Samstag, 27. August 2016

Wir betreten feuertrunken, Himmlische dein Heiligtum  -  Karwendellauf 2016

Dem Kopf fällt es schwer sich auf letzte Handgriffe zu konzentrieren und mein Körper hat um zehn vor sechs ohnehin noch keine Meinung zur Causa „Laufen“. Wer mich kennt, den wird’s nicht wundern; vor allem wenn ich ihm sage, dass ich erst seit einer guten Stunde wach bin. Meine leicht irritierte Denke resultiert überdies aus der Hektik der vergangenen Stunde. Aufstehen, Anziehen, Frühstücken - da war alles noch im grünen Bereich. Dann zerschlug sich meine Mitfahrgelegenheit vom Quartier in „Leutasch“ zum zehn Kilometer entfernten „Scharnitz“. Die Scherzbolde fuhren einfach ohne mich los, wodurch ich gezwungen war die schlummernde Ines aus dem Bett zu scheuchen. Holterdiepolter ging’s Richtung Scharnitz und in den Stau vorm Ortseingang; verbleibende Zeit bis X: 25 Minuten …

Will’s nicht dramatischer schildern, als es war. Immerhin stehe ich jetzt fixfertig in den Startlöchern und habe sogar noch Zeit für die obligatorischen Vorstartfotos. Der Grund für den Autostau gruppiert sich übrigens um mich herum: Ungefähr 700 Läufer und dahinter 1.700 Marschierer. In alpiner Enge eines kleinen österreichischen Grenzortes blockiert diese Masse motorisierter Mensch sogar samstagfrüh vor sechs die Zufahrten. Zumal es nur zwei gibt: Aus Richtung Innsbruck oder von Mittenwald her. Dass die Anfahrt ohne totales Verkehrschaos vonstattenging, ist dem Transferkonzept des „Karwendelmarsches“ zu danken. Die Punkt-zu-Punkt-Strecke quer durch das „Karwendelgebirge“ beginnt in Scharnitz und endet in „Pertisau am Achensee“. Viele deponierten ihr Auto in „Pertisau“ und nutzten den Bustransfer zu nachtschlafener Zeit hierher nach „Scharnitz“.

Wer hätte Ende August und in diesem „Schaukelsommer“ noch mit so einem Wetter gerechnet? Ich stehe im ersten Büchsenlicht des anbrechenden Tages, auf knapp 1.000 Meter Seehöhe, zwischen Bergen die allesamt mehr als doppelt so hoch aufragen, bin superleicht bedresst und fröstele nicht einmal. Sonne von Pol zu Pol und Temperaturen von über 30°C werden für heute erwartet. Richtung Osten, hinter der schwarzen Silhouette der Karwendelgipfel, graut der Morgen. Von wegen „graut“: Diese Floskel muss dem häufig schlechten Wetter hierzulande geschuldet sein, denn heute überzieht sich der Himmel mit einem pastellfarbenen Übergang von rosa nach dunkelviolett. - Andächtige Vorfreude? Schwärende Verzagtheit vor gewaltiger Aufgabe? Unausgeschlafensein? - Es ist vergleichsweise still um mich herum. Wirklichen Lärm produziert nur „der Laut-Sprecher“ über die Lautsprecher. Einleitend endlich der unverzichtbare Countdown und mit markerschütterndem Böller einer Kanone, der noch die letzte Scharnitzer Seele Morpheus' Armen entrissen haben dürfte, bricht sich das Laufvolk Bahn …

Auftakt flach auf dem Asphalt eines Dorfsträßchens. Dicht an dicht gedrängt gilt es vor allem niemanden zu behindern und selbst nicht zu straucheln. Das ist hier eine ganz andere Nummer als die vielen kleineren Ultras, die ich in letzter Zeit sammelte. Genau drei Minuten bleiben mir zum Einlaufen, dann steigt die Straße steil in Serpentinen an. Ich möchte stöhnen, gestehe es mir aber nicht zu. Selbst schuld: Wer sich zu Bergläufen anmeldet, muss nun mal mit Bergen rechnen … Tapfer joggt das Läufervolk empor. Nur der eine oder die andere Übervorsichtige zieht schon hier flotte Gehschritte dem Laufen vor. Ein paar Minuten nur, dann ist diese erste Steilstufe überwunden und der Weg flacht ab, geht Asphalt in eine gut laufbare Schotterpiste über …

---

Ein paar Fakten zur Strecke:

Auf 52 Kilometern warten insgesamt 2.280 Höhenmeter. Sie verteilen sich im Wesentlichen auf drei Anstiege, von denen der erste mit ungefähr 900 Höhenmetern die größte Höhendifferenz überwindet. Neun Verpflegungspunkte (O-Ton Austria: „Labestationen“ oder einfach „Labe“) bieten Gelegenheit zur Erfrischung.

Ein paar Spekulationen zur Strecke und zu Udo:

Bis zum ersten Sattel, in der Nähe der „Karwendelhütte“, werde ich höchstwahrscheinlich jeden Meter auf einem Fahr- bzw. Wirtschaftsweg laufen können. Das gilt wohl auch für die letzten acht, neun Kilometer vor „Pertisau“. Die Wege dazwischen, weitere 25 Kilometer, bestehen laut Wanderkarte aus einem Mix von Wirtschaftswegen und reinen Wanderpfaden. Meinem läuferischen Credo gehorchend verfolge ich natürlich die Absicht jeden Meter zu laufen. Ob das gelingt, hängt von der Beschaffenheit des Geläufs, meiner Tagesform und dem Regenerationsfortschritt ab. Nach dem „Müritzlauf“ am letzten Samstag habe ich eine Erholungswoche eingebaut, gehe infolgedessen das Bergabenteuer mit „nur“ 80 Wochenkilometern in den Beinen an.

---

Mangels markanter Gemütsregungen attestiere ich mir eine „anhaltende Aufwachphase“. Momentan setze ich mich weder zum Lauf noch zur Umgebung in Beziehung, nicht im Guten, noch im Schlechten. Ich jogge wie ein Fremdkörper durch die Berglandschaft. Anders weiß ich diesen von zu früher Leistungsabforderung ausgelösten, inneren Schwebezustand nicht zu beschreiben. Ich schwimme im Feld mit, achte auf Bodenunebenheiten, lasse meinen Blick schweifen, wenn das risikolos möglich ist, versuche mich auch als Fotograf, bin aber nicht mit dem Herzen dabei. Der Verstand stuft ein: Als kolossal und erhaben bezeichnet er die steilen Flanken der Karwendelriesen beidseits des weithin einsehbaren Tales. Und das Wörtchen „schön“ lässt er mich als Gesamtwertung des Panoramas denken. Jedoch ohne erwähnenswert auch solchermaßen zu empfinden …

---

Illusionen münden im Laufsport mindestens in persönliche Niederlagen. Also suche ich sie zu vermeiden und anerkenne meine Durchschnittlichkeit am Berg - unabhängig vom jeweiligen Trainings- und Ausdauerzustand. Ich bin zu groß, zu schwer und zu steif, um auf alpinen Routen gute Zeiten erzielen zu können. Eingedenk dieser Voraussetzungen erwarte ich mich - wenn alles gut geht - im Mittelfeld des Klassements. Nicht, dass die Platzierung von Belang wäre. Die Einstufung ist jedoch wichtig, um den Zeitbedarf für den Lauf abschätzen zu können. Und die Laufzeit besitzt in zweierlei Hinsicht Relevanz: Ines sagt sie, wann sie mich in „Pertisau“ ungefähr erwarten kann. Mir hilft sie die Trainingswoche davor zu planen (Wen interessiert, wie das geht, lese unter * nach). Im Mittelfeld der letztjährigen Finisherliste stehen Zeiten um die 7:30 Stunden zu Buche. Folglich bildet ebendiese „7:30“ meinen zeitlichen Fixstern bis Realität sie - früher oder später - ersetzt.

*) Von entscheidender Bedeutung für den Trainingserfolg ist unter anderem die stete Steigerung der Trainingsbelastung pro Woche. Die ergibt sich jedoch nicht nur aus gelaufenen Kilometern. 52 Kilometer mit 2.280 Hm fordern weit intensiver als dieselbe Distanz flach. Im Großen und Ganzen flache Trainings- oder Wettkampfkilometer addiere ich 1:1 zur Wochenkilometersumme. Unternehmungen, die relevant von Höhenmetern und/oder schwierigen Trailstrecken erschwert werden, gehen über die Laufzeit in die Summe ein. Dabei verwende ich ein einfaches Äquivalent: 60 min entsprechen 10 km! Für den „Karwendellauf“ veranschlage ich 7:30 Stunden, ergo geht er mit 75 km in die Wochenkilometersumme ein. Obiges Äquivalent ist natürlich subjektiv, d.h. leistungsabhängig. Es ergibt sich aus der Beobachtung, dass ich meine „Trainingsläufe flach“ - egal, ob lang oder kurz - mit einem durchschnittlichen Tempo von grob gerundet 6 min/km (= 10 km in der Stunde) absolviere. Ein schneller, sehr gut ausdauertrainierter Läufer müsste z.B. 4 min/km „flach“ (= 15 km/h) in Ansatz bringen.

---

„Hallo Udo! Bist du schon ansprechbar?“ - Ich treffe Bernie, einen Augsburger, eher selten, und jedes Mal zeigt er sich über mein Wohl und Wehe recht gut informiert. Auch in diesem Jahr muss er diverse Laufberichte gelesen haben, anders wäre seine nächste Bemerkung nicht erklärlich: „Jetzt läufst du ja schon wieder einen Trail!?“ - Es steckt kein Funken Geringschätzung darin, wenn ich darauf relativierend mit „Aber der hier ist vergleichsweise einfach!“ antworte, was er mir im Grundsatz bestätigt. ‚War er schon mal hier?’ Denken geht schon, zum Fragen reicht’s noch nicht. Ich gebe mich einsilbig und wirke sicher muffelig. Yes, I know. Aber wenn ich drauf bin, wie ich jetzt grad drauf bin, dann reklamiere und praktiziere ich mein Recht zu Schweigen …

Immerhin scheint der ansatzweise Dialog meinem Gemüt auf die Sprünge geholfen zu haben. Das merke ich beim Anblick der über dem Talboden schwebenden Nebelbank. Diesmal denke ich nicht nur „wunderschön“, diesmal fühle ich es auch. Dasselbe gilt für die im rötlichen Licht eines strahlenden Sonnenaufgangs glühenden Bergspitzen. Um sie zu sehen, muss ich allerdings den Kopf drehen oder stehen bleiben und mich umwenden. In immer kürzer werdendem Stakkato sammele ich nun Bild um Bild. Ein bisschen Vorschau sei in dieser Hinsicht erlaubt: Am Ende werde ich über 350 Fotos im Kameraspeicher mit nach Hause nehmen …

Eine dichte Läufertraube belagert den ersten Verpflegungspunkt. Knapp 10 Kilometer liegen hinter mir und ich genehmige mir ein erstes Gel. Dazu trinke ich vier volle Becher Wasser. Im morgendlichen Schattenwurf der Berge, zumal die Strecke auf den letzten Kilometern kaum Steigung aufwies, hielt sich mein Flüssigkeitsverlust in Grenzen. Ergo trinke ich auf Vorrat. Bis zur zweiten Labe wird Minimum eine Stunde verstreichen. Zudem weiß ich nicht, wie sich die Schweißrate in der nächsten Stunde entwickeln wird: Steile Wegabschnitte? Ab wann wird mich die „Sonne“ in Wärme baden? Im Trinkrucksack steckt heute nur eine Flasche, mit einem Notvorrat halb gefüllt. Nutzen will ich ihren Inhalt nach Möglichkeit nicht, um keine Zeit zu verlieren.

Auch nach dem Verpflegungspunkt gewinnt der einigermaßen komfortable Wirtschaftsweg nicht entscheidend an Höhe. Im Gegenteil: Mehrmals senkt er sich wieder um ein paar Meter, wie um einen weiteren Talkessel zu erschließen. Hieraus könnte man nun auf flottes Tempo meinerseits schließen, was im Prinzip auch stimmt. Allerdings verliere ich eine Menge Zeit durch häufiges Fotografieren. Und daran ist einzig das Karwendel schuld. Das magische, das mysteriöse Karwendel. Nebelschwaden überziehen Talgrund und Bäume mit geheimnisvollen Schleiern. Darüber, durch Felskare und vom Talschluss her einfallend, setzen Sonnenstrahlen morgendlichen Dunst effektvoll in Szene. Das ist … atemberaubend schön! Das ist … absolut grandios! Es vorstellbar auszudrücken fehlen mir die Worte und selbst Bilder können nicht annähernd wiedergeben, was sich mir in diesen Augenblicken ins Gedächtnis brennt! Jetzt bin ich bei mir! Voll und ganz. Bei mir und eins mit dem, was ich tue. Zweifelsfrei und endlich. Was immer an Schinderei mir heute auferlegt werden wird: Ich werde es genießen!

Apropos Schinderei: Nach ungefähr anderthalb Stunden „Laufgeplänkel“ macht der Kurs nun Ernst. Der Weg wird zunehmend steiler und fordert erstmals wirklichen Einsatz. Wie erwartet ziehen die meisten meiner Mitläufer die Gangart „Gehen“ vor. Auch ohne strikte Selbstverpflichtung - „Gehen nur, wenn Laufen nicht möglich ist!“ - würde ich mir ihr Kräftesparen nicht zu eigen machen. Die Rampe strengt an, jedoch weit entfernt vom Limit. Auch der Schweißverlust hält sich in Grenzen, da der Hang noch immer im Schatten liegt. Eine lang gezogene Serpentine, dann noch eine, schließlich die Schlusskehre und hinein in die Sonne …

Augenblicklich umfängt mich der wunderbarste aller Sterne mit wohliger Wärme und eine Flut blendenden Lichts erleuchtet auch noch den hintersten Winkel der Seele. Vielleicht werde ich das später bereuen, doch in diesen ersten Minuten beflügelt die tief überm Sattel stehende Sonne meine Lauflust und katapultiert meine Stimmung auf ein Wochenhoch. Der Weg flacht ab, hat die Passhöhe des 1.803 Meter hohen „Hochalmsattels“ jedoch noch nicht erreicht. Weiter hinan, nun mit guter Sicht auf ausgedehnte, sattgrüne Almwiesen beidseits des Fahrwegs. Rechter Hand, hoch droben am Fuß einer Felswand, „klebt“ das Karwendelhaus, eine Berghütte des Alpenvereins, wie ein Schwalbennest am Berg. Der Weg holt zu weiteren Serpentinen aus, auf denen sich massenhaft Läufer, wie Ameisen aufwärts mühen. Gehend zumeist. Mir ist es schweißtreibende Lust alles im Laufschritt zu nehmen. Es gab Zeiten, da ich Anflüge von Scham unterdrücken musste, wenn ich an Ketten gehender Mitläufer vorbeisteppte. Gewöhnung durch mannigfache Wiederholung lässt dergleichen wohl nicht mehr zu.

Das ist doch … „Hallo Franz!“ Also bin ich schon mal nicht der älteste Teilnehmer* im Zug der Murmeltiere. Keine Ahnung, wie viele Jahre genau er hier rauf wuchtet, im Schwarzwald, beim „Hornisgrinde Marathon“, erntete er jedoch den Lorbeer des Ersten in der Altersklasse M65. Wie lang ist das her? Fünf Jahre, fünf Monate? Nein, mickrige fünf Wochen nur, von anderen hochkarätigen Lauferlebnissen überdeckt und auf gefühlte Ewigkeit gedehnt. Für zwei Sätze, die bezeichnender Weise einem gemeinsamen Bekannten gelten, der derzeit verletzt zu Hause „rumsitzen“ muss**, bin ich auf seiner Höhe, strebe dann aber zügig dem zweiten Verpflegungspunkt entgegen. Gel und vier Becher Wasser, im letzten ein wenig Salz, um die Elektrolytverluste auszugleichen.

*) Ein bisschen Veranstalterschelte muss sein: Ziemlich unsinnig und definitiv ungerecht erfolgt die Wertung in den Altersklassen des „Karwendellaufs“. Es werden zum Beispiel alle Teilnehmer „60 Jahre und älter“ in einer Kategorie geführt. Später beim Duschen, werde ich ein Gespräch mitbekommen, in dem sich einer der Teilnehmer als Ü70 outet. Da ich ihn beim Duschen treffe, muss er zeitnah zu mir gefinished haben. Tatsächlich rangiert er in der Altersklassenwertung sogar einen Platz vor mir. Frage in die Weiten der Laufwelt: Macht es nicht einen gewaltigen Unterschied, ob ein Ü60 oder ein Ü70 so eine Ultraaufgabe erfolgreich abschließt?

**) Der Betreffende wird wissen, dass er gemeint ist, wenn er das liest … Gute Besserung!

Ein paar hundert Längen- und kaum noch Höhenmeter später erreiche ich den höchsten Punkt des „Hochalmsattels“. Was für ein Anblick!!! In Dunst und Gegenlicht reihen sich vor mir die östlichen Karwendelgipfel. Das ist einfach … unbeschreiblich, bombastisch schön! Für ein paar unfassbar intensive Momente scheint alles andere unwichtig … … … Trainieren, Wettkämpfen, Laufen, Ziele, jegliches „Streben nach“ - alles tritt ins hintere Glied angesichts solcher Imposanz! Schritte voran, wieder stehen und schauen, noch ein Foto und noch eins. Es fällt mir ernsthaft schwer mich dessen zu besinnen, wofür ich hier bin. Aber es muss sein und mit Inbrunst freue ich mich auf die vielen Schritte, Ansichten, Schönheiten, die noch vor mir liegen …

Dort vorne unten, um genau zu sein. Der Fahrweg senkt sich talwärts, mit mäßigem, zu hohem Tempo einladendem Gefälle. Das ist so recht nach meinem Geschmack. Natürlich liegen reichlich „Kullersteine“ im Weg herum und der eine oder andere hinterhältige Brocken ragt auch kantig drohend auf. Aber das habe ich im Griff. Null problemo. Gewährt mir das Geläuf Schritte auf nahezu planem Untergrund, nutze ich sie für geschwinde Rundblicke. Beständig ist nur der Wandel, in diesem Fall, was An-, Ein- und Weitsichten angeht. Dann und wann bremse ich für ein Foto auf null herunter. Sch … auf die Laufzeit!* Wenigstens das zweitbeste, das zweidimensionale Abbild all dieser Herrlichkeiten muss ich mit nach Hause nehmen.

*) Im Ziel füllen mehr als 350 Fotos meinen Kameraspeicher. Natürlich habe ich einen Teil davon auch in Bewegung, also ohne Verzögerung, geschossen. Überwiegend blieb ich jedoch stehen, um Bildschärfe zu gewährleisten. Mal unterstellt, ich hätte im Mittel für jedes Bild etwa zwei Sekunden investiert (= durchaus realistisch), ergibt das 700 „verlorene“ Laufsekunden oder ungefähr 12 min, die ich das Ziel früher hätte erreichen können …

Den Sichtschutz einer Fichte nutzend erzwingt mein Körper einen kurzen biologischen Halt. Der kostet mich zwar weitere zwanzig Sekunden, sorgt jedoch für die beruhigende Bestätigung, dass es um den „Wasserstand“ meines Körpers gut bestellt sein muss. Und weiter, immer weiter hinab, den Windungen des Weges folgend, häufiger nun zwischen Bergfichten und Latschen. Ab und zu schießt einer der „jungen Wilden“ an mir vorbei. Sollte ich ein wenig mehr Dampf machen? Nein! Dabei wirkten Kräfte im Laufapparat, die meine dafür nicht ausreichend konditionierten Gelenke und Sehnen übel nehmen könnten. Außerdem wüchse das Risiko zu stürzen mit dem Quadrat des eingeschlagenen Tempos … Und für die orgiastische Bilderfülle um mich her, hätte ich dann auch kein Auge mehr.

Ich fühle mich so gut, wie selten zuvor! Keinerlei Zipperlein, das plagt, ausgestattet mit reichlich Ausdauerreserven und nun auch noch versetzt in eine Märchenwelt. Die Welt der guten Feen und lustigen Kobolde. Damit habe ich mitnichten die geschäftig wieselnden Männ- und Weiblein der dritten Labe im Sinn, hier unten auf dem Grund des „Kleinen Ahornbodens“. Wenn es Fabelwesen irgendwo gibt, dann in dieser berückend schönen Kulisse. Und heute Abend, wenn es stiller wird, geben sie sich wieder ein Stelldichein. Vielleicht da drüben, zwischen den zwei urigen Ahornbäumen … „Kleiner Ahornboden“! Das ist ein Synonym für eines der zauberhaftesten Naturdenkmale, das ich je schauen durfte. Uralte, runzlige, vom Alpenwetter gegerbte Ahorn-Senioren stehen hier neben zartem Nachwuchs. Zum Schutz vor nagendem Wild wurden die jungen Bäumchen mit Drahtgeflecht umhüllt. Noch abgestorben, mit verfaulendem Stamm und Ansätzen ehemaliger Äste, weiß mich einer dieser Bäume zu beeindrucken. Aber das sind nur Ausschnitte eines phänomenalen Panoramas, das begrünte Schutthalden, Fichtenwald und jäh aufragende Felsriesen zum umwerfenden Unikat ursprünglicher Natur komplettieren. Da können weiße Partyzelte, üppig gedecktes Läuferbuffet und sich blähende Abfallsäcke nur störend wirken. Also lieber beim Trinken abwenden und bergwärts schauend schwelgen …

Ich lasse die Labe hinter mir zurück und erforsche weiteres Terrain des „Kleinen Ahornbodens“. Schlussendlich quere ich ein breites Band aus blendend kalkweißem Gries. Zwanzig, dreißig knirschende Meter über Steine von Samenkorn- bis Tennisballgröße, die nur im Sommer und Herbst zu Fuß passierbar sind. Im Frühjahr, bei Tauwetter, rauscht hier auf voller Breite das Schmelzwasser zu Tal. Jenseits des Bachbetts geht’s neuerlich bergan, erstmals auf einem ausschließlich Wanderern vorbehaltenen Pfad. Kaum zehn Minuten des unschwierigen Trails kann ich genießen (ja, genießen!), dann mündet er in einen breiten, sich seinerseits empor windenden Wirtschaftsweg. Beinahe mühelos setze ich einen Fuß vor den anderen. Kurze, der Steigung angepasste Schritte natürlich, aber ohne dass sich meine Atemfrequenz merklich erhöhen würde. Das Ganze kommt mir verdächtig einfach vor …

Von unten betrachtet will mir der beschwerlich anmutende Gänsemarsch meiner Mitläufer nicht in den Kopf. Der weithin einsehbare Hang macht auf mich einen eher harmlosen Eindruck. Auch in Höhe dreier Almhütten bin ich noch frischen Mutes, bis „Harmlosigkeit“ von brachial steiler Realität hinweg gefegt wird. Sofort suche ich mein Heil in ultrakurzen Schrittchen und habe erstmals heute Luft unter den Fersen. Nach kurzer Frist jodeln meine Achillessehnen bereits „Holleri du Dödel di!“ Die Sonne sticht erbarmungslos und kein Lüftchen bringt Linderung. Wasser schießt aus allen Poren, bildet Rinnsale, zwingt mich halbminütlich die Brille zu lüften und zu wischen. Wie sehr mich diese Rampe anstrengt, merke ich vor allem, wenn ich für ein Foto stehenbleibe. Stehenbleibe und dann gegen die Steilheit wieder Fahrt aufnehme. So Udo: Nun weißt du warum sie alle gehen und wieso sie dabei so mitgenommen aussehen. Ich widerstehe dem ungestümen, sich sekündlich steigernden Drang es ihnen gleich zu tun, tippele weiter bergwärts. Gefühlt foltert die Passage eine Stunde, tatsächlich sind es nur Minuten, dann stehe ich vor einem beschilderten Abzweig …

Mountainbiker werden angewiesen dem Fahrweg zu folgen, Wanderern steht es frei dem schmäleren, steileren Bergpfad zu folgen. Das gilt auch für uns Läufer, denn selbstverständlich wandern jetzt alle. Alle bis auf einen verbohrten Idioten. Der joggt und sammelt einen beinmüden Krieger nach dem anderen ein. Manche hat es schon dermaßen dahingerafft, dass sie am Wegrand rasten; meistens stehend, auch mal welche sitzend oder ausgepumpt über die Wanderstöcke gebeugt. Und ich steppe vorbei als wäre es nichts. Nun kommt es doch wieder auf, dieses blöde Gefühl die Mitkämpfer zu düpieren. Wie werden sie mein Gebaren empfinden? Woher sollen sie auch wissen, was ich mir seit Monaten zumute? Zumute, um mir die für meine Sturheit nötige Ausdauer unter unsäglichen Mühen anzueignen? Weiter, immer weiter aufwärts. Etwas flacher jetzt, oft auch am festen, grasigen Rand des mit Geröll übersäten Pfads. Und dann bringt mich der Trail doch noch zur Strecke: Ich muss gehen. Aber nur etwa 20 Meter weit, in kurzzeitig steilem, übel zerklüftetem Fels. Das ist mir einfach zu „haarig“! Aber was sind schon 20 Meter, wenn man insgesamt 52.000 unter die Füße nimmt?

Ich werde mit jedem Schritt müder und ein kaum mehr bezähmbares Durstgefühl bemächtigt sich meiner Kehle. Nicht mehr weit! Etwa zwei-, dreihundert Meter schräg oberhalb lugt bereits der Giebel der „Falkenhütte“ über den Hang. Hütten im Gebirge waren mir von jeher Verheißung: Ende der Schinderei, Labsal, Erholung … Mit jedem erkämpften Höhenmeter reckt sich mir das imposante, zugleich gemütlich wirkende Schutzhaus weiter entgegen. Noch zwei Minuten, noch eine und dann habe ich es geschafft: Gierig und becherweise schütte ich das herrliche Nass in mich rein. Aus beinahe randvoll gefüllten anderen Bechern steigt mir ein verführerischer Duft in die Nase: Kartoffelsuppe. Udo, das ist nicht dein Ernst!??? Bist du jetzt völlig plemplem? Ich greife mir einen Suppenbecher, schnuppere daran, kann nicht widerstehen und koste davon … Boaaah! Wahnsinn! Hat je eine Suppe eine solche Geschmacksexplosion in mir ausgelöst? Sämig, würzig, köstlich, warm im Mund. Ich schlucke und schlucke, kann mich mit knapper Not davor bewahren nach einem zweiten Becher zu greifen …

Ein bisschen „entrückt“ stehe ich vor der Labe herum und spüle mit ein paar Schlucken Wasser nach. „Udo! Es ist lange her!“ Offensichtlich gilt die Ansprache mir. Das ist … Vor mir steht Wolfgang, ein Rheinländer. Überraschte, etwas aus der Fassung geratene Menschen neigen zur Offenheit: „Mensch Wolfgang! Mit der Sonnenbrille siehst du ein bisschen komisch aus, da hätte ich dich kaum erkannt!“ Wann wir zuletzt www-Kontakt hatten, weiß ich nicht mehr, dafür steht mir unsere letzte Begegnung noch vor Augen: Letztes Jahr war das, in Bad Neuenahr, früh morgens, vor den 42,195 Kilometern des „Ahrathons“ … - Becher leer und entsorgt, nun noch ein paar Fotos von der fotogen, vor mächtigen, nahezu senkrecht aufragenden Felswänden* platzierten Hütte, dann breche ich wieder auf.

*) Es handelt sich um die bei Kletterern sehr beliebten, etwa 600 m hohen „Laliderer Wände“ (Ausläufer der „Laliderer Spitze“, 2582 m). Von der „Falkenhütte“ aus kann man bei gutem Wetter den Aufstieg der Seilschaften im Fels beobachten.

Zwei, drei Minuten folgt die Route dem stark abschüssigen Hüttenweg, um dann abrupt auf einen Wanderpfad abzubiegen. Augenblicklich ist es vorbei mit Schauen und Staunen, denn nun gehört meine volle Aufmerksamkeit dem schwierigen Geläuf. Verlässliche Tritte in Sekundenbruchteilen ausmachen, gut koordiniert die Füße aufsetzen, vor allem höher anheben, als ich das sonst praktiziere. Auf diese Weise komme ich einigermaßen zügig voran, obwohl der Trail genügend haarige Stellen bereithält: Hohe Absätze, tausend Stolperkanten, rutschiges Geröll in rauen Mengen. Nicht unschwierig aber komplett laufbar und darauf kommt es mir an! Hohes Tempo erlaubt der Pfad eigentlich niemandem mehr. Fast alle gehen auf Nummer sicher, nur vereinzelt muss ich Hasardeuren freie Bahn einräumen. Entweder ist ihnen egal, ob sie dieses Abenteuer unverletzt überstehen oder sie besitzen ein spezielles Gen, das sonst nur bei Gemsen und Steinböcken vorkommt …

Nicht mal zehn Minuten später flacht der Weg ab und geleitet uns zum Schattenwurf der imposant aufragenden „Laliderer Wände“. In 1.700 m Seehöhe und mangels „Sonnenheizung“ konnte der kühle Morgen hier überleben. Auch wenn ich die Wärme bisher genoss, bin ich natürlich dankbar, dass mein Wasserhaushalt nun für ein paar Minuten geschont wird. Auf gleicher Höhe „munter einher trailend“, schweift mein Blick immer wieder für Momente talwärts. Inmitten ausgedehnter Wiesen duckt sich dort unten eine Gruppe von Almhütten malerisch zwischen felsigen und bewaldeten Berghängen. Von hier oben sind keine Kühe auszumachen, dennoch tippe ich angesichts der Vielzahl von Gebäuden auf Milcherzeugung und -verarbeitung gleich vor Ort. Voraus rückt das nächste Zwischenziel ins Blickfeld, das höchstens hundert Meter höher gelegene „Hohljoch“. Auch wenn sich dieser „Zacken“ im Höhenprofil gegenüber den drei kapitalen Anstiegen eher gemütlich ausnimmt, zeigt er mir kurzzeitig meine Grenzen auf. Vierzig, fünfzig der bisher steilsten Höhenmeter peitschen Puls und Atmung auf Tageshöchstwerte. Längst wieder ungeschützt der Sonne ausgesetzt beginnt nach geringer Verzögerung auch neuerlich der Schweiß zu rinnen. Schritt für Schritt kämpfe ich mich voran, bleibe zwei-, dreimal für Fotos stehen, bis schließlich der steilste Abschnitt hinter mir liegt …

Fotografieren oder Laufen? Beides gleichzeitig geht in der Abwärtsbewegung nicht. Der Pfad stellt mich zwar vor keine unüberwindlichen Probleme, dennoch will jeder Schritt vorab „überlegt“ sein. Wie gehabt: Felsiger Untergrund, Stolperkanten zu Hauf, mit losem Schotter gefüllte Passagen. Nur selten muss ich mich für tief hinab reichende Stufen an seitlichem Fels abstützen. Alles laufbar, wenn man sich vorsieht! Und ich sehe mich vor. Aber kein Läufer hat seine Beine in jedem Sekundenbruchteil unter Kontrolle. Für einen Moment gerät der Oberkörper zu weit hintern Körperschwerpunkt, schon rutschen die Füße auf losen „Kullersteinen“ talwärts weg. Wie ein Skispringer nach missglückter Landung, fange ich die unkontrollierte Bewegung durch Abhocken auf den Fersen ab. Ein Adrenalinstoß jagt durch den Körper, mehr widerfährt mir nicht … Glück gehabt! Lauf etwas verhaltener und konzentrier dich!!!

Der Zwischenfall weckt auf, was an Vorsicht vielleicht schon eingeschlafen war. Meine euphorische Stimmung zu dämpfen vermag er nicht. Es ist 35 Jahre her, dass ich zuletzt in diesem Teil des Karwendelgebirges wanderte. Ich wusste um den Reiz dieser Landschaft, aber nicht mehr wie unvergleichlich schön sie ist. Jeder Teil des alpinen Lebensraumes unterscheidet sich vom anderen. Berge sind nicht gleich Berge. Das Wetterstein hat einen völlig anderen Charakter als die Gipfel des Karwendels. Die Voralpen präsentieren andere Bilder als die ganzjährig mit Eis und Schnee überzogenen Bergriesen des Alpenhauptkammes. Jede Region ist auf ihre Art einzig, ein „schöner als“ gibt es nicht. Um die Ansichten zu genießen, nutze ich seltene, risikofreie Stellen oder verharre für ein paar Sekunden. Abwärts, immer weiter abwärts, bereits wieder in einer Zone aufgelockert wachsender Bäume. Zuletzt sanft auslaufend über, durch und in Pfadspuren einer Wiese auf die weiträumige Talmulde des „Großen Ahornbodens“ zu.

Natürlich ruinieren quietschbunte Zielaufbauten (Endpunkt für die 35 km-Marschierer) samt Verpflegungspunkt die natürliche Harmonie des Tales. Denke ich mir diese zeitweiligen Verunstaltungen weg, vermag der „Große Ahornboden“ dennoch nichts vom Zauber seines „kleinen Bruders“ zu vermitteln. Dazu wirkt der Talboden zu übersichtlich und aufgeräumt, wird zudem landwirtschaftlich intensiv genutzt. Vor gut und gerne 35 Jahren war ich schon einmal hier, empfange aber kein noch so schwaches Echo des Wiedererkennens. Hat sich der Ort derart verändert? Seltsamerweise streift mein forschender Blick nur junge Ahornbäume. Bemooste, knorrige Veteranen, wie sie den „Kleinen Ahornboden“ prägen, fehlen hier völlig. Außerdem vermittelt der Bestand den Eindruck einer „Plantage“. Täusche ich mich oder stehen die Bäume in nahezu regelmäßigen Abständen? - Noch ein Becher Wasser, dann kehre ich in den Wettkampf zurück. Fünf-, sechshundert flache Meter im weitläufigen Talkessel geben Gelegenheit die berauschenden Ansichten ringsum zu genießen. Helles Grün von Almwiesen, dahinter und darüber das dunklere des Bergwaldes, seinerseits überragt von hellgrauem, himmelstürmendem Fels. Sattsehen kann ich mich daran nicht und je länger es auf mich wirkt, umso mehr werde ich mir der Unfähigkeit bewusst das Gigantische, das Großartige, das Himmlische in Worte zu kleiden …

Also versuche ich es erst gar nicht, widme mich lieber dem dritten und letzten Anstieg. Noch einmal 700 Höhenmeter, bis hinauf zum höchsten Punkt der Strecke, dem „Binssattel“ (1.901 m). Der Aufstieg beginnt auf moderat ansteigendem Forstweg. Auch steilere Abschnitte vermögen mich einstweilen nicht in den „Volllastbereich“ zu treiben, womit ich nach nunmehr über fünf Stunden (vor allem vertikaler) Beanspruchung eigentlich rechne. Stattdessen stellt sich ein Gefühl ungebrochener Stärke und noch lange nicht versiegender Reserven ein. Mein Staunen über diesen Umstand mündet in beinahe kindliche Freude! Heute scheint wieder so ein Tag zu sein, an dem alles passt, alles stimmt, alles gelingt! Traumlandschaft, Traumwetter, traumhaft schönes Empfinden! Ich fühle mich beglückt, reich beschenkt und wenn es dir nicht zu schwülstig klingt: Vom Paradies auf Erden berührt …

Kurzer Halt an der Labe „Binsalm“: Gel, mehrere Becher Wasser und dann weiter. Wer will, kann sich zum Abschied unter der Fontäne eines sprühenden Schlauches abkühlen. Danach steht mir jedoch nicht der Sinn. Mir ist es definitiv nicht zu warm, auch wenn mir der strahlende Stern zuletzt mächtig einheizte. Weiter aufwärts also, auf besagtem Forstweg. Zwei, drei großzügig geschwungene Serpentinen noch, dann biegt der Läufergänsemarsch auf einen schmäleren Bergpfad ab. Der Trail schlängelt sich mit stetig wechselndem Anspruch, hinsichtlich Profil und Beschaffenheit, zwischen Bäumen und Latschen hinan. Natürlich gehen hier alle, wie schon auf dem Forstweg. Ja, richtig: Alle bis auf mich. Will ich nicht und brauch ich auch nicht. Fühle mich stark genug mein „Gelübde“ zu erfüllen und tippele - im wahrsten Sinne des Wortes - über Stock und Stein stetig bergwärts. Eine ganze Weile finden sich noch genügend Stellen, die es erlauben Geher mit drei, vier rascheren Schritten zu überholen - ohne sie zu behindern und mich selbst zu gefährden. Schweiß rinnt in Sturzbächen jetzt und meine Lunge schuftet hörbar. Das macht mir nicht nur nichts aus, ich fühle mich dabei von Begeisterung beflügelt. Begeisterung nach den unsäglichen Ultramühen der letzten Monate und fast sechs Stunden im laufenden Wettkampf, jetzt noch Körner für Laufschritte aufzubringen!

Dann und wann gebieten mir klobige Wurzelstöcke von Latschen Einhalt. Galoppieren Springpferdchen durch diesen Parcours - vielleicht vorneweg, bei den Schnellsten -, die solche „Oxer“ mit beherztem Sprung hinter sich lassen? - Nicht unmöglich, nach bisherigem Wegverlauf allerdings schwer vorstellbar. Mir bleibt nur, das Hindernis mit vorsichtig tastenden, teilweise weit ausgreifenden Schritten zu überwinden. Das hat dann mit Laufen nicht mehr viel zu tun, hält mich allerdings auch nur ein, zwei Meter von Laufschritten ab. Jenseits der Barriere nehme ich wieder Fahrt auf, schraube mich Meter für Meter hinan. An manchen Stellen fällt der Hang talwärts jäh und grundlos in die Tiefe. Wer hier strauchelt, dem droht dasselbe Schicksal! Also schauen oder laufen. Alles andere wäre Russisches Bergroulette!

Schließlich ereilt mich doch noch der befürchtete Moment, da propere Ausdauerreserven und massive Entschlossenheit auch diesen Anstieg laufend zu überstehen nicht mehr helfen: Zu steil, zu eng und zu viele Läufer in der Spur. Viele von ihnen schleppen sich keuchend, offensichtlich mit letzter Kraft diesen im Schlussteil brutal steilen Hang hinauf. Ich stapfe notgedrungen hinterdrein und bezähme meine Ungeduld in gefühlt hundert eng geschleiften Serpentinen. Um die Wegbeschaffenheit unmissverständlich zu beschreiben: Ohne „Barrieren aus Fleisch und Blut“ wäre ich auch nicht fähig diesen Hang komplett im Sturmschritt zu nehmen. Diverse hohe Absätze und mehrere Steilstücke sind schlichtweg nicht laufbar. Wahrscheinlich für niemanden. Doch zwischendrin hätte Sturheit immer wieder gefordert: Los jetzt! Antraben! Hier geht es! Wenn auch nur ein paar Tippelschritte weit.

Die „Blockade“ kommt mir länger vor, als sie tatsächlich währt*. Ich schwitze und kämpfe. Für den Grad der Belastung spielt es kaum eine Rolle, ob du gehst oder aufwärts den Stepptänzer gibst. Mehrfach greift der Blick nach oben und jedes Mal scheint das Joch noch weit entfernt. Noch eine Kehre und noch eine. Auf der Ameisenstraße unter mir arbeitet sich das Heer der anderen Krabbeltiere empor. In schillernde Farben gehüllt und mit filigranen Wanderstöcken bewehrt geht von ihnen tatsächlich etwas Insektenhaftes aus. Noch eine Kehre und noch eine. Wie viele denn noch? - Sie nehmen mich körperlich hart ran, bilden jedoch nicht die Ursache meiner Ungeduld. Ich will endlich wieder selbstbestimmt „laufen“. Das Eingekeiltsein nervt. Flacher auf den letzten Metern jetzt, schlussendlich winkt hinter schmalem Durchlass eines Stacheldrahtzauns die Freiheit …

*) Aus den Zeitstempeln meiner Bilder lässt sich die Phase der „Blockade“ auf ziemlich genau 10 Minuten eingrenzen.

Eine letzte Felsstufe, dann stehe ich zwischen vielleicht zehn auf dem „Binssattel“ rastenden Mitläufern. Glückliche Gesichter, scherzende Münder. Alle sind heilfroh diese vermeintlich letzte, schwere Prüfung überstanden zu haben. Von hier nur noch bergab bis ins Ziel. In den Köpfen ausgelaugter Sportler hinterlassen solche Aussichten gerne mal ein Echo von „So gut wie geschafft!“ Das geht mir nicht anders, obschon ich es nach nur einem Blick ins steil abfallende Tal besser wissen sollte! Das gefährlichste und in seinen Auswirkungen härteste Stück Weg kommt erst noch …

Auf dem Joch gönne ich mir weder Pause noch ausgedehnten Rundblick, halte stattdessen auf den etwa knapp zweihundert Höhenmeter tiefer liegenden, bereits sichtbaren Verpflegungspunkt „Gramaialm“ zu. Der Trail bergab ist keine Frage verbliebener Ausdauer, eher eine der Kraft. Nach jedem Aufsetzen des Fußes muss die Oberschenkelmuskulatur ein Vielfaches des Körpergewichts abbremsen. Darüber hinaus sind Geschicklichkeit und volle Konzentration gefragt, um in Sekundenbruchteilen den rechten Fleck zum Aufsetzen der Sohle auszumachen. Dabei vollzieht sich kein „Denkprozess“ im eigentlichen Sinne. Was das Auge erfasst, muss die nervale Steuerung des Bewegungsapparates ohne Verzug umsetzen. Rasch verliere ich an Höhe, fühle mich dabei sicher, fordere mich dennoch immer wieder zur Vorsicht auf! Steile, schwierigere Passagen wechseln mit fast ebenen, risikofreien. Gelegenheit die Augen schweifen zu lassen. Häufig hat so ein Rundblick negative Folgen für mein Wettkampfergebnis: Wieder eine atemberaubend schöne Perspektive entdeckt, wieder stehen geblieben, das Bild in Pixelform mitgenommen und Zeit eingebüßt …

Verpflegungspunkt „Gramaialm“: Gel, Wasser und weiter abwärts. Und das nach kurzer Zeit dermaßen steil, dass mir für Minuten Angst und Bange wird. Kein Fels, keine Wurzel, nichts im Weg, was mich bremsen könnte. Aber eben auch kein sicherer Halt, der meine Fahrt verlangsamen würde. Feiner Schotter auf gefährlich abschüssiger Rutschbahn!!! Nach kurzer, aber notwendiger Panikattacke bremse ich die Bewegung erst einmal auf null ab. Vorsichtig verlagere ich das Gewicht weiter nach vorne über den Körperschwerpunkt, setze die komplette Sohle auf und „schrappe“ in kleinen, kontrollierten Schrittchen hinab. Schwerstarbeit für meine bereits schmerzenden Oberschenkel. Eine Alternative gibt es nicht. Verlöre ich hier die Kontrolle und stürzte, wäre jede, auch die endgültige Konsequenz denkbar …

Das Schlimmste scheint hinter mir zu liegen. Ich bleibe kurz stehen, wende mich noch einmal um und folge dem Pfad mit den Augen aufwärts. Von hier unten wirkt er völlig gefahrlos und gutartig … Weiter dem Tal entgegen durch das enge Kar, Kehre für Kehre, immer weiter runter, runter, runter ... Meine Oberschenkel schreien Zeter und Mordio bis ich endlich auf flacherem Talgrund stehe. In nur rund 20 Minuten (!) mussten sie etwa 550 Höhenmeter vom Joch abwärts verkraften. Nun fehlen noch neun Kilometer, die ich vergleichsweise und zusammenfassend mal mit dem Prädikat „Auslaufen“ bedenken möchte. Neun Kilometer mehr oder weniger sanft hinab. Von dem gegenwärtig geruhsamen Wirtschaftsweg wechseln wir auf eine von vielen Wandererfüßen platt getretene Almwiese, queren auch mal den knirschenden Schotter eines Bachbettes und huschen ein, zwei Minuten durch ein Wäldchen. Na klar lauern da Wurzeln! Muss man eben aufpassen - zum letzten Mal an diesem Tag. Irgendwann dann Asphalt. Glatt, vollkommen eben! Beinahe wie Schweben nach so vielen Stunden in der steinernen Knochenmühle.

Ich genieße diese unspektakulären letzten Kilometer, auf denen ich einem ungefährdeten Sieg entgegen trabe, in vollen Zügen. Sie bieten Gelegenheit für eine „körperliche Bestandsaufnahme“ und die Analyse meines Ausdauerzustands. Auch das Training der nächsten Woche überdenke ich in diesen Minuten … Nicht falsch verstehen: Ich lebe und laufe durchaus im Jetzt. Fühle mich reich beschenkt von diesem Tag und diesem Lauf. Ich bin rundum glücklich! Und doch bildet der Karwendellauf nur eine Etappe auf meinem weiten, ungewissen Weg nach Sparta …

Wichtigste Erkenntnis im Hier und Jetzt, fünf Kilometer vorm Ziel: Ich brauchte mich heute nicht vollends verausgaben - so unglaublich das klingen mag, übrigens auch für mich selbst. Folglich kann mein Trainingsaufbau so falsch nicht sein ... Andererseits stelle ich auf diesem flachen Schlussteil fest, dass es mir trotz Reserven nur sehr begrenzt gelingt noch Tempo zu machen. Fazit: Ich kann ziemlich lange laufen, nach extremen Trainingsumfängen aber nicht mehr schnell! Tempo reibt mich auf. Diese Erkenntnis deckt sich mit der aus Trainingseinheiten unter der Woche gefolgerten. Ich werte den Umstand jedoch nicht als Nachteil. Nicht für jemanden, der demnächst 246 Kilometer quer über den Peloponnes laufen möchte …

Ich jogge durch ein Hochtal unweit der deutschen Grenze. Aber eben in Österreich, wo sportliche Leistungen mehr Aufmerksamkeit genießen als daheim. Das merkst du an der Reaktion von Passanten. Da gönnt dir jeder zweite ein anfeuerndes Wort oder klatscht stummen Beifall. Noch drei Kilometer und nun auf asphaltiertem Radweg schnurgeradeaus. Obschon Wald beidseits den Weg begleitet spüre ich die Wärme des Nachmittags. Noch immer genieße ich sie und bin weit davon entfernt den Begriff „Hitze“ zu verwenden. Vermutlich ist es heiß und vermutlich hat das allen etliche Minuten Extralaufzeit beschert. Und wenn schon ... Ein Parkplatz rückt näher, Gebäude kommen in Sicht, untrügliche Anzeichen, dass einer der herrlichsten Läufe dieses Jahres zu Ende geht. Ein bisschen Hin und Her noch in der Gemeinde Pertisau - die zu dieser Jahreszeit vor Touristen fast aus allen Nähten platzt. Zuletzt eine abschüssige Straße Richtung Achensee entlang, den man - am Rande notiert - nur einmal kurz und weit voraus aufblinken sieht. Hier höre ich bereits den Kommentar des Zielsprechers und trabe kurze Zeit darauf unter lebhaftem Beifall ins Ziel …

 

Ergebnis und ein bisschen Statistik:

 

Fazit zur Veranstaltung

Den Karwendellauf (-marsch) erlebte ich als perfekt organisierte Großveranstaltung, was angesichts der erschwerten alpinen Zugänge für einige der Verpflegungsstationen doppelt wiegt. Auch wenn ich mittlerweile eher kleinere Marathon- und Ultraereignisse solchen Massenaufläufen vorziehe, fühlte ich mich zwischen Scharnitz und Pertisau gut aufgehoben.

Einziger Kritikpunkt: Die unsinnige Altersklassenwertung!

Die Strecke des Karwendellaufes ist traumhaft schön und einzigartig. Damit erhebt sie sich nicht über andere ähnlich reizvolle Strecken, wie etwa die des „Allgäu Panorama Marathons“ (Marathon oder 70 km Ultra, Start in Sonthofen). Die Bergregion Karwendel lockt jedoch mit unverwechselbarem Charakter, der sie von allen anderen alpinen Bereichen unterscheidet. Will man die ganze Schönheit dieses Naturparadieses laufend erleben, muss natürlich das Wetter mitspielen.

Bei gutem, trockenem Wetter halten sich die technischen Schwierigkeiten der Strecke in Grenzen. Jene, die den alpinen Einstieg im Ultratrailbereich planen, finden mit dem Karwendellauf eine dafür gut geeignete Strecke. Von überwiegend leicht, bis stellenweise anspruchsvoll fordert der Kurs fast alle Schwierigkeitsgrade. Mit 52 km und 2.280 Höhenmetern bleiben die Ausdaueranforderungen im erträglichen Rahmen.

Fazit: Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit dieser Strecke - irgendwann einmal!

 


 

An die Freude.

(Ausschnitte des Gedichts von Friedrich Schiller,
Fassung von 1808; Quelle: Wikisource)

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

Seit umschlungen Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.

(...)

Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur,
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod,
...

(...)

Freude heißt die starke Feder
In der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
In der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,
Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
Die des Sehers Rohr nicht kennt.

Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächt’gen Plan,
Laufet Brüder eure Bahn,
Freudig wie ein Held zum siegen.

(...)

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang