3. März 2024

Standortbestimmung  -  Neckarufer Marathon 2024

Dreimal eröffnete ich die Marathonsaison am Neckarufer. In drei weiteren Jahren, das laufende eingeschlossen, stand davor schon der ein oder andere Marathon zu Buche. Jedes Mal fuhr ich mit Erwartungen nach Stuttgart. Mindestens mit der Hoffnung auf ein vorfrühlingshaft sonniges Lauferlebnis nach eisigen Wintertagen; zuweilen wollte ich mir auch einen Formanstieg attestieren lassen. Heute scheint beides möglich: Eine vom Himmel lachende Sonne, die die Quecksilbersäule auf versprochene 18°C am Nachmittag klettern lässt und eine Standortbestimmung mit erfreulichem Resultat. Die Strecke am Neckarufer ist weitgehend flach und in voller Länge asphaltiert, also mit nur geringen Abstrichen bestzeitfähig. Ungefähr alle fünf Kilometer wird Verpflegung gereicht, so dass ich auch beim Versorgen kaum Zeit einbüßen werde. Gute Voraussetzungen, um sportliche Fragen zu klären: Wie schnell bin ich - bestenfalls - aktuell auf der Marathonstrecke? Und: Entfalten die seit wenigen Wochen ins Training aufgenommenen Tempoanteile bereits eine positive Wirkung?

„Positive Wirkung“ meint nicht nur höheres Tempo. Was ich in den zurückliegenden Monaten am meisten vermisste, war Tempohärte. Jeweils viel zu früh, oft schon nach etwa einem Drittel der Strecke, war ich dazu verdammt gegen wachsende Widerstände - schwere und schmerzende Beine - anzurennen. Das ist mit Blick auf den Spaßfaktor beim Laufen definitiv zu früh. Hinter Kilometer 30 eines „scharf“ gelaufenen Marathons geht das in Ordnung, davor allenfalls ausnahmsweise. Mit Tempotraining versuche ich physische Stabilität auch auf der zweiten Marathonhälfte zurückgewinnen. Skepsis, ob oder zumindest inwieweit Tempohärte in (m-)einem M70-Organismus noch trainierbar ist, hält sich hartnäckig. Dieser Absicht steht wachsende Altersbequemlichkeit entgegen. Ob alle Läufer von ihr befallen werden, kann ich nicht sagen, Udo macht sie zweifelsfrei zu schaffen. Deshalb weicht er aus. Trainingseinheiten bei schlechtem Wetter ebenso, wie forderndem Tempo, das unangenehme Körperwahrnehmungen zur Folge hätte. Resultat: Udo wurde zur lahmen Schnecke und quält sich tierisch auf Hälfte zwei eines Marathons.

Die ersten Schritte nach dem Start, zunächst im Hof des örtlichen Segelvereins, anschließend dem Neckarufer folgend, sind das schiere Gegenteil von vielversprechend. Wie stets, wenn ich loslaufe, einerlei wann und wo. Ein paar Kilometer werde ich brauchen, um meine Physis samt Laufgefühl aufzuwecken. Erst dann werde ich spüren welche Tagesform ich mitbrachte. Sollte ich heute in einem Tal meines Biorhythmus joggen, kann ich die erhoffte Standortbestimmung vergessen. In dem Fall ginge es darum möglichst ungeschoren und mit Würde das Ziel zu erreichen.

Einstweilen erfülle ich Chronistenpflichten, schieße Fotos von Strecke und Mitläufern. Nicht nur das Anspringen meines Bio-Antriebs gilt es abzuwarten, auch die Wetterfee hat offenkundig verschlafen. Mehrfach wabern Hochnebelschwaden durchs Neckartal, lassen die Sonne als milchig trübe Scheibe oder gar nicht erscheinen. Nach und nach werde ich „wacher“. Ein physiologischer Prozess, den ich bei jedem frühen Marathonstart so oder so ähnlich erlebe und doch nicht in Worte fassen kann. Je hässlicher die Witterung, umso länger zieht sich das „Einlaufen“ hin. Die gegenwärtigen etwa 6°Celsius bei Windstille sind zwar nicht übel, der Leistung des Wärme-affinen Udos dennoch eher hinderlich. Über drei, vier Flusskilometer schwimme ich mich frei. Laufen strengt mich an, jedoch nicht mit der gefürchteten, bleiernen Schwere in den Beinen, die mit schlechter Tagesform einherginge. Und das, obwohl mir der „Tacho“ am Handgelenk für meine Verhältnisse ambitioniertes Tempo bescheinigt. Abwarten, ob sich der „Einschwingvorgang“ positiv fortsetzt. Nach 10,5 km werde ich die Zeit nehmen und klarer sehen.

Sehen: Ich sehe den Fluss zu meiner Linken, die bewaldete, steile Böschung rechts, wie auch den sich stetig ausdünnenden Zug bunter Lemminge voraus - doch wirkliche Wahrnehmung ist mit diesen Bildern nicht verbunden. Zu vertraut bin ich mit der Umgebung und zu gespannt auf die Reaktion meines Körpers. Nach fünf Kilometern nutzen wir die Staustufe in Remseck am Neckar, um Uferseite und Laufrichtung zu wechseln. Ab hier zurück, flussaufwärts gen Stuttgart. An der ersten Verpflegungsstelle fülle ich Flüssigkeit nach, will erwartetem Schweißverlust möglichst frühzeitig entgegenwirken. Der Radweg hält sich auch auf dieser Seite dicht am Ufer. Jetzt liefe ich in der Sonne, wenn sie denn schiene. Was ihr einstweilen, gefiltert von Hochnebel, höchstens ansatzweise und kurzfristig gelingt.

Zwei Wildenten paddeln parallel zum Ufer einher. Natur trifft auf Infrastruktur: Der Neckar ist auf seinem gewundenen Weg durch Stuttgart eher Kanal als Fluss. Der Mensch hat ihm fast nichts seiner Ursprünglichkeit belassen, staut ihn überdies alle paar hundert Meter auf. Bollwerke zur Stromerzeugung, darin Schleusen für die Schifffahrt. Schifffahrt, die heute nicht stattfindet. Später werde ich ein Ausflugsboot sehen, Lastkähne während allgemeiner Sonntagsruhe nicht einen. Die gewaltige, sich über fast anderthalb Uferkilometer hinziehende Kläranlage rechts des Radweges trägt auch nicht unbedingt zur Verschönerung des Landschaftsbildes bei. Und doch fällt sie dem Passanten kaum auf. Liegt am Wasser auf der linken Seite, dass eben doch die Augen magisch anzieht - einerlei wie kanalisiert sein Fließen auch sein mag …

Kilometer neun: Die erste von zwei Fußgängerbrücken im Laufweg kommt in Sicht. Über ihren durchaus hübschen, ein paar Höhenmeter verlangenden Bogen wechsele ich abermals die Flussseite. Also kurzzeitig mehr Anstrengung bei gleichbleibendem Tempo. Konzentriert lausche ich in mich rein und stelle zufrieden fest: Nicht der leiseste Protest! Also keine Abstriche hinsichtlich des Lauftempos erforderlich.

Nach fast einem Viertelmarathon, an der zweiten Verpflegungsstation, mischen sich im Bauch Cola und Wasser. Ich trinke stehend. Weil’s bequemer ist und ein paar Sekunden Zeitverlust dem unendlichen Universum komplett gleichgültig sind. Dann weiter zwischen Parkanlage um den einstweilen noch verdeckten Max-Eyth-See dicht am Neckarufer. GPS meldet 10,5 Kilometer, ich nehme die Zwischenzeit für den Viertelmarathon: 1:07 Stunden. Mal vier in Gedanken ergibt eine höchst erfreuliche, potenzielle Endzeit, der ich jedoch keinen Glauben schenke - zumal zu diesem frühen Zeitpunkt. Auf verbleibenden gut 30 Kilometern kann noch allerhand schiefgehen …

Ein weit ausgelaufener Bogen trennt mich für Minuten vom Neckar, ermöglicht dafür kurzzeitig Ausblicke über den Max-Eyth-See. Rasch zurück zum Neckar und beinahe augenblicklich Steigung, hoch zum Scheitel der zweiten Fußgängerbrücke. Der größte Höhenunterschied der Strecke und meine Beine stecken ihn ohne Schwierigkeiten weg. Der Schwung des Brückenbogens, das Tragwerk aus teils gekreuzten Stahlseilen, der optisch dazu passende „Maschendrahtzaun“ als seitliche Begrenzung - noch jedes Mal kam mir das Prädikat „atemberaubend“ auf dieser Brücke in den Sinn. Viele Stuttgarter sahen das auch so. Insbesondere verliebte Paare, die ihren Bund mit Schlössern in den Maschen der seitlichen Begrenzung besiegelten. Ich hatte mich auch ein bisschen in die bunte Vielfalt der Schlösser verliebt, die den Laufweg zwanzig, dreißig Meter weit begleiteten. Entsprechend ernüchtert musste ich letztes Jahr erkennen, dass die mindestens unromantisch handelnde Stadtverwaltung alle Liebesschwüre entfernt hatte. Aber nun keimt wieder Hoffnung: ein paar Schlösser hängen da schon wieder … Ich bin gespannt auf den Neckarufer Marathon 2025!

Fast entgehen dem von fabelhafter Architektur geflashten Beobachter die steilen, in kleinteiligen Terrassen angelegten Weinberge, auf die er beim neuerlichen Uferwechsel zuhält. Ans Ufer zurückgekehrt geben aber die nächsten paar hundert Schritte Gelegenheit, den Aufmarsch der Reben am Hang zu begutachten. Unzugänglich. Das Wort drängt sich auf, stelle ich mir die Mühe beim Bestellen dieses steilen Weingartens vor. Maschinen, die den Weinbau rentabel machen würden, lassen sich dort kaum einsetzen!? Zahlen folglich Liebhaber dieser Neckarlage horrende Preise für ein paar Flaschen des Weins? Oder frönen Hobbywinzer ihrer Leidenschaft und keltern lediglich zum Eigenbedarf?

Ich nehme eine Veränderung in Augenschein, eine zwar hässliche, nichtsdestoweniger aber begrüßenswerte Neuerung. Auf dem nächsten halben Kilometer verstellt sie die Aussicht zum Fluss. Es handelt sich um zwei halbmeterdicke, übereinander angeordnete Rohrleitungen, parallel zum Straßenrand, die im letzten Jahr noch nicht da waren. Vermutlich Leitungen, die Fernwärme zum Stadtteil oberhalb des Steilhangs transportieren. Fernwärme, die wahrscheinlich - ich bemühe vorausschauende Streckenkenntnis - im Müllheizkraftwerk Cannstadt gewonnen wird. Bis zum Kraftwerk fehlen noch etwa drei Kilometer Uferpromenade … Drei Kilometer auf denen der Neckar zwei ausgedehnte Mäander zu einem „S“ verknüpft. Den Auftakt dazu bildet der Fernwärme-verschandelte Uferstrich, gefolgt von einem Dammweg. Der Damm schützt tiefliegende Ortsteile von Cannstadt vor Übergriffen des Neckars. Zwischen Damm und Wohngebäuden verläuft eine Straße, auf der Tempo 50 innerorts mehr als nur strikt eingehalten wird. Denn der Damm schützt vor Hochwasser, eventuelle Raser jedoch nicht vor zwei Blitzern, die hier im heimtückischen Abstand von nicht mal 500 Metern auf Opfer lauern …

Alles wie immer: Drüben, unmittelbar hinterm Gegenufer an steiler Böschung, erheben sich weitere Rebterrassen. Ein malerisches Bild, wenn sich wie heute blaue Himmelsflecken im Neckar spiegeln. Versprochene Wärme und Sonne lockten auch viele Ruderer aufs Wasser. An ihrer Heimstatt, dem Stuttgart Cannstadter Ruderclub, gleichfalls am Ufer gegenüber gelegen, werde ich in etwa einer halben Stunde vorbeitraben, dann auf Gegenkurs. Eine stämmige Läuferin, der ich auf dem letzten Kilometer folgte, um sie mehrmals als Fotomodel zu „missbrauchen“, zweigt vom Damm zu einer Fußgängerampel ab. Ach so: Die Dame ist nicht Teil des Wettbewerbs, wie einige andere Jogger, die mir an diesem Sonntagmorgen bereits begegneten. Es stört mich zwar nicht, kommt mir aber irgendwie seltsam vor: Nun keine Läufersilhouette mehr voraus, so weit das Auge reicht. Und das, obschon heute mehr als 200 Teilnehmer auf die Strecke gingen, ich zudem gar nicht mal so langsam unterwegs und erst etwa ein Drittel der Distanz gelaufen bin. Als Veranstaltungsdebütant sorgte ich mich wahrscheinlich jetzt auf dem richtigen Weg zu sein. Überflüssigerweise, denn auf 99 Prozent der Strecke ist Verlaufen unmöglich, weil du einfach nur dem Uferweg zu folgen brauchst. Und auf dem verbleibenden Prozent platzierte Veranstalter Michael Weber genügend Streckenposten. Die im Grunde verzichtbar wären, denn schlüssiger und lückenloser kann man einen Kurs kaum markieren, als Michael Weber und seine Helfer …

Der Abschnitt entlang des Müllheizkraftwerks wirkt schon ein bisschen unansehnlich, beinahe düster. Zunächst passiere ich einen überdachten Kai, an dem ein Kohlefrachter festgemacht hat, um die fürs Zufeuern im Müllofen vorgesehene Ladung zu löschen (Wirklich Kohle? Echt jetzt?). Dahinter erheben sich jäh himmelhohe Gebäude samt noch höherem Schlot. Eine Fernwärme transportierende Brücke entspringt dem Werksareal, quert etwa zehn Meter über meinem Kopf Weg und Fluss. Fraglos ein verschandeltes Teilstück des Neckartals, wenngleich üppiger Wildwuchs an Büschen und Bäumen das Unvermeidliche kaschiert. Und ehe Unansehnliches das Läufergemüt eintrüben könnte, bin ich auch schon am Kraftwerksgelände vorbei und jogge auf die eiserne Wilhelmsbrücke zu. Sie verbindet den jenseitigen, alten Kern von Cannstadt, mit diesseitigen Ablegern. Der Ufermauer folgend bietet sich von dieser Seite der beste Blick zum Theaterschiff, das am gegenüberliegenden Ufer „für den Rest seiner Tage“ festgemacht hat. Ein bisschen runter und wieder rauf, dann darf ich auf die Wilhelmsbrücke abbiegen und den letzten Ufer-/ Richtungswechsel perfekt machen. Perfekt ist damit auch Kilometer 16, behauptet zumindest die aufs Trottoir gesprühte Zahl.

Nur wenige Schritte weiter erwartet mich der dritte Verpflegungspunkt, Zeit fürs erste von vier vorgesehenen Gels. Zwei Becher Wasser hinterher und mit sicher kaum mehr als einer halben Minute Verzögerung weiter. Von rechts drängt Cannstadt heran, links duckt sich der Neckar tief in sein vor Äonen ausgespültes Bett. Na ja, denkbar wäre auch man hat den Fluss als Fahrrinne für Frachtkähne ausgebaggert … Einerlei, kaum etwas weckt heute echtes Interesse. Zu sehr trachte ich nach raschem Raumgewinn und fortlaufender Feststellung, was die wachsende Zahl von Kilometern mit mir anstellt. Als gesichert betrachte ich inzwischen, in passabler Tagesform unterwegs zu sein. Was aber auch bedeutet, dass das Resultat dieses Wettkampfes, ob gut oder schlecht, ein gültiges Urteil über meinen aktuellen Ausdauerzustand fällen wird. Und da ich so denke, nehme ich mich in die Pflicht: Ab jetzt bis ins Ziel schwöre ich jeglicher Behäbigkeit ab, ordne alles dem Ziel „kürzest mögliche Laufzeit“ unter.

Bogen um den Kinderspielplatz, zurück ans Ufer, vorbei am Kunstrasenplatz, auf dem gerade ein Fußballspiel ausgetragen wird. Ausgetragen mit von Häuserwänden widerhallendem Gebrüll. Unablässiges Kreischen, als gälte es den Ball mit Schalldruck ins Tor zu treiben. Meine Zeit als Fußballer ist lange her: War unser Gekicke damals auch von akustischer Unbotmäßigkeit begleitet? - Ein Schlenker steht an: Weg vom Fluss, hin zur Straße, an ihr entlang, binnen weniger Minuten wieder zurück zum Neckar. Auf den folgenden zwei Kilometern ist das Flussufer von Enge geprägt: In Spuckweite links von mir plätschert der Neckar, ich selbst laufe auf schmalem Fußweg, den wir Passanten uns mit Radlern teilen müssen. Rechts neben mir die Straße und dahinter steile Weingärten, die sich über circa fünfzig Höhenmeter bis hoch zur Hangkante erstrecken. Wieder in Rebterrassen gegliedert, da und dort kleben auch kleine Geräteschuppen, Schwalbennestern ähnlich, am Hang. Ein reizvoller Anblick, der mich jedes Mal zum Fotografieren animierte. Wie mehrfach zuvor bedauere ich auch heute so früh im Jahr hier vorbeizukommen. Um wie viel eindrucksvoller wirkte dieses Panorama im Sommer, wenn die Rebsoldaten zu tausenden im grünen Rock strammstehen. Erst recht im Herbst, der die Rebflächen selbst noch im Dauerregen gelb- und rotgold leuchten lässt.

Beschaulichkeit bleibt heute ein Fremdwort. Meine Selbsttest-Absicht blockiert sie, aber auch die vielen von lauer Luft und Sonnenschein ins Freie getriebenen Zeitgenossen auf ihren Drahteseln. Alle paar Sekunden gilt es auf ein ungeduldiges Klingeln von hinten oder einen frontal heranpreschenden Radler achtzugeben. Endlich trennen sich Uferweg und Straße, nun wieder reichlich Platz für alle. Vorbei am Ruderclub, vorbei auch an einem Rudel Rucksack-bepackter Wanderer, die gerade in Höhe einer Ruhebank „schwäbelnd“ eine Pause aushandeln: „Machet ma doch do di Rascht!“ Wenig später wetze ich auf das Betonbollwerk einer Autobrücke zu. Mit „elegantem Hüftschwung“ überwinde ich zwei Sperrbügel diesseits der extrem schmalen Unterführung, jenseits zwei weitere und denke mir nichts dabei. Das soll sich nachher, in Runde zwei dramatisch ändern …

Stattdessen beschäftige ich mich in Gedanken bereits mit der Steigung, die mich hinter der Brücke erwartet. Ein paar hundert Meter weit gewinnt dort ein mit roten Klinkern gefliester Weg an Höhe. Warum gefliest? - Weil er sich durch den Park zieht, der den Max-Eyth-See umgibt und „hübsch“ aussehen soll. Den See werde ich allerdings erst vom „Gipfel“ der Erhebung aus zu sehen bekommen. Von dort trennen mich dann höchstens noch fünf Minuten vom Ende der ersten Runde …

Mehr oder weniger unausgesetzt, von Anbeginn bis jetzt, fahnde ich nach Signalen, die von frühem Ermüden künden. Inzwischen liegen 20 Kilometer hinter mir. Eine Distanz, nach der zuletzt das Leiden Fahrt aufnahm. Ich horche in mich rein und spüre: erträgliche Anstrengung, gemessen an der bereits bewältigten Distanz „normale“ Anstrengung. Noch registriere ich keinen Anflug jener unsäglichen Schwere, die mich während der letzten paar Marathons zu Boden presste. Das schürt die Hoffnung auf eine verträgliche zweite Runde. Hoffnung, aber eben auch nicht mehr als das.

Wenn ich mich nicht sehr täusche, dann bin ich auf dem zweiten Viertel der Strecke mit derselben, konstanten Geschwindigkeit unterwegs wie auf dem ersten. Durchaus in einem Maße fordernd, das - wie schon oft zuvor - den Schluss nahelegt: Das hältst du nicht bis zum Ende durch. Kann also passieren, dass mein Tempo demnächst den Bach runtergeht. Muss aber nicht so kommen. Sehr oft hatte ich - gefühlter Überlast zum Trotz - genug Ausdauer in den Beinen. Das war schon vor zwanzig Jahren so, als ich eine persönliche Bestleistung nach der anderen abspulte. Geändert hat sich jedoch die Vorgehensweise: Damals prügelte ich mich drei Monate durch einen gnadenlosen Trainingsplan mit Zielzeit. Ebenjener Zielzeit, aufgeteilt in Kilometerhäppchen, jagte ich dann am Marathonsonntag akribisch hinterher - und war meist erfolgreich. Jetzt, „im Herbst meines Läuferlebens“ und als Marathonsammler vielfach im Jahr auf Marathonkurs, überlasse ich die Tempofindung dem Laufgefühl. So hielt ich‘s auch vor gut zwei Stunden, als die Hatz begann. Scheue Blicke zur Uhr dienen seither lediglich der Einschätzung „wie’s heute so läuft“.

Gut läuft’s heute! Zumindest bis hierher ins Halbmarathonziel. 2:14 Stunden auf der offiziellen Uhr bescheinigen mir zweierlei: Erstens reihte ich im zweiten Viertel tatsächlich mit derselben Konstanz Schritte aneinander wie zu Anfang. Zweitens wird den Test mit einer guten Zeit abzuschließen immer wahrscheinlicher. Wobei ich noch immer nicht mit einem Ergebnis unter 4:30 Stunden liebäugele, das die HM-Zwischenzeit vorwegzunehmen scheint. Endgültig den Stecker wird man mir auf Runde zwei aber auch nicht ziehen - sagt von Lauferfahrung untermauerte Vorahnung. Unter 4:40 werde ich wahrscheinlich ankommen. Müsste klappen, denn dafür dürfte ich immerhin etwa 30 Sekunden mehr pro Kilometer verbrauchen als bisher.

Blackout meiner Kamera: Akku leer. Das Ding ist neu. Musste sein, da die alte den Geist aufgab. Hab mir eine „Gopro“ beschafft, um endlich vor einem erneuten Wasserschaden sicher zu sein, der letzten Endes, mit mehrmonatiger Verzögerung, die alte Digicam dahinraffte. Bei der „Gopro“ handelt es sich allerdings um eine „Actioncam“, für Videos konzipiert und wie ich jetzt lerne mit enormem Stromhunger. Okay, werd‘ ich künftig in den Griff kriegen - irgendwie. Mit sofortigem Ausschalten nach der Aufnahme, Wechselakku - wie auch immer. Eine Runde ist vollständig „im Kasten“, der Kameratod mithin erträglich. Fortan fokussiere ich mich einzig aufs Laufen, genauer gesagt aufs Tempohalten. Noch genauer gesagt: Ich lasse meinen Körper laufen, den Geist antreiben und die Augen von Zeit zu Zeit prüfen wie sich das Tempo entwickelt. Die Macht des Läuferwillens bietet den wachsenden Widrigkeiten Paroli. Dem zunehmend scheußlichen Gefühl, das vom überlasteten Energiestoffwechsel ausgeht, wie auch Überlastbeschwerden im geknechteten „Fahrgestell“. Der stärkste Durchhaltewillen hilft jedoch nicht mehr weiter, wenn der Treibstoff vorzeitig zur Neige geht. Doch danach sieht es einstweilen nicht aus. Nicht auf dem ersten Abschnitt von Runde zwei, auf dem mir ein paar der Superschnellen im Feld entgegenkommen. Die sind mir lahmer Schnecke inzwischen schon acht Kilometer voraus. Kann ich heute ab, denn heute ist ein guter Tag!

Auch vier Kilometer weiter, nach dem ersten Wechsel der Uferseite, ist der Tag noch gut. Mehrfache Tempokontrollen ergeben stets dasselbe Resultat: Keine Tempoverschleppung! Umso erfreulicher, da so das Zeitpolster für ein gutes Endergebnis unangetastet bleibt. Unangetastet für den immer noch wahrscheinlichen Fall, dass ich irgendwann schwächele. Hochgradig egozentriert fresse ich unterdessen Kilometer. Was meine Augen mich sehen lassen erzeugt kein Echo, stattdessen schaue - horche - forsche ich in mich rein … Fußgängerbrücke eins, Rückkehr zur ursprünglichen Neckarseite. Alsbald kurzer Trinkstopp am Verpflegungsstand, rasch weiter. In der Rückschau und mangels „Erinnerbarem“ vergeht die Zeit schnell, beim Laufen - jetzt! - zieht sie sich in die Länge. Rampe hoch zur zweiten Fußgängerbrücke: Viel steiler als vorhin! Überhaupt scheint nach nun mehr als 30 Kilometern mein Laufweg von deutlich erhöhten Gravitationswerten betroffen. Längst ist Kämpfen angesagt …

Fernwärmerohre - bleiben zurück. Autobrücke - drunter durch. Hochwasserschutzdamm - darauf entlang. Blitzer eins und zwei - dran vorbei. Vielfach der Blick zum Tacho, stets gefolgt von derselben erfreulichen Feststellung: Tempo weiterhin konstant! Natürlich inzwischen Anlass für Zielzeitträume eines älteren Herrn: Vielleicht ja doch unter 4:30 Stunden! Träume, die mein ehrgeiziges Selbst nur zu gern zum fixen Ziel erklären würde. Etwa fünf Kilometer vor dem Ende - die letzte Brücke ist überquert, an der letzten Verpflegungsstelle wurde ich bereits verköstigt - gibt es kein Zurück mehr: Mit jeder meiner Zellen in Muskeln und Hirn will ich jetzt Sub4:30Stunden. Zur Not auf Biegen und Brechen. Wobei es - erstaunlich genug - trotz gewaltiger Beanspruchung bislang beim Biegen blieb. So gut wie keine Beschwerden, die mich bedrängen würden. Wirklich nichts, was erwähnenswert wäre.

Links Wasser, voraus schmaler Fußweg, rechts Straße, dahinter steiler Abhang mit Rebterrassen. Tolles Panorama. Unwichtig. Wichtig: Blick zum Tacho, ein weiterer, noch einer - Tempo steht! Hochrechnung um Hochrechnung: Wird knapp, könnte aber klappen. Vorbei am Ruderclub, auf die Brücke zu. Vor deren Pfeiler spitzt sich urplötzlich die „Verkehrslage“ zu. Ein Mann im elektrischen Rollstuhl hält gleich mir auf die Sperrbügel zu, ist nur noch ein paar Meter davon entfernt. Was für sich genommen kein Hindernis bedeuten würde, da ich das Gefährt seitlich problemlos überholen könnte. Könnte, wenn nicht im letzten Augenblick aus der Gegenrichtung drei Radler heranpreschten. Dass sie mein Überholmanöver um ein paar Sekunden verzögern, ist nicht von Belang. Fassungslos stehe ich allerdings vor der Rücksichtslosigkeit dieser Leute, die sich alle drei vorm Rollifahrer durch die Sperre zwängen und ihn damit zur Notbremsung zwingen. Was der Mann dem Trio an Flüchen hinterher schickt, ist zwar nicht druckreif aber berechtigt!

Berg im Park. Vorhin war’s ein Hügel, jetzt isses ein Berg. Klinkerweg, ich wuchte mich hinan. Bald das Täfelchen mit der „20“. Noch 1,1 Kilometer bis ins Ziel. Und dafür werde ich definitiv nicht länger als sieben Minuten brauchen, Kraft ist noch da! Istzeit plus sieben, eindeutig unter 4:30 Stunden!! Die Freude darüber hilft mir übern Berg, im wahren Sinne des Wortes. Wenn es mir gelingt mit keinem der gefühlt tausend Spaziergänger, Gassigeher und Jogger auf der Parkpromenade mehr zu kollidieren, dann werde ich einen in dieser Eindeutigkeit nicht mal ansatzweise erwarteten Erfolg einfahren. Der Ritt auf einem Hoch im Biorhythmus machte es möglich. Und dieses Hoch gestattet nun sogar noch eine Temposteigerung. Ich beginne zu fliegen, auch wenn es sich nicht wie Fliegen anfühlt. Rund eine Tonne Biomasse, Rufname Udo, walzen Richtung Ziel, keinesfalls imstande abzuheben. Aber schnell rollen kann der Kerl noch … überholt ein paar fußlahme Mitläufer, nähert sich rasant dem Ziel und löst die Zeiterfassung aus.

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Von einer besseren Schlusszeit als zuletzt am Hahnenkammsee ging ich aus. Das weitgehend flache, asphaltierte Neckarufer, auch das Darreichen von Getränken minimieren Zeitverluste. Überdies würzte ich mein Training zuletzt mit Tempoanteilen. 4:28:42 Stunden können allerdings niemanden mehr überraschen als mich selbst. An eine Zeit unter 4:30 hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Wie schnell, mit welchem Raubbau am „Fahrgestell“ ich wirklich unterwegs war, belegen die Nachwehen des Laufs. Drei Tage Muskelkater nach einem Marathon? Ich kann mich nicht erinnern, wann ich davon das letzte Mal betroffen war. Dazu kommt eine Überlastung des linken Knies, die zwar nicht wirklich schmerzt, aber das Strecken des Beins erschwert.

Resultat und Folgen veranlassten mich zu einer selten vorgenommenen Korrekturrechnung, einer Multiplikation der Laufzeit mit dem Altersfaktor (Age Grade). Im Altersfaktor drückt sich der dem Lebensalter geschuldete Leistungsabfall aus, dem niemand entkommen kann. Den Altersfaktor - für 70jährige beträgt der Wert 0,7366 - kann man einer von allen Sportverbänden anerkannten, von einem gewissen Alan Jones erarbeiteten Tabelle entnehmen. Der Koeffizient ermöglicht altersunabhängige Leistungsvergleiche. Wobei ich mich allerdings nur mit mir selbst vergleiche, mit dem „jüngeren Udo“ sozusagen. Alterskorrigiert ergibt sich so eine Laufzeit von ca. 3:18 Stunden für den heutigen Marathon. Ziemlich flott, was drei Tage Muskelkater und Kniebeschwerden hinlänglich erklärt. Mit meiner Bestzeit aus dem Jahr 2006 (real: 3:01:50 h) kann dieses Ergebnis allerdings nicht mithalten. Die liegt - ihrerseits alterskorrigiert, da ich damals bereits 52 Jahre alt war - bei ca. 2:40 Stunden. Jahrelang haderte ich in jenen Jahren mit dem Umstand, trotz härtesten Trainings die drei Stundengrenze nicht unterbieten zu können. Jahre später brachte mich jemand auf die Idee, die Leistung alterkorrigiert zu betrachten. Und plötzlich war alles klar: 2:40 Stunden sind eine fantastische Leistung, die nur wenige Marathonläufer je realisieren, die zudem ein gewisses Lauftalent voraussetzt.

 

Fazit zur Veranstaltung

Ich mache es mir auch in diesem Jahr einfach und verweise auf die sehr positive Wertung der Vorjahre. Wieder gelang es Michael Weber eine Marathonveranstaltung auszurichten, der man nur die Bestnote Eins mit Sternchen verleihen kann.

Fazit: Jederzeit wieder!