6. Januar 2024
Die Strecke kenne ich immer noch aus dem Effeff, auch wenn ich vergangenes Jahr durch Abwesenheit glänzte. Dafür rannte ich hier in den Jahren 2021/22 zweimal ultraweit, 63 km, wozu man drei Runden um Rutesheim drehen muss. Einmal sogar 88 km - vier Umläufe plus Extraschleife - anlässlich des „Comrades Centenary Run“.* Heute wird mir der Lauf Ungewohntes präsentieren. Zum ersten Mal beschränke ich mich auf zwei Runden, einen Marathon. Zu mehr fehlen derzeit die physischen Voraussetzungen. Der Winter stutzte mir noch jedes Jahr gehörig die Flügel: Traditionell verfüge ich zu dieser Jahreszeit nur über recht mäßige Ausdauer. Was einerseits körperliche Gründe hat, nicht zuletzt aber auch einer gewissen Antriebslosigkeit infolge Kälte(über?)empfindlichkeit geschuldet ist.
*) Der „Comrades Centenary Run“ wurde vom deutschen „Comrades Botschafter“ Klaus Neumann auf der RuR-Strecke organisiert. Näheres siehe im Laufbericht von 2021. Klaus Neumann wird auch weiter unten in diesem Laufbericht vorgestellt.
Heute also „nur“ Marathon auf Birgit und Norbert Fenders* Hausstrecke rund um die Kleinstadt Rutesheim (20 km westlich von Stuttgart). Die erste Runde will ich wie bisher ausnahmslos im Uhrzeigersinn absolvieren, in Umlauf zwei dann ungewohnt andersrum. Welche Richtung wird mir leichter fallen? Kompliziert-detailliertes
Erwägen in Sachen Gegenwind, steile Anstiege und mehr kann ich mir im Grunde schenken. Pro Runde stehen etwa 300 Höhenmeter an. Mithin wird Runde zwei dem allenfalls ausreichend trainierten Udo heftig die Karten legen, „piepegal“ welchem Sinn der Uhr er dabei den Vorzug gibt. Aber vielleicht erleichtert ihm Abwechslung die Aufgabe, wenn er andersrum „neue“ Bilder vor Augen hat und wenigstens da und dort auf den korrekten Weg achten muss.
*) Die Läufe „Rund um Rutesheim (RuR)“ sind auf der Laufseite von Birgit und Norbert Fender ausgeschrieben:100marathon42.de
Der Tag begann mit Pleiten, Pech und Pannen - daheim, auf der Herfahrt (Stau) und noch nach der Ankunft. Auch wenn ich nicht weiter ins Detail gehe, auf böse Vorzeichen ohnehin nichts gebe: Wird das jetzt so weitergehen und als Desaster enden? Positiv denken! Immerhin ließ ich den Regen zu Hause. Der Himmel über Rutesheim präsentiert sich zwar in tristem Grau, weint aber nicht. Nach einer seit Wochen anhaltenden Schlechtwetterperiode ist allein das schon Läuferglück pur. Ich gehe die paar Meter zur Startlinie vor einer nahen Blockhütte und mache mich auf den Weg … nur um Birgit und Norbert Fender nach ein paar Schritten in die Arme zu laufen. Kurze Begrüßung und weiter. Zunächst gilt es die Extrameter einer kurzen Pendelstrecke abzumessen, ohne deren Beitrag der Marathon kein Marathon wäre.
Danach sofort in die Vollen: Steiler Anstieg parallel zu einer Autobahnbrücke (A8). Mit noch ausgeruhten Beinen ein Leichtes. Sollte man denken, fühlt sich aber nicht so an. Und wenn schon, bin nicht mal eingelaufen. Die Steilwand flacht ab und ich überquere die erste Straße. Kein Verkehr, rüber und weiter. Vorbei am Grüngutsammelplatz, verfolgt von einem Auto, dessen Insasse
offenbar den „Tag von Kaspar, Melchior und Balthasar“ nutzt, um was auch immer zu deponieren. Das Rumoren von der nahen Autobahn weist mir akustisch den Weg. Noch jedes Mal, wenn ich hier vorbei joggte, dabei den stets lebhaften Verkehr auf sechs Spuren überblickte, kam mir dieselbe Frage in den Sinn: Wo kommen die alle her und wo wollen die alle hin? Und vermutlich zeugte meine Verwunderung jedes Mal denselben Antwortgedanken wie heute: Vermutlich haben sie einen ähnlich „kriegsentscheidenden“ Grund am Feiertag automobil zu sein wie du selbst!
Ich verschwinde im nahen Wald, werde das Geräusch von auf Asphalt abrollendem Gummi aber nicht los. Dem Wald fehlt das dämpfende Laub. Mein „Gummi“ rollt noch immer eher mittelprächtig, verursacht zudem leicht schmatzende Geräusche auf dem von reichlich
Regen aufgeweichten Waldweg. Leicht aufwärts voran in der Hoffnung mich endlich freizulaufen. Hoffnung, die sich kurz darauf, entlang eines flachen, zuletzt sogar leicht abfallenden Kilometers erfüllen sollte - es aber nicht tut. Kurze Ablenkung in Höhe des Mammutbaums*, dessen Imposanz mich einmal mehr beeindruckt. Menschenfuß auf Baumfuß zum Größenvergleich …
*) Begriffe, auf die in diesem Text nicht näher eingegangen wird, wie beispielsweise der „Mammutbaum“ im vorstehenden Abschnitt oder „SOLAWI“ im folgenden, findet, wer Näheres wissen möchte, in meinem ersten „RuR-Laufbericht“ im Berichtsjahr 2021 erläutert (Titel damals: „Wieder Schatten fangen“).
Ich sammele Kilometer im Wald, drei, vier, fünf …, die anfängliche Körperschwere will nicht weichen. Schon jetzt steht fest, dass mir die Marathonpremiere im neuen Jahr nicht in den Schoß fallen wird. Ich werde sie mir ähnlich hart erstreiten müssen wie das Finale im Vorjahr. Raus aus dem Wald, alsbald vorbei an den
jahreszeitlich brachliegenden Feldern der „SOLAWI“, der „Soldidarischen Landwirtschaft Heckengäu eG“. Vorzeiten bezeichnete ein Schild den Namen der Agrarkooperative, den Rest er-googlte ich im Internet. Heute steht da auch eine Tafel, darauf lediglich ein Hinweis zum Anbau „hochwertiger Lebensmittel“. Spontan ärgere ich mich über dieses Schild und forsche in den nächsten Laufminuten, welche Laus mir da wohl gerade über die Leber joggt. Raus kommt das: Zielt nicht jeder Anbau von Feldfrüchten spätestens nach Weiterverarbeitung oder Verwertung (und sei es als Tierfutter) auf die Erzeugung hochwertiger Lebensmittel? Ich erinnere mich beispielsweise an ein leuchtend gelbes Rapsfeld, das den SOLAWI-Äckern gegenüber lag. Bekanntermaßen produziert die Landwirtschaft unserer Tage auch Biomasse zur Energiegewinnung. Aber erstens nicht überwiegend und sicher nicht hier auf dieser überaus fruchtbaren Krume im Heckengäu. Also wozu diese elitäre Abgrenzung? Ebendieses Empfinden stellt sich bei mir ein: Da will sich jemand abheben vom Durchschnitt
oder gar Minderwertigen. Schau her: Hier pflanzt die Bio-Elite kein popliger Bauer. Mir gefällt die Idee, auf die „SOLAWI“ gründet, ihr plakatives Überheben dagegen gar nicht …
Vom höchsten Streckenpunkt blicke ich gen Westen, weit hinein ins schwäbische Land. Farblos heute unter farblosem Himmel. Die Ortschaft Perouse* - sie füllt die sich anschließende Mulde - liegt schon nach wenigen Minuten hinter mir. Es folgt: Autoverkehr. Erst unter meinen Füßen, die über eine Fußgängerüberführung tippeln, bald darauf am Rande eines Zubringers zur A8. Kurz hält mich eine Ampel an der Autobahnausfahrt auf, dann überquere ich die sechs dicht befahrenen Streifen einer der wichtigsten und chronisch überlasteten Verkehrsadern Deutschlands. Rückreiseverkehr aus den Skigebieten ist heute angesagt, die Weihnachts- und Jahreswechselferien gehen zu Ende. Massenhaft belgische und niederländisch gelbe Kennzeichen ließen den Autostrom von Ost nach West anschwellen. Sehe ich nicht jetzt, sah ich heute Morgen anlässlich der Herfahrt.
Links ab und vorbei an der „Berghütte“. Es hat den Rutesheimern gefallen sich ein deplatziert wirkendes alpenländisches Imitat vor die Haustüre stellen zu lassen. Das Wirtshaus flankiert den Eingang zum Freizeitpark mit Kletterwald und allerlei sonstigen Outdoor-Aktivitäten. Joggte schon mehrfach hier vorbei, nehme die
bauliche Entgleisung folglich kaum noch war. Es ist auch nicht Vergewaltigung meines Stilempfindens, die im Bauch rumort - von Beginn an rumort. Irgendeine Sektion zwischen Magenein- und Darmausgang verweigert heute ihre Mitarbeit. Vielleicht hört das Zwicken nun auf, nachdem ich ein paar Schlucke noch heißen Wassers aus meiner nebenan versteckten Thermosflasche getrunken habe?
Leicht auf- und bald wieder scharf abwärts, vorbei an einem weinenden Kleinkind, das sich auch auf Mamas Arm gehoben und Papas Fürsorge zum Trotz nicht beruhigen will. Längst in der Senke angekommen, vernehme ich immer noch die Stimme des/der mit der „Gesamtsituation anhaltend unzufriedenen“ Kleinen. 100 Meter flach jetzt - eine Seltenheit. Im Grunde besteht der Kurs aus der Aneinanderreihung von Anstiegen und Gefälleabschnitten. Auf schwachen Beinen ist dieser stete Wechsel heute unüberspürbar! Rauf, eine Verbindungsstraße überschreiten, wieder runter und neuerlich rein in den Wald, bald 11 km gelaufen. Da und dort begegne ich Joggern, bin aber oft unsicher, ob die- oder derjenige auf Norberts Startliste steht. Sicherheitshalber grüße ich alles, was Laufschuhe trägt.
Mehrmals hinan, mehrmals hinab, dabei erstaunt feststellen, dass es mir in den wenigen Monaten Streckenabwesenheit gelungen ist eine markante, schweißtreibende Rauf-Runter-Kombination zu vergessen. Nebenbei: Länger und steiler runter als rauf und ganz allmählich beschleicht mich Skepsis, ob das mit Runde zwei in Gegenrichtung wirklich eine so gute Idee ist!? Vielleicht nicht, aber dafür darf ich
dann auf diesem Spitzenquälgeist aller RuR-Rampen - fordernde, anhaltend steile etwa 800 Meter - entspannt talwärts tippeln. Doch erstmal packe ich das Hindernis beherzt an und bezwinge es mit kurzen Schritten …
Am Waldrand schon wieder über eine Straße, jenseits sogleich hinab. Von dieser Stelle an, für die verbleibenden etwa siebeneinhalb Kilometer, ist man beinahe unablässig dem Wind ausgesetzt - der heute nicht weht. Neben anhaltender Trockenheit der zweite, mitten im Schlechtwettergetöse der letzten Wochen kaum fassbare Glücksfall für Läufer. Also werde ich diesen Marathon mit Dankbarkeit und in Demut zum guten Ende bringen, einerlei, was mir noch widerfahren mag …
Zwei gehende Läufer voraus, die ich alsbald grüßend überhole. Dem Mehr-als-zwei-Meter-Mann Reinhold bin ich schon begegnet und vor ein paar Minuten dem flott bergan trabenden Jürgen. Von Ihr und Ihm, just in diesen Minuten eine Gehpause einlegend, kenne ich nicht mal die Konterfeis, so tief ich auch im (leider nicht allzu verlässlichen) Gedächtnis krame. Steilwand voraus, zum Glück nur etwa 100 Schritte im besonders fordernden Schlussteil. Ursache: Brücke über eine Straße - was sonst. Gefühlt hundert Straßen führen nach Rutesheim, aus dem Städtchen heraus oder drum rum. Jenseits des Brückleins auf ein
Gewerbegebiet von Rutesheim zu und binnen eines weiteren Kilometers hindurch. Rechts und links schauen lohnt nicht: Vorbei ziehen allüberall übliche Discounter, ein Baumarkt, diverse Gewerke und als Krönung ein Gebäudeklotz von Porsche. Dem Rand des sich anschließenden Wohngebiets folgend erreiche ich meine nächste Trinkflasche und zwei bevorratete Gels. Eins davon rein, ich werde das bisschen Zucker dringend brauchen. Zum Nachspülen beschränke ich mich auf drei, vier eisig kalte Mundvoll Wasser, die mein Rachenfallrohr schockgefrieren. Muss reichen, nur noch fünf Kilometer bis zum Auto und dort erwartet mich die nächste Thermosflasche …
Auf den nächsten beiden Kilometern durchquere ich die Flur zwischen Rutesheim und - ein paar Kilometer entfernt, jenseits des Tales - der Stadt Leonberg (50.000 Einwohner). Eine trotz relativer Windstille zugige Ecke, auf der ich infolge Kältebrücke in feuchten Klamotten auskühle und zu frösteln beginne. Aber nicht auf Dauer, dafür sorgen neuerlich ein paar Höhenmeter. Schließlich, nach der zweiten Überquerung der A8, „stürze“ ich mich ins letzte Tal hinunter, nur noch etwa anderthalb Kilometer vorm Rundenende. Seltsame Beobachtungen am Streckenrand, auf die einen
Reim zu machen mir oft versagt blieb, empfand ich von jeher als Marathon-Zusatzreiz. So auch jetzt wieder: Fünf Leute, in weiten, weißen Kunststoff-Overalls steckend, Kapuze übergestreift, demzufolge nur ihrem Antlitz entsprechend dem jeweiligen Geschlecht zuzuordnen, stehen beieinander und besprechen sich. Das hat was von Astronauten auf dem Mars, soeben der gelandeten Kapsel entstiegen … Keine Gerätschaften stehen herum, derer sie sich in rätselhafter Absicht bedienen könnten und auch ihre Hände sind leer. Was tun die da? Werd‘ ich’s je erfahren? - Rasch runter ins Tal, anschließend zum Ausgleich langsam und begleitet von Bächen am Wegrand wieder rauf. Im Sommer ist dies der schönste, stellenweise von Blumenwiesen gesäumte Abschnitt der Strecke. Heute braungraues Gelände, ganz so wie’s dem bislang schneelosen Januar gefällt (was nicht heißt, dass ich mir Schnee wünsche).
Die Versorgung am geparkten Vehikel frisst Zeit, was nicht zuletzt meinem heute weitgehend erschlafften Ehrgeiz geschuldet ist. Lediglich den Marathon vollends im Laufschritt zu bestreiten steht als Selbstverpflichtung felsenfest. Ein weiteres Gel muss rein - igitt ist der Glibber kalt! - und wird mit reichlich heißem Wasser aus der Thermoskanne runtergespült. Abschließend verfrachte ich noch zwei weitere Gelpäckchen in die Jackentasche - hatte ich ursprünglich nicht vor, werde ich aber brauchen. Das ist mittlerweile so sicher wie auf diesen mäßig hellen Tag eine finstere Nacht folgen wird … Endlich entschließe ich mich zum Aufbruch … Unter der Autobahnbrücke hindurch, dahinter diesmal - erstmals überhaupt - geradeaus. Zu Rundenstart abwärts bedeutet das und nicht wie vorhin sofort steil bergauf. Runter, ziemlich lange sogar runter … Runter schon, aber: Wie kann es sein, dass derselbe Hang, der mich vor nicht mal 10 Minuten hämisch grinsend bremste,
nun nicht mit gleicher Kraft schiebt? Diese Schräge ist gar nicht steil! Jedenfalls weit weniger steil als sie mich vorhin und all die Male zuvor bergauf glauben machen wollte. Camouflage! Ich bin versucht eine Zeile aus dem gleichnamigen Song zu zitieren „Things are never quite the way they seem …“*
*) „Camouflage“ ist ein Song von „Stan Ridgway“ aus dem Jahr 1986. Darin erzählt er die mysteriöse Begegnung eines amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg mit einem Kameraden namens Camouflage, der ihm das Leben rettet. Später muss er erkennen, dass Camouflage längst tot im Lazarett lag, als er Seite an Seite mit ihm kämpfte. Es ist eben wie im Refrain: Things are never quite the way they seem!
Die Bäche nahe des Weges begleiten mich in wenigen Minuten zurück zum tiefsten Punkt, zugleich der engsten Stelle dieses Tälchens und damit vor die Schwelle des nächsten Anstieges. Dass der mich fordern würde, habe ich erwartet, wie lange er das tun würde, daran hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Fast anderthalb Kilometer misst die Rampe und sie zieht sich … Zuletzt wieder über die Autobahn, längst unterm eigenen Gewicht ächzend, dann zurück zwischen Felder und … endlich in ein paar Meter sachtes Gefälle … Schon jetzt feiere ich jeden Kilometer, den ich der Strecke abtrotze, wie einen Sieg.
Vier sind es bereits in der gegensinnig gelaufenen Runde, … schließlich fünf als ich an meinem Depot ankomme. Von der „Eiskönigin verzaubertes“ Gel und Wasser müssen rein. Ich begrenze den „Spültrunk“ auf drei, vier Mundvoll, kaum ausreichend, um die Zuckersüße zu neutralisieren. Muss reichen, nur sieben Kilometer trennen mich von der nächsten Thermosflasche.
Das Gewerbegebiet am Ostrand des Städtchens entfaltet in Gegenrichtung durchlaufen auch keinen Reiz, legt mir lediglich Boden zu Füßen, der „gut gemacht werden muss“. Wann oder wodurch „Boden gut wird“, darauf findet die Redensart eine andere Antwort als etwa Landwirte oder Ökologen. Und Udo, der Läufer, hat den Boden gut gemacht, wenn er ihn mit Laufschritten hinter sich brachte … Er überwindet Straßen, läuft ab-, wo er zuvor aufwärts unterwegs war und hofft dabei auf spürbare Erleichterung. Die will sich partout nicht einstellen. Längst rüttelt Gefälle seinen Bewegungsapparat unangenehm durch und jeweils viel zu schnell schnauft er in der nächsten Steigung.
Das Unstete im Streckenprofil, seine rasch wechselnden lang- und kurzwelligen Amplituden, ich empfand sie in den Jahren zuvor nie so eindringlich. So bin ich dankbar für jede Ablenkung. Etwa für den hellbraunen, mittelgroßen Hund, der, in alle Himmelsrichtungen witternd, in Mission „Gassi“ scheinbar solo unterwegs ist. Als Hundemensch halte ich natürlich Ausschau, ob da nicht doch … irgendwo … ? Und tatsächlich mache ich etliche Schritte später „Herrchen“ aus, stückweit hangaufwärts in einer Wiese und seelenruhig herunter stapfend. Finde ich nicht so toll. Mich
ängstigt zwar kein Hund, nicht mal jene, die in der Vergangenheit kläffend aus Hofeinfahrten oder von sonstwo her zu Scheinattacken ansetzten. Was daran liegen mag, dass ich selbst einst auf den Hund kam und in diesem Status noch immer lebe. Manch anderer Läufer, mehr noch Läuferin, ist erfahrungsgemäß weniger mit solcher Unerschrockenheit gesegnet. Ich habe schon Jogger in Panik erstarren sehen, wenn ich ihnen mit Hund am Fuß - also unter Kontrolle - begegnete. Die Panikattacke eines „Hundeängstlichen“, der diesem scheinbar streunenden Vierbeiner begegnet, mag ich mir lieber nicht vorstellen.
Geschafft, mal wieder einen Wellenberg erklommen. Über die Straße und rein in den Wald. Es folgt, als Umkehrung des Erstrundenprofils, der längste Gefälleabschnitt im Wald; und erneut die Wahrnehmung, dass dieser Hang gar nicht so steil zu sein scheint, wie er mir stets hinan in die Beine fuhr. Hundert Meter weiter tauchen an einem Knick des Gefälles erst Köpfe auf, daran „angeflanscht“ folgen stufenlos Hals und Schulterpartie, zuletzt erweitert sich das Bild zu vollständigen, signalbunten Läufergestalten. Vorneweg zwei nebeneinander, ein paar Gehschritte dahinter ein weiteres Duo. Auch in der Absicht dem vorderen Duo zu begegnen wollte ich Runde zwei in Gegenrichtung bestreiten. „Passen
950 Marathons überhaupt durch die Linse?“ ruft mir Ulli Tomaschewski entgegen. Gemeint sind 750, die er an diesem Tage vollenden , plus 200, die sein Nebenmann Klaus Mantel mit seinem heutigen Jubiläum draufsatteln wird.
Herzliches Hallo, in das neben den Alsbald-Jubilaren, auch die beiden „Hintermänner“ einstimmen. Klaus Neumann gehört zu ihnen, der im „World Megamarathon Ranking 300+“* des Jahres 2022 mit damals 1.244 Marathons/Ultras auf Platz 20 logierte. In other words: Lediglich 19 andere auf diesem Planeten geborene Individuen waren häufiger auf einer Marathon- oder Ultrastrecke anzutreffen als der 71jährige Klaus Neumann! Marathon-potenteres Geleit beim 750. oder 200. Lauf konnten Ulli und Klaus kaum „engagieren“!
Das Intermezzo mit den Läufergrößen hat mich entspannt, die physische Not gelindert. Mit der Not wich aber auch meine Spannkraft ein wenig, so dass ich es nun noch ruhiger angehen lasse als bisher schon. Das wird Zeit kosten. Aber was bedeutet schon Zeit? So lange ich es schaffe die drei räumlichen Dimensionen mit
Laufschritten zu durchmessen, kann mich die vierte mal kreuzweise. Es dauert eben so lange wie es dauert. Basta! Dass es dauern wird, dazu leistet der Rest dieser Waldpassage einen maßgeblichen Beitrag. Ich muss zweimal relevant (= subjektiv steil und objektiv lange) rauf und dazwischen kaum erwähnenswert runter. Nachdem ich auch dieses Scharmützel gegen die Strecke für mich entschieden habe, zeige ich Einsicht: Im ursprünglichen Uhrzeigersinn mag die Runde „langweiliger“ sein, dafür fordert sie zumindest mich mit dem ihr in dieser Richtung eigenen Rhythmus des Auf und Ab weniger heraus …
Der Tag ist älter geworden, Spaziergänger, Gassigeher und veranstaltungsfremde Läufer mehren sich. So sie Notiz von mir nehmen, begegnen sie einem in sich gekehrten Läufer. Dessen verkniffene Gesichtszüge ihnen allerdings verborgen bleiben, weil ihm der tonnenschwere Schädel auf die Brust gesunken ist. Eine Haltung, die mir, sobald sie mir bewusst wird, auf den Wecker geht, die ich deshalb zu korrigieren versuche: Kopf hoch, Udo! Was aber kaum fruchtet, ertappe ich mich doch nur Minuten später wieder in derselben geknickten Verfassung. Auf ein Neues: Kopf hoch! Ermüdend das Spielchen, so lange ich es spiele, bis mir auch die Demutshaltung eines „Marathonritters von der traurigen Gestalt“ einerlei wird …
Noch zehn Kilometer und … bergauf, was sonst. An einem Baumstamm ist eine Nachricht angeschlagen. Ungeschminkt ehrlich: Auf ausgeruhten Beinen wäre mir gleichgültig, was da steht. Aber müde auf entsetzlich schweren Beinen um Höhenmeter ringend nutzt der raffinierte Teil meines Egos jede Halbchance, um sich ein
paar Verschnaufsekunden zu verschaffen. Mal spannt er meine Blase ein, um Notdurft zu signalisieren (was durchaus nicht immer zutrifft) und jetzt soll ich ihm vorlesen, was auf dem Zettel steht! - Immerhin: Der sie verfasste, diese Nachricht, lohnt mir den Zeitverlust zumindest mit einem Schmunzeln. „Liegestuhl kostenfrei abzugeben!“ heißt es da. Gemeint ist ein bereits teils überwachsenes, mit Laub bedecktes, umgekipptes, halb verrottetes, offensichtlich aufgegebenes oder gar weggeworfenes Sitzmöbel im angrenzenden Waldgrundstück. Dunkel meine ich mich zu erinnern, den Stuhl auch in den Vorjahren en passant wahrgenommen zu haben.
Ich einverleibe mir das letzte Gel aus meiner Jackentasche - komme nun insgesamt auf fünf -, schraube die Thermosflasche auf und trinke ein paar Becher ihres noch immer heißen Inhalts. Wieder schmeckt das Wasser eklig, wie vor zwei Stunden schon auf Runde eins. Wieso eigentlich? Anlässlich der „Kuhsee Marathon Challenge“ vor ein paar Wochen trank ich daraus auch heißes Wasser, das damals schmeckte wie Wasser schmecken muss. Seither stand der Behälter ausgespült im Schrank und wartete auf den nächsten Einsatz. Rätselhaft.
Weiter über die Autobahnbrücke und durch den Ort Perouse, den ich nun „himmelwärts“ queren muss. Mit minimaler Anstrengung beginnt’s, um mich zuletzt auf steiler Schräge zu quälen, deren Vorhandensein ich bis zu diesem Moment geleugnet hätte … Dafür bin ich nun „oben“, höchster Punkt der Strecke. Vom Plateau aus
blicke ich über Felder: frisch gepflügte, fruchtbar und satt dunkelbraun, wechseln sich mit grünen und ockerfarbenen ab, auf denen diverse Wintersaaten gedeihen. Zwar schlappe ich weitgehend gerädert einher, aber noch nicht unempfänglich für den reizvollen Anblick. Also kopiere ich das hübsch marmorierte Feldpanorama in den Speicher meiner Kamera.
Hügelab, zunächst vorbei an verwaister Koppel, gefolgt von der „elitären“ Agrarkompanie. Auch von dieser Seite nahend weist eine identische Tafel auf den „wertvollen Anbau von Lebensmitteln“ hin. Allerdings bin ich inzwischen zu schwach, um noch in negatives Aufbegehren investieren zu können. Weiter zum Waldrand, daran entlang … bisschen Gefälle, immerhin. Rein in den Wald, noch fünf Kilometer. Natürlich werde ich die verbleibende Distanz laufend hinter mich bringen. Das wird auch mein ramponiertes Fahrwerk nicht verhindern, das sich inzwischen zugleich puddingweich und staksig anfühlt. Selbsterfahrung in solcher Verfassung gibt mir die Sicherheit laufend anzukommen. Auch wenn sich diese Erfahrung über die Jahre verändert hat. Wobei ich mich außerstande sehe diese Veränderung in Worte zu fassen, um sie einem Leser „erfahrbar“ zu machen. Deshalb nur dies: Wenn ich früher zum Ende eines Laufes hin ausgelaugt war, dann auf einem Niveau, das mir mehr Restkontrolle über meine Physis beließ. Heute werde ich entleert wie eine altersschwache Batterie das Ziel erreichen. Gerade noch in der Lage mich umzuziehen, was aber mangels Körperbeherrschung und infolge Bewegungseinschränkung dauern wird …
Im Wald aufwärts, nicht steil, also laufend, Schritt um Schritt setzend, Meter um Meter gewinnend. Vielbefahrene Straße überqueren: Es fällt mir schwer den Kopf zu drehen, wenigstens ein paar Grad, bis ich eine Gefährdung ausschließen kann. Drüben weiter, leicht runter, etwas steiler wieder rauf, vorbei an der Grillhütte und schließlich auf den Mammutbaum zu. Ein Foto von dieser Seite aus ist Pflicht. Weiß nicht, ob sich so eins im heimischen Fundus wird finden lassen. Kann mich nicht erinnern, ob ich das Naturmonument auch mal in der Rückschau fotografierte … Vorbei an Gassigehern. Also vorbei an Hunden. Bilder von ausgeführten Vierbeinern sind wahrscheinlich das, was mich in der Phase ausgesprochener Hinfälligkeit noch am
ehesten ablenkt. Bin eben ein Hundemensch. Was das ist ein Hundemensch? - Das ist einer der emotionalen Gewinn daraus zieht mit einem Hund in häuslicher Gemeinschaft zusammenzuleben. Oder sich das zumindest wünscht, weil er es kennt, schätzt und aus welchen Gründen auch immer zum gegebenen Zeitpunkt nicht realisieren kann.
Der Wald bleibt zurück, dem Rauschen, Röhren, Donnern von der nahen Autobahn stellt sich nun nichts mehr in den Weg. Das Geräusch begleitet mich auf den letzten zwei Kilometern. Auf einem Abschnitt zischen die Autos gerade mal zwanzig Meter seitlich an mir vorbei. Ich passiere die Grüngutdeponie, rette mich sodann über die letzte Straße: alles frei, rüber, überlebt. Runter jetzt, erst sanft, zuletzt brachial, kurz vorm Ziel unter der Autobahnbrücke hindurch … letzte Meter zum Parkplatz. Geschafft, nach 5:27:43 Stunden stoppe ich meine Uhr! Applaus aus kleiner feiernder Runde schallt mir entgegen. Ulli und Klaus, also 750 und 200 Marathons/Ultras, laden zum Umtrunk. Ich lasse mich auf ein paar Schlucke und einen kurzen Plausch ein. Bis ich spüre wie die Kälte unaufhaltsam durch feuchte Plünnen dringt. Also wiederhole ich meine Glückwünsche, sage danke und auf bald - von der festen Überzeugung beseelt, dass ich all diese „positiv Verrückten“ in nicht allzu langer Zeit auf einer Laufstrecke wieder treffen werde. „Positiv Verrückte“ ist Sprech von Klaus Mantel. Das trifft es durchaus, ein anderer Ausdruck gefällt mir aber noch besser: Für mich sind sie Laufmenschen. Sie laufen, weil es ihnen Spaß macht, aber auch, weil sie gar nicht anders können als laufen. Zu laufen ist ihre Bestimmung.
Die Runde um Rutesheim darf sich nach meiner Auffassung mit dem Prädikat „abwechslungsreich“ schmücken. Das gilt für den Wechsel von Wald und Feld, fürs Auf und Ab im Gelände (ca. 300 Höhenmeter pro Runde), als auch hinsichtlich diverser Aus- und Fernblicke.
"RuR" (Rund um Rutesheim) wurde von Norbert und Birgit Fender, Mitgliedern des 100 Marathon Clubs, als Marathonserie ins Leben gerufen. In der Pandemie-Situation passten sie den Austragungsmodus an. Einzelstarts im großzügigen Zeitfenster ersetzen den gemeinsamen Aufbruch des Feldes. Als Nachweis eines regelkonform absolvierten Laufes dient die eigene GPS-Aufzeichnung. Startgeld wird keines erhoben, die Läufer sind auf Selbstversorgung angewiesen.
Fazit: Man hat mich sicher nicht zum letzten Mal auf der Runde um Rutesheim gesehen!