Samstag, 2. April 2016
Was auch immer dieser April noch bringen wird - heute zelebriert er Frühling! Die strahlende Erscheinung dort oben im ungetrübten Blau samt der vorhergesagten 18°C weckt Lebensgeister und nährt meine Zuversicht: Alles wird gut! Ich möchte heute sechs Stunden lang die „Wöhrder Wiese“, Park und Flussaue nahe der Nürnberger Altstadt, umrunden. Und natürlich habe ich Schiss davor. Deswegen: Ermüdungsbruch bei einem 24h-Lauf im Juni 2015, Wiederaufbau nach drei Monaten Laufpause, stetige Umfangssteigerung, vor zwei Wochen erster Marathon in Fürth nach neun Monaten Wettkampfabstinenz. Auch wenn sich gelegentliches „Restzwicken“ rund um die verheilte Körperstelle vergleichsweise harmlos gibt, ein ständiger Stachel in meinem Fleisch bleibt es einstweilen doch. Nicht ob der physischen Wahrnehmung an sich. Was nervt, ist tief verwurzeltes Bangen vor neuerlicher Pein.
Du fragst dich, wieso ich unter solch zweifelhaften „psychophysischen“ Umständen heute in Nürnberg bin, um mir sechs Laufstunden anzutun? - Wäre da nicht dieses gewaltige Ziel Ende September, die geplante Teilnahme am „Spartathlon“ in Griechenland, die Absicht mit 246 km am Stück so weit zu laufen, wie noch nie zuvor, ich ließe es tatsächlich deutlich gemächlicher angehen. Für diesen schwierigen und hoffentlich grandiosesten Wettkampf meines Läuferlebens habe ich einen der wenigen und begehrten Startplätze ergattert. Und nun will ich mich im verbleibenden halben Jahr in eine Ausdauerverfassung bringen, die ein erfolgreiches Finish in Reichweite rückt. Von dieser Form bin ich gegenwärtig ungefähr so weit entfernt, wie unser Sonnensystem von der kürzlich entdeckten Galaxis am Rande des Universums: 13 Milliarden Lichtjahre. Subjektiv! Objektiv sieht es besser aus, da bin ich viel näher dran, etwa so nah wie die Erde an Andromeda, also lächerliche 2,5 Millionen Lichtjahre …
Nachdem nun klar ist, weshalb ich hier bin, ein paar Worte zum Tagesziel: Wenn es schlecht läuft (wobei ich mir offen lasse, was „schlecht“ konkret bedeutet) will ich nach der Marathondistanz den Wettkampf abbrechen. Gehen mir die Kilometer besser vom Fuß, peile ich 51 Kilometer an, um meinen geplanten Wochenumfang (90 Kilometer) zu komplettieren. Und sollte mein Körper auch dann noch keine gelb-rote Karte zücken, werde ich volle sechs honigsüße Laufstunden auskosten …
… als eher unbedeutende Randfigur, gemeinsam mit 211 weiteren Ultrafrauen und -männern. Zufällig habe ich die Deutsche Meisterschaft 2016 im 6-Stunden-Lauf zum Trainingsrevier erkoren. Womit der Ehrgeizling in mir im Vorfeld gemischte Gefühle verbindet, entpuppt sich von Anfang bis Ende als Glücksfall: Ich erinnere mich an keine Veranstaltung, wo ich so vielen vertrauten Gesichtern von Spitzen- und Ferner-Liefen-Läufern begegnete. Als Ausrichter fungiert das „Sri Chinmoy Marathon Team“, weltweit als Veranstalter von Ultraläufen bekannt und bei Aktiven wegen seiner Perfektion und Fürsorge beliebt. Von ein paar (unbedeutenden) Eigenheiten, die man eben auch nur bei Veranstaltungen des „Sri Chinmoy Marathon Teams“ findet, wird in launigen Randnotizen zu lesen sein …
Der Wettkampfort, die „Wöhrder Wiese“, vermittelt in der Draufsicht ein bisschen den Eindruck eines „überdehnten“ Stadions mit Laufbahn. Innen dominieren Rasenflächen zum Sonnenbaden oder für Ballspiele. Ringsherum verläuft ein asphaltierter Spazierweg, über den sich teils wahrhafte Riesen eines alten Baumbestandes erheben. An der Nordseite fließt träge die Pegnitz und die gegenüberliegende Langseite des Parkovals wird gleichfalls vom Wasser der Pegnitz begrenzt, allerdings nur in Stärke und Breite eines Bachs. Es wäre also nicht ganz verkehrt von einem Stundenlauf auf einer Flussinsel zu sprechen. Hinter Wasser und Bäumen erstreckt sich die Nürnberger-City: Auf den Langseiten Wohngebiete, im Westen und Osten spannen sich Brücken über die Flussaue, von denen mit fortschreitender Tageszeit mehr und mehr Verkehrslärm herüber schallt. Alles in allem ein recht reizvoller Ort, um auf 1,522 km langem Rundkurs einen „Sechsstünder“ gut über die Bühne zu bringen.
Um Passanten darüber aufzuklären, was hier heute geschieht, wurden an jedem der Zugänge Hinweistafeln aufgestellt. Die Tafeln bitten Fußgänger und Radler sich am Rand zu bewegen, um uns Läufern nicht ins Gehege zu geraten. Zu meinem Erstaunen hält sich die Mehrheit daran. Einmal bekomme ich sogar mit, wie eine Radlerin absteigt und einen Streckenposten quasi um „Erlaubnis“ bittet weiterfahren zu dürfen. Von Rücksichtslosigkeit und/oder Ignoranz einiger Ausnahmen bin ich natürlich auch nicht überrascht. Da stören Gruppen nebeneinander flanierender Sonntagsspaziergänger, die kaum eine Gasse lassen; oder eine Mutter mit Kinderwagen dicht am Innenzirkel des Kurses, die überdies ihren Sprössling im Vorschulalter auf einem Laufrad neben sich her rollen lässt. Offensichtlich ist ihr gleichgültig, dass sie außer Läufern, auch ihren laufradelnden Filius in Gefahr bringt. Den Vogel schießt dann eine Radlerin ab, die um ein Haar einen der schnellen Spitzenleute zu Fall gebracht hätte. Der kann sich gerade noch mit einem Sprung zur Seite retten und macht seinem Zorn durch lautes Schimpfen Luft.
Doch halt! Erst mal den Start vorbereiten, bevor hier schon Lauferlebnisse aufblitzen. Gegen 9:20 Uhr erkunde ich ein wenig das Areal. Lese und fotografiere die Sri-Chinmoy-typischen Motivationstafeln und lasse mich von überdimensionalen, an Bäumen befestigten Smileys animieren. Vor den vier Dixies stehen sich ein paar Läufer die Beine in den Bauch. Also beschließe ich ihren zwei vereinsamten Klonen, die von jenseits der Wiese herüber winken, einen Besuch abzustatten. Auf diese Idee kamen - aus unterschiedlichen Richtungen herbei strebend - drei weitere Notdürftige, so dass ich dann doch ein wenig warten muss. Einer begrüßt eine, die er mit Nele anspricht. Er unterstellt der jungen Frau, die weder durch athletisches Aussehen, noch selbstbewusstes Auftreten auffällt, heute durchaus mehr als 70 km sammeln zu können. Ein ziemlicher „Batzen“ Kilometer in 6 Stunden und das nicht nur für eine Frau. Voll austrainiert und zu meiner schnellsten Zeit waren mir gerade einmal ebendiese 70 km als Bestleistung vergönnt. Als unbeteiligter Zuhörer erfahre ich noch, dass das kleine, schmale Persönchen heute erstmals weiter als 50 km laufen wird. Plötzlich öffnet sich geräuschvoll die Kunststofftür eines der beiden unsäglichen Gelasse und ich muss los … halte auf halbem Weg aber zweifelnd inne: „Ich will mich nicht vordrängen! Warst du vor mir da!“ – „Nein, nein, ich kam nach dir!“ beteuert Nele und lässt mich ziehen. Während der paar Minuten Verrichtung im Geheimen kann ich nicht ahnen, dass mir die spätere Deutsche Meisterin im Sechs-Stundenlauf, Dr. Nele Alder-Baerens, den Vortritt lässt. Eine Frau, die erstmals in ihrer Laufkarriere die 50 km-Marke überwindet und dabei einen neuen Deutschen Rekord im Sechs-Stundenlauf über fantastische 82,998 km aufstellt!
Zurück bei meiner Tasche bleiben mir noch ein paar Minuten, um letzte Vorbereitungen abzuschließen. Schließlich schlendere ich in Richtung der etwa 200 Meter vor dem Zieltor gezogenen Startlinie. Runde eins wurde um diese Distanz verkürzt, damit sich 33 Runden präzise zu 50 km summieren und eine Zwischenzeitnahme möglich wird. Eingedenk fehlender Ambitionen mische ich mich unters bunte Volk am Ende der Startaufstellung. Hier entdeckt mich Mike. Den Berliner lernte ich letztes Jahr anlässlich der DM im 24-Stunden-Lauf in Reichenbach kennen. Es bleibt noch Zeit für eine kurze Konversation, samt der angenehmen Überraschung, dass ich Mike im September beim Spartathlon wieder sehen werde … dann geht’s los. Wie immer bei Stundenläufen und vielen anderen Ultraveranstaltungen, völlig unspektakulär, vergleichsweise still. Keine Spur von Inszenierung, wie man sie von großen Marathons her kennt. Keine bombastische Musik, kein Jubelgeschrei, keine hochgereckten Hände. Gesichter und Gesten künden von verhaltener, abgeklärter Freude. Zeugnis von Demut angesichts bevorstehender Unbill und Dauer des Vorhabens. Ultraläufe sind eines ganz sicher nicht: Ein „Spaß-Event“. Im Mittelpunkt stehen die sportlichen Belange, das Laufen und der Kampf gegen sich selbst.
Letztlich legte ich mich auf „oben und unten kurz“ als Laufdress fest, obschon seit meiner Ankunft auf der Wöhrder Wiese kalte Windböen den erhofften Frühlingstag infrage stellen. Kaum mehr als 8°C und Windchill lassen mich nun auch während der ersten Schritte frösteln, obschon sich meine Freundin dort oben mit ihrem strahlendsten Lächeln bereits mächtig ins Zeug legt. Was soll’s. Bei Bedarf kann ich mir jederzeit eine leichte Jacke aus meiner Tasche überstreifen …
Zum Auftakt zieht sich die Läuferkette entlang der träge unter Bäumen fließenden Pegnitz in die Länge. Ein paar Schlenker des breiten Hauptweges später, in Sichtweite einer Brücke und zuletzt einige Meter moderat ansteigend, geht es in fast spitzem Winkel auf der Gegenseite des Parks zurück. Ab hier zwar im kalten Schatten, dafür aber mit dem Wind im Rücken. Auszuhalten. Beinahe geradeaus haltend, stets „in Kontakt“ zum Rand der Wöhrder Wiese, komme ich voran und habe mich einen halben Kilometer weiter zu entscheiden: Links oder rechts am mitten im Weg aufragenden Baum mit Smiley vorbei? Ich lasse das Grinsegesicht links liegen und so halte ich es von nun an jedes Mal. Kurz darauf im stumpfen Winkel rechts weg und minimal „bergab“; nach hundert Metern unter Bäumen scharf rechts, zurück auf den Hauptweg und wieder parallel zur Pegnitz, nacheinander vorbei an der üppig gedeckten Läufertafel, der Gepäckaufbewahrung und schließlich durchs Zieltor.
Im noch dicht trappelnden Feld entgeht mir das leise „Piep“ der Zeitmessung. Ich richte mein Augenmerk auf den etwa 30 Meter weiter aufgestellten Monitor. Nachdem mein Name eingeblendet wird, bin ich beruhigt. Fürs Erste. Doch technisches Menschenwerk ohne Fehlfunktionen existiert auf diesem Planeten ebenso wenig, wie ein Perpetuum mobile. Aus diesem Grund misstrauisch beschließe ich jede Runde mit einem prüfenden Blick zur Anzeige.
Nach dem kostümiert bunten, chaotisch zügel- und überwiegend ambitionslosen „Lauf-Happening“ vor zwei Wochen nebenan in Fürth (siehe Laufbericht), muss ich mich erst an diszipliniertes Sich-Vorsehen und rücksichtsvolles Ausweichen gewöhnen. Das geht mir aber nicht alleine so. Mit beruhigendem, um nicht zu sagen einschläfernden Timbre wiederholt die Moderatorin mehrfach die wichtigste Regel: Rechts laufen, links überholen. Nicht verkehrt, denn häufig genug zischen - jeder andere Ausdruck wäre untertrieben - die Spitzenathleten ohne akustische Vorwarnung an mir vorbei. Was für ein Wahnsinnstempo! Das könnte ich gerade mal zwei, wenn’s hoch kommt drei Runden weit durchhalten … Schnelle junge Männer, verblüffenderweise aber auch ein paar flotte Amazonen und vor allem immer wieder die gar nicht nach Amazone aussehende Nele … phänomenal!
Es lässt sich gut an. Ich justiere meine „Drehzahl“ auf Wohlfühlniveau und harre dem Unvermeidlichen der kommenden Stunden. Recht schnell wird mir warm, und die Sehnsucht nach der Jacke zerfließt im flirrenden Morgenlicht. Natürlich checke ich nach einer Weile mein Tempo. Nicht um es zu regulieren, sondern aus reiner Neugier. 5:50 bis 5:55 min/km kommt dabei raus. Addiert man die Verzögerungen beim Trinken, dann sollte ich folglich nach ziemlich genau einer Stunde einen Haken hinter die ersten 10 Kilometer setzen können. Mit einer Abweichung von nur wenigen Sekunden erfüllt sich diese Prophezeiung, womit ich …
… einmal mehr eine meiner Läufereigenschaften bestätige: So lange die Kraft reicht, vermag ich ein einmal eingestelltes Tempo über Stunden mit fast sekundengenauer Präzision einzuhalten - exklusive zwangsweiser Unterbrechungen natürlich. Das fällt auch Roland auf. Roland stammt hier aus der Gegend, war vor zwei Wochen ebenfalls in Fürth, stieß zufällig auf meinen Laufbericht und infolgedessen auf diverse Gemeinsamkeiten: Beide in Fürth, beide hier in Nürnberg und - du ahnst es schon - beide - wenn alles klappt - bald, bald, bald beim Spartathlon in Griechenland. „Spartathlon“ - ein Wort, das die Augen von Ultras leuchten lässt, das ihnen eine hohe Extradosis Adrenalin ins Blut jagt, so sie nur daran denken. „Spartathlon“ - der Ultra-Olymp, hunderte Kilometer abseits des eigentlichen Olymps. Ach was Olymp! Der „Spartathlon“ ist so etwas wie der Mount Everest für Ultras.
Oh mein Gott! Nun ist es mir passiert. Vor lauter Schwärmen und sehnendem Fabulieren hab ich meinen Erzählfaden verloren … Und doch lass ich es so stehen. Nimm es als Zeichen, wie es um mich steht!
Tatsächlich berichten wollte ich, dass eben jenem Roland die Konstanz meines Tempos auffällt. Anlässlich mehrerer Überrundungen (der Roland steht 2016 schon deutlich besser im Saft als ich) jeweils dieselbe Bemerkung: „Der Udo läuft konstant wie ein Uhrwerk!“ - Um Geistreiches verlegen, schicke ich ihm schlussendlich ein „Was denn sonst?“ hinterher. Das hilflos bemühte Sätzchen entlarvt einerseits eine weitere Läufereigenschaft, meine an „Anwesenheitsverleugnung“ grenzende Mundfaulheit. Vor allem dann, wenn mich Strecke und Strapazen bereits gezeichnet haben. Die Bemerkung dokumentiert aber auch mein Erstaunen gegenüber alternativen Tempotaktiken, da konstante Langsamkeit letztlich die dicksten Früchte erntet. Roland wendet sich noch einmal um: „Ich könnte das nicht!“ - Und so vergehen die nächsten Schritte in Grübeln darüber versunken, warum andere Läufer, vermeintlich oder tatsächlich, dauerhaft stetiges Traben nicht beherrschen …
Warum, weshalb, wieso? - Obschon bestens durchblutet will sich keine erhellende These in meinem Oberstübchen einstellen. Alsbald spülen Eindrücke vom Wettkampfgeschehen und Randnotizen jedweden „analytischen Ansatz“ in die benachbarte Pegnitz. Vor allem die musikalische Darbietung am östlichsten Punkt der Strecke, je nach Windstärke bereits mehrere hundert Meter davor und danach zu hören, boxt sich unaufhaltsam in mein Empfinden. Vier junge Frauen, in Aussehen, Ausdruck und jeder ihrer Bewegungen die perfekte Verkörperung esoterischer Sanftmut und Nächstenliebe, haben sich in einem Partyzelt niedergelassen. Auf Gitarre und einer Art „Kasten mit Tasten“ bringen sie sphärisch zarte Klänge zu Gehör, von Glöckchengeläut untermalt. Musik, die ein bisschen nach Enyas Werken klingt, gleichermaßen mystisch, dafür weniger rhythmisch und überhaupt nicht kraftvoll. Vor allem die dünne, geradezu „durchsichtige“, ständig in oberen Oktaven umher irrende Stimme der Sängerin befördert diesen Eindruck. Ich bin kein Freund von Hardrock à la AC/DC oder Rammstein. Und doch wächst mit jedem Umlauf, während der ungelogen mehr als drei Stunden dauernden Darbietung der Wunsch, irgendwas infernalisch Lautes, irdisch Monumentales möge den Singsang der enervierenden Elfe endlich zum Schweigen bringen. Paradox: Obschon Läufer, vermag ich dem unerwünschten Geräusch nicht davonzulaufen. Mentale Abhärtung über Stunden und vermutlich ungemein hilfreich im Hinblick auf die in Hellas lauernden Herausforderungen …
Gerade piept die Zeitmessung zum 13. Mal: Etwa eine Minute fehlt noch auf zwei Stunden und meine Beine haben beinahe 20 km abgespult. Ich freue mich über weiterhin konstantes Uhrwerk-Tempo. Meine Beine freuen sich nicht, die meckern ein bisschen. Zu früh. Viel zu früh! Reichlich Kilometer, eine Häufung hoher Intensitäten, teils „trailig“ schlechte Wegstrecken - die Inhaltsangebe meines Trainings der laufenden Woche liefert die Erklärung. Aber was nützt das? Wunder gibt es nicht im Ausdauersport, also bereite ich mich auf verbleibende vier Stunden Knochenarbeit vor …
Tommi habe ich vorhin zum ersten Mal in meinem Leben bewusst wahrgenommen und begrüßt. Geredet haben wir (noch) nicht miteinander und doch weiß ich wie er „tickt“. Wenn es ums Laufen geht, kaum anders als ich. Im Zeitalter des Internets gelten mir „Beziehungen“, wie die unsere, zwar immer noch als bizarr, doch längst nicht mehr als ungewöhnlich. Wir schreiben beide im selben Laufforum. Häufig, viel und leidenschaftlich. Nicht selten machen wir uns über dieselben Anfragen, Sachverhalte und Themen her und deswegen weiß ich wie er „tickt“, der Tommi. Heute steht er als Helfer hinterm Verpflegungsstand der „LG Nord Berlin Ultrateam“*. Eine Verlegenheitslösung, da er verletzungsbedingt nicht mitlaufen kann. „Ich habe Piriformis**!“ wird er später sein Problem lapidar auf den Punkt bringen.
*) Die „LG Nord Berlin Ultrateam gehört zu den führenden Ultralaufvereinen in Deutschland. Sie tritt bei Ultra-Meisterschaften stets mit einer quantitativ und qualitativ starken Riege an. Anlässlich dieser 6h-Meisterschaft errangen die Damen der LG die Plätze 2, 3 und 4. In der Mannschaftswertung (je 3 LäuferInnen) belegte die LG Nord Berlin die Plätze 1 und 2 bei den Damen sowie 1 und 3 bei den Herren. Das Team bestand aus über 20 Läuferinnen und Läufern.
**) Der „Musculus piriformis“ gehört zur tiefen Hüftmuskulatur (siehe Link).
Irgendwann überlasse ich Tommi meine Kamera und bitte ihn mich bei einer der nächsten Runden aufs Korn zu nehmen. Anschließend nehme ich das 140 g schwere (soeben das Schreiben unterbrochen und gewogen) Dingsbums wieder an mich und mit auf die nächste Runde. Nicht, dass die paar Gramm meine Leistung schmälern könnten. Immerhin trug ich die Digicam schon über schier endlose Distanzen, etwa beim Mauerlauf in Berlin oder auf den 100 km letztes Jahr von Florenz nach Faenza. Aber ergibt es Sinn mich auf ewig gleichem Orbit weiter damit zu belasten? Wohl kaum. Die Immobilien verändern ihr Aussehen nicht und die Mobilen arrangiert der Zufall zu stets ähnlichen Szenen. Also Tasche auf, Kamera rein und weiter.
30 km gesammelt, drei Stunden von sechs verbraucht. In die grundsätzliche Freude über mein unbeirrt tickendes Uhrwerk mischen sich Bedenken. Ich muss mir was einfallen lassen! Es wäre aus drei Gründen vermessen 60 km als Endergebnis anzupeilen. Vom Wochenpensum her würde das eine zu hohe Überlast bedeuten. Ein Risiko, das ich nicht eingehen möchte. Zum anderen schmerzen schon jetzt die Gräten, vor allem im Bereich der Hüften und Gesäßmuskulatur beidseits. Und wollte ich diese Argumente ignorieren, so käme ich doch nicht am Wichtigsten vorbei: Erst Halbzeit auf der Wöhrder Wiese und mein Körper sendet bereits die vom Handy gewohnte Meldung: „Akku schwach!“ Was also tun? Für die Entscheidung den Wettkampf eventuell früher zu beenden ist es noch zu früh. Also bleibt nur eine Maßnahme: Den Tempomaten abschalten und bewusst langsamer traben. Darüber hinaus beschließe ich mir beim Trinken nun mehr Zeit zu lassen …
Apropos Trinken. Das Buffet des Sri-Chinmoy-Marathon-Teams lässt keine Wünsche offen, es offeriert Wasser, Iso-Getränk, Tee, Malzbier, alkoholfreies Bier, Cola, Saft und sogar Brühe. Wer am Limit läuft und um (persönliche) Bestleistungen oder Platzierungen ringt, wird sich trotzdem selbst versorgen, um Magenfreundlichkeit und den raschest möglichen Ersatz verbrauchter Körpervorräte zu gewährleisten. Mir genügt das Buffet: Malzbier zu Anfang, verdünnt mit einem Schluck Wasser, einmal infolge farbbedingter Verwechselung Cola, später unverdünnt da isotonisch alkoholfreies Bier. Zwar gibt sich die Kohlensäure aufstoßend lästig, was einen gemütlichen Tippelbruder wie mich allerdings kaum belästigt. Trotz schweißfeuchter Haut, verspüre ich in den ersten, noch recht kühlen Stunden keinen Durst und muss mich fast zur Flüssigkeitsaufnahme zwingen. Später schlägt dieses Empfinden ins Gegenteil um: Ab da trinke ich so viel wie möglich, werde jedoch das Gefühl auszutrocknen nicht mehr los.
Zwischen 13 und 14 Uhr, in Stunde vier des Wettkampfs, erreicht das Quecksilber seinen Höchststand, vermutlich die prognostizierten 18°C. Obschon der Schweiß in Strömen rinnt und mich Durst zu plagen beginnt, möchte ich kein Grad Wärme missen. In einem Wortwechsel nach dem Lauf werde Mike und ich darin übereinstimmen, dass wir beide Wärme, sogar Hitze beim Laufen mögen. Dass uns demzufolge eigentlich nichts „Schöneres zustoßen“ kann, als in Griechenlands mediterranem Septemberklima mit der ultralangen Strecke des Spartathlon zu ringen. Mir war schon immer klar: Ich bin ein Sonnentyp, liebe Wärme und hasse Kälte. Eine Erkenntnis, die mir bisher nie in den Sinn kam, feiert hier und jetzt, anlässlich gedanklicher Arbeitslosigkeit, Premiere: Schon tausendfach formulierte ich laut oder in Gedanken den Fluch „Sch … kälte!“ Dagegen verspürte ich kein einziges Mal den Drang einen heißen Tag auch nur ansatzweise unhöflich anzuraunzen …
Ein bisschen Ratlosigkeit macht sich in mir breit. Trotz verhaltenen Trabens und mehr Muße beim Trinken erreiche ich die 40 km-Marke bereits nach etwa 4:02 Stunden. Also nur zwei Minuten zusätzlich „verbraten“. Und das, obwohl ich mich wirklich ausgelaugt fühle und meine Laufwerkzeuge vehement bei jedem Schritt meckern. Noch anderthalb Runden, dann ist der Marathon im Kasten. Was dann? Abbrechen? Diese Alternative verwerfe ich augenblicklich, bis 50 schaffe ich es ganz sicher noch. Immerhin bleiben mir dafür zwei Stunden. Aber genau darin liegt mein Problem. Ich kann für mich einfach keine anderen als notwendige, so kurz wie möglich gehaltene Pausen akzeptieren. Und noch weniger kommt in Betracht „überschüssige“ Zeit gehend aufzubrauchen, so lange ich noch laufen kann. Beides bräche mein Läuferherz entzwei. Das mag sich nach schwülstiger Übertreibung anhören, entspricht jedoch lediglich meinem tief verwurzelten Selbstverständnis als Läufer. Pausieren und Gehen nur wenn mich die Umstände zwingen! Ach, wäre ich doch gegen mich nur einmal so tolerant wie gegen alle anderen …
Also gut: Wirklich trödeln jetzt, tippeln und keine Eile, großzügig Zeit lassen in allem. Das kann ich verantworten. Mich mal dem Dixie ausliefern, wenn es schon drückt, was ich, um „Ehren“ ringend, sicher stundenlang unterdrücken würde. Mal ein Taschentuch besorgen und ausgiebig die Nase schnäuzen, stehen bleiben zum Trinken, dabei zwei Becher langsam leeren; für Fotos in Gegenrichtung mehrmals ein paar Sekunden opfern (die Kamera habe vorzeiten wieder der Tasche entnommen). Mit solchem Handeln verletzte ich mein Gelübde nicht, außerdem ist die Qual des Wiederantrabens Strafe genug. Zugleich frische ich die Erfahrung auf, dass langsamer zu traben die Schmerzen nicht dämpft, sondern eher das Gegenteil bewirkt.
42,3 km meldet die Anzeigetafel nach Runde 28. Marathon perfekt. Ab jetzt sind meine Rundenzeiten von ausgeprägtem Müßiggang gezeichnet. Während sie bisher jeweils knapp über 9 min lagen, vollende ich nun keine Umdrehung mehr unter 10 min. Noch fünf Runden bis zu 50 Tageskilometern, sechs Runden, um mein Wochenpensum 90 km zu erfüllen. Darauf werde ich laaaangsam zutraben und dann entscheiden …***
***) Einflüsterung des stets lauernden Spötters: „Und du glaubst ernsthaft, die Alternative „Abbruch“ gegen dich selbst durchsetzen zu können? Ich kenne dich besser! Ein Sechs-Stunden-Lauf dauert sechs Stunden. Nicht Fünfeinhalb oder Fünfdreiviertel oder so … !“
Das Musikprogramm unterm Partydach hat gewechselt. Die neue Combo besteht aus Männern, durchweg anders instrumentalisiert. Den erneut fremdartigen, jetzt nach Indien und Curry klingenden Sound dominiert eine Art Geige mit bauchig-eckigem Resonanzkörper. Sie wird im Sitzen, auf einem Oberschenkel ruhend und nach Art eines Cellos gestrichen. Den Klängen des jammernden Holzkastens überlagern sich gleichermaßen exotische Tonfolgen eines Sängers mit bronzefarbener Haut. Wieder nicht meins, aber wenigstens nicht so nervig, wie der Gesang der Sirenen.
Häufig bekomme ich Zuspruch seitens überholender Mitkämpfer. Von Mike oder Roland zum Beispiel. Dann ist da noch mein Vereinskamerad Christoph, der mir anlässlich jeder Umrundung einen verbalen Schubser gönnt (und mit mehr als 78 Kilometern einen tollen 11. Platz belegen wird!). Auch vom Streckenrand erreichen mich anfeuernde Signale. Tommi tut sich dabei hervor, ferner einige Streckenposten, Helfer und unbekannte Zaungäste, keiner spart mit Unterstützung. Das konserviert meine gute Stimmung, kann allerdings den rapiden Kräfteverfall nicht stoppen. Es fällt mir nun leicht schneckengleich am rechten Streckenrand dahin zu kriechen. Aber auch unter dieser verschärften Bedingung ist es schließlich so weit: Runde 33 absolviert, 50 km erreicht, dafür 5:22:08 h verbraucht.
Ungefähr 120 meiner Mitkämpfer durften die nun folgende „Ehrenrunde“ bereits vor mir antreten. Nicht jeder konnte sich dazu entschließen, auf diesen Weg das angebotene Fähnchen mit der „50“ mitzunehmen. Ein bisschen widerstrebt es mir schon auch. Aber nur, weil ich gar so lange für die 50 km brauchte. Trotzdem brächte ich es nicht über mich, die gut gemeinte Auszeichnung zurückzuweisen. Erst einmal ein Foto und dann los, für anderthalb Kilometer beflaggt, unter anschwellendem Applaus als Lohn …
Nach der Ehrenrunde stehen 51,5 km zu Buche. Tages- und Wochensoll erfüllt. Es bleiben noch 27 Minuten, über deren „Verwendung“ ich nicht mehr nachdenken muss. Vorhin, nach einigem Abwägen, habe ich mich auf 55 Kilometer festgelegt. Also noch zwei Runden und ein paar hundert Meter. Würde es etwas bringen, wenn ich nun abbräche? Ganz sicher morgen Frust. Und sonst? Jede Faser unterhalb der Gürtellinie schmerzt. Auch der ehedem verletzte Bereich schickt mürrische Signale. Doch die beiden Schlussrunden werden das nicht verschlimmern. Auf diese Weise mache ich meinen Frieden im Dreieck von Eigentlich-Wollen, Vernünftigerweise-Müssen und Höchstens-heute-Können. Und die Koordinaten dieses Dreiecks liegen bei exakt 55, 251 km. Genau dort deponiere ich das Staffelholz mit meiner Startnummer, als nach sechs Stunden das finale Signal ertönt.
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Vor zwei Wochen nebenan in Fürth ein Marathon im Karree, hier in Nürnberg 55 km im spitzen Oval. Heute war so ziemlich alles anders, ein gegenüber Fürth buchstäblich auf den Kopf gestelltes Lauferlebnis. Damals war Unlust im Dauergrau, heute Lauffreude unter Frühlingssonne. Dort das bunte Lauftreiben, hier eher disziplinierte Versammlung. Der Marathon in Fürth wurde mir vergleichsweise geschenkt, hier in Nürnberg musste ich fast alles geben und kreiste stundenlang mit Schmerzen. Nun darfst du raten - ausnahmsweise jedoch nur zweimal -, welche Veranstaltung ich in besserer Erinnerung behalten werde …
Mit dem Sechs-Stunden-Lauf in Nürnberg verbuche ich eine bestens vorbereitete, fehlerfrei und routiniert durchgeführte Laufveranstaltung. Die Betreuung vor, während und nach dem Lauf war exzellent. Üppige Läuferversorgung hat sich das Sri-Chinmoy-Marathonteam ohnehin auf die Fahne geschrieben.
Einziger Wehrmutstropfen: Die schrägen Musikdarbietungen. Die sind allerdings eine Frage des Musikgeschmacks und für dich womöglich pure Wonne.