Samstag, 18. März 2017

Familientreffen - Sechs-Stundenlauf Nürnberg 2017

Zumindest für mich ungewöhnlich, an den Anfang des Berichts den „Körperstatus“ am Tag danach zu stellen: Der kleinere Teil von Udo sitzt am sonntäglichen Frühstückstisch, schlürft mit Genuss seinen Cappuccino und mampft seine Brezel. Der überwiegende Rest scheint noch im Bett zu liegen. Ich fühle mich schlapp und stehe mental ziemlich neben mir. So weit, so klar. Wer um meinen Trainingsrückstand weiß, den wird dieser Befund nicht überraschen. Mit Verblüffung wird er jedoch gleich mir das vollkommene Schweigen und die Friedfertigkeit von Achillessehne und Pobacke links registrieren. Als wäre nichts gewesen, als hätten sie mich gestern nicht über Stunden aufs Übelste traktiert. So viele Jahre studiere ich nun schon diesen Körper, sein Verhalten bei Belastungen, seine Fähigkeiten sich zu regenerieren und reparieren. Doch manchmal reagiert er völlig … unlogisch. Und falls du dich über die folgenden Zeilen bis zur letzten quälen solltest, so wie ich gestern über mäßige 52 Kilometer, dann wirst du meine Verwunderung verstehen …

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Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung.

Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.

(Voltaire 1694-1778, französischer Schriftsteller und Philosoph)

Das mehrtägige Trommelfeuer der Sintflut prophezeienden Wettervorhersagen hat mich auf sechs Stunden Dauerregen und an Sturm grenzende Windverhältnisse eingestimmt. Daran gemessen bin ich fast geneigt das bisschen Sprühregen und die trist grauen, über Nürnberger Dächer dahinjagenden Wolken als passable Laufwitterung zu werten. Trotzdem fröstele ich in langer Laufhose und Jacke, als uns um Punkt zehn das Startkommando in den Orbit schickt. Nur allzu gerne schenke ich Mikes Wetter-App Glauben, die zwar ab 11 Uhr heftigeren Wind, zeitgleich aber auch Trockenheit verspricht. „Wehe, wenn nicht!“ drohe ich scherzend. Im Grunde ist mir das Wetter heute ziemlich egal. Zum einen führen uns die sechs Stunden von Nürnberg zu einer Art „Spartathlon-Familientreffen“ zusammen. Mit Mike, Roland, Stefan, den Burger-Zwillingen und mir kreisen nicht weniger als sechs Teilnehmer am letztjährigen Spartathlon. Entsprechend herzlich fiel die Begrüßung aus.

Leider mischt sich in die Freude über das Wiedersehen erneut die bange Frage, wie mein vergleichsweise untrainierter und orthopädisch angeschlagener Bewegungsapparat auf sechs Laufstunden reagieren wird. Nachdem ich den Bienwald Marathon unerwartet gut verkraftete, wagte ich vorgestern ein Fahrtspiel. Nicht mit sonst praktizierter Rücksichts- und Sorglosigkeit, aber eben doch einige Höhenmeter und ein paar flotte, flache Passagen einschließend. Weder Achillessehne, noch Pobacke waren davon begeistert - vorsichtig formuliert. Bei heute langsamem Trab über brettebenes Geläuf hoffe ich dennoch auf lange währendes Schweigen und Kooperation der Querulanten …

Am Ende der Auftaktrunde wartet unser „Fanblock“ mit schussbereiter Handykamera. Rüdigers Frau Conny und meine Ines mühen sich nach Kräften, das miese Wetter wegzulächeln. Kunststück: Während ihre Spartathleten und mehr als 130 weitere Satelliten im feuchten Orbit kreisen, werden die beiden irgendwo frühstücken und anschließend entlang der Nürnberger Einkaufsmeile einen Angriff auf das Haben ihrer Kontostände unternehmen …

An Mikes Seite beginne ich mit sehr verhaltenem Trab, um die Dämonen nicht zu reizen! Mike hat gleichfalls gute Gründe sich zurückzuhalten: Er ist magen-darm-mäßig nicht ganz auf dem Damm, infolge Urlaubs fehlen Trainingseinheiten, außerdem will er morgen in Fürth ein weiteres Mal über die Sechs-Stunden-Distanz gehen. Mike bringt zum Ausdruck, wie gut ihm diese 1,522 km lange Runde rund um die Wöhrder Wiese, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Nürnberger Altstadt, gefällt. Ich rekapituliere kurz meine Stundenlauf-Erfahrungen und finde tatsächlich nur eine Strecke, die gleichermaßen gut zu belaufen und eine Augenweide war: Der Kurs rund um den Weißenstädter See* im Fichtelgebirge, mit knapp 4 km eine der längeren Runden.

*) Die Veranstaltung in Weißenstadt fiel zuletzt mehrmals aus. Mir ist nicht bekannt ob und wann sie wieder aufgelegt werden wird.

Im Schweinsgalopp rasen die Burger-Zwillinge an uns vorbei, nicht ohne einen flapsig netten Kommentar loszuwerden versteht sich. Von „schlappen Läufern“ ist die Rede, eine „Verunglimpfung“, gegen die wir uns in gespielter Entrüstung geharnischt zur Wehr setzen, Letztlich trifft der Spruch jedoch des Pudels Kern, gibt unsere unterschiedlichen Trainingsverfassungen und Leistungsstände korrekt wieder.

Sind wir bereits drei Runden gemeinsam unterwegs, vier oder gar fünf? Erst als Mike fragt, ob ich auch mal „innen“ laufen möchte, wird mir bewusst, dass ich an jeder „Ecke“ des Kurses ein paar Zentimeter verschenke. Auf diesen halben Meter (?) pro Runde kommt es nun wirklich nicht an, zumal bei völlig fehlender Wettkampfambition. Außerdem werde ich nun am Läuferbüffet Station machen und Mike dann für eine Weile aus den Augen verlieren …

Fehlende Wettkampfambition? - Wenn's nur das wäre … Schon im Vorjahr trat ich auf der Wöhrder Wiese in bescheidener Ausdauerform an. Der damals erforderliche vorsichtige Wiederaufbau nach drei Monaten Laufverbot ließ nicht mehr zu. Heute schätzte ich mich glücklich, hätte ich wenigstens die Form vor Jahresfrist in den Beinen. Stattdessen muss ich darauf hoffen mit möglichst geringen Beschwerden und so lange wie möglich im Wettkampf zu bleiben. Minimalziel ist der Marathon, für die Kerbe im „Zählholz“. Wünschenswert wären 50 km Ausdauertraining, um meinen Radius zu erweitern. Und, falls es einigermaßen erträglich vom Fuß geht, tatsächlich volle sechs Stunden in der Spur zu bleiben. Die 55 km vom Vorjahr - da bin ich Realist - sind wahrscheinlich nicht zu erreichen.

Die Hoffnung auf „geringe Beschwerden“, wie vor sechs Tagen im Bienwald, weht der böige Wind bereits nach wenigen Laufminuten davon. Quasi vom Start weg nervt die Achillessehne und der böse Kobold in der Pobacke treibt zusehends Schabernack. Gerade mal vier, fünf Runden genügen, um mich stimmungsmäßig in den Hades zu werfen. Wie denn auch nicht? - Unter Beschwerden zu laufen schrumpft den Spaßfaktor auf Größe eines Atoms. Augenblicklich kann ich mir kaum vorstellen, wie es möglich sein soll volle sechs Stunden in diesem Tal des Jammers auszuhalten. Andererseits: Für Langstreckler im Allgemeinen und mich im Besonderen ist Mutlosigkeit keine Alternative, denn was danach kommt, will ich nicht mal denken. Irgendwie ging es doch immer und irgendwie werde ich auch den heute hässlichen Bedingungen einen (Trainings-) Erfolg abringen!

Zumindest der Nürnberger Wettermacher zeigt Einsicht. Wie versprochen und ziemlich genau sogar gegen 11 Uhr stoppt er die Berieselung. Wie sollte ich das anders werten, denn als gutes Omen? - Ein, zwei Runden lasse ich zur „Vertrauensbildung“ noch verstreichen, dann kehre ich bei meiner Futter-/Ausrüstungskiste ein und verstaue die Kappe mit dem weit vorspringenden Schirm. Ich trug sie über einer Laufmütze, auf die ich infolge Windchills auch weiterhin nicht verzichten will. Der Kappe verdanke ich gutes Sichtfeld, weil die Brille keine Regentropfen abbekam. Ihr „verdanke“ ich aber auch als Karikatur meiner selbst unterwegs gewesen zu sein. Nunmehr: Wenn schon körperlich desolat auf dem Rundkurs unterwegs, dann wenigstens männlich „aufgehübscht“ …

Zeit verstreicht und es geschieht wenig, das zu berichten die Schreibmühe lohnt. Selbst für die Maßstäbe eines genügsamen Rundendrehers wie mich, bleibt Abwechslung die Ausnahme:

Die erste Hälfte des Wettkampfs vergeht wie im Flug. Eine Wahrnehmung, die ich nicht verstehe. Immerhin gehen von jedem Schritt unangenehme Empfindungen aus - wenn ich „hinspüre“. Vielleicht liegt ja darin die Erklärung: Ich vermag das Gemecker von „da unten“ phasenweise auszublenden. Lasse es auch mal minutenlang nicht ins Bewusstsein dringen, beschäftige meine Gedanken mit anderem. Wenn „es“ sich Mal um Mal in Erinnerung bringt, darf ich mit etwas Beruhigung feststellen, dass „es“ zumindest nicht schlimmer wird. Nicht schlimmer als es bereits anfänglich war …

Smileys lächeln von Baumstämmen herüber. Ihr Auftrag ist klar: In Ermangelung menschlicher Animateure sollen sie die Mundwinkel der unablässig Kreisenden gen Himmel ziehen, ein wenig ihr Gemüt aufhellen. Wer meinem Bericht bis zu dieser Zeile folgte, wird begreifen, dass die Dauerlächler mit ihrer Mission an mir scheitern. Um Frohsinn aufflackern zu lassen bin ich viel zu verkrampft. Mental aber auch im körperlichen Sinne des Wortes. Wie versteinert fühlen sich inzwischen meine Waden an. Einerlei. Mehr als vier Stunden sind bereits verstrichen und das „Weh“ oberhalb der Ferse hält sich in Grenzen, scheint bisweilen sogar zu weichen. Der Schmerz brauchte wohl diese vier Stunden „Einlaufzeit“, um endlich zu kapieren, dass er mich nicht brechen kann …

Möglicherweise eine Denksportaufgabe, denn über Zeit verfügen wir in Hülle und Fülle: Wer sind Ursula, Doris und Reiner? Von mir unerkannt drehen sie ihre Runden, falls sie dem Feld angehören. DIN-A5-große, blaue Plakate, in Blickhöhe an Baumstämme getackert, motivieren die ominösen drei: „Auf geht’s Ursula!“ - „Es ist dein Lauf Reiner!“ - „Weiter so Doris!“ Ganz ohne Ironie: Gibt’s die drei tatsächlich oder hat man ihren Namen eine Stellvertreterrolle zugedacht? Und falls Letzteres zuträfe: Glaubt wirklich irgendwer, dass von solchen Postern ein Funke überspringt?

Solche Funken spürte ich mehrfach in den Anfangsstunden, jeweils beim Abnehmen der Parade der 16 Rundenzähler von A bis Q; vor allem, wenn ich dem mir verpflichteten mit knapper Geste meldete: „Schau! Da bin ich wieder!“ und er mit eindeutigem Handzeichen antwortete: „Alles klar! Hab dich registriert!“ Ein gutes Gefühl, nach jedem Umlauf wahrgenommen und gegrüßt zu werden. Trotzdem will meine weitgehend unbeschäftigte Hirnmasse nicht von der Frage lassen, wozu diese bedauernswerten Menschen am Rand der nasskalten Wöhrder Wiese sechs Stunden lang ausharren müssen!? Der Chip in der Startnummer zählt die Runden und enthebt die „ZählerInnen“ ihrer ursprünglichen Bestimmung. 16 Menschen 6 Stunden lang als „Backup“ frieren lassen, nur für den unwahrscheinlichen Fall einer Fehlfunktion oder eines Momentversagens der Elektronik? An dieser Deutung halte ich nur so lange fest, bis mein Zähler während zweier Runden ersatzlos fehlt. Dann ist er wieder da, hat aber keine Augen für meinen Wink, weil sich seine Aufmerksamkeit auf ein Handy-Display richtet. Was also dann? - Bleibt eigentlich nur der von persönlicher „Betreuung“ ausgehende Ansporn. Jedoch: 6x16 Mann-/Fraustunden verbraten für ein bisschen Aufmunterung?

Sehen kann ich sie nicht, das ist aber auch nicht erforderlich. Ich erkenne unsere Hündin Roxi am steten, aufgeregten Bellen. Vom Südostende des Kurses kommend spähe ich über die Wöhrder Wiese Richtung Ziel. Ein paar hundert Meter und diverse die Sicht behindernde Bäume sind noch zu überwinden, bis ich Frau mit Hund gegenüber in der Nähe des Zielbereiches ausmache. Ines winkt herüber und Minuten später werde ich von beiden freudig begrüßt. Zum Glück vermögen Frauen mehrere Dinge gleichzeitig zu tun: Während Ines die außer Rand und Band geratene Roxi bändigt, hört sie sich mein Gejammer an und baut mich mit ein paar wirkungsvollen Worten auf. Schließlich mache ich mich wieder auf den Weg, vom nun geradezu entsetzten Kläffen Roxis verfolgt. Man muss kein Hundeversteher sein, um ihre Aufforderung in die Sprache der Menschen zu übersetzen: „Nimm mich mit! Ich will auch laufen!“ - Wie sollte sie auch kapieren, dass sie Herrchen täglich begleiten und ausgerechnet heute ihre Lauflust nicht ausleben darf ...

Träge fließt die Zeit, wie nebenan die Pegnitz - kein Anfang und kein Ende. Unterdessen trotte ich stoisch vor mich hin als wollte ich es den Naturkräften gleichtun. Alle biologisch basierten Routinen funktionieren: Sinne nehmen wahr, Herz pumpt, Lunge atmet, Nerven und Muskeln formen Laufschritte. Überwiegend belanglose Gedanken hangeln sich träge durch mein Hirn. Wieder schlüpfe ich in diesen seltsamen Bewusstseinszustand, für den ich keine Bezeichnung kenne, in dem sich mein bedrängtes Ich abkapselt, um Unangenehmem leichter trotzen zu können. In seiner extremsten Ausprägung erlebte ich diesen Zustand in jener Nacht auf den 1. Oktober 2016 zwischen Athen und Sparta. Doch hier und jetzt ist es taghell, bin ich weder müde, noch erschöpft, nicht ansatzweise einsam und auch von keinem Cut-off gejagt. Keinen der Gründe, die beim Spartathlon meine autistisch anmutende Abschottung bewirkten, kann ich in Nürnberg geltend machen. Hier und jetzt setzen mir Schmerzen zu, das trübsinnige Wetter und die Gewissheit eines unerträglich schlechten Trainingszustands.

Anton hat da weitaus mehr zu bieten und vermutlich nicht nur heute. Ein paarmal trabte er bereits leichtfüßig mit Begleiter vorbei. Am charakteristisch tänzelnden Schritt würde ich ihn zweifelsfrei unter tausend anderen ausmachen. Anton ist blind. Deshalb braucht Anton einen Helfer, der ihn führt. Was lamentierst du Udo? Was an deinem Läuferschicksal ließe auch nur annähernd solche Härte spüren: Für jeden gelaufenen Meter wie ein Hund an die Leine zu müssen. Stets um Begleitung nachsuchen müssen, nicht nur bei Wettkämpfen, auch für jedes Training. Sonne - oder auch Regen und Wind wie heute - nur spüren niemals jedoch sehen dürfen. Rein aufs Gehör angewiesen zu sein, um Mitläufer, die einen grüßen, zu erkennen aber nicht den blassesten Schimmer davon haben, wie sie aussehen … Hat Anton meine Stimme nach knappem Gruß erkannt und zuordnen können? Oft haben wir noch nicht miteinander gesprochen … Anton! Seit ich ihn kenne mein ganz persönlicher Held ...

Es blieb trocken, dafür frischte der Wind auf. Auf dem Rundenabschnitt weg vom Ziel schiebt er, um auf dem Rückweg umso lästiger zu bremsen. Unterdessen habe ich Tempo eingebüßt, so dass mich der Gegenwind kaum stört - von bisweilen eingelagerten, ruppig schubsenden Böen abgesehen. Mit der mehrfach lautlos vor mich hin gemurmelten Formel ‚Hauptsache trocken!’ übe ich mich in meteorologischer Genügsamkeit. Sowieso alles subjektiv! Hinter meinem Rücken lässt eine Läuferin ihren Nebenmann wissen, dass es ihr letztes Jahr bei Sonnenschein viel zu warm war. Die beiden einigen sich darauf, heute nahezu ideale Laufbedingungen vorzufinden. Spontan halte ich nach Mike Ausschau, der gerade irgendwo anders auf dem 1522 Meter langen Rundkurs unterwegs ist, „kondomös“ verhüllt von Regenjacke mit Kapuze. „Das ist nicht unser Wetter!“ stimmten wir vorhin überein. Nein, ganz und gar nicht unser Wetter. Letztes Jahr in Griechenland, bei 30°C im Schatten, mit Blick auf das ultramarinblaue Mittelmeer und auf dem Peloponnes, da fühlten wir uns pudelwohl. Das war unser Wetter …

Minimalziel Marathon erreicht, in sage und schreibe 4:45 Stunden. Nach solcher Tempozurückhaltung sollte ich noch einen Rest Frische spüren. Das Gegenteil trifft zu. Es fühlt sich an als wäre ein Lkw über meine untere Körperhälfte gerollt und auch kräftemäßig werde ich heute keine Bäume mehr höchstens noch zarte Schösslinge ausreißen. Was ist bloß los mit mir? - Heute zwickt, was nur zwicken kann. Sogar das rechte Schultergelenk erhebt seine Stimme im verhassten Chor, meint, wenn alle maulen, dann darf ich das doch auch mal … Natürlich brüte ich nicht erst seit diesen Minuten über der Frage, wieso ausgerechnet heute so gar nichts läuft. An Erklärungen kommt mir allerdings wenig in den Sinn. Allenfalls das forsche Fahrtspiel von vorgestern!? Doch das allein kann’s nicht sein. Was ist bloß los mit mir?

Um wenigstens das „Traumergebnis“ 50 km zu realisieren, fehlen nach Marathondistanz noch fünf Runden. Dass ich die meinem opponierenden Körper zusätzlich abtrotzen will, habe ich bereits vor einigen Umläufen festgelegt. Was soll schon passieren, wenn ich weiterlaufe? Das Sorgenkind Sehne wimmert zwar vor sich hin, aber eben nicht heftiger, eher sogar leiser, als in Stunde eins. Also weiter trotten, leiden, grübeln …

Zeit bleibt reichlich, um die fünfzig voll zu machen. Das wird eine ziemliche Weile vor dem Schlusssignal so weit sein. Höre ich nach fünfzig Kilometern, also nach Runde 33*, auf? Dann beraube ich mich der „Ehrenrunde“. Als mich gerade mal wieder einer der Schnelleren mit rotem 50ziger-Ehrenrundenfähnchen in der Hand überholt werde ich daran erinnert. Hänge ich an dem doofen Fähnchen mit der „50“ drauf? - Schon irgendwie. Na gut, dann also 50 km plus eine Runde, vereinbare ich mit meinem gequälten Selbst. Das kann sich ein Nachmaulen nicht verkneifen: ‚Aber nur, wenn die „Beschwerdelage“ bleibt, wie sie ist!’

*) Runde 1 wurde um ca. 200 Meter verkürzt, damit nach Runde 33 genau 50 km zu Buche stehen.

Ich schleppe mich über die Runden. Genau dieses Gefühl habe ich dabei, glaube auch beständig an Tempo zu verlieren, obwohl die Rundenzeiten diesem Empfinden widersprechen. Mit einem so hohen Grad an Erschöpfung habe ich nicht gerechnet. Auch die in den letzten beiden Stunden aus eigenem Bestand vernaschten Gels konnten die wachsende Hinfälligkeit nicht aufhalten. Egal, nur noch eine Dreiviertelstunde und lächerliche drei Runden …

Nach Runde 31 spricht die fleißige Ansagerin von knapp 47 km und verspricht mir nach dem kommenden Umlauf eine Ehrenrunde mit Fähnchen. Verwirrt kontrolliere den Km-Stand auf meinem GPS: 47 kommt hin. Also brauche ich noch zwei Runden, um die 50 zu vollenden. Wahrscheinlich war der Satz mit der Fahne auf einen anderen Läufer gemünzt … oder halluziniere ich schon?

Lustlos, wie durch alle anderen zuvor, trotte ich auch durch diese Runde. Soll ich mir noch mal die Digicam aus meiner Kiste greifen, um ein paar Schlussrundenfotos einzufangen? - Nicht mal dafür reicht der Antrieb noch. Egal. In den ersten zwei Stunden habe ich ausreichend Bilder zur Illustration des anstehenden Laufberichts eingefangen. Also weiter, entlang der Pegnitz, auf die enge Kurve vor einem Hochhaus zu, zuletzt in minimalem Anstieg, der Runde um Runde an „Steilheit“ gewann; anschließend unter altem Baumbestand und gegen den Wind in die entgegengesetzte Richtung. Bald geschafft … nach dieser noch zwei Runden, die Fünfziger und zuletzt die Ehrenrunde …

Rechtskurve, etwa hundert Meter leicht abschüssig voran, dann neuerlich rechts abbiegen, vorbei am Läuferbuffet und alsbald überschreite ich die Erfassung der Zeitmessung. Mein Zähler erhebt sich von seinem Stuhl und streckt mir das Fähnchen entgegen. „Jetzt schon?“ frage ich irritiert, „ … ich hab’ die 50 doch noch nicht voll!?“ - „Aber nach dieser Runde!“ meint er lächelnd und schon bin ich mit Fahne in der Hand entlassen …

Was nun? Auf die Zusatzrunde verzichten? Bei 50 aufhören? - Ich spüre einmal mehr in mich hinein und nach unten. Da hat sich nichts verändert und 50,000 km als Ergebnis eines 6h-Laufes läse sich irgendwie „unvollendet“. Außerdem hieße das etwa 20 Minuten von sechs Stunden zu verschenken und ich bin nicht verzweifelt genug, um so früh die Segel zu streichen …

Gut 10 Minuten später stehe ich neuerlich vor meinem Zähler und reiche das Fähnchen zurück; Zugleich äußere ich die Absicht nach der nächsten Runde aufzuhören und bedanke mich für seine Unterstützung. Da mischt sich die „Nachbarzählerin“ ein und macht mich darauf aufmerksam, dass ich meine Startnummer abgeben muss, wenn ich aufhöre. Ich gebe ein „Okay! Alles klar!“ von mir und kehre in den Wettkampf zurück.

„Alles klar?“ - Gar nichts ist klar! Startnummer abgeben? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Das röche penetrant nach Aufgeben. Und drei, vier Minuten zu verschenken hat schließlich nichts mit Aufgeben zu tun. Ich habe noch nie meine Startnummer abgegeben und werde damit ganz sicher nicht heute anfangen. Lieber ringe ich mir die überflüssigen Restmeter auch noch ab!

Wie ein trotziges Schulkind, dem man Strafe angedroht hat, weil es nötigen Fleiß vermissen lässt, verschleppe ich mit Absicht das Tempo, bewege mich mit mikroskopisch kleinen Schrittchen vorwärts. Als Zwischenziel habe ich die zwei Dixies auf der Gegengerade ins Auge gefasst. Wenn ihr mir so kommt, dann werde ich überflüssiges Wasser noch vor dem Schlusspfiff entsorgen … Erledigt. Blick zur Uhr. Immer noch reichlich sieben Minuten Zeit … wieder antraben … noch sechs … noch fünf und zu meinem Verdruss, als ich den Haken hinter Runde 34 setze, immer noch vier Minuten. Vom Zähler lasse ich mir das Hölzchen mit meiner aufgeklebten Startnummer geben und mache mich auf die letzten Meter. Natürlich könnte ich jetzt gehen oder einfach stehen bleiben. Aber ich bin nun mal mit jeder Faser Läufer und kann nicht aus meiner Haut.

Vier Minuten dauern länger, als man glaubt. In dramatischen Fußballspielen sollen in vier Minuten Nachspielzeit auch schon mal zwei Tore gefallen sein … Ich grüße Mike, der gerade an mir vorbei wetzt und ziehe mein Tempo noch mal etwas an. Vielleicht schaffe ich es in seiner Nähe den Wettkampf zu beenden. Stückweit voraus erkenne ich alsbald die Burger-Zwillinge, gehend in einer Gruppe von Läufern. Den Spaß brauche ich jetzt noch als finale Aufmunterung! Trabe vorbei und meine feixend: „Na!? Wer sind denn jetzt die Schlaffis?“ - Letzte Meter, die Uhr tickt runter, Mike hat inzwischen mehr als 50 Meter Vorsprung … schließlich verstreicht die letzte Sekunde, das Schlusssignal ertönt. Ich bleibe stehen und lege mein Hölzchen neben den Laufweg. Das war’s …

Mike joggt zu mir rüber und gemeinsam schlendern wir Richtung Ziel. Fangen unterwegs die Burger-Zwillinge ein und in Zielnähe organisiert Mike noch ein Erinnerungsfoto. Spontan stellt sich eine Empfindung ein, die ich nun am allerwenigsten erwartet hätte: Zufriedenheit. Zufrieden und ich weiß nicht mal womit. Weder Verlauf noch Ergebnis dieses Trainingslaufs geben dazu Anlass. Vielleicht baut mir die Anwesenheit der Freunde und diverser anderer Bekannter eine Brücke. Womöglich verwechsele ich das Gefühl lauffamiliärer Zugehörigkeit mit Zufriedenheit. Vielleicht weiß aber auch irgendeine Instanz, tief drin im Unbewussten, schon mehr als ich. Wird sich dieses läuferisch bisher vermaledeite 2017 in ein paar Wochen doch noch als passable Saison entpuppen, auch wenn es nach sechs Stunden in Nürnberg so gar nicht danach aussieht?

 

Ergebnisse:

Rüdiger und Frank: 65,772 km

Roland: 62,190 km

Mike: 55,262 km

Udo: 52,078 km

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe Laufbericht aus 2016.


Bildnachweis:

Letztes Bild (Gruppenfoto): Rüdiger und Frank Burger

übrige Bilder: Udo Pitsch

 

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