Christian Helmberger, einer der beiden Veranstalter des 1. Seeer Backyard Ultra, ist in der Nacht vom 25. auf 26. Oktober 2023 plötzlich und gänzlich unerwartet verstorben. Also nur dreieinhalb Wochen nachdem er "seinen" Backyard Ultra mit 100,5 gelaufenden Kilometern gewann.

Ich trauere um einen zuvorkommenden, sehr sympathischen und vorbildlichen Laufkameraden. Seine Frau und seine drei Kinder, 2,4 und 6 Jahre alt, trauern um ihren Ehemann und Vater. Alle, die ihn kannten, sind fassungslos.

 

30. September 2023

Probelauf  -  1. Seeer Backyard Ultra 2023

Niemand wird grundlos zum Läufer. Die Palette der Beweggründe ist breit gefächert, von „Abnehmen“ über „Kopf frei kriegen“ bis hin zu „Spaß haben“. In der Regel lassen sich Jogger von mehreren Motiven zugleich leiten. Das ist bei mir nicht anders. Vor zwei Wochen am Brombachsee wollte ich hauptsächlich Spaß haben und das wunderbare Spätsommerwetter im Herbst genießen. Im Verlauf des „Wettkampfs“ erwachte der lange schlafende Ehrgeiz und plötzlich ging es um mehr, ich wollte „spielen“. Es entwickelte sich ein anstrengendes aber herrliches Spiel, das ich zu allem Überfluss auch noch gewinnen konnte (siehe Laufbericht). Heute will und werde ich nicht spielen! Heute steht ein Testlauf auf meiner Agenda. Ich will mich im Format „Backyard Ultra“ ausprobieren. Dazu fuhr ich nach See, ein nur wenige Anwesen umfassender Weiler. Die zur Kreisstadt Burglengenfeld gehörende Gemeinde liegt etwa 30 Autokilometer nordwestlich von Regensburg. Das Debüt der Veranstaltung gerät mit dreimal „e“ zum Zungenbrecher: 1. Seeer Backyard Ultra.

Was ist ein Backyard Ultra (BU)? - Vor ein paar Jahren wusste das hierzulande kaum jemand. Seither ploppten die Backyard Ultras Land auf, Land ab wie Pilze aus dem Boden, verbreiteten sich ähnlich epidemisch wie vordem Trailläufe. Wikipedia beschreibt den BU wie folgt: „Der Backyard Ultra ist eine extreme Form des Langstreckenlaufs über eine unbeschränkte Zahl an Runden, bei dem eine Runde 4,167 Meilen (6,706 Kilometer) lang ist, und die Läufer jeweils genau eine Stunde Zeit haben, um je eine Runde zu laufen. Die Länge der Runde ist so gewählt, dass in 24 Stunden 100 Meilen zurückgelegt werden.“ Weitere Regeln: Es gewinnt, wer die meisten Runden läuft. Wem es nicht gelingt rechtzeitig nach einer Stunde wieder am Start zu stehen, der scheidet aus. Der Bewerb endet mit der Schlussrunde des letzten verbliebenen Läufers, nachdem der vorletzte Läufer ausgeschieden ist. Läufer dürfen die Strecke nur zur Verrichtung ihrer Notdurft verlassen. Andere Belange, insbesondere auch sich zu verpflegen, sind nur in der Spanne nach (vorzeitigem) Abschluss einer Runde bis zum Beginn der nächsten zulässig. Offen ist die Dauer des Wettkampfs: Weder Veranstalter noch Läufer wissen, wie viele Runden erforderlich sein werden, um einen Sieger zu ermitteln …

Das gilt auch für die 3 Frauen und 13 Männer, inklusive mir selbst, die dem Regelbriefing der Veranstalter, Andreas Brey und Christian Helmberger, lauschen. Beide nehmen selbst am Wettkampf teil. Wobei Christian Helmberger sozusagen den „Backyard“, den „Hinterhof“, zur Ausrichtung des Bewerbs bereitstellt. Im Kern eine Toilette in seinem Eigenheim plus leer geräumte Doppelgarage als wettersicheres Obdach für rastende Teilnehmer. Die 6,7 km lange Runde beginnt auf der Straße vor Christians Garageneinfahrt und erschließt dem Läufer die nähere Umgebung des Dorfes See. Von Höhenmetern ist die Rede, die mich angesichts des moderat „modellierten“ Naabtals* kalt lassen. Schon unangenehmer klingt mir die „Mär“ von abschnittsweisem Trail im Ohr … Na, mal sehen, kann so schlimm ja nicht werden … Zumal die Runde nach Gusto links oder rechts herum gelaufen werden darf. Mit Ausnahme der Auftaktschleife allerdings, die alle gemeinsam gegen den Uhrzeigersinn bestreiten werden - angeführt von den Veranstaltern Andreas und Christian als Pacemaker.

*) See liegt nur etwa einen halben Kilometer abseits der Naab, einem Nebenfluss der Donau.

5 Minuten vor 8 Uhr werden wir erstmals zur Startlinie gerufen. Beim Start an der Startlinie zu fehlen hätte sofortiges Ausscheiden zur Folge. Darum wiederholt der aufgebotene Schiedsrichter den Ruf: Drei Minuten und ein letztes Mal eine Minute vor Beginn des Bewerbs.* Was mich angeht, so werde ich dem Startritual genau sieben Mal Folge leisten. Damit steht die Dauer meines „Wettkampfs“ bereits fest. Sieben mal 6,706 summieren sich zu 46,9 Kilometern und damit zu Ultradistanz. Weniger geht nicht, weil ich nicht heimfahren werde ohne meinem Dauermotiv „Marathon-oder-weiter-Zähler plus eins“ gerecht zu werden! Und zu mehr als sieben Runden fehlt mir die Lust. Fast 27 Stunden „energetische Totalentleerung“, anlässlich der 100 Meilen Berlin, pflügten meine Neigung zu Ausdauerexzessen gründlich unter. In einem „Acker“, der vermutlich bis weit ins Frühjahr 2024 hinein brachliegen wird …

*) Ein Backyard Ultra wurde erstmals auf dem Privatgrundstück des Erfinders, eines gewissen Gary Cantrell, in Bell Buckle, Tennessee, USA, ausgetragen. Dort findet noch immer die jährlich ausgetragene Weltmeisterschaft statt. Dabei gilt das unter https://backyardultra.com/sign-up/ aufgelistete Regelwerk. Demnach soll der Ruf zur Startlinie 3, 2 und 1 Minute vor dem jeweiligen Start erfolgen.

8 Uhr, das Startkommando. Gut gelaunt und mit gebotener Zurückhaltung jogge ich drauf los. Andere als gute Laune lässt die ansteckende Begeisterung von Veranstalter und Pacemaker Andreas gar nicht zu. Überdies verspreche ich mir von diesem „Probelauf“ einen einigermaßen geruhsam mit langem Laufen verbrachten Sonntag. Ich mache mir berechtigte Hoffnungen, mal nicht gänzlich erschöpft und mit wehen Knochen heimzufahren. Immerhin habe ich sieben Stunden Zeit, um die anvisierten 46,9 Kilometer zu absolvieren. Pausenzeiten mit eingerechnet eine durchschnittliche Pace von fast 9 Minuten pro Kilometer. Auf den ersten Metern, talaufwärts in minimaler Steigung, Pferdekoppeln und Felder passierend, sinniere ich über das „Wesen“ eines Backyard Ultras. Zweifellos würde „schnell“ zu laufen die Siegchancen eines jeden Läufers radikal schmälern. Idealerweise joggt man so „langsam“, dass im Ziel gerade genug Zeit zum Verpflegen und für andere unabdingbare „Verrichtungen“ bleibt. Die Rundenlaufzeiten sollen zwar notiert werden, haben nach meinem Regelverständnis aber keinerlei Relevanz. Oder etwa doch?

Zum Talende hin gewinnt die Strecke zunehmend an Steigung und erreicht nach etwa anderthalb Kilometern ein Maß, das kluge BU-Läufer zum Gehen veranlasst. Da mein Reifeprozess in dieser Hinsicht auf Kleinkindniveau stagnierte, behalte ich stur den Laufschritt bei. „Gehen geht nicht!“ - mein läuferisches Glaubensbekenntnis. Andreas provoziert den Spruch, indem er Mitlaufenden meine diesbezügliche Schrulligkeit ankündigt. Mit dem Festhalten an diesem „Credo“ bringe ich das „soziale Gefüge“ im bislang lediglich in zwei, drei Grüppchen zerfallenen Teilnehmerfeld gründlich durcheinander. Bin nach kurzer Zeit solo am Berg unterwegs und damit abseits von dem, was ich mir vorhin als „Wesen des BU“ zusammenreimte: Alle laufen der bestmöglichen Taktik, der Schonung ihrer Ressourcen gehorchend langsam, also eher dicht beisammen. Tatsächlich bilden sich im Feld alsbald diverse, zunehmend distanzierte Fraktionen heraus. Wobei meine Fraktion infolge „Gehen-geht-nicht“ eigenbrödlerisch nur aus mir selbst besteht …

Der Hauptanstieg auf brauchbarem Untergrund - erst 1 km Asphalt, dann ca. 1, 5 km Forstwege - liegt hinter mir. Ich verlasse den Wald und jogge fortan in idyllischer, sanft gewellter Umgebung. Wechselweise Wiesen und Felder prägen den landwirtschaftlichen Charakter dieses Landstrichs. Waldstreifen begrenzen den Blick in alle Richtungen. Mit zufriedenem Nachdruck formuliert: Es gäbe wahrlich hässlichere Flecken im Land, um einen BU zu veranstalten!

Zu wünschen übrig lässt um diese Zeit allein das Wetter: nach Ende der Steigung setzte Nieselregen ein. Aber kein Grund zum Jammern, nass war ich zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon. Überdies soll die Sonne jenseits der Tagesmitte ihr unterbrochenes Gastspiel wieder aufnehmen - versprach mir die WetterApp. Auf Feldwegen voran, deren Beschaffenheit meinen Füße abschnittsweise missfällt. Sie beklagen lose Steine und Steinchen, auf die zu latschen später und in Summe schmerzhaft werden wird. Der Füße vorauseilend mimosenhaftes Unken ist dem Alter geschuldet. Früher erhob sich ihr Wehklagen erst zu finaler Stunde oder nach getaner Arbeit.

Vorbei an Aussiedlerhöfen, dabei mehrfach moderat auf und ab, insgesamt weiter an Höhe gewinnend. Ich lasse mir Zeit, versuche Strecke und reizvolle Umgebung fotografisch zu dokumentieren. Möglichst mit Läufern dekoriert, was mir trotz des kleinen Feldes in jeder Runde gelingen sollte: Nach Ablauf einer vollen Stunde fangen alle wieder von vorne an … läuferische Sozialisierung, die den Unterschied zwischen „guten“ und „weniger guten“ Läufern lange aufhebt. Erst nach und nach wird sich zeigen, wer genügend Ausdauer im Leib hat, um „Just one more lap“* zu überstehen.

*) „Just one more lap“ - den Leitspruch des Backyard Ultras - kann man wahlweise als Anfeuerung von Zuschauern oder Aufstöhnen des erschöpften aber ehrgeizigen, eine weitere Runde von sich fordernden BU-Läufers auffassen.

See geht als Weiler durch, Loisnitz, in dem zum Zählen der Bauernhöfe nicht mal alle Finger einer Hand bemüht werden müssen, allenfalls als „Weilerchen“. Immerhin gibt’s ein Ortsschild, einen kläffenden, gemäß Einweisung aber harmlosen Hofhund und eine Kapelle. Vor der Kapelle macht mich ein hölzernes SBU-Täfelchen (SBU: Seeer Backyard Ultra) zum Linksabbieger und schon verlasse ich die Ansiedlung wieder. Büsche und Bäume formen eine Art Tunnel, der mich spontan zu einem Schnappschuss animiert. Solchem Unterfangen setzt der zuweilen sich verfinsternde Himmel allerdings enge Hell-Dunkel-Grenzen …

Es gilt einen letzten, an sich kaum erwähnenswerten Buckel zu überwinden. Nur ein paar Höhenmeter, die sich aber beschwerlich anfühlen, weil man mir Grasboden unter die Sohlen schiebt. Der weiche Teppich frisst Extrakörner und löst, da uneben, spontanen Protest meiner Fußgelenke aus. Ein guter Streckengeist - vermutlich hört er auf den Vornamen Christian - war offenbar mit einer Motorsense vor uns zugegen und sorgte im stellenweise hohen Gras für Bodensicht. Nach hundert Metern senkt sich die Schneise im Gras, hält sich eine Weile am Waldrand, bis ich mich schlussendlich zwischen Bäumen wiederfinde. Achtung Stolperfallen! Von auffällig dicken Ästen und einzelnen, markant aufragenden Steinen geht eher wenig Gefahr aus. Was mir spontan „die Nackenhaare aufstellt“ sind gut getarnte Unebenheiten …

Binnen einer Minute änderte die Strecke ihren Charakter radikal: Gab lange die liebreizende Begleiterin mit nur gelegentlich Kullerstein-spröden Zügen und bedrängt mich jetzt als böses, zuweilen hinterhältiges Weib. Reißt mich nun auch noch steil in die Tiefe, schmeißt abgebrochenes Astwerk zwischen meine Beine, versucht alles, um mich auf grob steinigem Geläuf zu Fall zu bringen. Die Dämmerung unter dichtem Blattwerk unterstützt dieses Ansinnen, erschwert mir sichere Tritte zu setzen. Was für ein Trail!*

*) Der Ur-Backyard-Ultra im Staat Tennessee, USA, wird auf zwei Strecken veranstaltet. Die „Tag-Runde“ (Day Loop) ist als „Single Track Trail“ mit ca. 150 Höhenmetern ausgeschrieben. Zur „Nacht-Runde“ (Night Loop) findet man die Angabe „Soft Base Asphalt“ mit etwa 40 Höhenmetern.

Durch einen tief eingeschnittenen Hohlweg, noch immer im Gefälle des Hangs, „rette“ ich mich schließlich in die Ortschaft See. Ich trabe zwischen Ställen des Pferdehofes zur Straße, absolviere noch ein kleinen Schlenker im Dorf, um die geforderten 6,7 km voll zu machen, überschreite zuletzt erstmals die Ziellinie: 8:50 Uhr, 10 Minuten bis zum nächsten Start. Lange genug, um bei allenfalls 15°C und um die Hausecke wehendem Wind auszukühlen. Darum streife ich mir rasch eine Fleecejacke über. Erst danach fülle ich meinen Trinkbecher mit Wasser und knabbere ein paar Kekse - dies und mehr von weiteren guten Geistern (Christian, Andreas, deren Helfershelfer?) am Läuferbuffet bereitgestellt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem: Das Startgeld für diese Veranstaltung beträgt Nullkommanull Euro! Eine Spendenbox steht bereit, in die ich vorab meinen Obolus entrichtete. Die gesammelten Läuferspenden werden in voller Höhe einem karitativen Zweck (VKKK Ostbayern e.V.) zugeführt.*

*) Bei der heutigen Veranstaltung kommen 650 Euro zusammen. Insgesamt konnte Andreas Brey, der vormals mehrfach den Naabtal Ultralauf veranstaltete, inzwischen fast 5.000 Euro an den VKKK Ostbayern e.V. (Verein zur Förderung krebskranker und körperbehinderter Kinder) überweisen.

Einige Mitläufer waren vor mir im Ziel, andere trudeln kurz nach mir ein. Die meisten setzen sich auf ihre in der Doppelgarage aufgestellten Klappstühle. Sitzen ist eine Option, die ich scheue wie der Teufel das Weihwasser. Einrosten, Auskühlen und Wieder-aufstehen-müssen kämen mir wie aus der Pistole geschossen als Gründe über die Lippen, fragte man mich, weshalb ich es vorziehe die Ruhephase stehend zu verbringen. Also ließ ich den Klappstuhl daheim. Auch ansonsten bin ich eher spartanisch ausgestattet: Mit Wechselklamotten (die ich aber nicht nutzen werde), ein paar Gels (nur zwei davon werde ich mir einverleiben) und einem Faltbecher (ich will hier so wenig Müll wie möglich hinterlassen). Alles andere schien mir angesichts eines Format-Probelaufs, der nach sieben Runden enden soll, überzogen. „Start in fünf Minuten!“ ergeht der Ruf des Offiziellen. Dann bleiben mir „noch drei Minuten“, schließlich bricht die letzte an … Die noch lauffreudige Meute strebt neuerlich der Startlinie zu. Ich entledige mich der Fleecejacke und geselle mich rechtzeitig dazu.

Ab jetzt gilt: Freie Jagd, Laufrichtung entsprechend persönlicher Vorliebe. Vier Läufer entfernen sich erneut gegen den Uhrzeigersinn laufend. Ich schließe mich der Mehrheit an, will nun den Trail im kürzeren, dafür steileren Anstieg zu Beginn überwinden. Davon verspreche ich mir eine Minimierung des Sturzrisikos, vor allem aber neue Streckenansichten. Auf den ersten im Dorf gelaufenen Metern halte ich mich hinter meinen Mitläufern. Zu Beginn der Steigung, nach Eintauchen in Wald und Hohlweg, marschieren alle. Alle bis auf mich. Trotzdem überhole ich nur zwei, drei andere. Bleibe aber wieder stehen, um die „Karawane“ bei der „Bergbesteigung“ abzulichten. Danach hat der Pulk zu viel Vorsprung, als dass ich ihm verhalten aufwärts steppend auf die Pelle rücken könnte. Ich investiere in meine Schritte lediglich einen Hauch von „Dynamik“, gerade so viel, dass die Fortbewegungsart noch als „Laufen“ durchgeht.

Das Risiko zu Stolpern ist bergauf geringer und sollte ich stürzen, dann mit weniger Wucht und entsprechend geringeren Folgen - so weit, so richtig. Zur vollen Wahrheit gehört aber auch, dass ich aufwärts mit kleinerem Kniehub unterwegs bin, folglich auch an weniger exponierten Kanten „einfädeln“ kann. Gesagt, gestolpert! Udo stolpert, aber er fällt nicht, wertet sein Straucheln als warnenden Fingerzeig und bewegt sich fortan achtsamer.

Auf der Graspiste mogele ich mich an einigen der noch immer gehenden Mitläufer vorbei. Der Läuferpulk hat sich bereits wieder grüppchenweise formiert. Ein paar Ungeduldige eilen voraus, die meisten anderen umringen Andreas, von dessen wortreich-fröhlichem Geleit man/frau sich jederzeit gut unterhalten weiß. Udo joggt mal hinterher, an einem weiteren Anstieg auch an Gehenden vorbei, gewinnt aber kaum Abstand. Will er auch nicht; weil’s nix bringt und ihm überdies die Läufermodels für seine Bilder abhanden kämen …

Wie bewerte ich nun die alternative Runde im Uhrzeigersinn? - Andere Perspektiven, Ein- und Ausblicke, gleichermaßen hübsch und amüsant wie vordem in Gegenrichtung. Der „gemeine“, mit Risiko behaftete Trail wird gleich zu Anfang abgehakt, was ich zunächst unter der Rubrik Vorteile einsortiere. Dafür weht mir auf der Höhe ein kalter, bisweilen sogar feuchtes Nieseln transportierender Wind entgegen. Wirklich unangenehm kalt, so dass ich mir vornehme zur nächsten Runde ein Schlauchtuch für den Kopf mitzunehmen. Der Abstieg auf gut belaufbarem Forstweg zieht sich länger hin, erfordert dafür keine „ruppigen“ Schritte.

Runde drei sieht mich wieder gegen den Uhrzeigersinn laufen. Nach meinem Empfinden heben sich Vor- und Nachteile der Laufrichtungen gegeneinander auf und vom Wechsel verspreche ich mir mindestens mehr Kurzweil. Wobei ich den „Hexenstieg“ in der Aufwärtsbewegung für spätere Runden favorisiere. Dann bereits müde, bei womöglich immer noch schlechten Sichtverhältnissen scheue ich das Risiko abwärts zu stolpern und mich zu verletzten.

Fotografierstopps entfallen künftig, ich habe die Kamera in meiner Lauftasche zurückgelassen. Sollten sich Wetter und Lichtverhältnisse verbessern, werde ich sie später wieder mitnehmen. Gleichmäßiges, noch immer unangestrengtes Traben auf den Kilometern 14 bis 19. Auch den langen, nicht allzu fordernden Anstieg zu Beginn der Runde bewältige ich noch ziemlich unangestrengt. So darf es gerne noch ein paar Runden weitergehen. Ein „Laufgeschenk“ nach all den harten Gefechten in diesem Jahr hätte ich wahrlich verdient. Bisher allerdings ein Geschenk mit kleinem Schönheitsfehler: Andreas wird gelegentlich einiger Seite an Seite gelaufener Meter zwar von „idealen Laufbedingungen“ sprechen, bei mir aber auf wenig Gegenliebe stoßen. Mir ist es entschieden zu kalt, zu feucht und zu windig. Witterungsempfinden, das, wie mir bewusst ist, wohl kein anderer Läufer mit mir teilt. Wiewohl die meisten unter Bedingungen ächzen, die meiner Seele Jauchzer der Lauflust entlocken: Sonne pur und reichlich Wärme. Das hatte ich zuletzt mehrmals, also nehme ich die „Kälte“ dieses letzten Septembersonntags klaglos in Demut an.

Vor Runde vier: Mein Pausenrhythmus hat sich eingespielt. Erst Jacke überstreifen, dann Wasser trinken und Süßes oder Salziges knabbern, die Reste mit einem Becher Kaffee runterspülen. Wie ich es auch anstelle, die Pause pendelt sich konstant bei 9 bis 11 Minuten ein. Würde ich die Rast anders gestalten, wenn mein Horizont weiter als sieben Runden entfernt läge? Wenn ich versuchte bis zum mich völlig erschöpfenden Ende durchzuhalten? - Noch langsamer laufen ohne von erlahmender Muskulatur dazu gezwungen zu werden, brächte das was? Ich kann es mir nicht vorstellen. Aufwärts zu gehen verschaffte mir sicher einen Vorteil. Doch genau diese Variante schließt mein Ego aus. Mithin bliebe es noch ein paar Umläufe bei etwa 10 Minuten Rast, meiner und - von mir so empfunden - der Natur des Laufsports an sich zuwider. Lieber wäre mir: Stehenbleiben so lange zum Verpflegen nötig, dann weiter, wie bei Stundenläufen üblich. Von fix in Stunden getakteten Restarts und langen Pausen fühle ich mich auf gewisse Art „vergewaltigt“. Überspitzt drücke ich es so aus, von Andreas nach einer ersten Einschätzung zum Format „BU“ befragt.

Runde vier setzt den steilen Trail wieder an den Anfang. Schwer atmend in beträchtlicher, von ruppigem Geläuf erschwerter Steigung stelle ich meine Rundenrichtungsentscheidung infrage. Für weniger Risiko aufwärts zahle ich mit heftig empfundener Anstrengung. Und das bereits in Runde vier von sieben. Also revidiere ich meinen Entschluss alle späteren Runden in dieser Richtung zu absolvieren. Stattdessen werde ich dem steten Richtungswechsel weiterhin den Vorzug geben …

Einer der inzwischen 17 Teilnehmenden (ein Läufer kam später dazu) steht mit dem Format „BU“ unübersehbar auf Kriegsfuß. Der Zufall will es, dass der Läufer mir mehrfach entgegenkommt. Und das jeweils kurz nachdem ich entweder die moderate oder die böse Steigung hinter mich bringen konnte. Mir stehen dann noch vier Kilometer bis ins Ziel bevor, ihm nur 2,5. Als er zum ersten Mal an mir vorbeiflitzt, zeugt sein frühes Erscheinen gegensätzliche Gedanken. Bin spontan geneigt dem ausdauerstarken Mann Siegchancen einzuräumen, widerrufe aber postwendend die vorschnelle Einschätzung: Mit der Kombination „schnell laufen - lange rasten“ reibt er sich eher auf. Mutmaßlich verfolgt er ähnlich mir ein überschaubares Tagesziel. Nebenbei bemerkt: Nicht nur er und ich, auch Andreas äußerte die Absicht vorzeitig, nach erreichter Ultradistanz die Segel zu streichen.

Von Runde fünf weiß ich nichts zu berichten. Abgesehen vielleicht vom bedauerlichen Umstand, dass die von der WetterApp versprochenen sonnigen Aufhellungen bislang ausblieben. Immer wieder braut sich dunkles Gewölk zusammen, aus dem es dann und wann kurz und unergiebig nieselt. Erwähnenswert allenfalls meine Rundenzeit, die mit 49 Minuten kürzer ausfällt als zuvor. „Du wirst ja immer schneller!“ meint der Mann mit dem Klemmbrett, wobei außer Erstaunen auch Anerkennung in seiner Stimme mitschwingt. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht überblicke, sich ihm aber in Form nebeneinander notierter Rundenzeiten klar mitteilt: bisher standen 50-51-50-51 Minuten für mich zu Buche, jetzt erstmals 49. Und es ist kein Zufall, dass die längeren Zeiten mit den Runden im Uhrzeigersinn korrelieren. Der steile, trailige Anstieg klaut mir mehr Zeit, als die im weiteren Verlauf einfachere Strecke wieder zurückgeben kann.

Runde sechs schickt mich wieder aufwärts über den Trail am bösen Hang. Vom Kraftaufwand her bereits grenzwertig gefordert bin ich froh diese Richtung letztmalig einschlagen zu müssen. Oben angekommen normalisieren sich meine Vitalwerte rasch, so dass sogar ein bisschen Genuss zum baldigen Ende hin aufkommt. Endlich hat sich Petrus eines Besseren besonnen, erlaubt der Sonne mich hin und wieder zu wärmen …

Die Schlussrunde: Langer Anlauf über Asphalt, weiter auf Forstwegen, moderat bergan, ein paar hundert Meter fordernd aber nicht grenzwertig. In dieser Richtung - gegen die Zeiger der Uhr - brächte ich noch weitere Runden zuwege. Wie viele? - Müßig darüber zu spekulieren. Es fehlt die Absicht und mit der Absicht die Motivation. Und ohne Motivation stellt meine Physis nur zur Verfügung, was sie muss! - Ich nehme Abschied von der Landschaft, schieße dabei noch ein paar Fotos, begegne kurz hinter der Streckenmitte dem gegenläufig trabenden Teil des Feldes …

Inzwischen fast 45 Kilometer haben Spuren in meinem „Fahrgestell“ hinterlassen. Maßgeblichen Anteil daran können die teils kullersteinigen Wege, mehr noch der Trail für sich verbuchen. Was den Grad der Ermüdung angeht, wird die „Sache“ wie erhofft enden: Ich bin müde aber nicht im selben Maße erschöpft wie zuletzt. Da sich mir pro Runde etwa 115 Höhenmeter in den Weg stellten, meine Beine folglich 800 Höhenmeter insgesamt verkraften mussten, wundere ich mich dann doch ein bisschen über meine Verfassung. Ein paarmal huscht gar die verwegene Idee durchs Oberstübchen noch eine weitere Runde anzuhängen. Dass sie nicht verfängt, nicht mal die Metamorphose vom „Geistesblitz“ zu ernsthaftem Erwägen erlebt, liegt vor allem an der weiteren Stunde, die ich investieren müsste, dementsprechend später wieder zuhause wäre.

Mehrfach auf dem finalen Abschnitt fahnde ich gedanklich nach Gründen, wieso mir nach summa summarum 800 Höhenmetern und teils ruppigen Wegen noch erwähnenswerte Reserven verbleiben. Sieben Stunden stellen für knapp 47 Kilometer zweifelsohne einen „üppigen“ Zeitvorrat dar. Dass ich mich in jeweils etwa 10 Minuten zwischen den „yards“* „teilerholt“ haben könnte, schließe ich dennoch aus. Überlange Pausen erlebte ich auf Ultradistanzen als eher kontraproduktiv; insbesondere beim Wiederanlaufen, nachdem ich meinen Vitalwerten gestattet hatte auf Ruhepotenzial zu sinken. Wie dem auch sei: Gegen 14:50 Uhr überquere ich den Zielstrich zum siebten Mal, vollende die beabsichtigten 46,9 Kilometer Ultradistanz und melde mich vom Wettbewerb ab.

*) Als „yards“ bezeichnen BU-Spezialisten die Runden, die auch als Pendelstrecke angelegt sein dürfen.

 

Fazit zum Wettkampf

Die Teilnahme am Backyard Ultra war als Probelauf gedacht, der mir zugleich einen weiteren Zählkandidaten für meine Marathon-und-weiter-Statistik einbringen sollte. Ich wählte dafür den 1. Seeer Backyard Ultra, weil - wie ich weiß - ein Laufvorhaben unter maßgeblicher Leitung von Andreas nur glücken und mir darüber hinaus zu angenehmen Begegnungen verhelfen kann. Wie ich jetzt weiß schwingt auch Backyard-Besitzer und -Bereitsteller Christian auf gleicher Wellenlänge.

Ein Probelauf verlangt nach Auswertung und Feststellung des Ergebnisses. Zunächst sei festgehalten, dass ich mich vom Format „BU“ gegängelt fühle. Hinsichtlich des zu laufenden Tempos als auch vom Stundentakt, samt sich daraus ergebender Pausen. Aus diesen vom Format vorgegebenen Umständen entwickelt sich ein Gefühl der Ablehnung. Aus welcher Ecke meines Läufer-Egos sie wirklich stammt, kann ich nur vermuten. Vielleicht, weil die Freiheit einen Lauf über eine vorgegebene Distanz oder Zeit nach Gusto zu gestalten beschnitten wird. Denn das war es doch, was ich am Laufsport von jeher am meisten schätzte: Laufen was, wann, wo und wie ich will.

Tragfähige Erkenntnisse zum „BU“ habe ich durch mein Gastspiel in See allerdings nicht vorzuweisen. Dazu hätte ich mich den Anforderungen so lange stellen müssen, bis ich schlussendlich aus dem Stundenraster falle. Versuche ich mir diese Schlussphase - mehrere Runden unter eminentem Zeitdruck - vorzustellen, erreicht mein Widerwille Maximalwerte. Von einigen wenigen Wettkämpfen, bei denen mich final ein Cut-off bedrängte, leite ich ab mich möglichst nicht freiwillig in eine solche Situation zu manövrieren. Was zwangsläufig geschähe, stellte ich mich dem Format „BU“ in voller Länge.

Dennoch fahre ich „voll zufrieden“ von See wieder heim. Ich habe bekommen, was ich mir wünschte und musste mich dafür nicht mal voll verausgaben.

Zu guter Letzt: Christian Helmberger gewann diesen Wettkampf nach 15 Runden und 100,5 Kilometern. Herzlichen Glückwunsch.

 

Fazit zur Veranstaltung

Reizvolle Strecke, überaus engagiere Veranstalter, nette Mitläufer - was soll da noch schiefgehen? Wer ungetrübten Laufspaß genießen möchte, sollte sich den bestimmt stattfindenden 2. Seeer BU im kommenden Jahr vormerken.

Fazit: Wenn man mich lässt und nichts dazwischen kommt, bin ich im nächsten Jahr wieder dabei. Sieben Runden läuferische „Unfreiheit“ in der Gesellschaft von Andreas und Christian sind leicht zu „ertragen“!