Samstag, 3. September 2016

Steinreich   -   Soonwald-Nahe-Ultratrail 2016

Bis vor kurzem hielt ich mir zu Gute die meisten deutschen Landschaften mindestens gesehen und viele davon laufend unter den Füßen gespürt zu haben. Dass es eine - wenn auch eng begrenzte - Region geben könnte, von der ich vorm Trail ebendort noch nie hörte, hätte ich brüsk von mir gewiesen. Und doch ist es so. Eifel, Hunsrück, Westerwald, Taunus - alles bekannt und nicht weit von hier entfernt. „Hier“ stehe ich in „Kirn“, einer Kleinstadt an der Nahe, und „hier“ beginnt der „Soonwaldsteig“. Womit der Geheimtipp (?) unter den deutschen Mittelgebirgslandschaften auch schon grob lokalisiert wäre: Der „Soonwald“ erstreckt sich nördlich der Weinbauregion „Nahe“ und grenzt an die südlichen Ausläufer des „Hunsrücks“. Im Osten bildet der Rhein eine natürliche Grenze, im Westen ist es nicht weit bis nach Idar-Oberstein.

Und darum geht es: „Der Soonwald-Nahe-Ultratrail“ beginnt in „Kirn an der Nahe“ und folgt auf 36 Kilometern dem gleichnamigen, exzellent beschilderten „Soonwaldsteig“. Wie die Bezeichnung vermuten lässt, handelt es sich dabei um einen reinen Wanderweg - mehr oder weniger Trailcharakter folglich für Läufer. Die restlichen von insgesamt 62 Laufkilometern verteilen sich auf andere Wanderpfade der Gegend, bis man schließlich, nach insgesamt 2.100 Höhenmetern (!), das Ziel auf dem Marktplatz in Bad Sobernheim an der Nahe erreicht.

Die „Dramaturgie“ des so vorgezeichneten Weges offenbart die Notwendigkeit eines Transfers. Wir treffen uns in einem Schulhof im Zielort „Bad Sobernheim“ zum Empfang des „Starterpäckchens“. Wenig später komme ich mir vor wie beim Schulausflug: „Der Lehrer“ vorneweg, die „Klasse“ munter scherzend hinterdrein. Kurze Wartezeit am Bahnhof, dann entert die Meute den eingefahrenen Zug, besichtigt das Nahetal für nicht einmal zehn Minuten aus der Abteilperspektive und vollendet den „Wandertag“ im Städtchen „Kirn“ per Fußmarsch vom Gleis bis zum Rathaus. Perfekt vorbereitet, perfekt umgesetzt, Ergebnis detaillierter Planungsarbeit des „Trail-Teams-Nahetal“. Gleichermaßen perfekt geht es weiter: Am/im Rathaus stehen uns zu samstäglich früher Stunde bereits alle wichtigen Türen offen: Jene zu den Toiletten und zu einem kleinen Versammlungsraum, wo Wasserflaschen und Trinkgläser, im perfekten „Richt euch!“ angetreten, auf ihren Einsatz warten. Sebastian, einer der führenden Köpfe des Trail-Teams, hält die Einweisung. Umfassend, detailliert, unmissverständlich, folglich wohl überlegt. Überdies ausgesprochen humorvoll, was man nun wahrlich nicht verlangen, selbst noch muffelig mundfaul aus der Wäsche guckend, aber zumindest genießen kann.

‚Die haben jeden Aspekt ihrer Veranstaltung vorbildlich durchdacht!’ geht es mir durch den Kopf. Frank, kongenialer Partner des einweisenden Sebastian, ergänzt wo nötig den Vortrag, kümmert sich zudem um den Rücktransport der vor einem Transporter abgelegten Bekleidungssäcke und -taschen. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, alle Rädchen greifen präzise ineinander, wie in einem Uhrwerk. Natürlich erleichtert das vergleichsweise überschaubare Teilnehmerfeld Planung und Durchführung: Auf maximal 100 Anmeldungen hat man sich im Vorfeld beschränkt, tatsächlich angereist sind etwas über 80 Läufer und Läuferinnen*. Mit dem Pfund „begrenztes Starterfeld“ wuchern aber auch viele andere Veranstalter. Und wenn du dich nur lange genug in der „Szene“ tummelst, erlebst du schon mal dein blaues Wunder an organisatorischen Ungereimtheiten.

*) Fairness im Laufsport hat viele Facetten. Ich finde es ausgesprochen unfair, einen von 100 begehrten Startplätzen zu „kaufen“ und dann am Tag X zu Hause zu bleiben. Damit nimmt man jenen die Chance zu starten, die gerne gelaufen wären, sich nur leider nicht frühzeitig genug anmelden konnten. Dem einen oder anderen Wegbleiber sei zugestanden infolge Verletzung oder anderweitig „Dramatischem“ kurzfristig verhindert gewesen zu sein. Das kann jedoch keinesfalls auf fast ein Fünftel aller angemeldeten Teilnehmer zutreffen. Jenen unfairen Daheimbleibern widme ich diese verbale Ohrfeige!

Offensichtlich „wohl behütet und umsorgt“ sehe ich einem „vorprogrammiert erfolgreichen, insofern geruhsamen“ Ultratag entgegen. Was kann unter solchen Umständen zwischen A wie Anfang und Z wie Ziel schon groß schiefgegen? Entsprechend bereitwillig lasse ich mich um 8:30 Uhr zur imaginären Startlinie führen und vom Bürgermeister des Städtchens mit „Peng!“ (woher kam der Knall eigentlich?) auf die Reise schicken. Erste träge Meter in der Fußgängerzone, dann am Stadtbach entlang auf die Höhen des Soonwalds zu … Ausgerechnet eine steile Treppe ist ausersehen meine Herzfrequenz erstmals an diesem Tag ein wenig zu kitzeln. Sanft ansteigende Straße, alsbald neuerlich Stiegen, diesmal in „vertikaler Dreierkombination“…

Und schon stecke ich wieder im üblichen Dilemma. Ich laufe, alle anderen gehen. Ich laufe, weil das meiner Einstellung zum Laufsport entspricht und weil ich mich mit Paragraph 1 meines persönlichen Laufgesetzbuches dazu verpflichte: „Jeden Schritt laufen, so lange es physisch geht und gefahrlos möglich ist!“ Die anderen gehen, weil sie mit ihrer Kraft haushalten wollen. Genau das hoffe ich nicht nötig zu haben. Was die dafür nötige Ausdauer betrifft, setze ich voraus alle 62.000 Meter laufen, traben, tippeln, steppen zu können. Welche „Unterart“ von „Laufen“ ich jeweils zum Einsatz bringe, wird von der Geländeform abhängen und natürlich vom Grad zwischenzeitlich eingetretener Ermüdung. Alles laufen wollen ist ziemlich „doof“, ich weiß. Aber so bin ich nun einmal gestrickt und Gehenmüssen hinterlässt mich unzufrieden.

Der „Soonwaldsteig“ will’s gleich zu Anfang wissen. Zwischen steil und sehr steil bewegen sich die ersten Kilometer. Zunächst rauf, alsbald aber auch wieder runter, mit gleichermaßen anspruchsvollen Gefälleprozenten. Definitiv „parabolisch“ (nein, nicht „diabolisch“!) geht’s weiter: Schoss ich gerade noch auf abschüssigem Parabelast runter, kämpfe ich mich auf ansteigendem sofort wieder rauf ... - Außenseiter sind entweder „schmerzfrei“ oder sie leiden. Für mich gilt eher Letzteres, darum versuche ich mein „Anderssein“ zu kaschieren und möglichst wenige Geher zu überholen. Mit ein bisschen „Taktik“ und häufigem Fotografieren gelingt das leidlich. Dennoch sehe ich mich durchaus durch fremde Augen: „Was ist denn das für ein Typ? Rennt unbekümmert die steilsten Stücke rauf, um anschließend den Zeitvorteil durch ständiges Fotografieren wieder zu verschenken?“

Wie meist, habe ich kaum eine Vorstellung von dem, was mich unterwegs erwartet, kenne nur die Eckdaten: 62 km, 2.100 Hm. Rasch konfrontiert mich der „Soonwaldsteig“ mit seiner wahren Natur. Er kennt nur zwei Orientierungen, rauf oder runter. Flach kommt (fast) nicht vor. Die vielen Höhenmeter wollen als unausgesetzte Aneinanderreihung kurzer und steiler Buckel erobert werden. Obwohl die heutigen Eckdaten wenig von jenen des „Karwendellaufs“ vor einer Woche abweichen - 52 km und 2.280 Hm -, ergibt sich ein vollkommen anderer „Bergcharakter“. Im „Karwendel“ verteilten sich die Höhenmeter auf drei lange Anstiege. Ich bin gespannt, welcher „Beanspruchungsrhythmus“ mir mehr zusetzen wird.

Die Erwähnung der „Bergprüfung“ im „Karwendel“ bringt mich zur (Trainings-) Vorgeschichte, die heute mein Wohl und Wehe bestimmen wird. Siebeneinhalb Stunden kämpfte ich mich vor genau einer Woche durch die alpine Landschaft. Seitdem trainierte ich täglich und sammelte knapp 140 Kilometer. Heute rechne ich mit mindestens achteinhalb Stunden Laufzeit, die sich mit einem Äquivalent von 85 Kilometern zum Wochenumfang addieren*. Mithin wird sich meine Gesamtbelastung in dieser Woche wieder auf deutlich über 200 Kilometer summieren …

*) Wer wissen möchte, wie und warum ich von 8:30 Laufstunden auf ein Äquivalent von 85 Kilometern schließe, obschon ich nur 62 km weit tatsächlich laufe, findet die Erklärung im letzten Laufbericht.

Aus sattem Grün leuchten mir vielfach gelbbraune Flecken entgegen. Es „herbstelt“ bereits im „Soonwald“, was mich überrascht. Bislang hing ich dem Glauben an, dass wir in Süddeutschland in dieser Hinsicht die Nase vorn hätten. Exakt am 1. September, zum Start des meteorologischen Herbstes und anlässlich eines Trainingslaufs, entdeckte ich daheim zwar die erste blühende Herbstzeitlose, doch jahreszeitlich verfärbtes Blattwerk sichtete ich bislang nicht. Gerade renne ich durch einen Buchenhain sachte abwärts. Schlanke, vielfach am Boden bereits verzweigende Stämmchen recken sich dem Sonnenlicht entgegen, von dem dichte Laubkronen das meiste ausfiltern. Alarmierendes Halbdunkel herrscht hier unten, also achte ich verschärft auf Stolperfallen.

Mal wieder aufwärts und an einem einsamen Gebäude vorbei. Dass es bewohnt ist, war vorher klar, immerhin lieferte die Postfrau mit dem gelben Postauto gerade Postalisches dort ab. Etwas überraschend dagegen die Auskunft einer Steintafel am Hofeingang: „Schloss Wartenstein“. Muss verarmter Landadel gewesen sein, der ein ziemlich schmuckloses und vergleichsweise mickriges Schlösschen* an diese - zugegeben mit schönem Ausblick lohnende - Stelle baute. Nicht allzu weit entfernt erkennt man den malerischen „Kallenfels“, wohl eines der Wahrzeichen der Stadt Kirn. Die steile Treppe hinter dem Schlossbuckel ist zwar läuferisch nicht der Hit, dafür bietet sie aber sicheren Halt. Neuerlich steil hinab, dann zwei Wohnstraßen passieren und - Ja! Richtig vermutet! - sofort wieder anspruchsvoll bergauf …

*) Tatsächlich bekam ich das eigentliche Schloss gar nicht zu sehen, sondern lediglich das Pförtnerhaus bzw. eine Bedienstetenwohnung (?). Schloss Wartenstein verbirgt sich uneinsehbar dahinter, wo es auf einem Felsen errichtet wurde.

Mittlerweile hat sich das Feld ein wenig entzerrt, so dass ich meinen „Alles-laufen-Spleen“ weitgehend unbehelligt ausleben kann. Für weitere „Entspannung“ sorgt die Beschilderung des „Soonwaldsteiges“. In kurzen Abständen und weithin sichtbar angebracht leiten einen die Täfelchen unmissverständlich und sicher. Auf Richtungsänderungen weisen kleine schwarze Pfeile hin. Wo sie fehlen folgt man dem Weg geradeaus. Verlaufen unmöglich, so lange man die Augen offen hält …

Es droht eine erste „Kletterpartie“: Zwei Mitläufer mühen sich stückweit voraus einen sandig steilen, mit Felsen durchsetzen Abhang hinauf. Tatsächlich schlägt mir kurze Zeit später das Herz bis zum Hals, dennoch brauche ich die Gangart nicht zu wechseln. Tippele rauf und genieße oben die Aussicht über den „Soonwald“ und den Einschnitt des „Hahnenbachtales“. Munteres Geplauder dringt hinter mir aus der Tiefe empor. Zwei, die sich die „Arbeit“ mit Stöcken erleichtern, erklimmen den Buckel. Flugs räume ich die Aussichtskanzel und finde mich nach nur fünf Minuten im eben noch aus der Höhe bewunderten „Hahnenbachtal“ wieder. Steiniger Feldweg, dann ein paar hundert Meter Straße, schließlich auf einen Wiesenweg abbiegen … Den meisten gelingt Letzteres auf Anhieb. Drei „verlorene Schäfchen“ kehren aus falscher Richtung zurück, um schlussendlich auf den korrekten Weg einzuschwenken. Ich verstehe (noch) nicht, wie man sich trotz weithin sichtbarer Wegweisung hier verlaufen kann …

Ein flaches Stück Weg! Wer hätte damit gerechnet? Zeit sich zu erholen? - Mitnichten. Die federnde Wiese weiß einem auf ihre Weise „Körner“ zu stehlen. Back into the woods: Wieder unstet auf und ab, schließlich über mit Rundhölzern eingefasste Erdstufen endgültig zur Talsohle. Dort bringt uns eine asphaltierte Fahrbahn direkt zum ersten Verpflegungspunkt. Bisher brauchte ich nicht nachzutanken. Der Himmel verspricht einen schönen, warmen Tag (Mein Wetter!!!), hielt die Sonne jedoch einstweilen hinter Wolkenschleiern in Schach. Gel, Wasser, Iso und sogar ein Stück Kuchen gönne ich mir jetzt. Allerdings schlucke ich nur so viel Flüssigkeit, wie mit aller Gewalt reinpasst … Scherz beiseite: Es erwarten mich insgesamt nur vier Tränken und es wird warm werden. Meine beiden Flaschen sind zwar gefüllt, was erfahrungsgemäß aber gerade so eben reicht, sollte die Sonne wirklich den erwarteten (und erhofften) „Strahlemann“ geben. Also baue ich schon mal vor und trinke, trinke, trinke …

Jenseits der Straße empor. Eine Tortur mit prall gefülltem Wasserbauch, zumal der Trail sich auf der bisher längsten Rampe gen Himmel wendet. Gar so schwer hätte ich mir die Aufgabe dann doch nicht gestalten müssen. Hätte ich die vollmundig hinaus posaunte Devise „Augen auf!“ selbst befolgt, joggte nicht blind zwei bunten Rückenansichten hinterher, ein paar Höhenmeter Verlaufen wären mir erspart geblieben. Vom Ausbleiben der Markierungen alarmiert kehren wir um, joggen eine Minute suchend zurück und finden mühelos den übersehenen Abzweig. Jetzt weiß ich wieder, warum man zuweilen, trotz weithin sichtbarer Markierungen, Irrwege einschlägt …

Abwärts im Buchenwald, der noch immer den Eindruck erweckt in einem „Hain“ zu laufen, obwohl die oft im Bündel unmittelbar aus dem Wurzelstock aufschießenden Stämme dicker und damit älter sind. In kurzer Folge drei Überraschungen für Udo: Eine wehmütige, eine kuriose und eine schlimme. An einem Buchenstamm blinken mir untereinander zwei Markierungen entgegen. Die erwartete des „Soonwaldsteiges“ und eine nur allzu bekannte andere, jene des „Saar-Hunsrück-Steiges“. Von ihr ließ ich mich letztes Jahr auf den zwei Tagesetappen des „Saar-Hunsrück-Supertrails“ leiten. Nicht auf diesem Wegabschnitt natürlich, weiter westlich, nahe „Idar Oberstein“. Die schöne Erinnerung schlägt ein paar Schritte weiter in Wehmut um. Damals begleitete mich unsere Hündin Roxi (auf die mich später sogar eine Läuferin ansprechen wird). Roxi leistet heute Ines Gesellschaft, die mich später an der Strecke treffen will. Roxi ist nun über 9 Jahre alt und immer noch „fit wie ein Turnschuh“. Die vielen heimischen Trainingskilometer bereiten ihr nach wie vor keine Schwierigkeiten. Zu ihrer Sicherheit haben wir uns dennoch entschlossen, ihr keine Strecken deutlich länger als Marathon mehr zuzumuten. Hunde sind „binäre“ Wesen. Sie laufen ausdauernd und treu an deiner Seite, bis sie nicht mehr können. Diesen Moment, vor allem die dann drohenden Konsequenzen, möchte ich nicht erleben …

Keine Minute später gilt es sich zu bücken. Der Pfad setzt sich durch zwei unmittelbar hintereinander gereihte Felsentunnel fort. Erster Gedanke: Bilder mit Läufern sammeln! Als mir das gelungen und das Hindernis überwunden ist, frage ich mich: Wer schlug hier Tunnel in den Fels und warum? Solch unsägliche Mühen vollbringt niemand, nur um einen Wanderpfad anzulegen!?

Abwärts wetzen, dabei eine Kurve beschreiben und über Natursteintritte wieder aufwär … Oh Gott! Den hat es übel erwischt!! Auf einem Stein sitzt einer der Mitläufer, blutet aus einer Platzwunde am Knie und bekommt gerade die gleichfalls blutige Hand verbunden. Offensichtlich ist er in der Aufwärtsbewegung über eine der Steinkanten gestolpert und unglücklich hingeschlagen. Drei andere sind um ihn rum. Ich frage, ob ich mit Verbandsmaterial aushelfen oder auf andere Weise nützlich sein kann. Der Materialteil meiner Frage ist eigentlich überflüssig, weil laut Reglement* jeder Teilnehmer ein Erste-Hilfe-Set dabei haben muss. Und sonstiger Nutzen entfällt ebenfalls, weil bereits jemand vorauseilte, um im engen Tal eine Stelle mit Netzempfang für sein Handy zu finden …

*) Das Reglement schreibt bestimmte Ausrüstungsgegenstände als Pflichtausrüstung vor. Unter anderem ein Erste-Hilfe-Set und eine Rettungsdecke. Das Erlebte unterstreicht die Sinnhaftigkeit dieser Vorschrift.

Ich fühle mich überflüssig und nehme ein bisschen geschockt und überaus nachdenklich den Wettkampf wieder auf. Der arme Kerl machte einen ziemlich mitgenommenen Eindruck … wie er so da saß, auf seinem Stein. Nur einmal nicht aufgepasst! Oder einfach nur ungeschickt den Fuß nicht ausreichend hoch gehoben. Wie gut ich das kenne!! - auch wenn es noch nie nötig war mich nach einem Sturz zu verbinden*. Das Bild des blutenden Häufchens Elend, wird mich heute nicht mehr loslassen und meine Aufmerksamkeit immer wieder aufs Neue anfachen … - Ein paar Kehren weiter treffe ich auf den telefonierenden Mitläufer und versichere mich nochmals der Tatsache, dass mein Verweilen/Unterstützen niemandem nützt, bevor ich weiterlaufe …

*) Später erfahre ich, dass sich der Verunfallte einen offenen Bruch an einem Finger der Hand zuzog, jedoch rasch vom Veranstalter ins nächste Krankenhaus gebracht wurde. Glücklicherweise erwies sich der Vorfall als halb so schlimm …

Nach mühsamem Erklimmen einer Felsformation bietet sich mir eine fantastische Aussicht auf die Ruine der einst wohl imposant das Tal dominierenden „Schmidtburg“. Zeit zum Verweilen gönne ich mir nicht, werde im weiteren Verlauf des Steiges jedoch immer wieder von Sehenswertem am Weiterlaufen gehindert. Zunächst steht das Thema „Bergbau“ auf dem Programm. Erst in Form einer Statue der Schutzpatronin aller Bergleute. Effektvoll hat man die Heilige Barbara in einer natürlichen Felsnische platziert. Zweites Indiz: Eine alte Lore am Rand eines Parkplatzes, die ehedem wohl dem Transport von Grubenholz zum Abstützen der Gänge diente. Zuletzt passiere ich den Eingang eines Schaubergwerks. Dass mir keine Zeit bleibt diese Eindrücke zu verarbeiten, liegt weniger an dem heftig in die Beine fahrenden Kurzanstieg, als an zwei übermannshohen, schwarzen Holzplastiken. Mit grimmigem Gesichtsausdruck flankieren die „Wächter“ beidseits den Fahrweg. Infotafeln, die ich lediglich fotografiere, um sie daheim zu lesen, säumen den Weg. Als ich vom Wald auf ein etwa 100 x 100 Meter großes Plateau entlassen werde, ist mir zumindest klar, worüber die Tafeln informieren. Hinter einem Viereck aus Palisaden verbirgt sich der (teilweise) Nachbau, einer keltischen Wehrsiedlung, die „Altburg“, aus der Mitte des 4. vorchristlichen Jahrhunderts.

In rascher Schussfahrt erreiche ich den Talgrund und das Ufer des Hahnenbachs. Eine - ich muss es loswerden - einigermaßen hässliche Stahlkonstruktion hilft mir auf die gegenüberliegende Bachseite. Dort betrete ich die gleichermaßen reizvolle wie informative Fortsetzung des Steiges. In diesem Abschnitt fungiert er zugleich als „Wassererlebnispfad“, der Fragen stellt und nach einigen Schritten zum Nachdenken auch die zugehörigen Antworten liefert. Ich kann es mir nicht verkneifen, die jeweils unter Klappen verborgenen Texte zu lesen. Das ist einerseits meiner Neugier geschuldet, hat aber auch mit Selbstwahrnehmung zu tun: Heute ist definitiv nicht mein Tag! Bereits jetzt spüre ich eine gewisse Ermattung und pfeife vorsorglich auf Laufzeit und Platzierung …

Moderat aufwärts - wie schön, dass der Trail das auch mal drauf hat -, vorbei an einer mit Herbstzeitlosen übersäten Wiese, alsbald hinaus auf eine nur wenig geneigte Hochfläche. Zum ersten Mal längere Zeit „im Freien“, umfing mich doch bisher meistens Wald. Der Rundblick über Felder, Wiesen und die dunkelgrünen Flecken des „Soonwaldes“ gaukelt Uneingeweihten eine sanft gewellte Landschaft vor. Er unterschlägt alle vertikalen Kapriolen des bisher durchaus fordernden Steiges. Auch dieser sanft ansteigende Zickzack-Kilometer zwischen Feldern ist nicht ohne. Schuld daran ist dämpfendes Gras unter meinen Füßen …

Keine hundert Meter trennen mich mehr von Ines und Roxi, die am Rande einer zu überquerenden Straße warten. Und erst zu diesem späten Zeitpunkt entdecke ich die beiden. Hab sie so früh (Kilometer 21) auch nicht erwartet. Kuss für Ines, Streicheleinheiten für die wild tobende Roxi. Ich nutze die Gelegenheit und leere eine meiner Flaschen, erzähle vom bisher Erlebten, lasse mich von Ines bauchpinseln und für den noch langen Weg seelisch aufbauen. Abschied und weiter, über die Straße, sanft hügelwärts, zurück in den Forst und anderthalb Kilometer später zur zweiten Tränke …

Mit prall gefülltem Bauch erobere ich eine waldfreie Kuppe mit Aussichtsturm. Auch ohne den zu besteigen genießt man von hier oben ein tolles Panorama. Weiter hinan auf schmalem Pfad, der mir nun zunehmend mit Steinen den Weg verlegt. Was dann folgt, etliche Kilometer weit, mehrfach unterbrochen, doch nach Atempause sich mit scheinbar stetig steigerndem Schwierigkeitsgrad wiederholend, ist eine Serie von „Steinwüsten“. Sind ausgedehnte Schutthaufen aus blanken, bemoosten, kantigen, kleinen und großen Steinen. Die Ausschreibung des Laufes versteckt diese gemeine Fußfolter - der Ausdruck ist wörtlich zu verstehen, nicht als „schriftstellerische“ Überhöhung - in der vergleichsweise harmlosen Wendung: „ … sehr abwechslungsreicher Mittelgebirgskurs, mit … schroffen Quarzitkämmen und wilden Wäldern.“

Ich kann nicht „nachfühlbar“ in Worte fassen, wie dieser Weg mir zusetzt, was er mit mir macht, wie er mich auslaugt, wie weh er mir tut. Über Steinhalden mit lückenlos „hingekippten“ Steinen in Tennis-, Fußball- bis Medizinballgröße zu laufen führt zwangsläufig zu Fehltritten. Da ich - das Bild des blutenden Mitläufers vor Augen - extremst (!) vorsichtig Schritt an Schritt reihe, kann ich alle Stolperer und den häufigen Verlust des Gleichgewichts abfangen. Schmerzhaft ist das Fortkommen trotzdem. Vordergründig, weil Kanten und Spitzen der Steine in die Sohle kerben und die Füße zuweilen zwischen Brocken gequetscht oder eingeklemmt werden. Mit der Zeit setzen überdies Rücken- und Hüftschmerzen ein, da der „Eiertanz“ natürlich auch den übrigen Bewegungsapparat ungewohnt stresst.

Mein „Lauf-“tempo strebt auf diesen Passagen gegen null. Und zwischendrin, gleich ob im Auf oder Ab, seltener auch mal beim „Kaum-geneigt“ bis „Flach“, gilt es sich von der kurz zuvor erlittenen Tortur zu erholen. In diesem Fall mag Statistik der Vorstellung ein wenig auf die Sprünge helfen: Für die ca. 17 km zwischen den Tränken zwei und drei benötige ich sage und schreibe 2:44 Stunden. Das ergibt eine „Pace“ von 9:39 (!!) Minuten für jeden der steinreichen Kilometer. Und ich schwöre, bei allem, was mir läuferisch und auch sonst heilig ist, jeden verdammten Meter dieser verdammten 17 Kilometer in einer Form von Laufen absolviert zu haben. Stellenweise gebe ich dabei eine recht alberne, einem Epileptiker im Anfall nicht unähnliche Figur ab. Natürlich verliere ich auch Zeit durch die vielen Fotos*. Dennoch: Ich gebe unumwunden zu, dass der „Soonwaldsteig“ in diesem Abschnitt zum technisch Anspruchsvollsten gehört, über das meine Laufschuhe je zu laufen versuchten.

*) Insgesamt sammle ich über 400 (!) Fotos. Ein neuer Rekord. Kurze Rechnung: Angenommen, jedes Bild kostete mich 2 Sekunden (= realistisch). Dann büßte ich auf diese Weise ca. 13 min Laufzeit ein. Bei 3 Sekunden (= auch nicht unrealistisch) wären es bereits 20 Minuten. Doch wie schon dargestellt: Es war ohnehin nicht mein Tag, da spielt die Foto-Verzögerung auch keine Rolle mehr.

Kannst du dir vorstellen, dass einem ein Wettkampf unter solchen Umständen noch Freude bereitet? Nein? - Schade, denn genau diese Freude empfinde ich nach wie vor! Ich freue mich schon mal im Grundsatz darüber, dass es mir trotz Höchstschwierigkeiten gelingt alles irgendwie tippelnd zu bewältigen. Und dann natürlich über die Landschaft. Im Kleinen, repräsentiert durch bemooste oder hellgrau blanke Steinformationen; im Großen, wenn sich zu diesem Schuttensemble auffällige Felsen und der immer wieder zauberhafte Wald gesellen. Ich habe Spaß an Steinmännchen, die auf einer Lichtung wie eine Kompanie angetretener Soldaten meinen Weg flankieren. Auch stellenweise Ausblicke über das Umland wissen mir zu gefallen. Alles einsam und wie von uralten Geheimnissen umwittert. Ich will mir gar nicht erst vorstellen, wie gespenstisch man diese Gegend bei Nieselregen und hinter wehenden Nebelschwaden empfinden würde … Wunder-, wunderschön das alles und wahrhaft unbeschreiblich!

Müßig zu erwähnen, dass auch auf diesem Abschnitt ein Verlaufen infolge vorbildlicher Markierung des Steigs ausgeschlossen ist. Verwirrung vermag der zwischen grobem Schutt in dauernd wechselnder vertikaler Orientierung mäandernde Steig allerdings durchaus zu erzeugen. Zumindest bei einer Mitläuferin, der ich eine ganze Weile über die wie von versteinerten Warzen übersäten Buckel folge. Einmal kommt sie mir sogar entgegen. Nicht, weil sie die Tafeln übersehen hätte kehrte sie um, sondern weil sie unsicher wurde, ob der Pfad sie narrte und in die falsche Richtung schickte.

Was entdecke ich noch auf diesen so heftigen 17 Kilometern? - Geheimnisvolle Felsformationen zum Beispiel. Unwillkürlich ist man geneigt ihnen zuzurufen: „Schaut euch nur um! In ein paar tausend Jahren werdet ihr genauso zerschmettert in der Gegend rumliegen wie eure kleinen Verwandten!“ - Da gibt es auch die Ruine der Burg „Koppenstein“, der ein Vater mit Sohnemann an der Hand gerade zur Turmbesteigung zu Leibe rückt. Am liebsten würde ich mich ihnen anschließen, unterdrücke den Impuls jedoch angesichts inzwischen deutlich spürbarer Schwäche. - Einen wunderschönen Bachlauf überquere ich auf ansehnlicher Holzbrücke. Drüben sind mir dann noch ein paar Minuten kühles und wunderschönes Bachufer vergönnt. Der Bach plätschert glasklar über Steine, ungestört von jedem Bewuchs. Ursache: Unter dichtem Blätterdach gibt es nicht genügend Licht für andere Pflanzen.

Apropos Licht: Die Sonne müht sich seit Stunden kräftig mir den Weg auszuleuchten. Meistenteils halte ich mich vor ihr im Wald verborgen. Nach und nach entwickelt sich trotzdem ein starkes Durstgefühl, dem ich dann und wann mit dem Inhalt meiner Flaschen abzuhelfen versuche. Ist es warm? Ist es heiß? Vielleicht ein bisschen schwül? Ich vermag es nicht einzuschätzen. Für mich dürfte es jedenfalls kein Grad kälter sein, für mich ist dieses herrrliche Spätsommerwetter das Tüpfelchen auf dem „i“.

Die Knochenbrecherpfade scheinen Geschichte zu sein, am nächsten Verpflegungspunkt bin ich allerdings noch nicht angekommen. Bis dahin fehlen ein paar Kilometer: Solche, die mich über offenes Gelände führen, meist über Wiesen, stückweit auch den Asphalt von Straßen nutzen. Auch ein paar Hektar Nadelwald darf ich zur Abwechslung erforschen. Ah, verstehe! Jetzt scheint eine höhere, mysteriöse Laufsport-Instanz herausfinden zu wollen, wie Udo mit Wurzeln zurechtkommt, nachdem ihn die Schutthaufen nicht zu Fall brachten …

Soldaten im und am Wald, hie und da in kleinen Gruppen. Ich erkenne die mir bestens vertrauten Flecktarn-Uniformen, lese - alten, eingebrannten Gewohnheiten gehorchend - Rangabzeichen. So weit alles klar. Aber was tun die Kameraden hier? Und das an einem Samstag? Als ich dann auch noch eine mutmaßlich französische Uniform ausmache, höre ich vorsichtshalber auf mir weitere Fragen in dieser Sache zu stellen. Was nützen Fragen, wenn Antworten ausbleiben?

Kurz vor dem dritten Verpflegungspunkt, in Höhe des „Alteburgturmes“, sage ich dem „Soonwaldsteig“ Lebewohl. Der strebt weiter gen Osten dem Rhein entgegen, ich muss mich jedoch in südlicher Richtung orientieren, um letztlich Bad Sobernheim im Nahetal zu erreichen. Wie bei der Einweisung versprochen, ist der Wegwechsel glasklar und unübersehbar mit einem Schild „Ab hier“ samt Flatterband gekennzeichnet. Weitere Bänder geleiten mich nach ein paar Minuten in schweißnassen Klamotten vor die mit staubtrockenem Mund ersehnte dritte Tränke und in Ines’ Arme - letzteres aus hygienischen Gründen bitte sprichwörtlich verstehen. Seit über einer Stunde steht sich die Arme hier die Beine in den Bauch, weil sie mich selbstredend früher erwartete. Von meinen Veitstänzen über Soonwälder-Schuttwüsten, die ich ihr nun brühwarm mit drastischen Worten darreiche, konnte sie natürlich nichts ahnen. Genug schwadroniert, jetzt:

Knapp zehn Minuten kostet mich der Boxenstopp, bis ich mich von Ines und dem Dolcefarniente am VP wieder losreiße. Mit der angenehmen Aussicht im Gepäck, erst einmal fünf Kilometer am Stück bergab tippeln zu dürfen, fällt mir das Wiederanlaufen leichter (Ines hatte die frohe Kunde zuvor am VP aufgeschnappt). Und tatsächlich: Gefühlt endlos lange bergab, vor allem sanft (!) bergab, überdies über anspruchsloses Susi-Sorglos-Geläuf. Alsbald fällt mir ein weiteres „Ab-hier-Schild“ ins Auge, das mich auffordert dem so genannten „Willigesweg“ zu folgen. Wegfindung? Weiterhin ein Kinderspiel, da auch die Willigesweg-Tafeln ausreichend dicht und frühzeitig sichtbar platziert wurden.

Spektakuläres und Idyllisches in steter Folge verwöhnt den Trailenden. Seit der Tränke herrscht insofern ein bisschen Langeweile. Was mich jedoch nicht kratzt, so lange der Weg derart die Füße verwöhnt, Kräfte schont und im kühlen Forst innere Wasservorräte kaum antastet. Mehr als ein halbe Stunde bringe ich unter derart angenehm „einschläfernden“ Umständen zu. Allmählich weht bereits ein Hauch von „Bald geschafft!“ durchs Oberstübchen, wenngleich sich solche Empfindungen angesichts der knapp 20 km Reststrecke als pures Wunschfühlen entlarven … Und richtig: Auch der längste Abstieg geht auf diesem Planeten irgendwann zu Ende, wird nicht selten - im „Soonwald“ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vom nächsten Anstieg abgelöst. Erst ein paar Schritte entlang eines malerischen, von Felsen begleiteten Bachbettes, dann mit aller Entschiedenheit, zu der ein Taleinschnitt fähig sein kann, wieder empor …

Der „Willigessteig“ hat sich entschlossen den Wald zu verlassen und mich nachmittäglicher Schwüle auszuliefern. Entsprechend rinnt der Schweiß und entwickelt sich Durst. Trinken und weiter. - Sind meine Arme gewachsen? Zum ersten Mal gelingt es mir tatsächlich die - ziemlich dämlich, da zu weit hinten angeordneten - Trinkflaschen wieder im vorgesehenen Fach zu deponieren, ohne dafür den Rucksack ausziehen zu müssen. Oder hab ich inzwischen einfach mehr Routine und den Dreh endlich raus? - Vor mir erhebt sich eine weit ausladende, mit in der Mehrzahl abgeernteten Feldern und Wiesen bedeckte Kuppe. Sie wirkt flach, fühlt sich in den Beinen aber gar nicht so an. Gras dämpft die Schritte, mit denen ich sukzessive den Abstand zu zwei Mitläufern verkürze. Eben im Aufstieg sammelte ich bereits einen ein und den beiden vor mir blüht demnächst dasselbe Schicksal. Weil sie gehen und ich laufe. Obschon ich heute mangels Regeneration (und/oder Tagesform) „schwächele“, wiederholt sich, was ich fast jedes Mal erlebe. Dazu brauche ich nur mein Tempo einigermaßen über die komplette Wettkampfzeit durchzustehen.

Kuppe erobert, Rundsicht genossen, nun wieder „downhill“ wetzen. Ein hartnäckiger, vorhin überholter Verfolger heftet sich an meine Fersen. Der macht abwärts Tempo - geschwinder, als mir mit zerschundenen Haxen gut täte und auch mehr, als ich ermüdet noch zuwege brächte. Also rauscht er an mir vorbei und darf zur Belohnung demonstrieren, wie man unbesudelten Fußes eine wegbreite und allenfalls mit weltrekordverdächtigem Satz überwindbare Matschsuhle meistert … Schafft er nicht. Ebenso wenig wie ich, da hilft auch kein „balletöser“ Spitzentanz. Aus beinahe fabrikfrischen Grün wird Matschbraun, zumindest am linken Schuh.

Und nun? Eh klar: Wieder rauf und das hübsch anstrengend zu später Laufstunde. Einmal mehr zeige ich dem stürmischen „Downhiller“ hügelwärts tippelnd meine Fersen. Als ich kurz innehalte und rückwärts fotografiere, lächelt er in meine Linse. Ist’s ein Fotolächeln oder lacht er mich gemütlich vorwärts aufwärts stöckelnd aus? Wie dem auch sei: Ich hab mein Bild und mache mich davon …

Der Anstieg hatte es noch einmal in sich. Anhaltend und besonders im Schlussteil ziemlich steil. Für die nächsten Minuten scheint ein wenig Erholung angesagt: Wald Ende, Feldwege liegen vor mir, die - mehrmals in nahezu rechtem Winkel links oder rechts abknickend - in leichtem Gefälle die Niederung suchen. Hinter diesem Tal erkenne ich bereits den nächsten, über die ganze Breite des Horizonts bewaldeten Aufschwung. Wetten, dass ich den werde erklimmen müssen!?

Einstweilen hinunter über wechselndes Geläuf: Oft grasbewachsen, dann und wann geschottert, stückweit auch asphaltiert. Obschon ihr alles Schroffe, Überraschende oder gar Aufsehenerregende abgeht, weiß die jetzt weithin überschaubare Landschaft mit ihren charmanten, weit geschwungenen Linien und Perspektiven zu gefallen. Das Auge stellt sich um, sucht Liebreiz nun nicht mehr im Nahen, Kleinen, von dichtem Blätterdach Beschirmten. Infolge fortschreitender Erschöpfung sollte eigentlich Unwillen gedeihen, doch seltsamerweise fühle ich mich prächtig …

Der letzte Verpflegungspunkt: Ich fülle nochmal meine bis auf den letzten Tropfen geleerten Flaschen. Auch wenn ich die Wärme zu keinem Zeitpunkt als störend oder gar behindernd empfand - einen erheblichen Flüssigkeitsverlust hatte ich dennoch zu verzeichnen. Entsprechend fülle ich nicht nur meine Flaschen, sondern auch meinen Magen randvoll ab. Wasser, Iso, erstmals auch Cola. Rein damit! Wird schon drinbleiben und nötig ist es allemal. Aus Redefetzen rings um den VP schließe ich, dass hier bereits einige Läufer aufgegeben haben und vom Veranstalter zum Ziel chauffiert wurden. Mutmaßlich der warmen Witterung wegen, die offenbar vielen ernstlich zu schaffen macht. Das Team hat die Tränke unmittelbar neben einem Kneippbecken eingerichtet, in dem ein Mitläufer, in Storchenmanier schreitend, seine malträtierten Gehwerkzeuge kühlt. Der kann und will offenbar noch weiter. Für einen anderen, in ganzer Länge unter Wasser hingestreckt und nur noch mit Unterhose bekleidet, gilt das offensichtlich nicht. „Ist der tot?“ frage ich den Wassertreter scherzhaft? Eine Antwort erwarte ich gar nicht und mache mich sogleich auf den Weg …

Literweise Brühe im Bauch würde beim Durchqueren der Talsohle schwappen, wenn sie dazu noch Platz hätte. Hat sie aber nicht. Richtig wohl ist mir nicht, als ich - wie erwartet - nun wieder im Wald abtauche und Höhe gewinne. Vorsichtig ausgedrückt. Ein paar Einlauf- und - pardon - Rülpsminuten bleiben, bis der Hang mir seine wirklich steilen Zähne zeigt. Ich komme mir vor wie ein Durchlauferhitzer: So wie ich’s soff, so sprudelt das Wasser nun wieder aus allen Poren. Ich war nahezu trocken, nun trieft wieder alles, Mann und Zwirn. Gut zehn Kilometer und vermutlich anderthalb Stunden liegen noch vor mir. Ich spüre die Müdigkeit in allen Fasern, zugleich aber auch die Fähigkeit ihr noch lange zu widerstehen. Auch meine Entschlossenheit jeden noch so steilen Buckel im Laufschritt zu nehmen bröckelt nicht. Ich weiß, dass ich das packe. Ich weiß es einfach.

Flacher, mal ein bisschen rauf, mal ein Stückchen runter, kurze ebene Passagen, alles irgendwie harmlos wellenförmig. Ich halte mein Tempo, von dem ich nicht mal weiß, wie hoch oder besser gesagt: wie niedrig es ist. Will ich auch gar nicht wissen. Spielt keine Rolle. Nur in ständigem Lauf (-training) zu bleiben ist wichtig. Die Sonne steht mittlerweile nur noch eine Handbreit überm Horizont, fünf Uhr Nachmittags vorbei. Im Wald kühlt es bereits ab. Zum Trinken lege ich dennoch noch mal eine Zwangsgehpause ein, verbinde sie mit ein paar Fotos. Eigentlich gibt’s gar nix zu sehen, was es wirklich wert wäre abgelichtet zu werden. Ich möchte mir später aber auch die weniger aufregenden Streckenteile in Erinnerung rufen können. Von hinten naht ein Verfolger. Keiner, den ich zuvor schon einmal zu Gesicht bekommen hatte. Also einer von den leistungsstärkeren Läufern, die heute früh in Kirn eine Stunde später starteten. Zwei Startgruppen erlauben es dem Veranstalter die Öffnungszeiten der Verpflegungspunkte kürzer zu halten. Lächelnd und grüßend zieht er an mir vorbei. In beinahe demselben gemächlichen Trott, den auch ich mir ausgesucht habe. Nur zögerlich vergrößert sich unser Abstand, trotzdem verliert sich seine Silhouette ein paar Minuten später vor mir im Wald …

Wald. Von dem haben wir heute wirklich ausreichend zu sehen bekommen. Abwechslungsreicher Wald, der viel Sehenswertes verbirgt und es einen nur zu Fuß nach und nach sehen lässt. Müsste ich eine Schätzung abgeben, dann beliefe sich die auf zwei Drittel des Kurses, die im Wald (ergo auch im Schatten) gelaufen werden. Wald. In irgendeinem der früheren Laufberichte habe ich schon einmal durchscheinen lassen, was mir Wald bedeutet. Als Kind am, im und mit dem Wald aufgewachsen. Der Wald ist mein Freund. Und ich habe Lieblingsbäume. Zum einen sind das Edelkastanien, deren Früchte - die Maronen - wir als Kinder sammelten, in Feuergruben verbuddelten und - so sie gar waren - mit Genuss verspeisten. An der Spitze aller mir heiligen Laubträger steht jedoch die Eiche. Der Geruch von feuchtem Eichenlaub bringt mich ins Schwärmen. Eichen sind stolze Bäume, unbeugsam, zumindest wirken sie so auf mich. Und nun DAS! Ich kann es kaum fassen. Fünf Kilometer vorm Ende auch noch dieses fantastische, ergreifende Geschenk: Ein ganzer Wald aus Eichen*. Und nur Eichen. Ein Hügelrücken voller Eichenbäume. Links und rechts von mir fällt der Hang talwärts und so weit mein Auge reicht Eichen. Ich bleibe mehrfach stehen und fotografiere wie besessen. Sogar für ein kleines Videofilmchen nehme ich mir Zeit, um Ines dieses Wunder in Rundschau zu präsentieren.

*) So schön er ist, der Eichenwald nördlich von Bad Sobernheim ist nicht (nur) natürlichen Ursprungs. Er wurde in früheren Zeiten kultiviert, um aus der Eichenrinde Gerbsäure zu gewinnen. Die neben dem Weg stehenden, höchsten und ältesten Eichen tastete man dabei nicht an. Sie sind mehrere hundert Jahre alt. Für Waldliebhaber ist dieser Flecken Erde ein Pflichttermin, wenn er an der Nahe weilt …

Fast ein Kilometer Eichen, dann geht es schroff hinab in mehreren engen Kehren. Auf eine Straße, um ein Kurresort herum, an einem Golfplatz vorbei und quer durch die Felder. Alles nun in praller spätnachmittäglicher Sonne. Und die zeigt noch mal richtig, was sie drauf hat. Lass die Brühe rinnen Udo, nun sind es höchstens noch drei Kilometer bis zum alkoholfreien Weizenbier! Auf die vierspurige Bundesstraße und das unablässige „Sssst! Womm! Ssst! Womm!“ vorbei zischender Autos zu. Davor nach rechts und per Unterführung auf die andere Seite. „Bald geschafft!“ wurde vor der Unterführung verheißungsvoll auf Asphalt gesprüht … Ist mir egal, wie lange es noch dauert. Ich könnte auch noch weiter laufen, wenn es sein muss. Langsam zwar, aber das ist ja genau das, was ich trainieren wollte. - Straßen in Bad Sobernheim. Erst lange schnurgerade aus, irgendwann in den Stadtkern vordringend, zuletzt zum Marktplatz, wo das Zielbanner in Sicht kommt. Hundemüde und im selben Maße zufrieden setze ich den Fuß nach 9:24 Stunden über die Ziellinie …

 

Fazit zum Wettkampf

Der Soonwald-Nahe-Ultratrail wuchert mit zwei Pfunden. Zum einen findet der Ultraläufer eine in allen Aspekten perfekt zu Ende gedachte Organisation vor. Es passt alles. Verpflegung gibt es an den vier VP reichlich, Unterstützung und nette Worte sowieso. Die Strecke ist so gut markiert, dass Verlaufen nur nach grober Unachtsamkeit möglich ist.

Das Nahe-Ultrateam kriegt für diesen Lauf von mir eine glatte Eins. Bleibt so gut! Lasst in euren Mühen nicht nach!

Für die Strecke kann das Ultrateam nix, die ist „made by nature“. Dennoch auch eine eins mit Sternchen für die wunderschöne, abwechslungsreiche Trailstrecke. Weniger gut Vorbereiteten kann sie zum Verhängnis werden. Der technische Anspruch ist sehr hoch, insbesondere im Mittelteil. Sturz und schwerwiegende Verletzung sind auf diesem Kurs wahrscheinlicher als auf ähnlichen. Daher sollte man die Pflichtausrüstung, insbesondere das Erste-Hilfe-Set auf jeden Fall mitführen!

Fazit: Den laufe ich trotz Fußmarter gerne noch einmal!

 

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