15. Juni 2025
Der mir diesen Sonntag zugewiesene Platz gefällt mir nicht: am Rande der Marathonstrecke stehen, fotografieren, applaudieren, Optimismus ausstrahlen. Insbesondere Letzteren verordne ich mir, obschon ohne konkrete Aussicht es den beiden Läuferinnen, die ich mit meinem Hiersein unterstützen will, in Bälde gleichtun zu können. Der Ort des Geschehens, Görlitz, östlichste Stadt Deutschlands an der Grenze zu Polen, und die Veranstaltung an sich gefallen mir dagegen durchaus. Görlitz, weil es zu den wenigen deutschen Städten zählt, deren historische Bausubstanz Krieg und DDR-Verfall in großen Teilen unversehrt überstand. Heute erstrahlen die Jugendstil-Straßenzüge und der weit ältere Stadtkern wieder überwiegend in frischem Glanz. Ein City-Traum an der Neiße auch gerühmt als „Görliwood“, da von internationalen Filmschaffenden als baugeschichtlich authentische Kulisse gefragt. Mit dem Lauf verbinden mich schöne Erinnerungen an einen Erfolg in meiner Laufhistorie. Vor 21 Jahren war mir das Glück beschieden an der Premiere des Europa
Marathons teilhaben zu dürfen. Seinerzeit mein vierter Marathon, bei dem ich nach knapp 3:12 Laufstunden den neunten Gesamtplatz belegte. Nicht schlecht für einen damals Fünfzigjährigen, zumal der sich in der Neißestadt eigentlich nur an die Startlinie stellte, um die Scharte von Rom, drei Monate zuvor, auszuwetzen. In Italiens Hauptstadt verpasste ich die angepeilte Sub-3:15h noch um anderthalb Minuten. Grund: Bauchschmerzen im Schlussabschnitt infolge Pasta-Party-Gefräßigkeit.
Unsere Aufmerksamkeit, die meiner Frau Ines und meine, gilt einerseits Schwester/Schwägerin Steffi, die ihren ersten Halbmarathon-Erfolg erlaufen möchte. Dafür wird sie die 10,5 km-Runde durch Görlitz, über die Fußgängergrenzbrücke nach Polen, nach Zgorzelec, und wieder zurück, zweimal mit Füßen treten. Außerdem ist Steffis Freundin Sandra auf dem Rundkurs unterwegs, die - eine Anregung von mir aufgreifend - an diesem Sommertag unter strahlend blauem Himmel ihren zweiten Marathon bestreitet. Mein unter Marathon-Entzug leidendes Gemüt malte sich Anfang des Jahres ein tolles Szenario aus: Marathon-Comeback für Udo beim Europa Marathon in Görlitz. Zugleich im Feld Sandra, der ich sowohl Trainingsplan als auch Coaching anbot. Steffi wäre dabei, wie ich anfangs glaubte, um eine der Kurzstrecken zu laufen. Das alles mit Heimvorteil, weil Steffis und Ines‘ Familie unweit von Görlitz beheimatet ist. Marathon-Comeback zelebriert als Begegnung mit Familie und Freunden. Soweit mein Gedankengemälde, das Schwägerin Steffi mit ihrer Absicht den ersten Halbmarathon zu finishen, gleichfalls auf Basis eines meiner Trainingspläne, noch bereicherte. Insgeheim rechnete ich mir sogar eine Chance aus die Runden eins und zwei an Steffis Seite zu absolvieren. Die Vorfreude auf das Lauffest wuchs, das Bangen, ob ich rechtzeitig fit werden würde, aber auch. Und nun stehe ich wie erwähnt mit meiner Frau Ines am Streckenrand und schaue den anderen zu …
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Vermutlich liegt es in der Natur vieler Menschen in einer Phase anscheinend unerschöpflich verfügbaren Wohlergehens dasselbe gedanklich kaum zu würdigen. Wie ich zwar Dankbarkeit zu empfinden, es durchaus nicht als selbstverständlich zu erachten, aber auch nicht in Panik zu verfallen, wenn der Körper eine krankheits- oder verletztungsbedingte Auszeit einfordert. Bisweilen dauerte es, doch irgendwann, meist früher als später, joggte ich neuerlich von Finish zu Finish. In dieser Manier durfte ich über viele Jahre meinen Körper nutzen, seit ich im Hochgefühl des ersten, erfolgreich absolvierten Marathons dem Langstreckenlauf rettungslos verfallen war. Lange und längste Laufstrecken waren für mich in kaum fassbarem Ausmaß verfügbar: Woche um Woche Marathon, auch mal zwei am Wochenende, schließlich gar zehn an zehn aufeinanderfolgenden Tagen. Parallel dazu war ich auf sehr langen Ultrastrecken unterwegs. Ausufernd zu laufen war für mich nicht nur jederzeit verfüg-, sondern schien auch in allen Dimensionen kontrollierbar: Schon ausgangs des alten plante ich die komplette Saison des kommenden Jahres „durch“ und empfand das nicht einmal als gewagt. Beherzt legte ich Termine für progressiv fordernde Aufbauwettkämpfe im Wochentakt fest, um mit der solcherart erworbenen Reichweite einen von diversen Kult-Ausdauer-Krachern selbstverständlich erfolgreich zu finishen. Nichts war zu
weit oder zu lang, ob 100 km in Biel, Deutsche Meisterschaft im 24-Stundenlauf, die 100 Meilen des Mauerweges in Berlin oder schlussendlich der Spartathlon in Griechenland. Über viele Jahre hinweg war ich auf der Suche nach meinen läuferischen Grenzen. Zwar fand ich Limits in der einen oder anderen Dimension des Laufsports - maximales Marathontempo, Verletzung nach überzogenem Training -, nicht jedoch in der Befähigung nach ultrakurzen Erholungszeiten erneut ultraweit traben zu können.
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Auf der Fußgängerbrücke über die Neiße postiert schieße ich erste Fotoserien von Sandra und Steffi. Steffi rennt mir mit ein paar Minuten Verzögerung vor die Flinte, ihr Halbmarathon-Zeitziel 2:15 Stunden erlaubt langsameres Tempo. Sandra versucht sich - so kommt mir das hier und heute vor - an der läuferischen Quadratur des Kreises: Finish Sub-4-Stunden! Dreierlei wird sich ihrem Wunsch machtvoll widersetzen: etwa 400, teils auf Kopfsteinpflaster zu laufende Höhenmeter, sengender Sonnenschein und die zum Ende hin brennende Luft. Natürlich behielt ich diese Einschätzung für mich. Welcher „Coach“ will schon seinen Schützling mit nacktem Realismus entmutigen? Stattdessen kehrte ich den Optimisten vor,
diskreditierte - halb scherzhaft - die von Sandra gefürchteten, weil ungewohnten „Berge“ als eher unbedeutende „Anstiege“. Darüber hinaus beschwor ich die Effizienz ihrer Vorbereitung. Nach eigenem Bekunden habe sie geradezu „sklavisch“ den Trainingsplan befolgt. Wie dem auch sei: En passant strahlen beide Frauen mit praller Siegesgewissheit in meine Linse, lassen also keine Zweifel am Erfolg ihres jeweiligen Unternehmens
aufkommen. Wer weiß? Vielleicht lässt so viel geballte Zuversicht ja auch meine derzeit auf Sparflamme züngelnde Marathon-Comeback-Hoffnung neu auflodern …
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Mehr als 20 Jahre turne ich nun schon im Marathon-/Ultrazirkus. Gegen Ende dieser langen Zeitachse blieb von der gewohnten Verfügbarkeit angepeilter Marathon- und Ultrasiege nicht mehr viel übrig. Agierte ich über viele Jahre als respektabler Artist in der Arena, so gab ich zuletzt eher den tragischen Clown. Zwar war, was mir in der Hauptsache widerfuhr, höchst menschlich: Mein Körper alterte. Kritisch an diesem natürlichen Prozess war auch weniger die Zunahme körperlichen Unvermögens. Intakte Logik, also der Geist, begreift das als „normal“. Blöd nur, dass es mir an emotionaler Kompetenz insofern mangelte, als ich mich weiter uneinsichtig an die Fulminanz einstiger Laufleistungen klammerte. Will weiterhin „reißen“, was mein Ist-Körper schlichtweg nicht mehr verfügbar machen kann. Dazu fehlt es vor allem an Trainierbarkeit der Ausdauer und orthopädischer Robustheit. Weder das Killervirus SARS-CoV-2, das erst blanke Laufkalender dann, als Folge davon, die Zerrüttung meiner Trainingseffizienz auslöste, noch ein den Ärzten nicht so recht einleuchtender, leichter Herzinfarkt konnten daran etwas ändern. Immerhin: dem kardiologischen Tritt in den Hintern folgten - nach Bescheinigung der Unbedenklichkeit seitens meiner Ärzte - weitere, mehr als sechzig Marathons und Ultras. Es ging also weiter, wenngleich der Schwund am eigenen Fleisch nicht zu überspüren war.
Der eigentliche, noch immer wirksame „Showstopper“ lauerte im Knie, auf dessen Unanfechtbarkeit ich vorher Wetten abgeschlossen hätte. Nach Verletzung im März 2024 mit anschließender Anwendung konservativer Heilmethoden, stellte sich im Mai eine (minimalinvasive) Meniskusoperation als alternativlos heraus - sofern ich je wieder längere Distanzen würde laufen wollen. Den Patienten Udo überfiel daraufhin eine Ahnung, dass bis zur Rückkehr auf seine geliebte Marathonstrecke viel Wasser talwärts rinnen würde. Aus den Dämmen dieser Ahnung sickerte mit jedem Monat Rekonvaleszenz mehr und mehr Gewissheit. Was ich damals jedoch falsch einschätzte, waren Zahl und Gewichtung der Widersacher, die mein Comeback auf die lange Bank schieben sollten. Zur Baustelle Nummer eins erklärte ich natürlich das Knie, zumal es sich postoperativ tatsächlich als solche gebärdete. Okay, um die laufspezifische Konditionierung - Ausdauer und Robustheit - wiederzuerlangen würde ich erfahrungsgemäß Hektoliter an Schweiß vergießen müssen. Aber erst Wochen später und dank mehrfach erprobter Stehaufmännchen-Trainingserfahrung war ich zuversichtlich auch diesen Gegner bezwingen können.
Einige Tage auf Krücken und Wochen intensiver Physiotherapie gingen ins Land. Obschon operativ wie postoperativ bestmöglich betreut, gestaltete sich die Rückkehr ins Laufschuhdasein alles andere als einfach. Trotz einer von Furcht stimulierten, wirklich vorsichtigen Steigerung des Trainigsumfangs beim Laufeinstieg - ungefähr drei Monate nach der OP - musste ich einen ersten Rückschlag hinnehmen. Also neuerlich ein paar Wochen Laufpause, dann Neustart. Zur Jahreswende durfte ich meinem Knie immerhin maximale Laufdistanzen von etwa 15 km, einen Wochenumfang zwischen 30 und 40 km und im Schnitt drei bis vier Lauftage pro Woche zumuten. Um dem lädierten Gelenk und dem restlichen Bewegungsapparat wieder Robustheit anzutrainieren, unterzog ich mich darüber hinaus dem früheren, jetzt entschärften Krafttraining. Der stets von Bangen begleiteten Umfangssteigerung mengte sich mehr und mehr Optimismus bei. Letzterer konnte allerdings augenblicklich in Weltuntergangsstimmung umschlagen, wenn das „reparierte“ Knie mal wieder „rumzickte“. Wozu es sich häufiger verstieg, zumal unvorhersehbar und scheinbar ohne Zusammenhang mit vorherigen Be- oder Entlastungen. Leiser Protest, meist zwischen Trainings und nicht während eines Laufes. Und doch erlebte ich mehrtägige Phasen, in denen sich das Knie mucksmäuschenstill verhielt, gerade so, als wäre nie etwas gewesen.
Nur zu verständlich, dass sich im Verlauf dieser Wochen die Sehnsucht nach dem Marathon-Comeback nicht länger abwürgen ließ. Bis zur anstehenden Namibia-Reise - drei Wochen, von Ende März bis Mitte April - wollte ich meine Reichweite wöchentlich ausdehnen. Dabei Zurückhaltung wahren, keinesfalls überziehen. Die geplante Reise war auch der Grund keinen Marathon im Frühjahr anzupeilen. Der Zeitraum bis Ende März war definitiv zu knapp und damit risikoreich bemessen, um mich auf M-Reichweite zu hieven. Im Urlaub wollte ich - sooft möglich - versuchen mit kurzen, intensiven Laufeinheiten möglichst viel Ausdauer zu konservieren, um danach in ein verkürztes Marathontraining einzusteigen. Fürs Comeback schielte ich aus den eingangs bereits geschilderten „Sympathiegründen“ auf den Europa Marathon am 15. Juni in Görlitz.
Auf die mittlerweile gefestigte orthopädische Stabilität meines Körpers vertrauend trieb ich das Training voran. Der Zugewinn an Ausdauer blieb bescheiden, auch, weil das ich das Risiko das Knie zu überlasten scheute. Dennoch gelang im Februar ein erster Lauf über 20 km - dabei und danach komplett schmerzfrei! Die Laufdistanz zu verlängern schien - wie eh und je - lediglich eine Frage sensibel gesteuerten Trainings zu sein. Ein paar Wochen vorm Urlaub, noch im Februar, belehrte mich das Knie eines Besseren. Bei abermals gelaufenen 20 km, diesmal allerdings auf teils ruppig unsicherem Geläuf, schien der Meniskus eine Überdosis Querbelastung abbekommen zu haben. Nach dem Training schmerzte das Knie ekelhaft,
am nächsten Tag sogar besorgniserregend. Anderthalb Wochen ließ ich verstreichen, bis ich wieder ein kurzes Läufchen wagte. Bis auf ein leichtes Zwicken blieb der Test folgenlos. Also steigerte ich die Lauflänge bis zur Abreise neuerlich auf maximal 10 km.
Mit nach Namibia reiste reichlich Skepsis, ob der Meniskus dem notgedrungen forschen Marathontraining nach dem Trip würde standhalten können …
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Dieser fiese, steile Anstieg, etwa 300 Meter lang, von der Neißebrücke rauf zur Altstadt, löscht den letzten Funken Bedauern heute nicht mitzulaufen. Umso mehr als morgendliche Frische mehr und mehr der angedrohten Hitze weicht. Auch das auf dieser Etappe verbaute Kopfsteinpflaster lässt mich die Zuschauerrolle insgeheim lobpreisen. Vorhin, nach dem ersten Umlauf, verfolgte ich durch den Kamerasucher wie unsere beiden Lauffrauen sich in dieser „Steilwand“
abmühten. Unterdessen sind wir auf dem Weg zum Ziel, um Steffis Finish gebührend zu feiern … Dort angekommen heißt es warten und das Beste hoffen. Auch Steffi wird den Bedingungen Tribut zollen, also Laufzeit opfern müssen. Was ihrer Freude aber sichtbar keinen Abbruch tut, als sie schließlich noch unter 2:30 Stunden freudestrahlend über die Ziellinie flitzt. Geschafft, Halbmarathon gepackt! Bravo Schwägerin!
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Wie vorgesehen wandte ich mich nach Rückkehr aus Namibia, Mitte April, kurz vor Ostern, dem Marathontraining zu. Absicht: Marathonreife verfügbar machen. In verbleibenden gut acht Wochen durfte mir vor allen anderen ein Fehler keinesfalls unterlaufen: den „Körperbogen überspannen“. Acht Wochen sind knapp. Unterdessen hegte ich jedoch keine Zielzeitambitionen mehr, beharrte lediglich auf dem ewigen Selbstanspruch „komplette Distanz laufen“. Marathonreife auf diesem niedrigen Niveau sollte in zwei Monaten mit klug dosiertem Training zu erreichen sein. Zur Verbesserung meiner Tempogrundlagen baute ich wöchentlich ein zahmes (!), extensives Intervalltraining ein (wie übrigens schon vor der Reise): 6 x 800 oder 5 x 1.000 beschleunigt gelaufene Meter. An jedem Wochenende brach ich zu einem langen Lauf auf, beginnend bei 20, dann 23, 25 und 27 km. Zwangsläufig erhöhte sich mit jeder Woche der Laufumfang. Mir war klar, dass das Risiko zu scheitern im immer noch reduziert robusten Körper mitlief. Außerdem - und nicht erst jetzt - musste ich mich weiterer Unholde erwehren, die meine Comeback-Absicht permanent torpedierten: viel zu hohes Körpergewicht und ungewohnt lange Regenerationszeiten.
Lange schien es, als sollte der Ritt auf der Rasierklinge, von gelegentlich leichten „Schnittwunden“ abgesehen, letztlich von Erfolg gekrönt sein. Doch vier Wochen vor dem Marathon, zum Ende des an jenem Tag auf 29 km ausgedehnten langen Laufes, rückte das Comeback in uneinsehbare Ferne. Der neuerlich im Knie aufwallende Schmerz ließ mir Marathondistanz als unverfügbarer denn je erscheinen! Und weil ein Feind nicht reicht, revoltierte mein Körper auf den letzten drei der 29 km zusätzlich in schon vorher erlebter, unerklärlicher, nicht einmal wirklich beschreibbarer Weise: Ein inneres Aufwallen in der Magengegend, eine Art Knoten der die Leibesmitte abschnürt, fortan schmerzender Magendruck, dazu Schwäche, die allenfalls noch Tippelschritte erlaubt. Am Tag danach schmerzte das Knie derart heftig, dass ich fürchtete den „reparierten“ Meniskus neuerlich geschreddert zu haben. Was für eine Fallhöhe: Aus der Zuversicht im Wolkenkuckucksheim „Marathon-Comeback“ tief hinunter in die Hölle „Angst vor lebenslangem Marathonverzicht“ … Während eines Testlaufs über 10 km drei Tage später schien meine Laufwelt dann doch noch gerettet. Anders als befürchtet schwieg das Knie … leider nur bis Kilometer acht, um mir fortan mit noch heftigeren Beschwerden den Mittelfinger zu zeigen.
Den Test hatte ich mir verordnet, um Natur und Schwere dieses dritten Rückschlags besser einschätzen zu können. Zwei Schlussfolgerungen drängten sich nun auf: Erstens war ein Marathonstart in Görlitz definitiv ausgeschlossen! Deshalb mein Gemüt dominierende Finsternis wurde jedoch von einem Licht am Ende eines Hirntunnels erhellt: Offenbar hatte ich mir keine erneute Läsion des Meniskus‘ zugezogen, wie hätten sonst acht der zehn Kilometer völlig beschwerdefrei bleiben können? Ein dieser Überzeugung entspringender Gedanke baute mich in den Folgewochen wieder auf: Zwei Putschversuche des Knies hatte ich zuvor überstanden: jene kurz nach Wiederaufnahme des Lauftrainings voriges Jahr (Laufweite damals: 5 km) und die Meuterei des Gelenks kurz vorm Urlaub (Laufweite zu dieser Zeit: 20 km). Beide Male war es mir gelungen nach den Rückschlägen höhere Ausdauer zu erlaufen als davor. Könnte mir das nicht auch diesmal gelingen? 27 km langer Lauf von mehr als 50 km Wochenumfang hatte das Knie bereits hingenommen - vielleicht reicht ein weiterer Anlauf um irgendwann später im Jahr doch noch den Marathon zu stemmen?
Fünf Tage Laufpause gönnte ich dem Knie, fand drei Wochen vor Görlitz zurück in die Laufspur. Längster Lauf seither: 13 km. Das Knie rauchte wieder die Friedenspfeife. Die Körpermitte konfrontierte mich bei weit geringerer Belastung ein weiteres Mal mit dem erwähnten „Leibesknoten“. Eine ganz und gar hässliche Reaktion unter Ausdauerbelastung, deren Eintreten sich nicht ankündigt und von der Belastungsdauer entkoppelt zu sein schein. Unvorhersagbar, absolut unverfügbar. Die kardiologische Relevanz der Erscheinung ließ ich übrigens abklären. Befund: Gar keiner. Was mich einerseits beruhigt, aber leider nicht das Wesen des Dämons erklärt, der mich gelegentlich attackiert. In Verdacht habe ich meinen Magen, der mir auch früher schon böse Streiche spielte. Ich ließe mir darob nicht noch mehr graue
Haare wachsen, störte das Phänomen nicht zuweilen mein Training und müsste ich nicht fürchten, dass das unerklärlich Unverfügbare mich im Falle des Rückkehrs auf die Marathonpiste zum Aufgeben zwänge. Ein Hindernis mehr im Parcour, über das der alternde Gaul springen muss. Und nur, weil er den Traum vom Marathon partout nicht aufgeben will.
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Steffi, die Halbmarathonsiegerin, feiert und wird von uns gefeiert. In mir breitet sich unterdessen, von Wärme und langem Rumstehen ausgelöst, mehr und mehr Müdigkeit aus. Ich versuche mir auszumalen, wie übel insgesamt 400 Höhenmeter, abschnittsweise pralle Sonne und inzwischen mehr als 30°C beidseits der Neiße mir mitspielen würden. War ich anfangs noch von Neid erfüllt, so setzte sich längst die Einsicht durch, dass mir die heutigen Bedingungen extrem zugesetzt hätten. Aus demselben Grund bröckelt auch meine Trainingsabsicht für diesen Tag: Nachdem wir Sandra als frisch gebackene Marathonfinisherin abgefeiert haben werden, wollte ich eigentlich nach Hause joggen. Bin dafür bereits fixfertig ausstaffiert und lud mir
verschiedene Routen auf die GPS-Uhr. Eine über ungefähr 20 Kilometern, eine zweite bescheidet sich mit etwa 17. Aber: soll ich mir das wirklich antun? Und falls ja: welcher Route soll ich bei dieser Hitze den Vorzug geben? Keine der beiden kommt ohne Höhenmeter aus? Oder: soll ich vielleicht doch besser morgen trainieren?
Ich versuche Sandra im dritten Durchlauf in Zielnähe zu „erwischen“, was mir misslingt. War wohl doch zu spät dran, so sie ihr Tempo einigermaßen konservieren konnte. Dagegen spricht allerdings ihr „Jetzt wird’s schwer!“, das sie mir nach Runde zwei zurief. Im Schatten sitzend verstreicht weitere
Zeit, bis ich mich zu Sandras erhofftem Finish erneut in der Zielgasse einfinde. Warten mit schussbereiter Kamera … warten, … warten, … und warten. Die offizielle Uhr wartet auch, stellt in ihrer Anzeige 4:05, 4:10, … 4:20 Stunden zur Schau … noch immer keine Sandra, was mich nicht wundert. Der Moderator sprach vorhin von 34°C im Schatten. Vielleicht eine Spur übertrieben, aber mehr als dreißig Grad Hitze müssen die Läufer inzwischen garantiert aushalten. Unaufhaltsam tickt die Uhr gen 4:30 Stunden, da kommt Bewegung in die Zweiergruppe unserer „Späher“, Sandras Ehemann und Steffi die HM-Finisherin, beide harrten am Anfang der Zielgasse aus. Und schon biegt Sandra um die Ecke, hält mit nicht einmal müde wirkenden, noch immer fließenden Bewegungen auf mich zu.
Und sie lächelt! Unter Garantie schmerzt jede Faser ihres Bewegungsapparats, mit Sicherheit ist sie erschöpft, entsetzlichen Durst wird sie verspüren, im überhitzten Körper schmoren und doch lächelt sie! Wetzt an mir vorbei und … ist wenige Sekunden später im Ziel. Eindeutig unter 4:30 Stunden - eine Zeit, die man erstmal laufen muss unter solchen Bedingungen. Eine Zeit überdies, die vor ihr lediglich neun andere Frauen unterboten, was die Härte des Marathons an diesem Tag unterstreicht.
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Noch bevor wir uns von Sandra und ihrem Mann verabschiedeten stellte ich alle Bedenken den Heimweg „per pedes“ anzutreten hintenan. Den Ausschlag gab eine Kältefront, die heute Abend beginnend durchziehen und den morgigen Tag unwirtlich gestalten soll. Also jogge ich, anfangs überwiegend bergauf. In der Innenstadt bieten hohe Jugenstilfassaden reichlich Schatten, an der Peripherie und darüber hinaus spannen mir Alleebäume und Wald einen Sonnenschirm auf. Die beträchtliche Nachmittagshitze darunter empfinde ich als nicht einmal unangenehm. Ich war schon immer hitzeresistent - wenigstens eine Eigenschaft, der das Alter offenbar nicht oder nur wenig zusetzte. Acht Kilometer trabe ich auf diese Weise herunter, achtsam bestrebt das Tempo kleiner als sonst zu halten. Erst dann gilt es zwischen Feldern eine lange, schattenlose Etappe zu überwinden. Doch auch das bereitet mit keine Schwierigkeiten. Meiner Trägheit und Bedenken Rechnung tragend wählte die 17 km-Route. Ziemlich lange erwäge ich vielleicht doch noch ein paar Kilometer anzuhängen. Unverbindliche Gedanken, die, spätestens zum Ende hin und wie mehrfach schon in letzter Zeit, vom massiven Trommelfeuer tausender Laufschritte hinweggefegt werden. Schlussendlich bin ich froh nach ziemlich genau 17 km einen Haken hinter meinen Trainingstag setzen zu können … Immerhin: Das Knie blieb auch heute friedlich!
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Quo vadis, Udo? - Zukunft ist grundsätzlich unverfügbar. Sie kann so oder so oder ganz anders Gestalt annehmen. Meine früher ständig mit Lauferfolgen gefütterte und deshalb unanfechtbare Selbstwirksamkeit hat sehr gelitten. Doch offenbar konnte ich mir ausreichend Vertrauen in meine Fähigkeiten bewahren. Genug jedenfalls, um das Ziel Marathon-Comeback trotz erhöhter Unverfügbarkeit, manifestiert in Form dreier Rückschläge und diverser Körperwiderstände, weiter zu verfolgen. Vielleicht - um im Soziologendeutsch zu verbleiben - gelingt es mir demnächst doch noch den Marathon verfügbar zu machen. Mehr als das: Mit dem Marathon wieder in Resonanz zu schwingen, so intensiv, dass er mich wie früher mit Zufriedenheit und Glück befüllt. Jenes Glück und jene Zufriedenheit, die sich heute nach dem Finish in Sandras erschöpftem Gesicht widerspiegelte. Es sind genau diese Emotionen, die letztlich alle Mühe lohnen.
Anmerkung: Nicht unbeträchtlichen Einfluss auf meine Gedanken und Einschätzungen in diesem Bericht hatte die Schrift „Unverfügbarkeit“, verfasst von Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Um seine für „Otto-Normaldenker“ sperrige Soziologen-Wortwahl zu illustrieren, bedient sich Hartmut Rosa diverser Beispiele aus dem Lebensalltag und lässt auch den Sport nicht außen vor: „Natürlich kann man mit Geld, aber auch mit Training Einfluss nehmen auf das Spielgeschehen, […] Ja, man kann, […] seine Chancen erhöhen durch gute Vorbereitung, durch Mentaltraining, durch Entspannung, aber man kann den Sieg […] niemals erzwingen. Mehr als das, durch Steigerung der Anstrengung alleine lässt sich gar nichts erreichen: Je mehr man das Tor oder den nächsten Punkt verfügbar machen, das heißt erzwigen will, umso weniger gelingt es.“