8. Oktober 2023

Blutzoll  -  Schwarzwald Marathon 2023

Seit 21 Jahren laufe ich Marathon und ungefähr genauso lange schon steht der Schwarzwald Marathon auf meiner läuferischen To-do-Liste. Ein Fluch missgünstiger Hexen schien diesen Laufwunsch zu blockieren, jedenfalls fand ich nie den Weg nach Bräunlingen (Kleinstadt unweit von Donaueschingen und Villingen-Schwenningen im Südschwarzwald). „Wieso isser ausgerechnet auf‘n Schwarzwald Marathon so scharf“, wirst du dich vielleicht fragen? - Anlässlich einer Recherche über die Geschichte des Marathonlaufs stieß ich schon früh auf den Lauf in Bräunlingen. Die Veranstalter des Schwarzwald Marathons gehörten in den 1960er und 1970er Jahren in mehrerlei Hinsicht zur Marathon-Avantgarde in Deutschland. Später beschäftigte ich mich weniger mit der Historie des Marathons, dafür exzessiv damit ihn zu laufen. Mein Schwarzwald-Marathon-Wissen verblasste. Erneutes Nachlesen brachte mich auf Stand: siehe Eintrag im Kasten am Ende des Laufberichts.

Wer „Schwarzwald“ hört, denkt an Kuckucksuhren und Bollenhüte, sieht tiefe Schluchten und steile Höhen vorm geistigen Auge. Wie kann es dann sein, dass ein dort ausgetragener Marathon „nur“ 450 Höhenmeter aufweist? - Schwarzwald ist eben nicht gleich Schwarzwald. Rund um Freudenstadt sieht die Landschaft anders aus, als südlich von Pforzheim und dort wieder anders als rings um den Berg Hornisgrinde - um nur jene Flecken als Beleg anzuführen, auf denen ich mich zu Marathon- oder Ultraläufen bereits aufhielt. Die Streckenbeschreibung auf der Internetseite vermittelt den Eindruck, dass man steile Abschnitte auf der Strecke vergeblich suchen wird. Sie charakterisiert den Kurs als „leicht ansteigend“ auf dem ersten Halbmarathon und „leicht fallend“ auf dem Rest des Kurses. Die Profildarstellung (auf der Internet-Seite, nicht der abgebildete Track meiner Uhr), eine sanfte, sich über 42 km erstreckende Wölbung, liefert keinen Anhaltspunkt am Wahrheitsgehalt dieser Schilderung zu zweifeln.

„Schön“ wird’s also werden! Und wenn mich der blaue Himmel an diesem Sonntagmorgen im Oktober nicht veräppelt, dann gilt das fürs Wetter im selben Maße wie für die Strecke. Als einzige Ergänzung zu meinem gewohnten Sommer-Outfit „kurz-kurz“ trage ich in 15°C kühler Luft Armlinge. Irgendwann nach dem Einlaufen werde ich die Hüllen abstreifen und im Hosenbund verstauen. Unaufgeregt stehe ich im letzten Drittel des etwa 400 Köpfe starken Feldes und harre der wunderbaren Dinge, die da heute geschehen sollen. Eine ziemliche Weile streift mein Blick kein bekanntes Gesicht. Eher ungewöhnlich für einen Marathon in Baden-Württemberg, nur anderthalb Fahrstunden von Stuttgart entfernt. Keine Minute später entdecke ich Klaus Neumann, meine Marathonwelt richtet sich aus kurzzeitiger Schieflage wieder auf. Kaum vorstellbar Klaus hier nicht anzutreffen. Mehr als tausend Marathons auf seinem Kerbholz erwirbt nur, wer keine Gelegenheit zum Marathonsammeln auslässt. Schon gar keine, die sich quasi in der Nachbarschaft anbietet.

Wir plaudern ein paar Minuten. Wie sich das für Herren der Altersklasse M70 gehört, ist die Frage „Wie geht’s dir?“ wirklich ernst gemeint. Und übereinstimmend gipfelt dieser Teil unserer Konversation in der Feststellung, dass Männer im Rentenalter, denen man Finishermedaillen weiterhin im Wochentakt um den Hals hängt, vor Gesundheit vergleichsweise strotzen müssen. Mit dem Start verlieren wir uns aus den Augen, jedoch nicht ohne zuvor gegenseitig gute Wünsche an den Mann gebracht zu haben …

Der Auftakt führt mich durchs Zentrum des Städtchens Bräunlingen, das sich für das Ereignis „Marathon“ mit Fahnenschmuck herausgeputzt hat, zudem mit Zuschauern nicht geizt. Applaus begleitet uns in wenigen Minuten hinaus vor den Ort, mitten hinein in eine unerwartet ansiedlungs- und waldfreie Umgebung. Auf asphaltiertem, herrlich planem Radweg - Wohin der wohl führen mag? - besichtigte ich weitgehend flachen, zu hundert Prozent von Landwirtschaft genutzten „Schwarzwald“. Hauptsächlich Wiesen, dazwischen brachliegende Felder - ach ja: eigentlich ist Herbst! - schränken die Fernsicht nicht ein. Nur weit abseits, an den Rändern einer kaum ausgeprägten „Wanne“, ist der Saum von Wäldern auszumachen.

Laufe ich aufwärts? Wenn ja, dann so unmerklich, dass es mit bloßem Auge nicht erkennbar ist und somit auch aufs Tempo keinen Einfluss hat. Auf dieses Tempo richte ich kein Augenmerk, überlasse es meinem Laufgefühl, wie so oft in den letzten Jahren. Auch heute will ich mir keine Meriten ans Revers heften; will so lange es geht Laufspaß genießen, meine Marathonsammlung erweitern und hinter das Dauermotiv „Selbstüberwindung“ einen Haken setzen. In kurzen Abständen wiederholte Selbstüberwindung könnte man auch mit „Inübunghaltung“ übersetzen, die dem Körper den anhaltend wiederholten Kraftakt „Marathon“ erleichtert. Das ist sicher ein nützlicher Nebeneffekt, entspricht aber nicht dem Kern der mit Selbstüberwindung verfolgten Absicht. In der Hauptsache will ich mich unter großer Anstrengung spüren, an meine Grenzen gehend wieder und wieder erleben, wie es mir gelingt inneren Widerständen auf dem Weg ins Ziel Paroli zu bieten. Zurückschauend erkannte ich irgendwann, dass mit Erfolg gekrönte Selbstüberwindung jeden meiner Läufe, auch sportlich oder sonstwie missglückte, zu einer steten Quelle von Zufrieden- und Ausgeglichenheit werden ließ.

Nach drei Kilometern schlägt die nun schon lockere Kette der Läufer einen hasengleichen Haken, hält ab jetzt auf den vielleicht einen Kilometer entfernten Waldrand zu. Kein Zweifel mehr: ab hier gewinnt der Weg sachte an Höhe. So bedächtig, als wäre es dem Streckenplaner darum zu tun seine Marathonis zu schonen. Noch immer Asphalt unter den Füßen und wärmer wurde es auch schon. Beste Bedingungen, herrliches Laufen, Vergnügen pur. Dabei bleibt es vorerst, wenngleich alsbald etwas mehr Steigung die Anforderungen spürbar erhöht. Dann und wann werde ich überholt oder überhole seltener selbst im Zeitlupentempo. So wie gerade jetzt dieses Laufduo, Sie und Ihn, partnerschaftlich Seite an Seite trabend. „Wie heißt du eigentlich?“ will die Dame wissen. Ich werde nie behaupten seinen Vornamen vergessen zu haben, weil ich mangels Interesse gar nicht richtig zuhöre. Das ändert sich zunächst auch nicht, als sie ihm ihren Namen verrät: Sanja. „Ah, Sonja!“ echot er, muss sich aber korrigieren lassen: „Nein, Sanja, mit ‚a‘!“ Auch diesen Teil des Smalltalks könnte ich spätestens da vorne am Waldrand nicht mehr wiedergeben, ließe der offenbar viel ältere Mann nicht noch einen Nachsatz folgen: „Ja klar! Junge Menschen heißen heute nicht mehr Sonja!“

Ich entferne mich und nehme die Einlassung als Denksportaufgabe mit. Was der Ältere offenkundig zum Ausdruck bringen wollte ist dies: Manche Vornamen wurden (und werden) entweder gar nicht mehr oder in abgewandelter Form von Eltern verwendet. Aus „Sonja“ wurde „Sanja“ - so will er es verstanden wissen. Und wenn ich schon dabei bin: Niemand „bestraft“ heutzutage sein Kind mit dem Vornamen „Udo“! - Spontan nehme ich mir vor daheim zu recherchieren und werde als beliebteste Vornamen bei Jungs erstaunlicherweise „Noah“ auf dem ersten und „Adam“ auf dem zweiten Platz finden. Biblisch-kirchliche Anklänge schrecken folglich niemanden ab, wenngleich unsere Welt sich von Jahr zu Jahr säkularer präsentiert (dokumentiert beispielsweise durch die Zahl der Kirchenaustritte). Bei den Mädchen heißen die Spitzenreiter „Emilia“, „Lina“ und „Emma“ - in dieser Reihenfolge. Meine seit langem verstorbene Mutter, Jahrgang 1917, hörte auf den Vornamen „Emilie“. Klingt tatsächlich antiquiert, wenngleich nicht so hoffnungslos aus der Zeit gefallen wie etwa „Traugott“ oder „Hildegard“. Und doch macht ein Vokaltausch „Emilie“ zum beliebtesten Vornamen für Mädchen des Jahres 2022: „Emilia“. Wie wohl meine Mutter darüber dächte?

Vorm Waldrand noch ein Schlenker, fünf Minuten später ein weiterer und wie früher oder später zu erwarten umschließt uns nun Wald. Fünf Kilometer liegen hinter mir. Fichten jeden Alters begleiten den moderat ansteigenden Forstweg, dessen feiner, roter Schotter gottlob kaum Unebenheiten aufweist. Bevor wir uns im kühlen Schatten der Bäume akklimatisieren können, war’s das auch schon wieder mit Wald. Weiter geht’s auf einem beidseits von Wiesen gesäumten Sträßchen in kontinuierlich moderater Steigung. Das schmale Asphaltband bleibt uns nur ein paar hundert Meter erhalten. Kurz hinter der ersten Verpflegungsstelle (Km 6,5) biegen wir erneut zum Wald hin ab …

Es folgt: Wald! Dann: Mehr Wald! Kurz darauf und geraume Zeit später noch immer: Wald! - Und der Wald stellt mich vor ein Problem; vor kein existenzielles wie 1970 die Crew von Apollo 13. Und nicht Houston wird es lösen, das muss ich schon selber tun. Und darum geht es: Wie soll ich die nun folgenden 11 Kilometer Marathon, auf denen ich nichts anderes als hunderte Läufer und abertausend Bäume zu sehen bekomme, unterhaltsam in Worte fassen? Unmöglich, darum versuche ich es gar nicht erst, beschränke mich stattdessen aufs Grundsätzliche und ein paar Begebenheiten.

Grundsätzliches: Die Tendenz „moderat aufwärts“ bleibt während der gesamten 11 Kilometer erhalten. Nur zweimal, jeweils für wenige hundert Meter, senkt sich der Weg. Dabei stellt sich keine Vorstellung von der erreichten absoluten Höhe ein. Und wäre ich aufgefordert zu schätzen, bliebe ich deutlich unter der topografischen Wahrheit. Tatsächlich beginnt der „Aufstieg“ in Bräunlingen auf etwa 700 Meter Seehöhe und wird zum Ende dieser 11 Kilometer hin die 1.000 Meter-Marke knacken. In Summe werde ich mehr als 17 Kilometer in den Beinen haben, wenn ich den Wald wieder verlasse. Dass meine Beine zu diesem Zeitpunkt „Teilermüdung“ signalisieren, hätte ich lange nicht für möglich gehalten. Nun weiß ich: Auch unmerkliche, dafür elend ausgedehnte Steigungen machen ihnen zu schaffen. An der letzten „Tränke“ versuche ich mit einem Gel gegenzusteuern, obwohl es dafür in Wegstrecke gerechnet eigentlich zu früh ist (hab nur zwei Gels im Gürtel).

Der mich auf elf Kilometern beschirmende, deshalb Schweiß sparende Schwarzwald ist rasch charakterisiert: 99,99 Prozent Fichtenbestand, vom „Fichtchen“ bis zum demnächst der Säge anheim fallenden Altbaum ist jede Größenordnung anzutreffen. Laubbäume kommen nur vereinzelt vor. Doch wenn, dann lassen sie durch Buntfärbung erkennen, dass der Herbst in dieser Höhe (von der ich keine Ahnung habe) bereits fortgeschritten ist.

Zwischendurch, auf gefühlt etlichen, real vielleicht drei, höchstens vier Kilometern verschießt, mein Blick tödliche Pfeile. Die stecken allesamt im ruppig-steinigen Geläuf dieser Abschnitte und gelten dem grobkörnigen, blassroten Schotter, mit dem vor nicht allzu langer Zeit die Forstwege „erneuert“ wurden. Geht das nur mir so? - Ich finde auf solchem Geläuf keinen Laufrhythmus, oder kann ihn, wenn er längst eingeschliffen schien, nicht festhalten. Statt zu laufen torkele ich wie angetrunken voran und wünsche mir nichts sehnlicher als ein Ende der Sohlentortur …

Nach ein paar Waldkilometern erreichen mich von hinten Rufe, die aufs Herannahen schneller Läufer schließen lassen. Kurz darauf pedaliert ein Führungsradler vorbei, dem Sekunden später ein pfeilschneller Halbmarathoni folgt. Zum Zweiten klafft eine ziemliche Lücke, der Dritte hat seinen Konkurrenten im Visier … In immer kürzeren Intervallen zischen nun ausdauerstarke Läufer vorbei, irgendwann auch die erste Frau - ihrerseits von einem Vorausradler angeführt. Es ist mir „schnuppe“ ständig von schnelleren Leuten überholt zu werden, die überdies gar nicht meinem Wettbewerb angehören. Es hat keine Bedeutung für mich - dachte ich und wäre bereit gewesen darauf zu wetten. Doch wenn es so ist, wieso nervt mich das Vorbeipreschen der (überwiegend jungen) leistungsstarken Leute? Wahrscheinlich hat es mit dem Eindruck zu tun, den sie mir vermitteln: Hallo, du lahme Schnecke! - Ein Eindruck, der leider so falsch nicht ist. Wie dem auch sei: Als die Marathonweiche das Feld in halbe und ganze Marathonis separiert, fühle ich mich gleich viel besser (schneller?).

Nach der Marathonweiche überhole ich eine junge Dame. Die Farbe ihrer Startnummer kennzeichnet sie als Staffelläuferin. Meine Schritte hört sie nicht, denn Beschallung aus „großkalibrigen“ Kopfhörern entrückt die Frau dem Diesseits. Denke ich zunächst … schon die zweite Denke, die sich prompt als Fehleinschätzung herausstellt. Als ich ihr etwa eine Schrittlänge voraus bin, schreit sie mich an: „SUPER! DU BIST SUPER!“ Mit hochgerecktem Daumen unterstreicht sie ihre Wertung. Was ich nur deshalb mitbekomme, weil ich ihr - von der Lautstärke des Zurufs erschreckt - mein Gesicht blitzartig zuwende. Reichlich verdutzt bleibe ich sprach- und reglos, versuche fieberhaft das „Lobgeschrei“ der Dame zu entschlüsseln. Dass sie mich überlaut ansprach, liegt vermutlich an den Kopfhörern, die sie mit lauter Musik zudröhnen. Doch wieso erweist sie ausgerechnet mir die Gunst ihres Beifalls? Weil ich den kompletten Marathon solo laufe und trotzdem schneller als sie? Sie, die doch „nur“ eine Teilstrecke vor sich hat? Dann müsste sie aber jeden Marathoni lobpreisen, der zu ihr aufläuft!? Oder kennt sie mich vielleicht, weiß womöglich die Umstände meines Laufs einzuschätzen? Dass ihr Konterfei mir unbekannt vorkommt, will nichts heißen. Schon häufig sprachen mich unbekannte Läufer an, die meine Berichte mehr oder weniger regelmäßig lesen. Die Sache bleibt rätselhaft. Und wollte ich nachfragen, unter den „vollfetten“ Mickey-Mouse-Ohren verstünde sie mich nicht …

Die 11-Kilometer-Forstpassage endet im Sonnenschein und mit grandioser Fernsicht über den südwärts tieferliegenden Schwarzwald. Für Fotos verharre ich an einer Art Abbruchkante, die sich von West nach Ost zu erstrecken scheint. Dann ein paar hundert Meter steil hinab, steiler als alles, was ich bisher aufwärts zu bewältigen hatte. Erst 18 Kilometer gelaufen und schon runter? Sicher kein Dauerzustand, ich bleibe skeptisch. Ein bisschen „Black Forest Tourist Feeling“ kommt auf, als ich erstmals alte Bauernhäuser mit dem für die Gegend typischen Walmdach zu Gesicht bekomme. Kaum dran vorbei, bewahrheitet sich meine Skepsis: es geht wieder sanft aufwärts. Mehr als fünfzig Höhenmeter musste ich hinter der „Abbruchkante“ nicht preisgeben. Im Höhenprofil eine kaum merkliche Senke, die ich im gewählten groben Maßstab schlicht übersehen haben muss.

Bei Kilometer 20 tauche ich neuerlich im Wald ab und ringe weiter mit gutmütiger Steigung. Gutmütig aber zunehmend anstrengend. Ich verhehle nicht, dass mir der unablässige Anstieg den Schneid abzukaufen beginnt. Kilometer 21: Auf Forstwegen weiter bergauf. Kilometer 22: Ähnliche Forstwege und Ansichten, weiterhin bergauf. Am Schattenwurf der Bäume kombiniert mit der Tageszeit - Mittag! - peile ich meine Laufrichtung ein: Westwärts aufwärts. Dann ein 90°-Schwenk gen Süden und … endlich bergab!

In Höhe der halben Strecke - da liegt tatsächlich eine Matte der Zeitnehmung mitten im Wald! - sind gemäß meiner Uhr bereits fast 2:26 Stunden vergangen. Überwiegend aufwärts und auf teilweise tempofressendem Untergrund bin ich mit diesem Zwischenergebnis gut bedient. Es bleibt abzuwarten, ob ich auf dem zweiten Halbmarathon, nun überwiegend in leichtem Gefälle, schneller vorankomme. Das wird einerseits von der Streckenbeschaffenheit abhängen, mindestens im selben Maße aber auch von mir verbliebenen Reserven …

Wieder im Wald - Wald - Wald … Der unterscheidet sich in der Abwärtsbewegung um keinen Deut von jenem der meinen „Höhenflug“ vorhin begleitete. Entsprechend seltener hebe ich meine rechte Hand, um ein von Wald eingerahmtes Motiv einzufangen. Diesmal werden sich sogar 14 Kilometer ununterbrochenen Waldlaufs ansammeln! Allein die Laufrichtung ändert sich mehrfach. Dank Frau Sonne bin ich stets im Bilde, ob der Kurs mich dem östlich gelegenen Ziel näher bringt, oder nach Abbiegen dazu einstweilen auf Distanz hält. Nach einigen Richtungsänderungen finde ich bestätigt, was ich auf Hälfte eins schon vermutete: So wie dort der anhaltende Aufwärtstrend mehrfach durch Gefälle unterbrochen war, so muss ich nun gelegentlich bergauf zusätzliche Körner investieren. Es stellt sich eben nicht in Reinkultur so dar, wie es sich ein schon halbwegs ermüdetes Laufquartett erträumte, das ich kurz hinter Kilometer 22 überholte: „Jetzt geht’s endlich abwärts! Und ich hoffe es kommen keine Anstiege mehr!“

Was ich rasch lerne: Sonne von rechts (= ostwärts laufen) und Sonne von vorne (= südwärts laufen) bedeutet „easy going downhill“. Gefälle, gleichmäßig und sachte, das geradezu „entzückende“ Tempowerte auf die Anzeige meiner Uhr zaubert. Sobald der Forstweg nordwärts abknickt, womit er mich dreimal für ein paar hundert Meter belästigt, muss ich mir Höhenmeter erarbeiten …

Was geschieht auf diesen 14 Kilometern? - Mitläuferinnen und Mitläufer werden rarer. Dass ich überhaupt noch mehr als nur sporadisch Laufmenschen zu Gesicht bekomme, verdanke ich langen Geraden, die die Route als Schneisen in den Wald legt. An einem der Verpflegungspunkte „häufen“ wir Läufer uns zufällig und bringen den dortigen Chef-Versorger in Versorgungsnot, die er nicht für sich behält: „Auf einmal so viele Läufer!?“ Womit er wohl zum Ausdruck bringen will, dass er so „spät“ am Tag nicht mit so vielen lahmen Enten gerechnet hat. Durst gestillt, alles gut!

Den Durst zu stillen gelingt mir übrigens bis zum Schluss ohne Schwierigkeiten, obwohl die Lufttemperatur auch im Wald längst über die 20°C-Marke kletterte. Dafür bedanke ich mich recht herzlich beim Schatten spendenden Schwarzwald! Danke sage ich auch dem Geläuf auf diesem zweiten Abschnitt im Forst. Gut gepflegte, voll intakte Forstwege tragen meine Last. Nur selten ein paar Meter, die mich mit Kullersteinchen necken.

Zwar hegte ich keine diesbezüglichen Erwartungen. Als dann aber ein erster und einziger von Farnen gesäumter Bach auf einem Steg überquert werden will, wundere ich mich schon über die Wasserarmut in diesem Teil des Schwarzwalds. Vielleicht liegt es aber auch an der Trockenheit der vergangen Wochen, die gewöhnlich zu dieser Jahreszeit Wasser führende Rinnen trockenfallen ließ.

Mit Überquerung des Bachs setze ich einen Haken hinter Kilometer 30. Ich spüre die zurückgelegte Distanz überdeutlich, muss inzwischen mit vermehrtem Willenseinsatz den Energiefluss aufrecht erhalten. Dafür zwickt’s nirgendwo. Für einen M70er im letzten Viertel seines Marathons ein Wert an sich! Während des schier endlosen Aufwärtslaufens, etwa ab Kilometer 13, 14, schien es, als sollte ich heute mit stetig sich verstärkendem Ziehen im Gesäßmuskel links abgestraft werden. Tatsächlich verschwand die Erscheinung wieder als ich „übern Berg“ war. Folglich wurde das Ziehen vom lang anhaltenden Aufstieg ausgelöst. Nun überwiegend und stetig in sanftem Gefälle laufend erhebt kein orthopädischer Nörgler mehr die Stimme.

Mit Überquerung des Bachs enden die „Nochmal-rauf-Intermezzi“. Der Weg folgt jetzt einem sich ostwärts gemächlich senkenden Tal, an dessen tiefster Stelle - irgendwo rechts von mir - ich den vorhin überquerten Bach vermute. Obwohl flott und beschwerdefrei unterwegs, zähle ich von Zielsehnsucht beherrscht bereits jeden Kilometer. Einzig mein Wille durchzuhalten verhindert jetzt noch den Tempoeinbruch. Ein Gel mehr hülfe objektiv betrachtet vermutlich wenig. Aber vielleicht beflügelte mich der Plazeboeffekt, das Wissen mit Zucker „gedopt“ zu haben - wenn ich es denn jetzt zur Hand hätte und schluckte, das Gel. Hab ich aber nicht und so wird die erwünschte Selbstüberwindung wie so oft zum Leidensweg. Glaubt mir keiner, ist aber so: Freude empfinde ich trotzdem dabei - irgendwie.

Der Wald bleibt zurück, Viehweiden beherrschen jetzt die Szenerie, alsbald kommen die ersten Häuser eines Dorfes in Sicht. Das erste und einzige Dorf, durch das ich laufen werde. Und nachdem ich durch bin, ergeht eine Danksagung an den Streckenkonstrukteur. Dafür, dass er mir weitere Dörfer ersparte, in denen womöglich auch eine mit Gesang untermalte Blaskappelle für „Stimmung“ gesorgt hätte. Der Applaus diverser Eingeborener, den der zwischenzeitlich vereinsamte Läufer auf dem halben bewohnten Kilometer einsammelt, wiegt das Vergehen der versuchten Körperverletzung im Bereich Mittelohr nur unzureichend auf …

Dorf vorbei, wieder rein in den Wald und … abwärts. Ich nehme Fahrt auf, lasse mich vom steten, jetzt etwas ausgeprägteren Gefälle dabei unterstützen. Hinter mir Motorengeräusch, ein Fahrzeug nähert sich. Der Forstweg bietet beiden ausreichend Platz: Dem Läufer, der sich hart rechts am Rand orientiert und dem Sanka, der hinter ihm her tuckert. Und tuckert … und tuckert … und ihn nervös macht. Warum fährt der nicht vorbei? Traut er mir nicht? Oder traut er seinen Fahrkünsten nicht? Darf er nicht? Aber, wer verbietet es ihm? Erwartet er womöglich, dass ich meinen Laufrhythmus ruiniere und ihn zum Grünstreifen ausscherend passieren lasse? - Kann er vergessen! - Schlussendlich eine überbreite Stelle, endlich kommt er längseits, ist flugs vorbei. Was mir aber nicht hilft. Jetzt rumpelt er hinter einem anderen Läufer her, dem ich mich in den letzten Minuten näherte … und noch immer nähere. Dem Läufer und damit zwangsläufig auch dem Sanka. Den ich - unterdessen halbwegs „angepisst“ - gezwungen bin samt vorneweg schlappendem Läufer wieder zu überholen. Zum Glück stoppt er alsbald bei zwei anderen am Wegrand geparkten Sanitätsfahrzeugen, und damit bin ihn los …

Noch sechs Kilometer und ich kämpfe - nicht mehr weit bis ins Ziel! Mehrfach in der letzten Stunde stellte ich Hochrechnungen auf meine Schlusszeit an, die mich von Mal zu Mal freudiger stimmten. Derzeit sieht es danach aus, als wäre sogar „Sub4:40h“ im Bereich des Möglichen. Was bedeuten würde, dass ich den zweiten, den „Abwärts-Halbmarathon“, fast eine Viertelstunde schneller hinter mich brächte als die ersten 21 km! Von dieser Aussicht angespornt gehen mir die Schritte noch flotter vom Fuß. Ob tatsächlich oder nur „gefühlt“ mit mehr Tempo - ich weiß es nicht. Jedenfalls rasant unterwegs, obschon inzwischen wirklich müde. Egal, bald geschafft, bald im Ziel, jetzt nur noch 5 Kilometer.

Noch fünf Kilometer, für meine Verhältnisse sehr zügig aber müde dahin; mit den Gedanken schon zu sehr im Ziel, die lauernde Gefahr auf bombenfestem, weitgehend ebenem Geläuf nicht witternd; Steine übersehend, die auf diesem Abschnitt des Weges Stolperfallen bilden. Und so passiert’s: An einer Kante fädele ich ein. Rasanz der Vorwärtsbewegung, Plötzlichkeit des Geschehens, dazu meine völlige Arglosigkeit - ich habe nicht den Hauch einer Chance diesen Sturz zu verhindern! Im Reflex gelingt es mir noch die Hände bis etwa Brusthöhe hochzureißen und damit die Wucht des Aufschlags aufzufangen. Noch im Fallen, das doch nur ein paar Zehntelsekunden währt, weiß ich was mir blüht. Denke es nicht, dazu ist keine Zeit, sehe es bildhaft vor mir. Dann schlage ich hart auf, die Brille fliegt davon und ich bleibe handlungsunfähig auf staubiger Erde liegen ... Dass ich mich nicht ernsthaft verletzt habe, weiß ich instinktiv. Und doch schaffe ich es sekundenlang nicht mich zu bewegen. Höre unterdessen Stimmen, die sich verständigen, sich gegenseitig auf meinen Sturz aufmerksam machen … Aufstehen! Ich muss aufstehen! Es ist als wäre ich gelähmt. Sehr zögerlich gelingt es mir Arme und Beine zu bewegen. Ich versuche mich aufzurappeln, bringe die dazu nötige Kraft und Koordination meiner vier Extremitäten aber nicht auf … Zum Erbarmen hilflos krauche ich auf der Stelle herum …

„Aufstehen und langsam weitergehen. Geh einfach weiter!“ redet mir jemand ins Ohr. Mache ich gerne, aber dazu müsste ich erst mal hochkommen. Zwei kräftige Arme links, zwei weitere rechts stellen mich auf die Füße. Wer weiß, wie lange ich ohne diese Samariter gebraucht hätte, um wieder auf meinen Beinen zu stehen. Risse klaffen am linken Knie, Blut tritt aus, rinnt Richtung Unterschenkel. Rechts nur leichte Abschürfungen. Schlimmer hat es die Handballen erwischt. An mehreren Stellen hängt die Haut in Fetzen, auch hier quillt‘s mir blutrot entgegen. „Willst du Wasser?“ fragt einer. „Bisschen was hab‘ ich noch!“. Ich nehme dankend an, spüle den Dreck so gut es geht von den Händen. Ein anderer reicht mit zwei Papiertaschentücher, damit ich mich nicht mit Blut besudele. „Geh langsam weiter. Einfach weitergehen!“ wiederholt einer meiner Wohltäter seinen dringenden Rat. Und natürlich gehe ich jetzt los, was sollte ich auch anderes tun? Gehe ein Stück, verharre noch mal kurz, schieße Selfies, um den erlittenen, heroischen Blutzoll im Bild festzuhalten. Erst zu Hause werde ich unterstellen, dass der Sturz womöglich auch im Oberstübchen einiges in Unordnung brachte. Wozu um alles in der Welt fotografiert jemand seine teilzerfetzte, blutige Hülle?

Ich gehe weiter, gehe schneller, falle alsbald in leichten Trab. Seltsamerweise spüre ich keinen Schmerz. Weder an den Händen, noch in Kniehöhe. Das war jedes Mal so, erinnert mich der inzwischen mental präsente Sturzsachverständige. Bist schon öfter auf die Nase gefallen, hast jedes Mal Haut geopfert, auch Prellungen oder Zerrungen an den Fingern davon getragen und weh tat’s immer erst später, präsentiert der Besserwisser sein Gutachten … Ich trabe voran, mehr schlecht als recht. Der Sturz hat jeden Funken Kampfgeist erstickt. Irgendwie noch die fehlenden fünf Kilometer überstehen, lautet jetzt die Parole. Aber die Laufzeit! jammert der ehrgeizige Schwachkopf. Der Typ wird noch Tempo einfordern, wenn ich dereinst einen Rollator zur Fortbewegung einsetzen sollte. Sch… auf die Laufzeit!, denke ich und der Sturzsachverständige nickt beflissen.

Ein paar Minuten weiter endet der Wald. Zwischen Wiesen strebe ich der nahen Straße entgegen. Zum Mäusemelken: Nur diesen einen Kilometer Forst- und Feldweg hätte ich noch überstehen müssen … komme mir ein bisschen vor wie Don Quichote, der Ritter von der traurigen Gestalt … Ich sehe mich um. Keine Windmühlenflügel, gegen die ich reite - wunderbare bäuerlich geprägte Natur, Wiesen und restliche Vegetation noch sattgrün im Oktober und aus azurblauem Himmel lacht mich herrlich warm die Sonne an. Paradiesisch. Darin ich, noch immer kaum mehr als ein Häufchen Elend. Ich brauche Zeit, um das brutal harte Hinschlagen zu verarbeiten. Von der Straße biege ich auf einen Radweg ab, passiere kurz darauf ein steinernes Flurkreuz mit Inschrift, beginne zu lesen: „Gottes Wille ist geschehen …“ Laufloses Auflachen - der Spruch passt, aber so was von. Es war also Gottes Wille! Mach dir keinen Kopf Udo, keine irdische Macht hätte dich davor bewahren können auf die Schnauze zu fallen!

Noch drei Kilometer, die letzte Verpflegungsstation. Mit Wasser wasche ich meine Wunden aus, spüle weiteren Dreck von Knien und Händen, schmeiße zuletzt die blutigen Taschentücher in bereitstehende Abfallkisten. Dann weiter. Ein Löschfahrzeug der Feuerwehr sprüht aus einer Brause feinen Wassernebel quer über den Radweg. Keine Möglichkeit auszuweichen, also einfach hindurch … Langsam weicht die Beklemmung, dafür spüre ich mehr und mehr meine Blessuren. Blutrot schon wieder die Handflächen. Werde mir nach dem Duschen Pflaster bei den Sanis besorgen müssen, will ich beim Heimfahren das Auto nicht versauen … Ich spüre die Sonne wieder auf der Haut. Herrlich! Ein gutes Zeichen, ich komme zurück. Beileibe nicht wie Phoenix aus der Asche aber immerhin. Es geht. Wunderhübsch die Umgebung kurz vor Bräunlingen - noch zwei Kilometer bis ins Ziel. Dann die ersten Häuser, ein Bio-Bauernhof.

Ich schaue zur Uhr: Trotz Sturz und ultralangsam vertrabten Schlusskilometern werde ich unter 4:45 Stunden das Ziel erreichen. Okay, jetzt kein Halten mehr, nur noch ein Kilometer. Ich ringe ihn mir ab. Bin hundemüde und fühle mich komplett zerschlagen. Ich umlaufe eine Häuserecke und sehe das Ziel vor mir. Auf den letzten hundert Metern belohnt mich lebhafter Beifall, von erstaunlich vielen, noch immer im Zieleinlauf ausharrenden Zuschauern. Fast gelingt mir die Schnapszahl im 358. Marathon und weiter: Nach 4:44:45 Stunden netto baumelt die Finishermedaille auf meiner Brust.

 

Der Schwarzwald Marathon ist nach dem Essener Marathon (Rund um den Baldeney See) und dem Göltzschtal Marathon (damals DDR) die drittälteste noch durchgeführte Marathonveranstaltung in Deutschland. Allerdings taten sich die Veranstalter des Schwarzwald Marathons als Vorreiter hervor, weil sie als erste Volksläufer ohne Vereinszugehörigkeit zuließen. Darüber hinaus waren von Beginn an in Bräunlingen auch Frauen zugelassen. Damals ein Novum, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Im Jahr zuvor war es in Boston noch zum Eklat gekommen, als eine Frau heimlich mitlief und der Renndirektor handgreiflich versuchte Kathrine Switzer aus dem Rennen zu nehmen. Anfangs verheimlichten die Bräunlinger den Start von Frauen gegenüber dem DLV. Erst 1971 wurde die Frauenwertung offiziell. 1973 schrieb der Schwarzwald Marathon wieder Laufgeschichte als erster Wettbewerb, bei dem die Daten der Teilnehmer elektronisch erfasst wurden. Mehr bei Wikipedia.

 

Fazit zur Veranstaltung

Zu Beginn, am Ende und kurz zwischendurch belohnt die Strecke den Läufer mit wunderschönen Panoramen. Der Rest ist Wald (etwa 30 Kilometer). Auch nicht hässlich, muss man aber mögen. Während Halbmarathon eins sanft aufwärts, auf der zweiten Hälfte gibt man die gewonnene Höhe wieder auf. Insgesamt sind etwa 450 Höhenmeter zu überwinden. Von ungefähr 3 Kilometern frisch geschotterter Piste abgesehen, waren alle Wege gut belaufbar.

Verpflegungspunkte gab’s ausreichend und auch im Ziel war fürs leibliche Wohl gesorgt. Kurze Wege kennzeichnen die Veranstaltung. Das schließt den Anmarsch von nahebei liegenden Parkplätzen ebenso ein, wie Startnummernabholung, Taschenaufbewahrung und Duschmöglichkeiten. Alle Abläufe waren bestens organisiert, nirgends „Reibungsverluste“.

Fazit: Wenn ich nicht wiederkommen sollte, dann allein deshalb, weil mich drei Stunden Fahrzeit von Bräunlingen trennen!