13. August 2017

Keine Panik auf der Titanic - Hunsrück Marathon 2017

Die Geschichte der stolzen Titanic muss man sicher niemandem nacherzählen. Deshalb nur zur Erinnerung: Kraftvoll pflügt der Luxusliner durch die eisigen Wellen des Nordatlantiks, um dortselbst sein nasses Grab zu finden. Ein Symbol für Unvollkommenheit, Anfälligkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen.

Panik nennt man einen mit oder ohne Anlass wie ein Geysir aufwallenden Angstzustand, der den davon Betroffenen lähmt und die Bewältigung der Ursachen mindestens verzögert, wenn nicht verhindert.

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Ich nehme mir nicht die Zeit dafür, bin aber sicher: So ich suchte, fände ich unter den bislang 207 meiner Marathons und Ultras nicht einen, den ich unter so miserablen Vorzeichen angetreten hätte wie diesen. „Abonnenten“ unter meinen Lesern muss es nerven, und doch komme ich nicht umhin auch diesen Bericht damit einzuleiten: Noch immer zicken meine beanspruchten Achillessehnen; beide, wobei ich der linken mit Kälte und Quark zu Leibe rücke und die verträglichere rechte auf eine spätere Behandlung vertröste. Ich erwarte, dass die gereizten Sehnen kuschen und marathonweit kooperieren. Andere Reaktionen, von nur anfänglich leisem Nörgeln bis dauerhaftem Wehklagen, sind jedoch gleich wahrscheinlich. Damit wäre die weniger bedrohliche Körperbaustelle Nummer eins beschrieben.

Was an diesem Augustsonntagmorgen einem Menetekel gleich über dem Unternehmen „Udo beim Hunsrück Marathon“ schwebt, steckt in meinem Rücken; genauer gesagt in meiner Wirbelsäule, noch genauer lokalisiert in der Lendenregion. Ich habe Rücken! Wie Millionen meiner Mitmenschen auch. Seit Jahrzehnten übrigens schon. Wenn diese Tatsache in bisherigen Laufberichten unerwähnt blieb, dann weil LWS-Attacken immer in wettkampffreie, von regenerativem Training geprägte Zeiten fielen*. Bis zum Beginn des mit Wettkämpfen gespickten Saisonaufbaus ließ sich mein „Kreuz“ jeweils wieder zum klaglosen Mitspielen überreden. In der diesjährigen „Nachsaison“ will ich meine Reichweite allerdings nicht zu sehr verkümmern lassen. Zu diesem Zweck plane ich alle paar Wochen die Teilnahme an Marathons oder „kurzen“ Ultras, heute eben hier im Hunsrück. Seit Wochen zwickte es bereits vernehmlich im Rücken und am Mittwochabend war es dann so weit: Heftige Rückenschmerzen setzten ein, in der Nacht fand ich keine erträgliche Schlafstellung, tags drauf keine beschwerdefreie Sitz-, Steh- oder Gehposition. Also fiel das Training aus. Freitagabend fünf Testkilometer, um in Bewegung zu kommen, ohne die erhoffte Schmerz befreiende Wirkung*. Gestern die Fahrt in den Hunsrück und anlässlich eines Spaziergangs noch immer keine Entwarnung.

*) Es ist kein Zufall, dass meine LWS-Probleme in regenerativen Phasen auftreten. Erholung/Entspannung verschafft Körperstrukturen physiologisch mehr Spielraum, so dass ein Nerv anlässlich „dummer Bewegungen“ gerne Mal gestresst reagieren kann, so man diesbezüglich eine Veranlagung hat. Und die habe ich zweifelsfrei. Darüber hinaus lehrte mich die Erfahrung diverser Wettkampfjahre die Wechselwirkung Körper-Psyche nicht zu unterschätzen. Sobald die Ernte eingefahren und das Saisonziel erreicht ist, lässt der Körper all jene Nickligkeiten zu, die ihm zuvor vom (Leistungs-) Willen untersagt wurden. Das war noch nach jedem meiner Saisonhöhepunkte so.

Mein LWS-Problem ist eins von der lauffreundlichen Sorte: Sobald ich mich tief genug bücken kann, um mir die Laufschuhe zuzubinden, danach die ersten qualvollen Schritte und Minuten überstehe, schwinden die Beschwerden, oft bis unter die Wahrnehmungsgrenze. Natürlich kehren sie zurück, wenn die beim Laufen angespannte, die Wirbelsäule stabilisierende Muskulatur sukzessive wieder nachgibt.

Seit Tagen also ungute Signale aus dem Maschinenraum und stetes Ächzen in den Spanten. Solcher Warnsignale zum Trotz sticht die Titanic an diesem Sonntag wieder in See - auf Anweisung eines uneinsichtigen, dummen Reeders könnte man missbilligend unterstellen. In der Tat befiele einen weniger erfahrenen Kapitän im Angesicht endloser, atlantischer Weiten panische Angst, sobald sein Schiff den schützenden Hafen verlässt und in schwere See gerät. Vielleicht schon an Land, während er sich die bevorstehende Reise ausmalt. Allerdings befehlige ich dieses Boot schon viele Jahrzehnte, durchmaß auf seinem Deck stehend die Ozeane, erlitt auch diverse Havarien. Anfangs fand ich mich eher kopflos in bedrohlicher Situation wieder, lernte jedoch auf jeder Reise dazu. Unterdessen halte ich im Sturm unverdrossen Kurs, weiß mit den Schwächen meines alten Bootes umzugehen. Deshalb auch diesmal: Keine Panik auf der Titanic! Irgendwie werde ich das Schiff unversehrt in den sicheren Zielhafen bringen …

Keine Beschwerden nach dem Aufstehen, weder auf dem Weg vom Hotel zum Bus, noch beim halbstündigen Sitzen während des Transfers vom Zielort Simmern, zum Start in Emmelshausen. Immerhin: Sitzen, Gehen und Stehen produzieren heute schon mal keinen orthopädischen Befund. Dann der Start um neun, stückweit abwärts, einer Wendeschleife folgend, auf ihr wieder zurück und einigermaßen schweißtreibend noch innerorts hinan. Auf diese Weise werden fünf (optisch eher reizlose) Streckenkilometer verbraten, auf denen sich mein „Kreuz“ nicht wirklich gut anfühlt. Ein Lamento, das ebenso wenig von Dauer sein muss, wie die launige Begleitmusik meiner Achillessehnen und der Unwille meines Energiestoffwechsels. Sch … drauf! Irgendwie werde ich schon in die Gänge kommen und bis dahin darf ich mich dann einfach mal so alt fühlen, wie ich an Lebensjahren gemessen tatsächlich bin.

In hohem Maße in mich gekehrt entgeht mir einiges vom bunten Drumherum dieser Veranstaltung. Beispielsweise empfinde ich mich als Teil einer großen Schar, tatsächlich suchen nur knapp 200 bunte Gestalten den marathonweiten Laufspaß im Hunsrück. Das zu realisieren hätte ich nur eins und eins vorm Start zusammenzählen müssen: Kaum Wartezeiten vor den Toiletten, keine Massen die in Richtung Starttor schlendern, eine recht überschaubare Anzahl abgegebener Kleiderbeutel auf der Ladefläche des bereitstehenden Lieferwagens und am Start fehlt die häufig erlebte, kompakt stehende Menschenmenge. Vielleicht lenkt mich auch Anton Lautner, der rasende Reporter von „marathon4you“, zu sehr ab. Amüsiert beobachte ich, wie Anton von einem bunten Vogel zum anderen eilt, da und dort ein Gruppenfoto arrangiert, die Besatzung des Getränkeausschanks zum Lachen bringt, nach und nach also Schnappschüsse für seinen Bildbericht einsammelt.

Emmelshausen - großes Dorf oder Kleinstadt? Die Frage stellte ich mir bei der Busankunft, vermag sie trotz eingehender Zu-Fuß-Besichtigung noch immer nicht zu beantworten. Aber Emmelshausen lebt: Vor Hauseingängen, aus Gärten und zuletzt in Ortsmitte, wo sich die zum Auftakt gelaufene Schleife schließt, applaudieren unerwartet viele „Kiebitze“. Einem Radweg entlang einer Ausfallstraße folgend bleibt der Ort rasch zurück. Schon jetzt klaffen riesige Lücken im Feld. Während sich mein ohnehin noch nicht in Normalform agierender Körper gerade von der langen Steigung erholt, kommt ein drahtig wirkender Mitläufer „längseits“. „Ganz schön heftig die Steigung!“ raunt er mir in verbliebener Atemlosigkeit zu. „Es gibt Schlimmeres!“ entgegne ich lapidar und automatisch, die vor Zwei-Wochen-Frist eroberten Höhen des Allgäu Panorama Marathons vor Augen. Noch bevor mir der Angesprochene sein launiges „Ja sicher, schlimmer geht immer!“ hinsemmelt, bedauere ich meine Reaktion. Die muss überheblich klingen. Wie soll er ahnen, was gerade in mir vorgeht, was vorm inneren Auge vorbeizieht, vor allem, dass ich eine halbe Stunde nach dem Start noch immer ziemlich neben mir stehe.

Gar nichts hat sich in dieser ersten halben Stunde zum Besseren gewendet. Rücken dumpf, Sehnen nervig, Energie gebremst. Trotzdem halte ich ein Tempo, das mich in weniger als vier Stunden ins ferne Ziel nach Simmern brächte. Nunmehr übrigens auf der stillgelegten, zum so genannten „Schinderhannes-Radweg“ umgebauten Trasse der „Hunsrückbahn“. Ganz ehrlich: Weder glanzvolle Bahnvergangenheit des Radweges, noch die mit der Namensgebung verbundene Denkmalsetzung für den dereinst schlimmsten Halunken der Gegend interessieren mich die Bohne. Die Aussicht auf 38 Kilometer glatten Asphalt und allenfalls sanfte Steigungen bewegt mein besorgtes Läuferherz umso mehr.

Ich suche einen Laufrhythmus und finde ihn nicht. Was ist das überhaupt „Laufrhythmus“? - Für mich der Zustand in dem ich Schritt an Schritt reihe, ohne mir dessen sekündlich bewusst zu sein. Ein überwiegend vom Nervensystem kontrollierter, automatischer Vorgang, der mir erlaubt meine Aufmerksamkeit großenteils meiner Umgebung zu widmen. Dem Wetter etwa, von dem ich bisher nur die unmittelbare Empfindung „ich friere nicht“ zu berichten wüsste. Weder kalt, noch warm, der Himmel weder drohend bedeckt noch strahlend heiter. Erst nach und nach wird mir die Schwüle des Morgens bewusst, vor allem angesichts der Ströme von Schweiß, die, obschon in kühler Luft gebadet, an mir herunter rinnen. Ich erinnere mich: Vorm Start sah es aus, als sollte alsbald die Sonne am Himmel die Oberhand gewinnen. Mehr als zeitweise lässt sie sich allerdings noch immer nicht blicken.

Radweg auf ehemaliger Bahntrasse. Glatter Untergrund, darauf meine Schritte. Natürlich gibt es links und rechts davon Natur zu sehen. Immerhin jogge ich durch den Hunsrück, eines der deutschen Mittelgebirge. Den mutmaßlichen Aussichten galt meine Vorfreude. Nun dringen sie nicht mit gewohnter Intensität auf mich ein. Anhaltendes Ringen um souveränes Laufen steht dem entgegen, häufig aber auch dichter Bewuchs beidseits des Weges. Aber ich will schauen, die Landschaft erfahren, mir Charakteristisches einprägen, einen weißen Fleck in meiner Deutschlandkarte damit übermalen! Eher sanfte Hügel erreicht mein Blick, ausgedehnte Wiesen und Felder, mal mehr, mal weniger von Wäldern gegliedert. Morgendlicher Dunst liegt über dem Land. Der täuscht Weite vor, wo eher Lokalität bestimmend ist. Auch vielfaches „Spähenmüssen“, durch den Blattvorhang oder zwischen Hainen, um mehr von der Umgebung zu sehen, unterstützt diesen Eindruck.

Vor jeder Kilometertafel wiederholt er die Ansage, laut, für jedermann um ihn her vernehmlich. Erst die Ist-Zeit seiner Uhr, danach die Soll-Zeit auf einem kleinen Zettel in seiner Hand. Ohne Absicht wurde ich derweil zum Kunden des Vier-Stunden-Pacemakers. Zufällige Gruppenbildung, zeitweise zu dritt, viert laufen, in welcher Konstellation auch immer, das bescherte mir schon nette Begegnungen und noch nettere Gespräche. In einem Pacemaker-Pulk klebe ich dagegen ungern fest. Zig angestrengte Gestalten, die Lemmingen gleich hinter einem beschwingt tänzelnden, dann und wann optimistische Sprüche ablassenden Athleten her hecheln. Und heute, da meinem Auftritt alles Selbstverständliche, jegliches Quantum Leichtigkeit fehlt, fühle ich mich in dieser Gesellschaft ziemlich unwohl. Heute bin ich selbst einer der Hechelnden, zumindest empfinde ich mich so.

Eine Chance der Meute zu entkommen bietet sich mir mangels „Puste“ und Entschlossenheit zunächst nicht. Um mich außer Hörweite in Front zu bringen fehlt mir der Saft und ließe ich mich zurückfallen opferte ich wertvolle Sekunden, die später mühsam wieder erkämpft werden müssen. Fraglich, ob ich dazu in der Lage wäre, denn schon auf dem ersten Viertel der Distanz steht fest: Sollte ich es heute überhaupt schaffen unter vier Stunden zu bleiben, dann wird das eine „ganz knappe Kiste“.

„Wo ist eigentlich der Martin?“ Der kraushaarige, unvermittelt an meiner Seite auftauchende Mann fügt noch Martins Nachnamen an, projiziert auf diese Weise spontan das Konterfei eines Vereinskameraden auf meiner inneren Leinwand. Dennoch irritiert mich die Fragestellung: Warum bitteschön sollte der Martin ausgerechnet hier und heute laufen? „Vielleicht zu Hause im Bett!?“ antworte ich deshalb und bin ob meiner Schlagfertigkeit selbst am meisten überrascht. „Ich weiß es nicht“ ergänze ich wahrheitsgemäß. „Gibt’s denn in Augsburg so viele Läufer?“ - Schon mein Verein zählt so viele Aktive, dass ich sie gar nicht alle kennen kann. Noch weniger weiß ich, wer, wann und wo zu welchem Wettkampf antritt oder nicht. Irgendwas in der Art antworte ich noch, dann ist Ruhe.

Aber nur bis in Höhe der nächsten Kilometertafel: Ist, Soll und weiter. Übrigens eilen „wir“ seinem Zeitplan, dessen Drehbuch ich nicht kenne, über mehrere Kilometer um ein paar Sekunden hinterher. Da ich meine Grenzen überdeutlich spüre, gelange ich mehr und mehr zur Überzeugung, den Wagon „Udo“, demnächst vom Vier-Stunden-Zug abkoppeln zu müssen. Mangels anderer Einsicht packe ich meinen Frust über die Härte des Laufgeschehens in die probate Formel „Nicht mein Tag heute!“. Besser so als sich eingestehen zu müssen, dass man trotz läuferischer Großtaten und Meriten der jüngeren Vergangenheit nicht mehr fähig ist einen Marathon unter vier Stunden zu finishen. Diverse Trainingsparameter samt der zuletzt eingefahrenen Wettkampfergebnisse suggerieren zwar anderes, schließen eine Fehlinterpretation jedoch nicht aus.

Ich hebe meinen Blick, lenke ihn seitwärts, fixiere Hügel in der Ferne, will das aufkeimende „Tunnelgefühl“ zerstreuen. Das konstant glatte, konstant breite, häufig von grünen Wänden eingefasste und nicht selten mit Blätterdach überbaute Asphaltband verführt zur Abschottung. Will ich nicht! Bin hier, um die Hunsrücklandschaft zu erleben, mich an ihr zu erfreuen. Dass sie mir nichts Spektakuläres oder Atemberaubendes offeriert, spielt keine Rolle. Bisher vermochte mich noch jede Landschaftsform zu erfreuen. Heute geschieht das nicht mit gewohnter Selbstverständlichkeit. Viel zu angestrengt und verkrampft renne ich durch die Gegend. Soll ich langsamer laufen, den Sub4Stunden-Versuch abbrechen? Mir im wahrsten Sinne des Wortes Luft zum Erleben und Freuen verschaffen?

Weshalb ich nichts ändere, vermag ich nicht zu sagen. Stur und mit Spaß auf halber Flamme halte ich mein Tempo. Abwärts flotter als der Vier-Stunden-Schwarm, in sanften Steigungen holt man mich wieder ein. Schon anfangs redete der Schwarmführer davon ein paar Sekunden Guthaben heraus zu laufen, weil bei Kilometer 25 noch ein steiler Anstieg kommen soll. In Unkenntnis der Strecke bewerte ich seine Taktik nicht, auch wenn es ab Kilometer 30 nur noch abwärts geht, wodurch eine kleine „Verspätung“ sicher kompensiert würde. Für mich spielen solche Erwägungen ohnehin keine Rolle mehr. Etwa bei Kilometer 13, in einer längeren Steigung, zieht die Gruppe davon, unaufhaltsam wie es scheint. Rasch vergrößert sich die Lücke. Im anschließenden flachen Abschnitt vermag ich sie nicht zu schließen, versuche es auch nicht ernsthaft. Weil ich es nicht ernsthaft will und wohl auch nicht kann. In diesen Minuten verwerfe ich mein Zeitziel, schalte allerdings auch keinen Gang zurück. Mich hängen zu lassen, um trödelnd mein Landschaftserlebnis zu forcieren, würde den Tag auch nicht retten …

Eine Hinweistafel markiert die Gemeindegrenze von „Pfalzfeld“. Wenig später trabe ich an halb verfallenen Eisenbahnwagons, einer Signalanlage und dem alten Bahnhof der Gemeinde vorbei. Spätestens jetzt sollte der letzte Marathoni erkennen, welcher Art Pfad er seit nunmehr einer Stunde folgt. Für mich markiert der Ort so etwas wie einen Wendepunkt, allerdings ohne das zu diesem Zeitpunkt schon zu spüren. Denn nach wie vor mangelt es meiner Laufbewegung an Selbstverständlichkeit und der Pacemaker hat mit einer Handvoll verbliebener Kunden noch immer etwa 100 Meter Vorsprung.

Rechter Hand voraus streift mein Blick sanft gewelltes, überwiegend von Landwirtschaft geprägtes Land. Ich hatte mir den Hunsrück rauer, zerklüfteter vorgestellt. Ging davon aus, dass eine Route mit ausschließlich sanften Steigungen in einem Tal verlaufen müsse. Aus einem vielleicht drei Kilometer entfernt eine Kuppe einnehmenden Waldareal recken zig Windräder ihre gewaltigen Aufbauten in den dunstig hellblauen Himmel. Fremdkörper. Man hat sich an diesen Anblick gewöhnt. Selbst als jemand, in dessen Alltagsradius solche Anlagen nicht vorkommen. Andererseits verstehe ich die Ablehnung, die viele Menschen dieser Technik allein ihrer Optik wegen entgegenbringen: Eine Landschaft ändert ihren Charakter, wenn man sie mit Windrädern bepflanzt. Und sicher nicht zum Schöneren hin.

Trinken „en passant“ am nächsten Verpflegungspunkt. Unversehens rangiert die Vier-Stunden-Meute wieder hinter mir. Beim Leeren zweier Trinkbecher verliere ich kaum Zeit, so lange meine Motorik mich nicht zwingt dafür stehenzubleiben. Und das mitgeführte Gel - eines von fünfen - vernasche ich bereits zwischen Ankündigung und Tränke selbst. Vermutlich wird mich die Meute gleich wieder hetzen und ein, zwei Kilometer weiter stellen.

Bisher verschwendete ich an das Drumherum des Hunsrück Marathons, den immensen, meist unsichtbaren Aufwand, keinen Gedanken. Aufwand, an dem sich durchaus Unterschiede zwischen diversen Marathons festmachen lassen. Zum Beispiel scheitern viele Streckenverantwortliche in der Absicht die Kilometertafeln korrekt zu platzieren. Entlang des Schinderhannes-Radwegs kommt in dieser Hinsicht nie der leiseste Zweifel auf. Und dann, exakt 97,5 Meter nach der 21 Kilometer-Tafel, sende ich per Gedankenfunk ein Dankeschön an den Streckenmarkierer: Bei großen Marathonveranstaltungen liegt dort eine Messmatte, zur Kontrolle und um die Halbmarathon-Zwischenzeit festzuhalten. Bei kleineren Läufen musst du die Marke mittels GPS meist selbst bestimmen. Der Hunsrück-Marathon erspart mir die Arbeit. Meine Uhr zeigt 2:00:06 Stunden an als ich meinen Fuß hinter die weiße, quer übers Asphaltband gezogene Linie setze.

Was macht diese Zwischenzeit mit mir? - Flugs verscheucht sie Resignation, facht Ehrgeiz und Zuversicht neu an. Es mag hart gewesen sein dieses Tempo bis zur Hälfte durchzustehen. Doch es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ich diese Leistung nicht noch einmal halbmarathon-weit erbringen kann. Zudem gebe ich einem Gedanken mehr Raum, der schon mehrfach aufblitzte: Mich derart „rangenommen“ zu fühlen liegt nicht an schlechter Tagesform. Was ich spüre ist Tempohärte, Laufen am Limit, das ich mir über so lange Zeit schon lange nicht mehr zumutete. Wann ich den letzten Marathon mit anspruchsvollem Zeitziel in Angriff nahm, habe ich schlichtweg vergessen.

Was macht die Zwischenzeit noch mit mir? - Irritiert lässt sie mich fragen, weshalb Pacemaker samt Entourage nicht außer Sichtweite vor mir laufen? Wo doch - des Schrittmachers mehrfach wiederholte Ein- und Absicht bedenkend - noch ein harter Anstieg bevorsteht, vor dem er einen Puffer herauslaufen wollte. Einstweilen trabt die Meute in Hörweite hinter mir her, erreichen mich immer wieder Sprachfetzen des gebetsmühlenhaft wiederholten Soll-Ist-Vergleiches …

Kilometer 22, 23, 24 … Das wird heut‘ nix mehr mit dem hochemotionalen Landschaftserlebnis in deutschen Gefilden! Persönliche Jahresbestleistung oder Muße zum Schauen - beides zugleich geht nicht. Jedenfalls nicht für mich und nicht heute. Die reelle Chance wenigstens einmal in diesem Jahr die Vier-Stunden-Marke zu knacken, mir zu beweisen, dass ich das trotz tausender langsamer Ultra-Kilometer noch kann, drängt anderes in den Hintergrund. Mittlerweile reduziert sich mein Zweifel am wahrscheinlichen Erfolg auf die vom Schrittmacher angedrohte steile „Wand“. Wenn ich in jenem Aufstieg nicht zu viel Zeit liegen lasse, wird es klappen …

„Hirn-immanentes“ Pro und Kontra: Hat Opa das nötig? Muss Opa sich läuferisch noch was beweisen? - „Eigentlich“ nicht. Warum tut er’s dann? - Du fragst mich nicht, darum frage ich mich selbst, lasse die innere Opposition Bedenken anmelden. Die Antwort liegt im Grundsätzlichen, wie immer. Warum läufst du Marathon? Warum Ultra? Warum so weit? Warum so oft? - Ganz einfach: Weil es mir Spaß macht und weil ich es kann und … und … und … Eine breite Palette von Gründen, von denen die entscheidenden tief in meiner Persönlichkeit wurzeln. Und mehrere davon wüsste ich jedes Mal ins Feld zu führen. Heute vor allem dies: Weil ich es (hoffentlich noch) kann!

Ich warte auf die „Wand“. Die Kilometertafel „25“ zieht vorbei und ich trabe … moderat bergab!? Kilometer 26 und 27: Noch immer im Gefälle. Schritt für Schritt wächst die Überzeugung, dass „Mr. Pacemaker“ die Strecke kaum besser zu kennen scheint als ich … Sollte er den sanften Anstieg vorhin gemeint haben?

Kilometer 28: Eine weitere Verpflegungsstelle. Ich dope mich mit dem vorletzten Gel und zwei Bechern Wasser. Inzwischen übrigens stehend, nach zweifachem Einnässen vor den letzten beiden Tränken infolge mangelnder „Handhabbarkeit der Trinkgefäße“. Mehrere Vereine scheinen sich abgesprochen und die deutsche Jahresproduktion an rosa Zahnputzbechern aus massivem Kunststoff aufgekauft zu haben. Im Herzen bin ich dafür, weil wiederverwendbare Gefäße die Umwelt entlasten. Den Wettkämpfer kostet es allerdings Zeit, weil sich nur flexible Becher zur „Schnabeltasse“ zurecht „quetschen“ und in Bewegung verlustfrei austrinken lassen.

Zurück in den Wettkampf, vorbei an zwei in ein munteres Zwiegespräch vertieften Läufern. Einer von ihnen raunt mir hinterrücks die Internetadresse unserer Laufseite zu. Das erregt dann doch meine Neugier! Einer, der meinen Namen nicht kennt, dafür aber die langatmige Internetadresse parat hat? Zudem feststellt, dass ich „in diesem Jahr eine Woche früher in der Gegend“ sei als zuletzt. Von einem Moment zum nächsten trudele ich haltlos durchs Raum-Zeit-Kontinuum des Laufjahres 2016: „Wo war ich denn letztes Jahr um diese Zeit?“ - Die Frage ist ernst gemeint, auch wenn ich sie mit scherzhaftem Unterton formuliere. Das Stichwort „SoNUT“ fängt den hilflos durchs Läufer-All taumelnden Udo wieder ein und überschüttet ihn mit einer Fülle von Erinnerungen. Richtig! Der „Soonwald Nahe Ultratrail“, keine Fahrstunde von hier entfernt. 62 grandios schöne Kilometer, gewürzt mit 2.100 Höhenmetern und teils knochenbrechenden Trails (siehe Laufbericht). Auch die tolle „Orga“ des Laufes kommt mir wieder in den Sinn und zuletzt erkenne ich in dem Mann an meiner Seite einen der Verantwortlichen des „SoNUT“.

Zwischen Kilometer 28 und 30 erwischt sie mich dann doch noch und nun hänge ich in der „Wand“. Ernsthaft Respekt wird allerdings nur entwickeln, wer diesen - objektiv bewertet: gemächlichen - Anstieg vorzeitig ermüdet in Angriff nimmt. Auf Wegen, wo ehedem Dampflokomotiven ihren Rauch in den Hunsrück pusteten, wäre das Prädikat „steil“ verfehlt. Auch mir verlangt die Rampe einiges ab, doch einzig ihrer Länge wegen. Zwei Kilometer, auf denen ich etwa eine halbe Minute gegenüber Soll-Pace liegen lasse. Damit schmilzt mein Puffer, den ich mir seit der HM-Marke erarbeitet habe, ein wenig ab.

Unentwegt Gefälle seit der Ortschaft „Bell“, das mich mit beruhigenden Zwischenzeiten, häufig unter 5:30 min/km, verwöhnt. Noch 11, dann 10, jetzt nur noch 9 Kilometer. Nun müsste schon Außergewöhnliches in die Hose gehen, um mir die „Sub4Stunden“ noch zu vermasseln. Der Körper muss nun nur noch realisieren, was der Kopf längst weiß: Ich werde unter vier Stunden finishen!

Vermisst du Bemerkungen zu quälenden Rückenschmerzen und nervigen Achillessehnen? - Mein Rücken schweigt seit Stunden, nörgelte lediglich zu Beginn und die Sehnen verstummten bereits vor der Halbzeit! Eine Entwicklung, wie ich sie mir wünschte und halbwegs erwartete. Einerseits der Tatsache geschuldet, dass ich meinen Körper infolge steter Beobachtung gut kenne. Sicher aber auch ein Ergebnis der „Gedankensteuerung“: Ich will diesen Marathon laufen und werde ihn zu einem guten Ende bringen! Langes Laufen ist Kopfsache!

Auf den „Ladezustand der Akkus“ hat der Willen allerdings keinen Einfluss. Noch 7, 6, 5 Kilometer … Inzwischen muss ich mir die Schritte mit tendenziell wachsendem Einsatz abringen. Ohne mich zu sorgen, denn ich spüre, dass ein Versagen der Kräfte weiter als 7, 6, 5 Kilometer entfernt liegt. Alles gut, weiter so. Dann und wann überhole ich gehende Läufer - Flasche leer! - oder trabe an langsameren Athleten mit einer „TM-Nummer“* auf dem Rücken vorbei. Überholt werde ich nur selten und ausschließlich von Teilnehmern anderer Bewerbe. Vom Vier-Stunden-Schwarm und der Soll-Ist-Ansage sah und hörte ich seit der „Wand“ nichts mehr. Das wird auch so bleiben, weil ich im Gefälle das Tempo unabsichtlich verschärfte. Mehrfach angestellte Hochrechnungen auf das Finish billigen mir etwa 3 Minuten unter vier Stunden zu …

*) TM = Team-Marathon, zwei Läufer teilen sich die Strecke.

Noch vier Kilometer. Gerade noch im Augenwinkel erkenne ich einen Gedenkstein, darin eingemeißelt eine „50“. Zu spät für meine Kamera. Also stoppe ich aus vollem Lauf, postiere mich hinter der quer zum Radweg gezogenen weißen Linie und warte für ein belebtes Foto auf einen Läufer. Der überschreitet den 50. Breitengrad des Planeten Erde mit einem Lächeln auf den Lippen und hilft mir meine Doku-Pflicht zu erfüllen.

Kurz nach Kilometer 41 treffe ich auf den ersten und einzigen Tunnel der ehemaligen Bahnstrecke. Hinter dem mit „Simmern“ überschriebenen Tunnelportal erwarten mich geschätzte sechzig, siebzig Meter kühles Halbdunkel. Als mich wieder heller Nachmittag umfängt ist das Ende der Radweg-Tour gekommen: Rechts ab und für eine halbe Minute steil bergauf. Alsbald wieder abschüssig und auf den Stadtkern von Simmern zu. Weit kann es nicht mehr sein, wenn mich die Tafel mit der „41“ nicht belogen hat. Ein letzter, harmloser Buckel bereits in der Stadt, dann sehe ich das Ziel vor mir, allenfalls noch 300 Meter entfernt. Rascher Blick zur Uhr: Irgendwas mit 3:56 Stunden, also Zeit im Überfluss, um mein Tagesziel nicht zu verfehlen. Dicht gedrängt stehen die Zuschauer auf den letzten hundert Metern hinter Absperrungen. Beifall begleitet meine letzten Schritte, die ich mit dem sicheren Erfolg vor Augen umso mehr genieße. Noch durchs Spalier der ehrenhalber angetretenen Cheerleader, kurz aufgehalten vom spontanen Wunsch nach einem Selfie vorm Marathontor, dann setze ich meinen Fuß über die Ziellinie.

Einer von vielen schönen Momenten, die ich mir in und mit Wettkämpfen bereitete. Kein großer, kein bedeutender, aber einer der mich zufrieden mein Zielbier schlürfen lässt. Obwohl nicht austrainiert und auf eher für Ultradistanzen konditionierten Beinen unterwegs, gelingt es mir einen Marathon unter vier Stunden zu absolvieren - quod erat demonstrandum*.

*) quod erat demonstrandum (lat.): Was zu beweisen war (wörtlich: was zu zeigen war)

 

Ergebnis: 3:58:03 h, Platz 56 von 116 Männern gesamt, Platz 4 von 10 in M60

 

Fazit zur Veranstaltung

Etwa 38 Kilometer weit nutzt die Punkt-zu-Punkt-Strecke des Hunsrück Marathons den Schinderhannes-Radweg. Dabei handelt es sich um eine ehemalige Bahnstrecke, die zum Radweg umgebaut wurde. Deshalb verteilen sich die insgesamt etwa 250 Höhenmeter aufwärts fast ausschließlich auf sehr moderate Anstiege. Dass der Zielort Simmern etwa 130 m tiefer liegt als der Start in Emmelshausen, dürfte die Zeitverluste infolge welligen Profils ungefähr ausgleichen. Auf ausschließlich gutem Asphalt des Radweges bieten sich reizvolle Blicke über die Hügellandschaft des Hunsrücks.

Der Veranstalter gibt sich jede erdenkliche Mühe, um für die Teilnehmer an Marathon, Halbmarathon, Teammarathon, Fun-Run und Schülerläufen beste Bedingungen und reibungslose Abläufe sicherzustellen. Beispiel der Fürsorge: Getränkeausschank bereits vorm Start in Emmelshausen! Nach meiner Beobachtung klappte alles reibungslos. Note eins für die Organisation ist sicher nicht zu hoch gegriffen.

Fazit: Sehr gerne wieder!

 

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