum Knöchel im eiskalten Wasser. Mein Ausruf der Entrüstung dürfte dem anderen nicht entgangen sein, weitere üble Verwünschungen und Flüche entladen sich lautlos. Was nun? Noch etwa acht Kilometer trennen mich vom Ziel. Erfahrungsgemäß zu wenig, um sich am quatschnassen linken Fuß Blasen zu laufen. Also bleibe ich tatenlos (Was könnte ich auch tun?) und nehme den letzten Anstieg in Angriff.

Der hat es - so meine Erinnerung - noch einmal in sich. Anfangs fordernd im schluchtartigen Einschnitt aufwärts. Trotz winziger Tippelschrittchen strebt meine Atemfrequenz rasch gen Maximum. Ein Plateau wird sichtbar und ich motiviere mich: ‚Halt durch! Bis dahin schaffst du es! Dort wird es leichter!’ - Ich musste mich nicht einmal belügen: Ab dem Plateau weniger steil hinan, noch immer einer Pfadspur folgend, die alsbald in einen breiten Waldweg mündet. Mein Atem geht nun wieder ruhiger, dafür scheint das Eigengewicht der Beine auf ein Zigfaches angewachsen. Gefühlt komme ich nur zentimeterweise voran. Endlich, zum Waldrand hin, flacht der Buckel ab …

Hinterm Waldrand regiert die Freiheit des Blicks: Felder, Wiesen und Hügel so weit das Auge reicht. Der Weg senkt sich für ein paar Minuten, alles wird leichter. Vor zwei Jahren wähnte ich mich schon dem Läuferhimmel nah: Nur noch ein paar Kilometer und das Ziel am Bleilochsee liegt um einiges tiefer. Dann die - seinerzeit - böse Überraschung vor einem Wäldchen: Weiter empor, objektiv moderat zwar nur, aber meine Beine quittieren „objektive Betrachtungen“ inzwischen mit einem gellenden Pfeifkonzert … Glitschige Fahrspuren, grasiger Mittelstreifen, ständiges Spurwechseln. Um besseren Halt zu finden, auch weil der Schuhrand wieder und wieder schmerzhaft unterm Knöchel kneift. Bin beherrscht von überwiegend üblem Körpergefühl. Einer Mischung aus fortgeschrittener Müdigkeit, schmerzenden unteren Gliedmaßen und Kälteempfinden im mittlerweile böig wehenden Wind. Übellaunig nenne ich mich trotzdem nicht. Entscheidend ist das Befinden von Sehne und Co. Die beschimpfen mich zwar auch, aber eben nicht lauter als die übrigen Teile meiner Laufwerkzeuge. Die Sehne hält still und der Oberschenkel schickt keine Notsignale! Trotz tausender Unebenheiten, die meinen Bewegungsapparat durchwalkten wie seit Monaten nicht mehr. Alles wird gut!

Na ja, alles nicht. Das Wetter ist nicht gut und wird sich dieses Prädikat heute auch nicht mehr verdienen. Aber zumindest blieb es trocken. Die Wolken zeigen sich formiert, lassen für Sekunden sogar mal die Sonne durch. Einzig störend Wind und Kälte. Aber das halte ich aus.

Die Linse eines Fotografen, wie ein Artilleriegeschütz abseits in der Wiese stehend, visiert mich ein paar Schritte weit an. Und der Mann hinter Kimme und Korn kennt die süße Wahrheit: „Super! Jetzt nur noch bergab!“ - Letzter Becher am letzten Verpflegungspunkt. „Nur noch fünf Kilometer!“ spornt mich einer der Helfer an. Ich höre die frohe Kunde, allein mir fehlt der Glaube. Mein Forerunner hat erst bis 42 gezählt, ergo fehlen eher noch sechs Kilometer.

Ob fünf oder sechs ist im Grunde gleichgültig. Bedeutsamer ist das traumhafte Geläuf des Schlussabschnitts. Bester Asphalt! Ein Radweg, der seine vormalige Rolle als Bahndamm nicht zu verleugnen vermag. Gleisbett abgetragen, Damm asphaltiert, nullkommanull Unebenheiten. Und das ist noch nicht alles. Stetes, leichtes Gefälle, treibt mich voran. Es dauert keine zwanzig Schritte, dann falle ich zum ersten Mal nach Stunden in rhythmisch flotten Trab. Ich rolle sanft hinab, wie weiland die Bahn. Und wie diese vermag mich nun nichts mehr aufzuhalten. Ich entwickele sogar Interesse für mein Tempo, versuche es abzuschätzen. Dem Gefühl von „schnell“, setze ich Erfahrung entgegen: Auf müden Beinen fühlt sich auch eine mäßige Pace nach D-Zug an. Irgendwas um die 6 min/km schätze ich und harre der Anzeige des nächsten vollen Kilometers …

Noch vier Kilometer, dann noch drei, per Brücke über einen Ausläufer des Bleilochsees. Tatsächlich halte ich nun konstant ein Tempo von knapp über 6 min/km. Schneller wäre möglich aber eher kontraproduktiv. Eine Minute früher im Ziel stärkte allenfalls mein Selbstbewusstsein, gefährdete dafür das „große Ganze“. Gefährdete die weitgehende Unversehrtheit „links unten“ (Hurra!), gefährdete den Marathonstart morgen, gefährdete das Saisonziel insgesamt. Also befriede ich final aufblitzenden Ehrgeiz mit doppeltem Konjunktiv - „Ich könnte, wenn ich wollte!“ - und trabe diszipliniert verhalten die beiden letzten Kilometer runter. Zwei? - Noch zwei meint das GPS, kaum mehr als einer widerspricht die Aussicht. Dafür bin ich dem Ziel am Campingplatz zu nah. Längst blinkt der Bleilochsee herüber und als die 47 in der Anzeige erscheint, fehlt lediglich noch eine Schleife: Vorbei am Ziel, alsbald kehrt Marsch! und nach weiteren 50 Metern über die Ziellinie.

 

Ergebnis:

Sybille: 4:50:03 h, neunte Frau gesamt, vierte in W35

Udo: 5:31:21 h, Platz 2 in M60*

*) So ungerecht ist die Läuferwelt: 2015 war ich mit 5:05:59 h nur Vierter in meiner Altersklasse, diesmal lief ich fast eine halbe Stunde später ins Ziel und errang damit Platz zwei …

 

Fazit zur Veranstaltung

Wer etwas mehr als marathonweit laufen kann, Landschaften mag und sich der Natur verbunden fühlt, sollte den Bleilochlauf unbedingt in seinem Laufbuch haben. Was die Gegend an der Saale zu bieten hat, findest du in dieser Zusammenstellung, Dichte und Abwechslung nirgendwo anders. Idyllisch, spektakulär und wunderschön. Diesen Eindruck wird auch bei schlechtem Wetter mitnehmen, wer nicht ganz so in Sonne und Wärme verliebt ist wie ich.

Aber Achtung! Der Streckenanspruch ist gewaltig. Einerseits erschöpfen dich ungefähr 800* Höhenmeter auf knapp 48 km. Darüber hinaus fordert der Kurs mit mehreren, kilometerlangen Trails. Dort lauern Steine jedweder Größe und noch mehr Wurzeln, die dich zu Fall bringen wollen! Der Kurs setzt den gut bis sehr gut ausdauertrainierten Sportler und ein gewisses Maß an Trailerfahrung voraus. Also keine Strecke für Marathoneinsteiger!

Die Organisation müht sich liebevoll um jeden Einzelnen und kommt im Start-/Zielbereich mit minimalen Wegen aus. Parkplatz, Startnummernausgabe, Start/Ziel, Toiletten, Duschen - alles im Umkreis von hundert Metern. Hervorzuheben auch die üppige Zielversorgung mit allem, was das Läuferherz begehrt.

*) Die offizielle Angabe von 1.150 Höhenmetern ist definitiv übertrieben.

 


Bildnachweis:

Foto von Sybille und Foto von Udo, ca. 5 km vorm Ziel: www.larasch.de

Alle anderen Fotos: Udo Pitsch

 

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