10. September 2023

„Rama Lama Ding Dong“  -  ebm-papst Marathon 2023

Vier Wochen kein Marathon! Obwohl ich weder krank, noch verletzt oder sonstwie verhindert war. Okay, vielleicht wären nur drei Wochen vergangen, hätte ich für einen Lauf am letzten Wochenende nicht die Anmeldefrist versäumt. Die ganze Wahrheit ist aber: Ich war gar nicht scharf drauf Fristen einzuhalten. Mir fehlte schlicht der Antrieb mich über Marathondistanz zu schicken. Vor vier Wochen rannte ich rund ums ehemalige West-Berlin. Hundert Meilen in nicht ganz 27 Stunden. War erfolgreich, litt aber auf dem Schlussdrittel der Runde wie ein Tier. Es ist nicht verkehrt Körper und Geist nach einer solchen Zäsur ausreichend Erholung zu gönnen. Mein Verdacht ist allerdings: Für hinreichend Regeneration „aktiv“ zu werden war gar nicht nötig - der von Laufunlust überwältigte Geist machte sich das Fleisch untertan!

Hätte es eines weiteren Arguments für den Rücktritt von Strecken „100+“ bedurft, die „marathonale Abstinenz“ infolge Abneigung hätte sie mir in den vergangenen vier Wochen auf dem Silbertablett serviert. Natürlich wäre mir nie in meinem Läuferleben ein Marathonfinish gelungen, von Ultradistanzen gar nicht zu reden, hätte ich mich häufiger als ausnahmsweise Widerwillen oder inneren Einflüsterungen ergeben. Hätte weniger hart trainiert, weil sich’s dann eben weniger hart anfühlt, oder für immer wieder notwendige „Selbstüberwindung“ nicht ausreichend Energie aufgebracht. Sich allerdings unentwegt vorwärts zu prügeln und selbst zu kasteien wie ich es tat - länger schon, nicht nur in diesem Jahr - erodiert letztlich die Leidenschaft, zugleich die Freude am Laufen.

Und nun stehe ich hier in Niedernhall am Start zum ebm-papst Marathon. Niedernhall liegt im Kochertal, etwa 35 km Luftlinie nordöstlich von Heilbronn, also im nördlichen Württemberg. „Natives“ „schwätzet“ in der Gegend also „Schwääbsch“. Was meine Ausrüstung angeht, bin ich startbereit. Für meinen weiter oben zitierten „Geist“ gilt das nur halbwegs: Der gibt sich abwartend. Und mein Körper hat morgens zum Laufen ohnehin null Bock. Kann also gutgehen heute Marathon zu laufen, muss aber nicht. Wobei „gutgehen“ keineswegs bedeutet eine vortreffliche Zeit oder Leistung abzuliefern. Diese Absicht wäre aus mindestens zwei Gründen zum wahrscheinlichen Scheitern verurteilt: Es wird spätsommerlich heiß werden und die Laufunlust dämpfte auch meinen Trainingseifer. „Gutgehen“ meint vielmehr wie ich die Stunden zwischen Startschuss und Zielstrich erleben werde. Werde ich Spaß haben oder miesepetrig Frust schieben?

8:30 Uhr: Schluss mit salbadern, erstmal loslaufen! Loslaufen als Teil von geschätzt gut hundert Teilnehmern. Darunter einige der üblichen, mir bekannten Verdächtigen. Etwa der unübersehbare mehr als Zwei-Meter-Mann Reinhold, auch Norbert, den ich vorm Start schon in der Halle traf und last but not least der Crailsheimer Ulli, Urheber des Hohenlohe Marathons. Ulli braucht praktisch nur vor die Haustür treten, Crailsheim liegt sozusagen um die Ecke. Auch das Kochertal gehört zum Hohenloher Land. Gemeinsam mit den Bekannten und ein paar anderen werde ich kurzerhand für ein Vorstart-Gruppenfoto „requiriert“. Auf die Reise geschickt verliere ich nach und nach alle aus den Augen. Weil sie ihr Ding machen und ich meines. Über „mein Ding“ lasse ich Laufgefühl entscheiden, bleibe in der Rolle des Zuschauers. Zuschauen, welche Pace sich auf der Uhr abzeichnet und zuschauen, wie hoffentlich reichlich Freude am Laufen Einzug hält.

Wird aber ein bisschen dauern, das mit der Lauffreude. Erstmal fühle ich mich komplett eingerostet, unfrisch, überhaupt nicht wie ein Marathoni, der sich vier Wochen ausruhen durfte. Ist mir aber nicht fremd, dass mein Motor erstmal auf Touren kommen muss. Die Auftaktrunde durch den von einigen Fachwerkhäusern aufgehübschten Ortskern bietet erste Gelegenheit dazu. Nach anderthalb Kilometern laufen wir erneut durchs Marathontor, jetzt entgegen Startrichtung, ostwärts durchs Tal des Kochers. Flach zu Anfang, was dem beabsichtigten „Auf-Touren-kommen“ Vorschub leistet und nach drei, vier Kilometern spürbar zum Erfolg führt. Kilometer auf denen ich vor allem die Wärme unter praller Sonne genieße. Die Luft ist noch kühl, frösteln musste ich trotz dünner „Plünnen“ aber vorm Start schon nicht mehr. Die hübsche Landschaft des Kochertals unter azurblauem Himmel steigert mein Wohlbefinden weiter. Nicht zuletzt das reizvolle Muster unzähliger Reihen von Reben an den steilen Südhängen jenseits des Flusses. Neben Wohlgefallen geht von diesen Hängen auch eine gewisse „Drohung“ aus, weil ich sie hinter Streckenkilometer sechs werde erstürmen müssen. Größter Höhenunterschied ca. 100 Meter, ersichtlich im veröffentlichten Streckenprofil. Insgesamt jedoch keine 250 Meter Höhendistanz - so steht’s im Internetauftritt des Laufes geschrieben -, also halb so schlimm.

Zehn Meter vor mir wetzt der Pacemaker für die Zielzeit 4:30 Uhr. Gefällt mir nicht. Ich traue mir selbst nicht über den Weg, fürchte meinen Ehrgeiz an dem Mann dranbleiben zu wollen. Die von ihm angepeilten 4:30 Stunden kommen meiner „Wunschzeit“ ziemlich nahe. „Wunschzeit Marathon flach allgemein“ - aber nicht unbedingt heute. Für heute habe ich ans Kleinhirn* die Parole „Mäßigung“ ausgegeben; ihm mitgeteilt, dass ich keineswegs geneigt bin mich für eine Wunschzeit zu verausgaben. Ganz bestimmt nicht! Es geht um nichts als Laufspaß zu generieren oder ihm wieder neues Leben einzuhauchen - je nach Sichtweise. Konkurrieren werde ich nicht, nicht mal mit mir selbst. Minutenlang bin ich dem blauen Luftballon nahe, eine Weile sogar auf gleicher Höhe, später eilt er mir stückweit voraus. Was seinen Tempowechseln geschuldet sein muss. Mein Laufgefühl hält normalerweise zuverlässig konstantes Tempo und wieso sollte das ausgerechnet heute anders sein? Um sicher zu gehen, vom Zugläufer nicht gezogen zu werden, blende ich ihn einfach aus … Das geht - Landschaft, mich abzulenken, gibt’s ausreichend ringsum. Als ich ihn dann doch wieder zufällig wahrnehme, ist er schon ein-, später zweihundert Meter voraus. Vermutlich will er vor den Steigungen Zeit gut machen.

*) Laut Wikipedia: „Das Kleinhirn erfüllt wichtige Aufgaben bei der Steuerung der Motorik: Es ist zuständig für Koordination, Feinabstimmung, unbewusste Planung und das Erlernen von Bewegungsabläufen.“

Das Kochertal wird enger, schließlich hält sich der Radweg dicht am Flussufer. In Höhe von Kilometer sechs wechseln wir die Flussseite und gewinnen in einem Seitental stetig an Höhe. Aus moderat aufwärts wird einen Kilometer später fordernde Steigung. Schweißwischen ist nun angesagt, obwohl in noch kühler Luft unterwegs und im Schatten von Bäumen. Kilometer 8: Der Weg flacht ab und bietet hier oben am Hang, knapp hundert Meter über der Talsohle, keinerlei Schatten mehr. Ich erfreue mich der wunderschönen An- und Aussichten beim Lauf zwischen Weingärten. Endlose Reihen von Reben bedecken den Hang rechts von mir, ziehen sich bis knapp unter den von Wald gekrönten Talkamm. Zu meiner Linken, talwärts, die gleichen, steil in Falllinie ausgerichteten Bataillione von Weinstöcken, allesamt dicht mit erntereifen, schweren Rispen aus Weinbeeren behangen. Hellgrüne, aus denen man weißen, später überwiegend rote, aus denen man roten Wein keltern wird.

Wenn ich nun erwartet hatte, die nächsten Kilometer mehr oder weniger anspruchslos und beschaulich auf gleichbleibender Höhe am Hang zubringen zu dürfen, so sehe ich mich getäuscht. Getäuscht einerseits infolge ungenügender Vorbereitung, letztlich aber auch durch eine falsche, das Profil des Laufes verharmlosende Zahl. Auf der Internetseite des Laufes steht als Summe für die Höhenmeter die Zahl „278“. Diese Angabe, lieber Leser, ist eine „unverschämte Lüge“, die mein Höhenmesser, vor allem aber meine Beine, binnen der nächsten Stunde entlarven werden …*

*) Meine durch kombinierte barometrische und GPS-Höhenmessung recht genaue und zuverlässige Uhr ermittelte eine Höhenmetersumme von 464 m im Auf- und 475 m im Abstieg. Gemittelt also ca. 470 Höhenmeter.

Etwa eine Dreiviertelstunde führt die Strecke am Hang entlang und bietet ausgiebig Gelegenheit den Weinbau überm Kocher zu begutachten. Ein Reim gefällig? - Steigungen und Gefälle wechseln sich ab und das nicht zu knabb … Zacken im Profil, die nur bei oberflächlicher Betrachtung harmlos aussehen. Die an einem Spätsommertag, unter bereits am Vormittag glühender Sonne, neben reichlich Körnern auch literweise Körperwasser verbrauchen. Wobei Letzteres sich vorzugsweise auf meinem Kopf sammelt und partout in den Augen zusammenrinnen will. Die Wischintervalle verkürzen sich rasant und alsbald bedauere ich zutiefst kein saugstarkes Tuch zum Wischen in den Hosenbund gesteckt zu haben. Die vom Schweiß ausgehende Belästigung werden jene kleinreden, deren Kühlung vermindert bis „normal“ funktioniert. Dass die Sache zur wischenden Dauerbeschäftigung ausartet, können nur wenige „Vielschwitzer“ nachfühlen. Und unter diesen vielleicht auch nur die Brillenträger.

Hört sich sicher genervter an als ich in Wahrheit bin. Das tolle Panorama wöge weit mehr Unbill auf als die Sturzbäche im Gesicht … Seit mehreren Kilometern, schon anfangs unten im Tal, liefere ich mir ein Duell mit einem Laufduo „m“ und „m“. Warum sie mal hinter mir zurückbleiben und dann wieder überholen - ich habe nicht darauf geachtet. Die beiden kennen sich erst seit einer Stunde. „Trafen“ sich unten im Tal auf der Strecke, machten sich hinter meinem Rücken laufend miteinander bekannt, gerieten ins Plaudern und erzählten sich unterdessen sicher Teile ihrer Lebensgeschichte. These: Wer für sowas Kraft und Puste hat, bleibt unter seinen sportlichen Möglichkeiten. Mir würden Kraft und Puste definitiv fehlen, um mehr als kurze Sätze in den sonnigen Vormittag zu hecheln. Was letztlich heißt, dass ich mich nicht gerade unterfordere. Nach nun anderthalb Laufstunden hege ich gar die Befürchtung, dass die Absicht heutiger Nicht-Verausgabung ein frommer Wunsch bleiben wird. Zumal ich aus solchen Bedenken keine Temporeduzierung ableite. Das alte Lied: Wie ich anfange, so mache ich weiter. Zu meinem Nutzen, wenn genug „Power“ in den Haxen steckt, zum „Hinten-Raus-Abkacken“, falls ich (oder der Tempomat) meine Leistungsfähigkeit falsch taxierte.

Mehrmals scheint es, als strebte die Route dem Tal zu, doch jedes Mal schickt sie mich neuerlich bergan. Nicht wirklich steil, überhaupt nicht, was sich zu relevanter Belastung addiert sind Häufigkeit und Länge der Steigungen und - erstaunlich für einen, der sonst seine Hitzeresistenz preist - die Strahlkraft des Sterns über mir. Schließlich dann doch hinab, noch immer zwischen Weingärten … Ein mir gänzlich unbekanntes Geräusch dringt von vorne unten, also irgendwo zwischen den Rebstöcken, zu mir heran. Ich blicke zwischen den Reihen talwärts und mache eine „Maschine“ aus, die den granatensteilen Hang in Falllinie aufwärts fährt. Ein kleiner, zwischen die Rebstockreihen passender Trecker, der im Steilgelände Halt findet und mit angeflanschtem Ausleger dieses Geräusch verursacht. Erkennen kann ich es nicht, somit auch nicht sicher sein: vermutlich kappt die Maschine überflüssige Triebe der Rebstöcke. Erntevorbereitung vielleicht? Die prallen Rispen hängen ja noch überall. Apropos Ernte: September ist doch eigentlich die Zeit der Weinlese!? Entlang der Marathonroute begegnete mir aber noch kein Rebstock bar seiner Fruchtstände. Wann geht’s denn hier zur (Ernte-) Sache? Warten die Winzer noch die aktuelle Schönwetterperiode ab, um den Oechsle-Wert im Most zu steigern?

Die Ortschaft ist klein, entsprechend rasch bin ich durch und „klebe“ wie erwartet in der zweiten Mega-Steigung des Kurses. Wie erwartet, weil ich das Profilbild grob „verinnerlichte“ und, weil ich vor sechs Jahren schon einmal Teilnehmer des ebm-papst Marathons war. Vorm Lauf heute konnte ich nur wenige Bilder im Gedächtnis ausgraben, diese zweite lange Steigung war eins davon. Es ist mit der Erinnerung verknüpft, wie heftig sie mir seinerzeit in die Knochen fuhr. Auf den bisherigen Streckenteilen tauchten immer mehr verschüttete Erinnerungen auf. Inzwischen bin ich sicher, dass sich der heutige mit dem Kurs von vor sechs Jahren deckt. Und wie damals beutelt mich diese zweite, vorm Lauf als weniger fordernd eingestufte Steigung. Kann auch gar nicht anders sein: An Höhenmetern fehlt ihr nicht viel zur ersten, die samt nachfolgendem Auf und Ab nun schon in den Beinen steckt. Meine Beine sind schlicht steigungsmüde. Dem hilft auch das Gel nicht ab, das ich vorsichtshalber an der letzten „Tränke“ mit viel Wasser runterspülte.

Ich schaue das Sträßchen entlang aufwärts: vielleicht vierhundert Meter noch bis zum Waldrand und erhofftem Schatten. Eine Handvoll Läufer arbeitet sich gleich mir an dieser Rampe ab. Was sie von mir unterscheidet ist mein „Gelübde“, das mir auferlegt stets zu laufen. Auch wenn dieses „stets“ steil ist, ziemlich ausgedehnt und keinen Schutz vor der glühenden Sonne offeriert … Deswegen trabe ich aufwärts und alle anderen bedienen sich zumindest teilweise der Gangart Gehen. Auch wenn ich in den aus meinen Poren quellenden Fluten fast wegschwimme, komme ich nicht umhin festzustellen: Es geht. Ich kann die komplette Steigung laufen. Und wenn es geht, wieso sollte ich dann gehen? Zudem: Der zweite Halbmarathon fordert kaum noch mit Anstiegen, ich muss mich auch in dieser Hinsicht nicht vorsehen. - Muss ich das wirklich nicht? Unter diesen Witterungsbedingungen, mit einer Quecksilbersäule, die zum Finish hin dicht unter 30°C stehen wird (wenn nicht drüber)? War nicht erklärte Absicht mich heute nicht zu verausgaben?

Der Wald gewährt weniger Gnade als erhofft, lichte Belaubung dämpft die Sonne lediglich. Und hinterm Waldstreifen ist noch immer nicht Schluss, geht’s weiter bergan … Schlussendlich dann doch wieder runter, Puls und Atem normalisieren sich rasch, die Wasserflut versiegt mit Verzögerung … Nö, oder? nochmal rauf? - Ein letztes „Intermezzo“ aufwärts gilt es dann doch noch zu überstehen, getreu dem Motto des Streckenplaners: Einer geht noch! - Endlich strebe ich mit langen Schritten, diesmal unaufhaltsam, dem Tal zu, laufe alsbald durch die Straßen einer Ortschaft … … Die Spitzkehre nehmen oder geradeaus weiter? Dieselbe Frage stellt sich offensichtlich ein Mitläufer, der am Straßenrand stehend Ausschau nach Markierungen hält. Es sieht danach aus, als habe er sich entschieden der Spitzkehre zu folgen. Lemminge rennen mit blindem Eifer dem Vordermann hinterher. Der hintere Lemming - in diesem Augenblick noch ich - wird umgehend zum vorderen Lemming, weil der stehende Lemming doch noch zögert. Sein Zögern aber prompt aufgibt, um nun seinerseits dem Vorbild des forscheren Lemmings - auch wieder ich - zu folgen … Und so rennen jetzt beide Lemminge talwärts … in die Irre, wie sich an der nächsten Kreuzung zeigt: nullkommanull Markierung! Und an Markierungen war zuvor kein Mangel. Also umkehren und wieder rauf. Das Meckern des Mit-Lemmings in Sachen „unzureichende Markierung“ findet meine Zustimmung. Aber nur bis zur Stelle des Verlaufens, denn auch dort weisen Pfeile den Weg. Einer in einem Pylon steckend, ein zweiter auf den Asphalt gesprüht. Zur Entlastung der Lemminge sei angemerkt: Der Asphaltpfeil dient eher der Bestätigung, wenn man die Richtung bereits eingeschlagen hat; und der überm Pylon tarnt sich mit einem Baumschatten … Beschweren dürfen wir uns dennoch nicht, hätten schlicht achtsamer sein müssen. Eine Auffassung, die ich dem anderen Lemming nicht vorenthalte, der sie allerdings kommentarlos über der Strecke schweben lässt.

Auf gesperrter Hauptstraße im Talgrund, eben und parallel zum Kocher voran. Obschon erheblich rauer als der Straßenbelag, nutze ich abschnittsweise das von Büschen beschattete Trottoir. Kein Lüftchen regt sich und die Sonne brennt erbarmungslos aus ungetrübt blauem Himmel. Anders als früher suchte ich in diesem Jahr schon häufiger in Training und Wettkampf schattige Wege. Warum ich so handele ist offensichtlich. Die eigentliche Frage lautet: Wieso erst jetzt? Ich erinnere mich an viele Wettkämpfe, bei denen die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten stets und kompromisslos die Gerade war. Umwege oder auch nur Schlenker, um direkte Sonne zu vermeiden, wären mir nicht in den Sinn gekommen. Dass ich inzwischen Schatten suche, subsummiere ich unterm Prozess des Alterns. Obschon noch immer „ein Kind der Sonne“, versuche ich inzwischen instinktiv ebendieser Sonne auszuweichen. „Instinktiv“ meint, dass ich nie bewusst so handelte, es einfach geschehen ließ. Vermutlich, um die im fortgeschrittenem Alter ohnehin als höher empfundene Ausdauerbelastung nicht unnötigerweise in Richtung Limit zu treiben. Und heute tue ich gut daran so zu handeln. Mich solcher Schweißbäche erwehren zu müssen wie an diesem Septembersonntag - ich krame lange im Erinnerungsfundus von über 350 Mal Marathon und weiter, finde aber keine Entsprechung.

Nach nicht ganz einem Kilometer biege ich von der breiten, bis auf eine Läuferin weit voraus und einer mir entgegen radelnden Familie komplett menschenleeren Straße zum Fluss hin ab. Kurz darauf stehe ich vorm nächsten Versorgungspunkt. Ich trinke bis die Bauchdecke zu spannen beginnt. Tat ich das bisher vorbeugend auch schon, so motiviert mich inzwischen mein trockener Mund. Mit dieser Taktik werde ich die Dehydrierung zwar verzögern jedoch nicht aufhalten können. Um den Wasserhaushalt in der Waage zu halten, müsste ich wie bei Ultraläufen deutlich verhaltener laufen, mich darüber hinaus vor der starken Sonneneinstrahlung schützen. Aber ich laufe ja „nur“ Marathon, von dem überdies schon mehr als die halbe Strecke hinter mir liegt. Während ich hier stehe und trinke, gehe ich zuversichtlich davon aus dieses „Marathönchen“ unter 4:40 Stunden zu beenden. Grundlage meiner optimistischen Schätzung: Auf dem ersten Halbmarathon mit schätzungsweise etwa 90 Prozent der Höhenmeter ließ ich nur 2:17 Stunden liegen.

Weiter in meiner mit Trassenband abgeteilten Gasse. Auf den Asphalt gesprüht lese ich was von einer „1. Runde“. Klar ist, dass ich hier noch einmal vorbeikommen und dann von der Nachbargasse geleitet Richtung Ortskern laufen werde. Unklar bis verwirrend dagegen die Beschriftung „erste“ Runde. Die beginnende, talauswärts mit Hin- und Rückweg etwa acht Kilometer umfassende Schleife ist doch nur dieses eine Mal zu absolvieren!? Wie dem auch sei: ich erinnere mich an die Wegführung und lasse mich von den auch hier üppig ausgebrachten Wegweisern leiten. Vorbei zunächst am mittelalterlich anmutenden Stadttor des Städtchens Forchtenberg, hin zu einem steinernen Steg, der mich über ein Nebenflüsschen des Kochers bringt. Idyllische Ansichten, die gleichfalls ein Echo in meinem Gedächtnis hervorrufen. Das gilt auch für die sich anschließende, dem Ortsrand zustrebende Straße und insbesondere für deren Steigung. Schon vor sechs Jahren wurde mir auf diesem und den unmittelbar folgenden Abschnitten klar, dass ich das bisherige Tempo nicht würde halten können. Buckel reiht sich an Buckel, einzeln kaum erwähnenswert, in der Summe aber ermüdend. Zumal unter hernieder brennendem Zentralgestirn, dem ich auf der Schleife nahezu schutzlos ausgeliefert bin.

Längst habe ich keinen auch nur halbwegs trockenen Fetzen mehr am Leib. Hochfrequent wiederhole ich das immer gleiche Prozedere: Brille mit der einen Hand abnehmen, mit der anderen den Schweiß von der Stirn wischen, zuweilen auch aus den Augenhöhlen. So heftig/lästig war’s noch nie. Wieso eigentlich? Vermutlich kommen heute mehrere Faktoren zusammen: Sicher schon mehr als 25°C, direkte Sonne, dazu Windstille und vermutlich eine hohe Luftfeuchtigkeit. Spätsommer „at it’s best“! Nicht klagen, einfach genießen und schwitzen. Kälte und Mistwetter lauern schon irgendwo im Nordatlantik, sind ganz sicher nur noch ein paar Wochen entfernt …

Kilometer 27: Über den Kocher, durch eine weitere Ortschaft und nun wieder zurück. Steigungen sind nur noch minimal, aber real und sie hören nicht auf. Auf schon müden Beinen verliere ich inzwischen etwa 20 bis 30 Sekunden gegenüber dem Anfangstempo auf jedem Kilometer. Ich nehm’s mit Gleichmut, bin weiter guter, wenn auch angestrengter Dinge. Anhaltend gute Stimmung, die auch von ausbleibenden Beschwerden herrührt. Heute kein Ziehen im „Kreuz“, noch in der Gesäßmuskulatur. Beide Störenfriede belästigten mich in diesem Jahr zuverlässig, bei flottem Tempo früher, auf langen, langsamen Ultrawegen später. Ganz ohne Pein scheint mir aber kein Wettkampf mehr vergönnt: Heute nervt die Großzehe am linken Fuß. Okay, soll sie, ist halt so …

Spektakuläre Ausblicke sind seit meinem Abstieg vom rebengespickten Hang Vergangenheit. Dennoch weiß die Strecke weiterhin mit hübschen Landschaftspanoramen zu gefallen. Wo der Blick vorausgreift, fängt er kaum noch Läufer ein. Kein Marathon für gesellige Typen oder solche, die sich mit Gesprächen unterwegs bei Laune halten wollen. Wäre ich aufgefordert zu schätzen, welchen Anteil der in mehr als 350 Wettkämpfen gelaufenen Kilometer ich „solo“ verbrachte, ich setzte die Quote extrem hoch an, 90 Prozent, wahrscheinlich mehr … Innerorts hier im Kochertal reichte mich zuweilen Beifall von Zuschauern und Passanten weiter, zwischen Ansiedlungen seltener der von Radlern oder Spaziergängern. 29 Kilometer gelaufen und ich wette: Die „30“ mache ich noch vorm Ende der Schleife und der „Tränke“ mit den Laufgassen voll!

Wer auch immer gegen mich wettete, er hat verloren. Bei etwa 30,5 Kilometer darf ich wieder trinken. Reichlich trinken. Und ich höre erst damit auf, als der Magen schon halbwegs verstimmt Völlegefühl signalisiert. Noch ein Becher und er schickte mir seinen Inhalt als Retoure zurück … Nun auf den hübschen, historischen Ortskern zu und nach Einweisung eines Streckenpostens durchs Stadttor. Die verwinkelten Gassen hinterm Stadttor haben einiges an gepflegtem Fachwerk zu bieten. Ein Angebot, das meine Kamera gerne annimmt. Innerorts voran, es gilt eine Wendeschleife abzuarbeiten. Drei Minuten hin, drei Minuten wieder zurück.

Das Städtchen Forchtenberg liegt hinter mir und damit auch Kilometer 32. Was ich tunlichst vermeiden wollte - mich heute verausgaben -, ist bereits weit fortgeschrittene Realität. Ich bin hundemüde. Was mich derart auslaugte, kann ich nur vermuten. Zum kleineren Teil der Schwindel von nicht mal 300 Höhenmetern auf der Strecke, der mich die „Sache“ zu forsch angehen ließ. Schon oben zwischen Weinstöcken wurde mir klar, dass die Angabe nicht stimmen kann. In der Hauptsache dürfte mir allerdings der Klimamix, darin vor allem die ungebremste Strahlung, zugesetzt haben. Umso dankbarer bin ich für diesen Uferweg am Kocher. Zwei Kilometer weit gewähren Bäume und Büsche wohltuenden Schatten. Bei Kilometer 34 beginnt die Zusatzschleife. Zwei Streckenposten achten darauf, dass niemand den im spitzen Winkel einmündenden Rückweg einschlägt. Was ohnehin unwahrscheinlich wäre, da a) von dort Läufer entgegenkommen, es b) keinen Grund gibt den asphaltierten Radweg zu verlassen und c) die Wegweisung durch Pfeile an Eindeutigkeit nicht zu überbieten ist. Wozu dann d) noch die elektronische Instanz der Zeitmessung installiert wurde, bleibt alleiniges Geheimnis des Veranstalters.

Jeden Schritt auf „elefantös“ schweren Beinen muss ich mir mittlerweile abringen. Umso willkommener die Verpflegungsstelle, an der ich mit erneuter „Druckbetankung“ den inzwischen heftigen Durst bekämpfe. Angesichts der im Zenit stehenden Sonne, beim Laufen nun nahe 30°C heiße Luft verdrängend ein aussichtsloses Unterfangen; das mir aber sieben Kilometer vorm Finish kein Kopfzerbrechen bereitet. Weiter nun neuerlich bar jeglichen Schattens, der Marathonweiche entgegen. Bis dahin gilt es allerdings noch mehr als tausend Schritte aneinanderzureihen und gefühlt eine 10-Liter-Kanne Schweiß zu vergießen … Ich erinnere mich an diesen Abschnitt, vor allem an meine damalige Verunsicherung, nicht vielleicht doch schon am Abzweig vorbeigelaufen zu sein. Heute sehe ich der Tafel mit der „40“, die erst nachher für mich Gültigkeit erlangen wird, gelassen entgegen … Zuletzt ein Buckel, der Schrittfrequenz und -weite dramatisch verkürzt. Die eher belanglos kurze Bodenwelle lässt mich spüren wie ausgelaugt ich wirklich schon bin. Weitere zwei Streckenposten bewachen die Weiche, hierorts mit klarem Auftrag: Jedem Marathonankömmling ein orangefarbenes Schweißband übers Handgelenk streifen - beim nächsten Mal meine Lizenz zum Weiterlaufen …

Ich trete den Rückweg an, gleichermaßen dankbar und belästigt. Dankbar für den Schatten im Wald oberhalb des Kocherradweges, belästigt von scharfkantigen Steinen in der Schotterpiste. Beides endet alsbald: Ab hier weiter unter praller Sonne und auf Asphalt … Das ist doch … !? Ein Zugläufer, kenntlich am blauen Ballon, tippelt verhalten am Wegrand entlang. Zunächst unterstelle ich ihm eine „Auftragszeit“ von 4:45 Stunden - nach (ungenauer) Hochrechnung derzeit meine Zielzeiterwartung. Doch schon vorm Überholen wiedererkenne ich in dem Mann den 4:30er-Pacemaker, der anfänglich davonzog. Er wird finishen seinen Job aber nicht erfüllen. Dann geht er sogar ein Stück, gibt sich als eines der Hitzeopfer des Marathonsonntags zu erkennen …

Endlich am Ende der Zusatzschleife: zum zweitem Mal vorbei an den Streckenposten und über die Kontrollschleifen der Zeitmessung - noch vier Kilometer. Was mich auf diesem schon belaufenen Abschnitt antreibt, ist vor allem die Gewissheit in fünf Minuten wieder trinken zu können … Erneut presse ich Flüssigkeit bis kurz vorm Erbrechen in meinen Magen. Laufwissen, mehr noch entsprechende Erfahrungen lehren, dass die Austrocknung meines Körpers schon weit fortgeschritten sein muss, wenn ich derart gierig - pardon - „saufe“.

Der Marathonweiche entgegen und Dank orangefarbenem Ausweis daran vorbei … Wieder lähmt die Bodenwelle meine Schritte. Flach voran, die letzten zwei Kilometer sind bereits angebrochen. Ein bisschen Schatten ist mir noch vergönnt und ein paar idyllische Flussansichten darf ich auch noch einsammeln. Bald schon auf Niedernhall zu, flankiert vom Kocher links und Kleingartenanlagen rechts. Kurz vor der Ortschaft flitzen mir Jugendliche entgegen, vermutlich Teilnehmer am „Mini Marathon“, an dessen Wende ich vor ein paar Minuten vorbeikam. Den abgehalfterten, schweißtriefenden Marathoni schickt der Streckenposten dann nochmal auf Besichtigungstour durch‘n Ort. Weit ausholend umrunde ich den historischen Ortskern und biege erst gut zweihundert Meter vorm Finale auf die Zielgerade ein, in die für Marathonis reservierte Einlaufgasse. Nebenan vollzieht sich gerade ein rührender, höchst begrüßenswerter Wettkampf: Die Kleinsten der Kleinen, teils an Händen von eigens abgeordneten Helfern, streben eifrig dem Ziel ihrer kurzen (für sie sicher unendlich langen) Runde entgegen … Weiß nicht, was mich mehr freut, mein eigenes Finish keine Minute später, oder die hoffentlich erfolgreiche „Nachwuchsförderung“ des Veranstalters.

Nach 4:48:49 Stunden hängt man mir die Finisher-Medaille um den Hals. Müde schleppe ich mich die paar Schritte zum Versorgungsbereich. Trinken, trinken, trinken - nach nichts anderem steht mir jetzt der Sinn. Am Büffet schnappe ich mir gleich zwei Flaschen alkfreies Weizenbier und setze mich in den Schatten … Den Inhalt der ersten Flasche stürze ich in Windeseile runter, trinke danach die zweite und sitze und trinke und sitze und trinke … Zweimal 0,33 Liter empfinde ich wie einen Tropfen auf den heißen Stein: Wieder zum Büffet, wieder zwei Flaschen mitnehmen und zurück in den Schatten. Ein paar Meter nebenan, unter einem weiteren Sonnenschirm, hockt der lange Reinhold. Auch müde und durstig, aber offensichtlich munterer als ich. Wir prosten uns auf Distanz zu …

Die „Konsistenz“ bleierner, sich durch alle Fasern ziehender Erschöpfung zu beschreiben würde mich überfordern. Hinfälligkeit von etwas anderer Art - dichter, tiefer sitzend, überwältigender - als normalerweise nach einem Marathon. Die Dehydrierung macht den Unterschied. Salopp gesagt hänge ich ab wie ein „Schluck Wasser in der Kurve“. Angezählt bin ich aber nur körperlich, ansonsten voll zufrieden! Hatte lange Freude am Laufen, keine relevanten Beschwerden bis zum Schluss und die Zeit kann sich bei dieser Hitze auch sehen lassen. Als 54. Von 81 Männern verwies ich etliche Jüngere auf die Plätze hinter mir. Alles gut.

Aus den Lautsprechern drüben beim Zieleinlauf dröhnt Musik. Lange nehme ich sie nicht wahr, lasse sie zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Bis ein „Lied“ erklingt, das mich augenblicklich anmacht. Ganz so als rüttelte der zündende Rhythmus an meiner Läuferseele, die augenblicklich den Bodensatz der Erschöpfung abschüttelt und bombastisch gute Laune freisetzt. „Rama lama ding dong“ heißt der Song, in der Version der Band „Rocky Sharp & The Replays.“ Einfache, weitgehend anspruchslose, tanzbare Gute-Laune-Musik. Spontan beginnt es in mir zu zucken, wollen müde Muskeln im schnellen Rhythmus mitzappeln … Und im Oberstübchen formt sich ein herrliches „Verdammt, geht’s mir gut!“ - Sie ist wieder da, die Lust am Laufen. Der „Unterhaltungswert“ des heutigen Marathons reichte, um sie wiederzubeleben. Auf ähnliche Weise wie dieses „Rama lama ding dong“ an tänzerische Urinstinkte rührt. Zufriedenheit war das eine, multipliziert wird sie jetzt mit dem - ich lasse die Kirche im Dorf - kleinen Glück des Finishers im 355. Marathon und weiter.

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Organisation des ebm-papst Marathons „klappte wie am Schnürchen“. In allen Belangen offenbart sich die potente finanzielle Unterstützung des Hauptsponsors, die insbesondere auch vorm Personaleinsatz nicht Halt macht. Das gilt für alle Belange, von Parkplatzeinweisern, über ein Heer an Helfern bis hin zu zahlreichen Streckenposten.

Die Route im Talgrund des Kochers und am Südhang zwischen Reben ist reizvoll. Kein reiner Landschaftslauf und dennoch mit schönen An-, Aus- und Weitsichten die Teilnahme lohnend. Der Abschnitt in den Weinbergen erinnert an den Ahraton (wie ich ihn vor der Flutkatastrophe erleben durfte). Insgesamt fordert der Kurs mit ca. 470 Höhenmetern, wovon etwa 90 Prozent zwischen den Kilometer 6 und Halbmarathon zu bewältigen sind. Wer einem Stelldichein mit dem Hammermann entgehen möchte, sollte folglich die erste Hälfte des ebm-papst Marathons verhalten angehen. Hinweis: Die auf der Internetseite angegebenen 278 Höhenmeter sind grob irreführend!

Fazit: Warum nicht im nächsten Jahr wieder?