30. Juli 2023

Königsmord?  -  Starnberger See Ultra

Leichtfertig überredete ich meine Frau Ines, mich bei der Starnberger See Umrundung zu „supporten“. Ein Job, der sich letztlich darauf beschränkt mir dann und wann eine Trinkflasche zu reichen. Erforderlich, weil wir fünf gestarteten Teilnehmer auf Selbstversorgung angewiesen sind. Streng genommen aber auch wieder nicht erforderlich, da ich Getränke an der Strecke kaufen oder meine Vorräte an öffentlich zugänglichen Wasserstellen ergänzen könnte. Mit Ines als Mundschenk bin ich jedoch sorgenfrei unterwegs, zudem gewinnt der Jogg mit ihr an „Unterhaltungswert“.

Der ist nötiger denn je, obschon die Strecke an sich - See meist in Sichtweite - mit Reizen nicht geizt. Denn, was sich heute „über mir“ vollzieht, ist geeignet meinen persönlichen Spaßfaktor drastisch zu reduzieren. Aus dahin eilenden grauen Wolkenbäuchen und -fetzen wird es wieder regnen. Obendrein wird es heute - pardon! - schweinekalt bleiben. Bei 13°C steht die Quecksilbersäule zum Start um neun Uhr am Starnberger Hallen- und Strandbad, maximal vorhergesagt sind 15°C. Dieser Sommer nervt. Aber sowas von! Maulte ich schon im letzten, so bekräftige ich meinen Unmut nun im aktuellen Laufbericht! Schon kurz nach dem Start treffen mich die ersten Tropfen und stempeln damit den laufenden zum sechsten Marathon- und Ultrawettkampf in Folge, bei dem ich nass werde. Dergleichen widerfuhr mir noch nie. MeckPomm, Thüringen, dreimal BaWü und jetzt Bayern - wo ich in diesem Sommer laufe, läuft auch der Himmel über.

Bedauern muss man mich deswegen nicht, schließlich habe ich es mir so ausgesucht. Könnte es bleiben lassen, dem Mistwetter ausweichen, gute Lust dazu hätte ich. Bedauern sollte man meine liebe Frau, die sich von meiner leichtfertigen „Einladung“ verführen ließ. Ich hatte gehofft, sie würde zwischen den für mich verrichteten Liebesdiensten warme und sonnige Stunden an bayerischen Gestaden genießen können. Hier ein „Käffchen“ im Ufercafé, dort ein leckeres Eis mit Blick auf sauberes, tiefblau schimmerndes Wasser. Damit wird es nix. Zu allem Überfluss bläst von Südwesten auch noch eine stramme Brise. Vorab bin ich schon ganz reuiger Sünder meine Ines mitgeschleppt zu haben. In ein paar Stunden - so viel zeitlicher Weitblick sei mir gestattet - werde ich bereit sein jedes Sühneopfer auf mich zu nehmen …

Schon entlang der Uferpromenade leichter Regen. Ein paar Minuten sind wir im Pulk zu viert unterwegs. Veranstalter Andreas Bettingen, seine Lebensgefährtin Judith, Roland und ich. Wenn es mir an (Lauf-) Lust fehlt, neige ich zur Schlampigkeit. Beispiel: Nachlässig geschnürte Laufschuhe. Als ich meinen Fehler behoben habe, sind mir die anderen 100 Meter voraus. Klingt nach wenig, wird aber quasi uneinholbar so bleiben. Sechs Tage vor den 100 Meilen in Berlin kann ich es nicht riskieren mich durch einen Zwischenspurt vorzeitig zu verausgaben. Schon diese 50 (so gut wie flachen) Kilometer der Seerunde bedeuten ein Wagnis einzugehen. Was „Langes“ muss wohl noch sein an diesem Wochenende. Aber gleich 50 km? Ich zweifelte und zweifle noch immer. Das ganze Unternehmen war halt zu verlockend: Sommerlicher Lauf rund um einen See, nur eine Autostunde von meinem Bett entfernt. Aus dem ich mich demzufolge nicht zu früher Unzeit erheben muss. Ein Ultra quasi vor der Haustür.

Jetzt laufe ich also hinterdrein im leichten Regen. Wenn der nicht stärker wird, soll er mir egal sein. Nicht egal, richtig unschön präsentiert sich dagegen die Aussicht in Richtung Alpen, die sich (perspektivisch täuschend) überm Südende des Sees erheben. Düster fette Wolkenschichten liegen obenauf, verhüllen die meisten Gipfel des Vorgebirges. Die dahinter aufragenden Felsgiganten des Wettersteinmassivs, allen voran die Zugspitze, bleiben dauerhaft unsichtbar. Nach drei Kilometern wendet sich die Route vom See gen Westen ab, umgeht auf Waldwegen etwa zwei Kilometer Seeufer. Auf diesem Abschnitt fehlt ein ufernaher Rad- oder Fußweg. Am Straßenrand weiterzulaufen wäre öde, vermutlich auch gefährlich. Zwischen und unter Bäumen hat der lebhafte Wind keine Macht mehr, ist kaum mehr wahrnehmbar. Ob es weiterhin regnet oder nur vom Blätterdach tropft, vermag ich nicht zu unterscheiden.

Was sich bereits auf diesem kleinen Umweg andeutet, ist die irrige Einschätzung einer flachen Uferstrecke. Tatsächlich fehlen längere, zumal anspruchsvolle Anstiege. Welliges Terrain wird uns allerdings auf vielen Abschnitten fordern.* Auf noch ausgeruhten und strikt zur Langsamkeit verdonnerten Beinen messe ich den „kleinen Amplituden“ derweil noch keine Bedeutung bei. Die Waldpassage endet mit leichtem Gefälle und mit umsichtigem Kreuzen der umgangenen Straße. Weiter nun unmittelbar am Ufer, weiter windgeschützt unter Bäumen, auf festem Spazierweg. Pfützen jeder Größe erzwingen zuweilen Ausweichmanöver. Mehrfach halte ich Durchblicke zum See, sozusagen von Ästen eingerahmtes Wasser, in Fotos fest. Voraus eine unbekannte Gestalt in signalgrüner Jacke, Kapuze über; zu ihren Füßen ein schwarzfelliges Wesen von bekannter, da nicht verhüllter Statur. Ich muss schon zweimal hinsehen, um in der wetterfest angezogenen meine Frau zu erkennen. „Was macht ihr denn schon hier?“ - eine durchaus dumme Frage, die meine Überraschung offenbart, das „Supporterteam“ bereits fünf Kilometer hinter Starnberg wiederzusehen. Was werden sie hier schon machen? - Eher nicht die Sonne genießen, stattdessen mir beistehen und mich aufmuntern.

*) Insgesamt registriert meine auch in dieser Hinsicht verlässliche Uhr 330 Höhenmeter entlang der Seerunde.

Auf einem Wegweiser irgendwo am Wegrand lese ich „Possenhofen“. Es vergehen ein paar Sekunden bis es in meinem Kopf „Klick“ macht und das Gelesene als Echo ein entzücktes „Sissi“ zurückwirft. Genau genommen fällt der Groschen erst als ich hinter grün überwuchertem Zaun das Schloss gleichen Namens erspähe. Dort verbrachte die spätere österreichische Kaiserin Elisabeth einen Großteil ihrer Jugend; jene legendär hübsche bayerische Prinzessin „Sissi“, deren wahres Gesicht auf ewig hinterm nicht weniger attraktiven Konterfei ihrer Darstellerin im Film, der jugendlichen Romy Schneider, verborgen bleiben dürfte.

Schloss Possenhofen steht in „gewisser“ Verbindung mit der Roseninsel, die ich etwa eine Viertelstunde später zu Gesicht und vor die Linse bekomme. Auch den Namen der einzigen Insel im Starnberger See entnehme ich Hinweisschildern, diesmal allerdings ohne konkretes Echo. „Roseninsel“ - da war doch was. Nur was?* Lücken über Lücken, nicht nur in meiner Allgemeinbildung. Nur eine Stunde entfernt von meiner Haustür und ich kenne die rund um den See verstreuten Sehenswürdigkeiten allenfalls vom Hörensagen. Vielfach, das wird sich noch zeigen, nicht mal das.

*) Ludwig II., der „Märchenkönig“, zog sich gerne in die Abgeschiedenheit des Palais‘ samt Rosengartens auf der Roseninsel zurück. Er lud dorthin gelegentlich auch (Staats-) Gäste ein, wie etwa die russische Zarin Maria Alexandrovna, den preußischen Kronprinzen Friedrich (späterer 99-Tage-Kaiser Friedrich III.) oder seinen Lieblingskomponisten Ludwig Wagner.

Über weite Strecken bewege ich mich wie durch einen nicht enden wollenden Park. Was vielerorts daran liegen mag, dass das Ufer von Anliegergemeinden wie ein Park gepflegt wird. Gemähte Rasenflächen, gepflegte Wege, Blumenrabatten, Sitzbänke landseitig. Immer wieder Bootshäuser, weit ins Wasser vorspringende Stege, vertäute Boote, Kioske, Gaststätten, wenn ich den Blick in Richtung See wende. Kilometer um Kilometer trabe ich an bekannten Orten vorbei, erst Feldafing, dann Tutzing, ohne mir dessen bewusst zu sein. Am Ufer stehen keine Ortstafeln und Wegweiser nähme ich nur zufällig zur Kenntnis … Auch die dicht an dicht auf mich einstürmenden Eindrücke sorgen für Desorientierung - neben landschaftlichen, von Seeansichten geprägten Bildern lasse ich mich auch von ufernahen Wahrnehmungen fesseln. Wie etwa von diesem wunderschön gelegenen Biergarten mit Seepanorama, für den ich spontan einen Merker setze: Wiederkommen und genießen! Nur ein paar Schritte weiter: Und was ist jetzt das? - Zwei Bronzelöwen bewachen den Treppenaufgang vom Ufer zum Eingang eines Restaurants!? Wieder setze ich einen Merker, diesmal, um mir zu Hause zu er-guggeln, was es mit den Strandlöwen auf sich hat.*

*) Das Restaurant befindet sich im so genannten „Midgardhaus“, einer im Stil italienischer Landhäuser im Jahr 1854 erbauten Villa. Auf die Löwen wollten die Besitzer offenbar nicht verzichten, wenngleich Löwen nicht zwingend zum Stil italienischer Villen gehören.

Ich laufe durch den Ort Tutzing, weiß es aber nicht. Biege mal rechts, bald links ab, lege Schleifen durch Straßen. Die Seepromenade weist hier offenbar eine Lücke auf, ist unterbrochen durch Privatgrund, in wessen Eigentum auch immer. Erinnerungen regen sich: Es muss in den 1970/80er-Jahren gewesen sein, als Debatten um und wohl auch Gerichtsverfahren für einen freien Zugang zu einem der bayerischen Seen geführt wurden. Entzündeten sie sich am Starnberger See, dem Ammersee oder ging’s um eine andere „Pfütze“ im Alpenvorland? Zu lange her, so selektiv arbeitet meine Erinnerung dann doch nicht … Alsbald wieder mit Seeblick südwärts, nach wie vor in parkähnlicher Umgebung, bis sich der Weg teilt. Geradeaus flach weiter oder im spitzen Winkel rechts aufwärts? Natürlich wähle ich die flache Variante, bis ich den „Dreier-Schwarm“ meiner Mitläufer auf der Anhöhe entdecke. Ich kehre um und gehorche der Schwarmintelligenz. Abgesehen von vielleicht zwanzig lästigen Höhenmetern beschert mir der „Höhenweg“ eine großartige Aussicht über den See und das Alpenvorland bis zu den Bergen. Das Panorama wäre sogar mehr als großartig, hätte sich Petrus zu weiß-blau sonnigem Sommerwetter durchringen können. Da er unablässig fette Wolken heranbläst, aus denen es zuweilen tröpfelt, hüllt sich die Silhouette der Berge in düsteres Graublau.

Kilometer 18: Die nächsten „Highlights“ der Strecke liegen auf einer Anhöhe nahe der Ortschaft Bernried. Sanft steigt der Radweg an, schließlich lenkt mich der Track im Zickzack ins und durchs Gelände einer Klinik. Links unterhalb, in einer Mulde jenseits ausgedehnter Rasenflächen, moderne Krankenhausgebäude, rechts voraus, auf dem höchsten Punkt des Hügels, Schloss Höhenried. Hübsch anzusehen mit seinen dicken Zwiebeltürmen und sein für ein Schloss jugendliches Alter von lediglich 86 Jahren geschickt verschleiernd. Nicht alter Adel ließ einst den Nobelbau errichten, eine vermögende „Bürgerliche“ war’s, die sich im Jahre 1937 mit dem 60-Zimmer-Bau einen Lebenstraum erfüllte. Erstmals lenkt eine Tafel am Wegrand meine Aufmerksamkeit auf das „Humor Festival Bernried“. Bei näherem Hinsehen wirbt sie für einen „Lachwald“. Klingt absurd und unverständlich, weswegen ich mich nach kurzem Fotostopp zum Gehen wende. Leider verpasse ich dadurch die anscheinend unmittelbar vor meiner Nase investierte künstlerische Kreativität des „Lachwaldes“ …

Noch immer traben mir die drei anderen etwa hundert Meter voraus, biegen nun rechtwinklig ab und … verwirren mich!? Wo will das Lauftrio hin? Der Track schickt mich und damit auch sie absolut eindeutig geradeaus weiter! Ich beschließe mich auf die Weisung meiner Uhr zu verlassen und „in der Spur“ zu bleiben. Handelte ich anders, liefe ich Gefahr Ines zu verpassen, die meiner Vermutung nach nicht weit von hier auf mich wartet … Womit ich voll ins Schwarze treffe: Nur ein paar Minuten später laufe ich aufs Buchheim Museum zu und meiner Frau direkt vor die Linse. Während ich aus der von Ines angebotenen Flasche trinke, „scanne“ ich die Kette der auf den Museumseingang zuhaltenden Besucher. Von da oben müssten die drei eigentlich kommen … zwei, drei Minuten vergehen … meine Mitläufer bleiben weiterhin aus. Schließlich verabschiede ich mich von Ines, die sich im Museumscafé ebendiesen Kaffee und ein Stück Kuchen schmecken lassen wird … Seitlich am Museum vorbei und weiter Höhe aufgeben … Das Buchheim Museum* - Ines war schon drin, ich noch nicht. Nächster Merker: Muss nachgeholt werden! Warum nicht in Verbindung mit einem sich anschließenden Besuch des Biergartens am See?

*) Lothar-Günther Buchheim (1918 - 2007) war Künstler, Sammler und Autor. Lebt in diesem Land ein Deutsch-Muttersprachler, der noch nicht von seinem verfilmten Roman „Das Boot“ gehört hätte? Der nicht wüsste, dass Buchheim darin seine Kriegserlebnisse bei Mitfahrten als Kriegsberichterstatter auf deutschen U-Booten in krasser Sprache und Offenheit verarbeitete. Buchheim war aber auch streitbarer Querkopf, nur schwer zufriedenzustellen. Das gilt für die Verfilmung seines Romans ebenso, wie für den Bau des Museums, dem er seine bedeutende Bildersammlung stiftete. Zweifel an und Brüche in seiner Persönlichkeit wie auch seinem Wirken während der NS-Zeit sind noch immer Gegenstand biografischer Forschungen. Wer und was Buchheim wirklich war, darin besteht nur in Teilen Einigkeit.

Auf dem Weg zum Bernrieder Seeufer wieder Zeugnisse des hierorts inszenierten und ausgelebten Humors. Im Rahmen des auch in diesem Jahr veranstalteten „Humor Festivals Bernried“ stellt man auch gesellschaftskritische Karikaturen aus, von denen nun einige meinen Laufweg säumen. Dieses eine Mal nehme ich mir die Zeit für ein Foto und würdige damit den Beitrag „Integrationsdebatte“. Das Bild zeigt „Sepp & Suleika“ auf einer Bühne vereint …

Wieder Park um mich her: linkerhand bis zum Seeufer, rechts in seiner Gestaltung dem „Englischen Garten“ in München nicht unähnlich. Immer wieder spähe ich übers Wasser zum südlichen Seeende hin. Das sollte nun, da der Kilometerzähler die „20“ schon deutlich überschritten hat, nicht mehr weit entfernt sein. Doch immer wieder Wendungen des Weges, der sich inzwischen abseits des Sees zwischen Feuchtwiesen erstreckt. Hohes Schilf verwehrt zuweilen den Blick zum Wasser und so nähere ich mich dem Südufer ohne direkte Sicht. Die ist mir erst nach etwa 25 Kilometern vergönnt. Mithin schon nach der Hälfte der Gesamtdistanz und doch scheint die Gemeinde „Seeshaupt“ noch weit entfernt. Eines der großen, auf dem See verkehrenden Fahrgastschiffe legt dort gerade an …

Wenn der Rundkurs überhaupt dröge Kilometer aufweist, dann sind es diese drei in Seeshaupt. Fast beständig an der Durchgangsstraße entlang, nur ausnahmsweise mit Seeblick und ständig rumpeln Autos vorbei. Umso dankbarer biege ich hinter Seeshaupt, nach gut 29 Kilometern, nordwärts ab und folge fortan dem Ostufer. Für eine Weile bewege ich mich durch ufernahen Wald, ohne Sichtkontakt zum See. Als ich den wiedererlange hat Petrus seine Windmaschine um etliche Stufen höher geschaltet. Ich bin nicht vom Schlage wettergegerbter Friesen, die solche Windverhältnisse eher mit einem verächtlichen Schulterzucken quittieren würden. Für mich ist fast schon Sturm, was da bläst. Wirklich gewaltig bläst, so dass die Flugbahn fallender Tropfen nun mehr horizontale als vertikale Anteile aufweist. Wenn ich - zum Schutz der Brillengläser vorm Tropfenbombardement - die Schildkappe aufsetze, droht sie mir mehr als einmal davonzufliegen.

Für einen bayerischen Binnensee bemerkenswerte Brecher rollen am Ufer aus. Wie schaffen es eigentlich die Wind- und Kitesurfer da draußen sich gegen Dünung und böigen Wind auf ihren Brettern zu behaupten? In der nächsten halben Stunde sammele ich Antworten auf diese Frage: Sie schaffen es bei stärker werdendem Wind zunehmend weniger! Zuletzt setzt eine Art Flucht vom Wasser in Richtung Land ein, werden Bretter und Kitesegel in Sicherheit gebracht. Einer der neopren-häutigen Wasserenthusiasten hechelt vom Ufer kommend hinter seinem Kiteschirm her. Hat nur Augen für den vom Wind geblähten Schirm hoch droben, versucht ihn zu seinem Lagerplatz zu lenken, dabei zu verhindern, dass sich das Segel in einem der vielen Bäume verfängt … Nur knapp und durch kurzes Abstoppen entgehe ich einer Kollision mit dem Froschmann …

Weiter am Ufer entlang, Kilometer um Kilometer, die ich mir längst erkämpfen muss. Ich hatte gehofft durch strikte Tempobeschränkung, durch „gemütliches Vor-mich-hin-Tippeln“, heute einigermaßen ungeschoren mein 50-km-Abenteuer abschließen zu dürfen. Entweder habe ich mal wieder keinen der besseren Tage erwischt oder der Trail im Schwarzwald lässt noch grüßen. Bei Kilometer 38 empfängt mein Dreamteam „Ines und Roxi“ jedenfalls einen schon reichlich abgehalfterten „Krieger“. Trinken, aufbauende Worte und ein Lächeln entgegen nehmen, dann weiter … Auf den zweieinhalb folgenden Kilometern, bis sich meine Frau nach kurzer Trennung meiner ein zweites Mal erbarmt, bewegt mich nur ein relevanter Gedanke: Es wäre an der Zeit das Training für heute einzustellen, um meine Chancen für Berlin zu verbessern! - Natürlich unmöglich so ein Ansinnen. Wie könnte ich den Lauf nun beenden und ohne „bescheinigten Ultraerfolg“ nach Hause fahren?

„Berg“ fehlt noch in meiner Rundweg-Sammlung. Nicht ein Berg, auch nicht der Berg, sondern die Ortschaft „Berg“. Im dortigen Schloss pflegte König Ludwig II., der Märchenkönig, zu logieren. Und in Schloss Berg hatte man Ludwig II. samt Leibarzt Dr. von Gudden im Jahre 1886 nach seiner Entmündigung interniert. Von dort brach er am 13. Juni, am Pfingstsonntag, in der Obhut seines Arztes zu einem Abendspaziergang auf … In der Nacht fanden Suchtrupps die Leiche des Königs und seines Arztes im See treibend. Niemand weiß, was wirklich geschah. Heute würde man es so formulieren: Verschwörungstheorien ranken sich um den Tod des Königs. Von Mord über Selbstmord bis Unfall wurden diverse Theorien seither ausgesponnen. Wirkliche Klarheit gab es nie … Am Ort des schauerlichen Vorfalls, wo man den König tot im See treibend vorfand, steht heute eine Kapelle. Und hinter dieser Kapelle stehe nun ich, staunend und im Regen. Staunend, weil „Kapelle“ eigentlich ein kleines Kirchlein meint. Diese Kapelle erreicht aber zumindest die Höhe einer ausgewachsenen Kirche, wenn nicht gar eines Doms. Sichtbares Zeichen für das Maß an Verehrung, das man dem unbegreiflichen Märchenkönig seinerzeit entgegenbrachte.

Der Rest ist Regen. Nicht mehr nur gelegentliches Tröpfeln. Nein, jetzt Dauerregen. Also trete ich lustlos die letzten drei, vier Kilometer mit Füßen. Nähere mich Starnberg und registriere ein Maß an Schmerzen im Kreuz und in meiner Gesäßmuskulatur, das mir auf der Stirn nicht nur Schweiß- und Regentropfen beschert, sondern auch noch Sorgenfalten. Zu lang, zu weit - nun scheint sicher, wovor ich mich im Vorfeld fürchtete. Weswegen ich mal rund um den Starnberger See laufen wollte und dann wieder nicht … laufen oder nicht laufen, lange erwogen. Dann doch angetreten. Ich will in Berlin über 160 km weit laufen. In sechs Tagen. Und so einen der legendären Throne des Ultralaufsports besteigen. Mir also selbst zum vierten - und wahrscheinlich letzten Mal - die 100-Meilen-Krone von Berlin aufsetzen. Sollte es schief- und der König bei diesem Versuch untergehen, dann liebe Leser setzt keine Verschwörungstheorie in die Welt. Es wird nicht Mord, sondern zweifelsfrei Selbstmord gewesen sein. Ein Suizid schon heute begangen, rund um den Starnberger See …

Die letzten Kilometer verbringe ich in strömendem Regen, schlage Haken um Pfützen und sehne mich einzig nach dem Ende der Runde. Vor diesem Ende erwarten mich noch zwei steile Treppenaufgänge zu Brücken. Ich steppe hinan, gehen geht nicht. Wenn schon untergehen, dann mit Würde. Zuletzt noch ums Starnberger Hallenbad herum und endlich decken sich Start- und Zielort. Ich stoppe meine Uhr nach 6:24:13 Stunden, der Distanzzähler zeigt 50,79 Kilometer.

 

Fazit zur Veranstaltung

Wie stets hat sich Andreas Bettingen auch diesmal eine wunderschöne Runde für seine Veranstaltung ausgesucht. Die Runde hätte mehr als fünf Finisher und vor allem besseres Wetter verdient gehabt.

Zur Selbstversorgung: Vielerorts rund um den See ist die Ergänzung der Wasservorräte möglich. In öffentlichen Toiletten an Waschbecken, Kiosken oder Gaststätten.

Der Kurs ist nicht völlig flach, im Hinblick auf Höhenmeter - 330 gesamt - dennoch relativ anspruchslos.

Fazit: Wenn wieder veranstaltet, bin ich gerne ein weiteres Mal dabei.