Schlechter als erhofft, besser als befürchtet  –  München Marathon 2014

Alles bekannt. Immerhin erkunde ich heute zum vierten Mal den Münchner Marathonkurs, zuletzt vor einem Jahr. Visuell Überraschendes steht demnach nicht zu erwarten. Hierin liegt jedoch nicht der Grund für die ausgeprägte Antriebsschwäche, mit der ich dem Lauferlebnis München seit Tagen entgegen sehe. Eigentlich wollten wir diesen Marathon gemeinsam erleben, mein Lauffreund Reno und ich. Sein Rückzieher war konsequent und leider unausweichlich, nachdem die Vorbereitung aus dem Ruder lief. Doch auch diese Enttäuschung könnte meiner Lauflust lediglich oberflächlich Kratzer zufügen. Was also dann?

Wer meinen ewigen, von Waffenstillständen unterbrochenen Feldzug gegen die orthopädischen Teufel kennt, ahnt bereits, was kommt: Schmerzen am Bewegungsapparat, Dauerbaustelle LWS. Dieser unschöne Umstand wird in kein Wehklagen münden, denn die Abmachung lautete: „Halte durch bis ich in Berlin über die Ziellinie laufe! Danach kriegst du, was du brauchst!“ Und mein Körper „lieferte“: Trug mich acht Monate ohne Ausfälle über 3.000 Trainings- und Wettkampfkilometer, bescherte mir zuletzt den Traum eines völlig beschwerdefreien, obergenialen Wettkampfs über 100 Meilen. Nun fordert er eben Vertragserfüllung ... Der 16. August bedeutete das Ende monatelanger, selbst auferlegter Zwänge. Seitdem ist Regeneration angesagt und in Phasen der Entspannung nach brutaler Knechtschaft bricht sich Bahn, was Willenskraft und Erfolgsstreben lange unterdrückten. Alles bekannt! Die Unterjochung des Körpers durch den Geist und wie sie endet erlebe ich nicht zum ersten Mal.

Zunächst war Friede, Freude, Eierkuchen: Gute zwei Wochen Urlaub in Italien. Dort kürzere Läufe, etwa alle zwei Tage und immer bergauf. Italien kann auch flach sein, vor allem in der Poebene. Aber wer macht schon Urlaub in der Poebene? Statt Bedauern empfand ich Freude dabei, ständig von mehr oder weniger steilen Anstiegen gefordert zu werden. Freude darüber, wie leicht es mir fiel lange bergauf zu laufen … Urlaub vorbei, Trainingseinerlei daheim. Immer noch regenerativ, also wenig Kilometer. Gerade mal ein Langer von 30 km sollte mir für München Marathonreichweite sichern. Nur ein Langer in acht Wochen. Parallel dazu Mephistos Wortmeldung aus dem Rücken. Meine bescheidene Erwartungshaltung für München pendelt zwischen Bangen und Hoffen, lässt sich kurz in zwei Halbsätzen ausdrücken: Unter vier Stunden bleiben, bei möglichst wenig Beschwerden.

Fragt sich der eine oder andere vielleicht: Nicht wirklich in Form, keine Lust und kein Ziel – warum läuft er dann überhaupt? Stimmt so nicht. Im Grundsatz habe ich immer „Bock auf Marathon“. Außerdem kommt der Appetit oft beim Essen. Und ein Ziel verfolge ich mit meinem 136. Marathon-„auftritt“ selbstverständlich auch: Erhaltung der Langzeitausdauer. Regenerieren nach einem Megaprojekt wie den 100 Meilen von Berlin muss sein. Keine Marathons mehr zu laufen würde aber bedeuten sich Ultrareichweite in einem extrem langwierigen, qualvollen Prozess neu erarbeiten zu müssen. Langwieriger und qualvoller, als die Saisonvorbereitung für ehrgeizige, in die Jahre gekommene Ultralemminge ohnehin ausfällt. Auch wenn ich mein Ultrasaisonziel 2015 noch nicht kenne, so steht doch außer Frage, dass es „sehr weit entfernt“ sein wird …

Der Wettkampf ist knapp 55 min alt. Ich trabe durch den „Englischen Garten“ und passiere die 10 km-Marke. Zehn Kilometer, die meine Vorstellungen davon, was mich heute erwartet, nicht enttäuscht haben. Praktisch vom ersten Schritt an LWS-Beschwerden, wie üblich nach links unten ausstrahlend. Könnte aber schlimmer sein. Behindert mich nicht. Registriere es nur, nehme es hin. Mein Tempo liegt etwas unter 5:30 min/km. Anstrengend genug. So anstrengend, dass ich zweifle es bis ins Ziel konservieren zu können. Mal sehen. „Que sera, sera“ – Was sein wird, wird sein …

Was war bisher? – Ein kurzes Aufflackern von Lauflust kurz vorm Start zum Beispiel. Da kann ich noch so reserviert und unsichtbar zwischen tausend aufgekratzt Erwartungsfrohen ’rumstehen. Sobald der Mann am Mischpult musikalisch bei mir den richtigen Knopf drückt – was er genau jetzt mit Rhythmischem tut! – kriege ich Gefühle … Zehn Uhr. Explosionsknall! Terrorakt? Gibt’s Tote? Nein? Ach so! Bang-As-Bang-Can! Ein irrwitzig lauter Böller schickt hundert Meter voraus die schnellsten der Schnellen mit ruinierten Trommelfellen auf die Reise. Sie werden die Deutsche Marathonmeisterschaft 2014 unter sich ausmachen. Vom Ende des Startblocks A brauche ich knapp zwei Minuten bis zur Startlinie. Na dann los. Zu sehen gibt’s auf der Startetappe … nichts. Jedenfalls nichts, auf das ich nicht schon die 135 Male vorher, irgendwo anders in der Laufwelt, gestoßen wäre. Alles bekannt. Sogar das Wetter. Zum vierten Mal München, zum vierten Mal Sonnenschein. Blauer Himmel, der in dieser Brillanz für heute gar nicht angekündigt war. Umso schöner. Sonne und kein Wind, goldener Oktober. Vorm Start war’s so warm, dass ich auf die eigentlich vorgesehenen Armlinge verzichtete. Mein Wetter also. Auch mein Tag?

Schwabing, Leopoldstraße, Kurs Siegestor. Meine Kamera sammelt Bilder, obschon ich gut und gerne darauf verzichten könnte: Exakt dieselben Lichtverhältnisse wie 2013. Keiner würde merken wenn ich Fotos aus dem letzten Jahr verwende … Siegestor im Rücken, dafür rauschen beidseits die Prachtbauten der Ludwigstraße vorbei. Obwohl im eigens für den Bayernkönig Ludwig I. (1786 – 1868) entwickelten „Rundbogenstil“ erbaut, fühlst du dich augenblicklich nach Bella Italia „ge-beamt“. Das mit dem „Rundbogenstil“ habe ich mir natürlich angelesen, um Leser meiner Laufberichte zu beeindrucken. Für mich sieht es nach Renaissance aus (von der ich – versteht sich – ebenso wenig was verstehe). Wie historische, italienische Prachtstraßen wirkt die Umgebung auf mich und das helle, warme Oktobersonntagmorgenlicht tut ein Übriges. Fehlte nur noch sie brüllten vom Straßenrand „Forza Ragazzi! Bravo! Brava!“ herüber, dann wäre die Illusion komplett: Massenhaft italienische Mitläufer im Feld (Was zieht die zu dieser Jahreszeit in den kühlen Norden?). Schon auf dem Weg zum Startblock begrüßte der Moderator eine vierzigköpfige Läufergruppe aus „Vicenca“. Oder war’s „Piacenza“? Na, ist ja eigentlich egal.

Der Vorstoß ins Herz der Münchner Altstadt endet abrupt mit einer Wende nach knapp vier Kilometern. Zum ersten Mal trinken. Viel trinken! Wenn der Himmel hält, was er verspricht, werde ich’s brauchen. Wieder vorbei am Siegestor (hat übrigens auch besagter Ludwig I. bauen lassen, wie vieles andere in München, das einen ans antike Griechenland denken lässt …) und durch die halbdunkle, kühle Leopoldstraße. Natürlich wirkt sie nur halbdunkel, wenn man von der lichtdurchfluteten Ludwigstraße her einläuft. Schuld haben mehrstockhaushohe Pappeln, die den sonnenhellen Tag noch ein wenig verzögern. Rechts abbiegen. Was folgt, läse sich im Immobilienteil der Süddeutschen Zeitung als „beste Schwabinger Wohnlage, unweit des Englischen Gartens“. Für Marathonläufer nix als tote Hose. Häuser und Häuser und Gebäude. Schon schmuckes Gemäuer, zuweilen repräsentativ, zu hundert Prozent bestens gepflegt, auch stilistisch harmonierende Neubauten, nirgendwo Hässliches. Aber alles nur für Architekturstudenten aufregend, von denen in unseren Reihen sicher nicht übermäßfig viele unterwegs sind. Also warte ich gespannt auf das im Vorjahr entdeckte künstlerische Highlight, zu besichtigen in der Mandlstraße Nummer 3, eine Skulptur des amerikanischen Künstlers Roxy Paine. Wie im Vorjahr blitzt und gleißt mir der „kahle Baum*“ entgegen. Makellos und ohne jede erkennbare Patina zieht er die Blicke auf sich. Doch diesmal bin ich vorbereitet und schlage ihm ein Schnippchen, lichte das Kunstprodukt hinter lebendigem Vorbild ab. Tut mir leid „Kahler“ … so war’s eigentlich nicht gemeint. Wollte dir nicht weh tun … dennoch … ich komme nicht umhin … also, ich finde, das herbstlich prachtvolle, braungelbe Orignal stiehlt dir voll die Schau!

*) Nach dem Namen der Skulptur suchte ich im letzten Jahr vergeblich im Internet. Die Bezeichnung „Kahler Baum“ habe ich erfunden. Schließlich müssen „Dinge“ irgendwie heißen … Nachtrag: Nun hat eine kundige Leserin meiner Laufberichte mir einen Link geschickt, der alle Fragen rund um diese Skulptur beseitigen wird.

„Hallo Udo! Was machst du denn hier hinten? Du läufst doch sonst viel weiter vorne?“ meint jedenfalls Kati und eilt an mir vorbei. Vom „Schefflenzer Ultra“ (50 km, nördlich von Heilbronn) aus dem Jahr 2012 kenne ich sie. Und sie kennt mich. Nicht wirklich, wie ihr Einwurf belegt und so betreibe ich mit knapper Entgegnung ein wenig Selbstdarstellung: „Aber doch nicht beim Marathon!“ Den Rest muss sie sich selbst zusammenreimen. Bin beileibe kein Meister „lakonischer Wortbeiträge“, noch absichtlich unhöflich. Andererseits habe ich Null Bock mit satzgewaltiger Bugwelle ihre falschen Vorstellungen in die nahe Isar zu spülen. Ich kann ganz lange, ganz weit laufen, aber nicht schnell, nicht mal marathonschnell.

Tja und nun der Englische Garten, Münchens voluminöseste Sauerstoffflasche**, Laubgehölze dicht an dicht, zuweilen von großzügigen Liegewiesen für sommerliche Sonnenanbeter aufgelockert. Showtime in Sachen „Goldener Oktober“? Pustekuchen! Hochnebel umfängt die Wipfel hier noch (oder schon wieder?). Als trübe Funzel müht sich unser Heimatstern Farbe ins hartnäckige Grau zu gießen, doch wir lassen ihm keine Chance. Mit jedem Meter nordwärts schreitet die Schwindsucht unserer Schatten rapide voran und Minuten später haben sie ihr Leben ausgehaucht. Einstweilen nur, so meine Hoffnung. „Que sera, sera“ – was sein wird, wird sein. Schwitze ich eben weniger. Man muss es sich einfach nur schön reden – Pardon! – denken.

**) Hätte die Bedeutung des Englischen Gartens für München prägnanter beschreiben können. Doch Wörter mit drei identischen Konsonanten in Folge erregen mich. Die muss ich einfach einbauen, wenn sich die Chance ergibt. Danke für die Rechtschreibreform!

Noch ehe wir den Englischen Garten nach gut sieben naturnahen Kilometern verlassen, kehrt die Sonne zurück. Nicht alle meine Mitstreiter werden sich darüber freuen. Und wenn, dann keinesfalls mit der mir eigenen Inbrunst. Schweiß kann man kompensieren, farbenfrohes Draußensein, das einem mangelnder Sonnenschein vorenthält, leider nicht. Das nun wieder intensive braun-rote bis grün-gelbe Blätterleuchten kann mir trotzdem keine romantischen Seufzer entlocken. Geht grad nicht. Marathonwohlfühlkoeffizient augenblicklich zu mickrig. – Was das ist, der „Marathonwohlfühlkoeffizient“? Salopp berechnet der Quotient aus „Thrill“ und „Leiden“. Etwas vornehmer formuliert das Verhältnis aus „herrlichem Marathonerlebnis“ und „momentaner Härte der Laufarbeit“. Immerhin muss mich nach nur 11, 12 km ziemlich mühen das anfängliche Tempo zu halten. Hätte nichts gegen leichtere Beine und das doofe Ziehen im Kreuz braucht auch kein Mensch …

Auf den Park folgt die Brücke über die Isar, der Brücke ein langer, allerdings harmloser Anstieg Richtung Isarhöhe. Vor einem Café am Isarufer genießen Münchner ein verspätetes, dafür umso sonnigeres Frühstück. Auf der langen Rampe gebe ich mich Erinnerungen hin. Wie war’s im letzten Jahr? Da war ich kraftvoller unterwegs und just beim Erstürmen der Isarhöhe musste ich einen Anfall von Ehrgeiz und Lust abwehren. Ehrgeiz schneller zu laufen und Lust auf „Quäl dich!“. Keine Spur davon heute. Im Gegenteil. Auch wenn die Ausgangssituation heute eine vollkommen andere ist als vor einem Jahr: Schon erstaunlich, wie unterschiedlich sich derselbe Kurs in denselben Beinen anfühlen kann. Schon allein deshalb entspricht kein Lauferlebnis dem anderen, egal wie viele Kerben ich noch in mein Marathonholz schneiden werde …

Unterwegs in „Oberföhring“. Bin so was von offen für Attraktionen, gleichgültig welcher Art. Erstmal nix. Um mir Langweiliges „interessant zu denken“, entwickelt mein Stoffwechsel heute eine entschieden zu niedrige Konzentration an Glückshormonen. Weder Strecke, noch tausendfüßiges Läuferfeld scheinen erpicht mich zu unterhalten. Eigentlich „Läuferalltag“, den auszuhalten ich noch nie Probleme hatte. Gibt auch Ätzenderes. Zig Kilometer alleine im Dunkeln zu laufen beispielsweise. Wer Marathon in der Stadt laufen will, muss visuelle Tristesse ertragen können. Letztlich schickt einen jeder City Marathon für mehr oder weniger lange Zeit durch urbane Ödnis, betoniertes Einerlei, gesichtslose Wohnbehausung oder zweckdienliche Gewerbebebauung. Die Kilometer 16 bis 28 im Münchner Osten machen da keine Ausnahme …

Upps! In stumpfem Brüten versunken wäre mir nun fast dieses seltene Exemplar eines Ausnahmeläufers entgangen … Und da sein „cool“ flapsiger Rückenspruch in schwarzer Schrift auf leuchtegelbgrünem Grund erst einmal den Blick an sich reißt, wäre mir das eigentlich Sensationelle beinahe entgangen. Aber nur beinahe. Doch der Reihe nach: Auf seinem Rücken steht zu lesen: „03:53:03 … der MARATHONWELTREKORDINHABER ist nicht DOPPELT so SCHNELL wie ICH.“ Vermutlich haben ihn seine bisherige persönliche Bestzeit und die gerade mal zwei Sonntage alte Fabelzeit von Dennis Kimetto in Berlin (2:02:57 h) zu diesem Aufdruck „inspiriert“. Über dessen Originalität kann man streiten, je nach Schichtung eigenen Humors. Außerhalb jeder Diskussion stehen allerdings seine Laufschuhe, denn die hat er daheim gelassen. Barfuß auf Asphalt! Also „total barfuß“, nicht nur „quasi barfuß“ in irgendwelchen „Überziehern“. Das muss man nicht nur mögen, sondern vor allem unbeschadet an den Sohlen überstehen. Ist ein federleichtes Kerlchen, das ich da gerade verstohlen fußwärts fotografierend überhole. Waren es nicht immer solche Grashüpfer in Menschengestalt, die mir ohne oder in spartanischem Fußkleid*** begegneten? Federleichtigkeit und zierlicher Körperbau scheinen den Verzicht auf Schuhwerk zu erleichtern.

***) „Spartanisches Fußkleid“ meint Quasi-Barfußschuhe, die dem „Natural-Running-Konzept“ entsprechen. Überzieher, die lediglich die Fußsohle schützen ebenso, wie Zehenschuhe ohne Dämpfung oder Schuhkonstrukte mit sehr geringem Materialeinsatz.

Halbmarathon im Stadtteil Bogenhausen: 1:54:13 h ist so schlecht nicht. Allerdings hat sich meine Ahnung verdichtet, dass die bevorstehende zweite Hälfte einen langsameren Udo erleben wird. Wahrscheinlich. Vielleicht auch nicht. Manchmal war’s von Beginn an hart und ich hab’s durchgehalten. Andere Male nicht. Fräulein Marathon ist eine Sphinx, auf Dauer rätselhaft und unberechenbar. Oder, um einmal mehr Doris Day zu zitieren: „Que sera, sera“ – Was sein wird, wird sein …

Der Rest des Stadtteils „Bogenhausen“ und das Gebiet um den Münchner Ostbahnhof – du musst es einfach hinter dich bringen und dann schnell vergessen. GPS zählt die Kilometer rauf, kommt bis 27, dann 28. Den einen oder anderen Vorwärtsstürmer sammele ich auf diesem Abschnitt schon ein. Unter anderem Läufer mit „speziellem Handicap“, die mich in den ersten Minuten hinter sich ließen. Einer von ihnen schiebt seinen Sprössling im Babyjogger vor sich her. Nun ist eingetreten, was ich mir als Marathon-GAU für ebendiesen Läufer vor Stundenfrist ausgemalt habe: Die/der Kleine ist aufgewacht und fordert ihr/sein – wie auch immer geartetes – Recht. Da ist Laufpause angesagt, bis das Menschlein mit seiner Gesamtsituation wieder zufrieden ist. Auch das zweite Handicap entwickelt Eigenleben, flattert durch die Herbstluft und macht dem Gehandicapten mächtig Druck. Auf dessen Schulter lastet ein Riesending von einer Fahne, die Nationalflagge von Tibet, um genau zu sein. Hast du schon mal versucht mit einer Fahne in der Hand zu laufen? Nein? Ich schon. Beim 24 h-Lauf wurde mir die Ehre zuteil, erst für 100, Stunden später als Belohnung für 200 geschaffte Kilometer. Jeweils nur eine Runde, also einen Kilometer weit und jenes Flatterdings war um Größenordnungen kleiner als dieses riesenhaft tibetische. Und schon das setzte mir mächtig zu. Klasse Leistung also, die der Fahnenträger abliefert. Samt randseitig angetackertem Deutschlandfähnchen zieht er als unangemeldete Ein-Mann-Demo durch Münchens Straßen. Für was – oder besser gesagt: gegen wen – er demonstriert, scheint offenkundig. Nur, wieso gerade er? Das bleibt ungeklärt.

Zurück in hübscheren Gefilden der Landeshauptstadt und bergab Richtung Isar. Ich sehe dasselbe wie im letzten Jahr, nur mit anderen Augen: Rechter Hand den „Gasteig“, Heimat der Münchner Philharmoniker, von Volkshochschule und Stadtbibliothek. Voraus der im Jugendstil erbaute Turm des historischen Münchner Volksbades, direkt am Isarufer gelegen. Und zuletzt – bereits auf der Isarbrücke die Innenstadt gewinnend – das „Deutsche Museum“, mit nüchtern und abweisend wirkender Fassade. Alles bekannt. Dass ich trotzdem nicht genauer hinsehe, meinem „Lieblingsmuseum“ geradezu die nackte Schulter zeige, hat einen anderen Grund: Ich muss kämpfen. Brauche nicht auf die Uhr zu sehen, weiß auch so, dass ich etwas an Tempo verloren habe. Wunder gibt es. Aber nicht auf der Marathonstrecke. Deshalb steht nun fest, dass ich werde leiden müssen. Noch nicht auf den nächsten paar Kilometern, aber danach …

Auf der Runde durchs Münchner Zentrum erhoffe ich mir am Gärtnerplatz einen ersten Höhepunkt. Der wird beherrscht vom gleichnamigen Theaterbau, von dem ich im letzten Jahr keinen brauchbaren Fotobeweis erhaschen konnte. Zu plötzlich tauchte das Theater hinter einer Straßenecke auf. Heute halte ich mich rechtzeitig schussbereit und … gehe wieder leer aus. Eingerüstet! Ganz und gar, als habe sich Christo, der Verpackungskünstler, an diesem Münchner Musentempel ausgetobt. Dann eben nicht …

Jetzt im Halbrund vorbei am berühmten Viktualienmarkt, mit dem aber aus dieser Perspektive kein Staat zu machen ist. Wie im Vorjahr suche ich brauchbares Schussfeld, wie im Vorjahr bleibt es bei der Suche. Weiter. Nächste Fotosession am Sendlinger Tor. Wer sich zu sehr auf die Strecke konzentriert kann es glatt übersehen. Immerhin muss man rechts abbiegen und zugleich den Kopf nach links drehen. Hinter der Kurve stehen bleiben, anvisieren, auf ein paar Läufer warten, auslösen und weiter … entlang der Sendlinger Straße, Richtung Marienplatz. Aber nur ein paar Schritte, dann wölbt sich die spätbarocke Fassade des Asamkirchleins zwischen den vorbildlich restaurierten Fronten benachbarter Bürgerhäuser. Dort wohnten im 18. Jahrhundert die Gebrüder Asam. Auf einer Grundfläche von nur 8 x 22 Metern ließen sie von 1733 bis 1746 ihre Privatkirche erbauen, mussten sie nach Protesten aber der Öffentlichkeit zugänglich machen. Kurzer Fotostopp und weiter.

Fußgängerzone, dichter werdendes Zuschauerspalier, neues Münchner Rathaus, Marienplatz mit Mariensäule, Blick zum alten Münchner Rathaus und weiter … Nicht mal eine Minute vergeht, dann liegt hinter mir, was mutmaßlich die meisten Marathonis als Höhepunkt der Streckenführung empfinden. Aber die Stadtführung geht weiter, denn nur wenige Schritte hinter dem neuen Rathaus empfängt mich der weitläufige Max-Joseph-Platz. Sein Namensgeber, Maximilian I. Joseph, erster Bayernkönig von Napoleons Gnaden, grüßt huldvoll von seinem Denkmalssockel herüber. Hinter ihm erheben sich die prachtvoll wiedererstandene Front des Bayerischen Nationaltheaters und die halbherzig trist ersetzte Fassade des benachbarten Residenztheaters. Beide Kulturbauten wurden im 2. Weltkrieg nahezu vollständig zerstört. Auch von der Residenz, dem riesigen Stadtschloss der Bayerischen Regenten – jetzt rechts voraus – blieb in jenen Jahren wenig stehen. Kaum nachvollziehbar in unserer Zeit, da der so genannte „Königsbau“ mit scheinbar unangetasteter Fassade die Blicke der Besucher fängt. En passant: 69 Jahre liegt dieser letzte Krieg auf deutschem Boden nun zurück und noch in unseren Tagen wird in der Münchner Residenz um- und aufgebaut.

Nächste Station „Feldherrnhalle“. Geschichtlich so ziemlich der schauerlichste aller schauerlichen Orte in der weiß-blauen Hauptstadt. Ludwig I. ließ sie 1844 als südlichen Auftakt zu seiner neuen Prachtstraße (Ludwigstraße) errichten. In dieser Eigenschaft korrespondiert sie mit dem einen Kilometer in schnurgerader Entfernung und wenige Jahre später fertig gestellten „Siegestor“. Glanz und Gloria des bayerischen Heeres sollte die Feldherrnhalle rühmen. Wer kann das heute, 170 Jahre und Millionen Kriegstote später, noch verstehen? Dennoch speist sich meine Beklemmung an diesem Ort aus anderer Quelle: 9. November 1923. Im Rahmen eines dilettantischen Putschversuches (Hitler-Ludendorff-Putsch) marschieren Adolf Hitler und seine Gefolgsleute auf die Feldherrnhalle zu. Ein Polizeiaufgebot stoppt den Marsch. Es fallen Schüsse, 16 Putschisten und 4 Polizisten sterben. Nach der Machtergreifung der Nazis vollzog sich in jedem Jahr am 9. November ein gespenstisch düsteres Schauspiel vor der Feldherrnhalle: Wiederholung des Marsches von 1923. Fahnen, Hakenkreuze, Fackeln, Kränze und sonstiges Brimborium. Jeweils inszeniert, um einen Akt krimineller Menschenverachtung als notwendigen Opfergang zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Idee zu „verkaufen“. Und ganzjährig bestand für jeden Deutschen, der die Feldherrnhalle passiert, Pflicht zum „Deutschen Gruß“!

Die Sonne scheint aus blauem Himmel und bunt gekleidete Arier wie Nicht-Arier rennen gemeinsam gruß-, mehrheitlich sicher auch bedenkenlos, an der Feldherrnhalle vorbei. In einem Marathonfeld, unter Läufern aller Hautfarben und Herkünfte, will einem reale Vergangenheit als pure Fiktion erscheinen, als eine Art Horrorgeschichte. Bild- und Filmberichte aus jenen Tagen zeigen uns eine Welt in Schwarz-Weiß. Das erleichtert es, sich innerlich von unrühmlichem Geschehen zu distanzieren. Seht her! Unsere Welt heute ist bunt und schön! Ich mag das nicht weiter ausführen. Will nur noch zu bedenken geben, dass aktuelle Bildberichte vom Treiben des so genannten „IS“, aus dem Osten der Ukraine und vielen anderen Orten des Globus, wo sich Menschenverachtung derzeit austobt, in satten Farben zu sehen sind; wie übrigens auch die Bilder von Neonazi-Aufmärschen und den Morden des NSU …

Von der Feldherrnhalle auf den Odeonsplatz. Noch eine Enttäuschung zu verdauen. Die Theatinerkirche, nach der Frauenkirche sicher das bekannteste Gotteshaus Münchens, entzieht sich den Blicken zu einhundert Prozent. Christo was here! Wie schön, dass die Frau sich ausgerechnet diesen geschichtlich dauerhaft und städtebaulich temporär entweihten Ort für ihren grandiosen Gag ausgesucht hat: An der Spitze einer vollends ausgezogenen, sicher fünf Meter langen Angelrute baumelt ein Smiley im zwischenzeitlich auffrischenden Wind über den Köpfen der Marathonis. Bevor ich meine Kamera aktivieren kann, bin ich auch schon vorbei. Umkehren? Der Gedanke lässt mich kurz stocken, dann verwerfe ich ihn. Bin nach 32 Kilometern einfach schon zu kaputt, um für ein Foto zehn Meter Umweg in Kauf zu nehmen …

Noch zehn Kilometer bis ins Ziel und der Spaß ist vorbei. Zwei Monate Verzicht auf wirklich lange Läufe reichen, damit ein „überschaubares Läufchen“, als das ich die Marathondistanz meist empfinde, mir meine Grenzen aufzeigen kann. Ich biege von der Ludwigstraße links ab, um noch ein paar optische Leckerbissen in der „Maxvorstadt“ zu genießen. Apropos „Leckerbissen“: Zeit für das letzte Gel. Als ich das aalglatte Päckchen endlich mit schweißfeuchten Fingern aus der Gesäßtasche gefummelt habe, grüßt Sybille – Vereinskameradin und Lauffreundin – aus dem Strom entgegen kommender Läufer herüber. Rascher Blick zur Uhr: 2:58:xx h sind um. Sie will heute nach Möglichkeit unter 3:30 h laufen, zumindest aber eine persönliche Bestzeit aufstellen. Wenn ich die Länge der Schleife, die mir bevorsteht und sie schon hinter sich hat, richtig einschätze, dann liegt sie super in der Zeit. Also Daumendrücken – bildlich gesprochen, denn meine Daumen werden ja gerade vom glitschigen Gelpäckchen beansprucht.

Letztes Jahr konnte ich die Ansichten noch genießen, heute nicht mehr. Um mein Tempo zwischen 5:30 und 5:40 min/km zu stabilisieren, muss ich jetzt alles geben. Entsprechend gleichgültig renne ich auf den „Karolinenplatz“ mit dem schwarzen Obelisken zu, schlage in der Folge an Straßenecken ein paar rechtwinklige Haken, rechts, rechts, rechts, links, um mich schließlich auf dem „Königsplatz“ in griechischen Gefilden wiederzufinden. Jedenfalls will das Ensemble aus „Propyläen“ (der Akropolis in Athen nachempfunden), „Glyptothek“ und „Antikensammlung“ diesen Eindruck erwecken. Kann mich heute nicht vom Hocker hauen. 35 km geschafft und all mein Sinnen und Trachten richtet sich auf das nahe Marathonziel …

Zum dritten Mal am Siegestor vorbei, noch einmal auf der Leopoldstraße in Schwabing und dann Richtung Olympiapark abbiegen – noch gut vier Kilometer. Ich quäle mich heftig und zumindest in dieser Endphase ohne wirkliche Notwendigkeit. Unter vier Stunden werde ich auf alle Fälle bleiben. Da müsste ich mir schon ein Bein brechen oder vom Blitz aus heiterem Himmel erschlagen werden, um das noch zu verhindern. Laufen ist Kopfsache! Deshalb reichen solche Überlegungen, um meinen Eifer ein wenig zu drosseln und pro Kilometer etwa 10 Sekunden einzubüßen. Bewusst Tempo ’raus nehmen, um weniger leiden zu müssen, ließe mein Ehrgeiz auch in Bedrängnis nicht zu.

Noch drei Kilometer. Ein leicht mulmiges Gefühl durchzieht alle Körperfasern. Frühstadium. Alles bekannt. Im Endstadium stehe ich dann am Streckenrand und würge mir die Seele aus dem Leib. Brauch’ ich heute echt nicht, also Tempo runter! Trabe über die Stadionzufahrt mit sehr, sehr müden Beinen. Noch zwei, dann noch ein Kilometer. Schließlich durch den Marathontunnel, wie jedes Jahr mit Rauch- und bunten Lichteffekten „befüllt“. Und dann rein in dieses wunderschöne, von einem atemberaubenden Zeltdach überspannte Stadion. Du läufst ein und weißt nicht, sollst du dich ärgern oder doch eher über deinen Marathonsieg freuen. Für mich ist es der 136. und er ist von untergeordneter Bedeutung. Also überwiegt der Ärger. Das Olympiastadion zu München, einst eines der schönsten Leichtathletikstadien der Welt, ist tot! Vorsätzlicher Mord, Tatwaffe Beton! Kein Rasen mehr, keine Sprunggruben, Hochsprunganlagen, Stoß- oder Wurfringe. Stattdessen planierter Beton. Einmal im Jahr versucht der Marathon eine Art Wiederbelebung des Sportleichnams, das war’s dann aber auch. So gehen wir mit olympischem Erbe um. Denkt daran, wenn – was von Zeit zu Zeit passiert – wieder einmal jemand großmundig ein paar Milliarden für irgendwelche Sportgroßereignisse locker machen will … Dreihundert Meter trauriges Rund und dann – nach 3:52:40 h – ins Ziel.

– – –

Sybille litt auf den letzten Kilometern unter Bauchschmerzen, verfehlte deshalb die Sub3:30h. Mit 3:33:45 h erkämpfte sie dennoch eine persönliche Bestzeit! Herzlichen Glückwunsch! Mit meinem Auftritt bin ich alles in allem zufrieden. Es fügte sich schlechter als erhofft aber um einiges besser als befürchtet.

 

Fazit zum München Marathon

Siehe Bericht aus dem Vorjahr.

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-linkslogo-rechts

zum Seitenanfang