1. Juli 2023
37°Celsius beträgt die höchste angezeigte Temperatur auf der Fahrt nach Bretten im Kraichgau. Nicht überraschend, da vorhergesagt. Der Wert beunruhigt mich auch nicht. Hitzeresistenz halte ich mir zugute, außerdem habe ich vorgesorgt. Seit dem ersten und einzigen Mal beim Spartathlon 2016 kam sie nicht mehr zum Einsatz. Heute wäre ich bereit mich ihrer zu bedienen. Zumindest in den ersten zwei Stunden, denn der Start wird erst um 17:45 Uhr erfolgen. Später, wenn die Sonne tiefer steht, sollte es auch ohne Windel gehen. Dauerfeucht gehalten und unter einer Schildkappe festgeklemmt half mir das „Accessoire“ seinerzeit in Griechenland einen kühlen Kopf zu bewahren - bei Temperaturen knapp über 30°C an zwei Tagen nacheinander. Bilder im Laufbericht von 2016 lassen mich in solcher Maskerade einigermaßen lächerlich wirken. Karikatur eines Beduinen ist noch der netteste Gedanke, der mir beim nachträglichen Betrachten meines Konterfeis in den Sinn kam. Aber die Maskierung erfüllte ihren Zweck, und der Zweck heiligt auch dieses Mittel …
… das dann gar nicht zum Einsatz kommt. Bei der Ankunft in Bretten hängt graues Gewölk am Himmel. Es sieht eher nach Gewitter, zumindest aber baldigem Regen aus, denn nach Sonne. Schwüle 31°C zwar noch, dennoch bleibt die Windel in der Lauftasche. Schon beim Umziehen in der Sporthalle
überzieht sich die Haut mit einem Schweißfilm. Die Kompressionsstulpen überzustreifen ist schon unter normalen Umständen mit Kraftaufwand verbunden. Sie auf schweißfeuchten Waden in Position zu zurren artet zum athletischen Dressurakt aus.
Zehn Minuten vor der Zeit stehe ich mit Reinhold, Jürgen und Cornelius auf der Laufbahn zusammen. Man(-n) redet, was man(-n) allenthalben so redet, kurz bevor der Ritt beginnt; entbietet sich schlussendlich gutes Gelingen und Spaß dabei, dann ist jeder mit seinen Gedanken allein. Ich habe meine Erwartungen an die kommenden, mutmaßlich deutlich über sechs Stunden auf Minimum zurückgeschraubt. Im heute 350. Marathon und weiter, will ich ankommen und dabei nach Möglichkeit keine Katastrophe, gleich welcher Art, erleben müssen. Der „Überlebenskampf“ vor zwei Wochen, beim Thüringen Ultra, bedrückt mich noch immer. Und vielleicht steckt er ja auch noch in den Knochen, obschon ich seither kürzertrat. Andererseits sind 52 Kilometer ebenso „überschaubar“ wie die Hügel des Kraichgaus, die sich unter meinen Sohlen auf knapp 900 Höhenmeter summieren werden. Auf überwiegend Asphalt eine Belastung, der ich auf voller Distanz laufend gewachsen sein müsste.
Auf diese Weise könnte ich (vor mir selbst) die Schmach in Thüringen „tilgen“. Sollte der Lauf heute misslingen … Ach, besser gar nicht erst in diese Richtung spekulieren.
Übertrieben laut und großspurig bereitet uns der Sprecher auf den Start vor. Den Leuten vom TV Bretten 1846 lasse ich durchgehen, worüber ich mich anderswo mokieren würde. Seit Stunden moderiert der Mann Kinderläufe und dafür passte der Ton. Vermutlich hält er Weib- und Männlein, die verrückt genug sind in tropischem Klima Ultra zu laufen, auch für ewige Kinder. Womit er möglicherweise sogar Recht hat … Und gerne nehme ich ihm ab, dass die aus Westen aufziehende, sich zur Stunde bereits in Höhe Heidelberg austobende Gewitterfront Bretten nicht heimsuchen wird. Woher er sein meteorologisches Orakel bezieht, weiß ich nicht. Ist mir auch gleichgültig, wenn er nur trefflich weissagt! Die Wetterentwicklung der letzten Viertelstunde scheint ihm Recht zu geben: Minute um Minute schiebt Petrus das graue Wolkenverdeck weiter in Richtung Osten und legt einen strahlend
blauen Himmel frei. Vielleicht hätte ich doch noch schnell die Windel … na ja, nicht überstreifen, aber wenigstens in den Laufrucksack packen sollen? Wiegt ja nix und wer weiß, wie mir die Sonne draußen vor der Stadt das Hirn ansengen wird.
Anderthalb Kilometer, dann liegen Stadt und ein erster erträglicher Anstieg hinter mir. Und ja, sie sengt gewaltig meine strahlende Freundin da oben. Alle Schleusen stehen offen und ich wische wahre Fluten an Schweiß von meiner Stirn. Einerlei, ich komme klar. Das in warmen Sommerfarben leuchtende, von Landwirtschaft geprägte Panorama des Brettener Umlands entschädigt für alle Schweiß- und Kraftopfer. Erste Meldungen aus dem
„Maschinenraum“, auf die ich aber noch nichts gebe, tendieren zu „volle Kraft voraus“. Wie in meinem „M70-Dasein“ letzthin zur Gewohnheit geworden, krebse ich am Ende des Feldes einher. Devise: Von Beginn an Tempo rausnehmen, verhalten laufen, aber eben laufen. Alles laufen und die anderen um mich her, von denen fast alle im Anstieg gehen, ignorieren.
Ich wische eifrig Schweiß, genieße die reizvollen Ausblicke und bin rundum zufrieden. Nach 6,5 Kilometern der erste Versorgungspunkt. Den mitgeführten Wasservorrat habe ich noch nicht angerührt, kippe dafür nun Becher um Becher vor der Theke stehend in mich rein. Cola, weil sie so schön
prickelt und Zucker enthält, schnödes Wasser zum Verdünnen hinterher. Prallen Bauches weiter durch die Ortschaft, da und dort von gut restaurierten Fachwerkhäusern beeindruckt. Ich kenne die Strecke relativ gut, nehme sie heute zum vierten Mal unter die Füße. Was „relativ gut“ bedeutet, werde ich sehen. Zumindest weiß ich, dass mich hinterm Dorf herrliche Ansichten erwarten - sobald ich den ersten steilen Anstieg, etwa 300 Meter auf Asphalt hinter mir habe.
Ich schwör’s euch: Als ich zum letzten Mal hier war, im Pandemiejahr 2020, war diese Rampe noch nicht so steil! Heute bringt sie Poren-Förderleistung, Schlagfrequenz der Blutpumpe und Lungenhub mächtig auf Touren. Aber nicht grenzwertig, was mich der nahen Laufzukunft optimistisch entgegen tippeln lässt. Unterhalten dabei von den jetzt erwartet wunderschönen Ausblicken, über goldgelbe, mit grüner Paspelierung abgesetzten Kraichgauer Höhen. Getreidefelder leuchten im Licht des frühen Abends. Vielfach auch nur noch mit Stoppeln, wo der Mähdrescher des Bauern Lohn
bereits einbrachte. Wie dreimal zuvor gelingen mir „hübsche“ Fotos, weil ich wieder das Glück genieße bei Sonnenschein hier vorbeizukommen. Die ganze Schönheit des sich ständig wandelnden Panoramas vermögen diese Aufnahmen jedoch nicht wiederzugeben. Wer gerne durch Landschaften läuft, sollte sich eine Teilnahme beim Night52 nicht entgehen lassen; sich dafür aber einen Sommertag unter blauem Himmel aussuchen …
Ich genieße den Lauf. Das ist bemerkenswert, weil ich diesen Satz in diesem Jahr noch nicht so häufig in meine Tastatur tippen durfte. Da war viel Kampf und Krampf, um wieder in Form zu kommen und meine Reichweite zu verlängern. In den letzten Wochen auch Frust, weil mein Körper gesteigerten Laufaufwand nicht wie gewohnt in bleibenden Ausdauergewinn umzusetzen bereit war. Nun liegen bereits zehn Kilometer hinter mir, überwiegend hügelan, und alle Körperampeln stehen trotz Hitze und erbarmungslos brennender Sonne auf Grün. Im Wald, in Höhe eines Sportplatzes, wird Wasser angeboten. Die „Tränke“ war nicht angekündigt, umso dankbarer befülle ich meinen Magen reichlich und lasse den mitgeführten Vorrat weiter
unangetastet. Tendenziell immer weiter hinan, was sich, wie ich weiß, erst kurz vorm Ort Bauschlott - was für ein merkwürdiger Ortsname - ins Gegenteil verkehren wird.
Zweiter offizieller Verpflegungspunkt nach ungefähr vierzehneinhalb Kilometern in Bauschlott: Ich habe Durst, wenngleich die Sonne mittlerweile so tief steht, dass sie mich selten erreicht und nicht mehr „austrocknet“. In schwülwarmer Luft rinnt der Schweiß dennoch beständig. Ich nasche ein erstes, vom Veranstalter angebotenes Gel. Boaah!, was für eine eklige Konsistenz: halbfest glibberig - deutlicher möchte ich meine Abneigung nicht in Worte fassen. Die Paste dieses Herstellers wurde mir schon
mehrfach als superverträglich von Bekannten ans Herz - pardon: an den Magen - gelegt. Verträglich vielleicht, für mein Empfinden aber extrem widerwärtig im „Genuss“. Danke und ab, einstweilen weitgehend flach zwischen Feldern und Wiesen, bald moderat talabwärts laufend voran. Was folgt, steht mir jeweils vorab schon vor Augen. Zum Beispiel der Fischweiher, in den ich 2018 Roxi kurz eintauchen ließ, um sie abzukühlen. Mit schlechtem Gewissen, weil mir klar war, dass Hunde in solchen Gewässern ungern gesehen werden. Half aber nix, denn auch damals war’s warm und die Sonne heizte meine schwarzfellige Begleiterin zusätzlich auf.
Vorbei am Weiher, dem Tal weiter folgen, abwärts etwas Tempo machen. Diese für mich vierte Auflage des Night52 Ultra verbringe ich schon jetzt überwiegend als Solist. Weit und breit keines Läufers Nase zu sehen … Offenbar dümple ich weit hinten durchs ausgedünnte letzte Viertel oder
Fünftel des Feldes. Ich biege auf einen anderen Radweg ab und nur einen Wimpernschlag später zischt ein Radfahrer haarscharf an mir vorbei. Wo kam der so plötzlich her? „Ach so!“ meint der Mann lapidar und bemüht witzig „Klingeln vergessen!“ Zehn Meter weiter hat er seinen Drahtesel gestoppt und will wissen, wieso ich mit Startnummer rumrenne …
Wolkenschleier am Himmel halten die Abendsonne in Schach. Hier im Taleinschnitt hat es bereits merklich abgekühlt - vielen wahrscheinlich noch immer zu warm, für mich ein überaus angenehmes Klima. Ich komme flott und ohne Schwierigkeiten voran. Abgesehen von einem Monstertrecker mit Monsteranhänger, der auf mich zurast als lenkte das Mensch gewordenen Böse die Maschine, um Jagd Läufer zu machen, scheint nichts meinen „350sten“ zu gefährden. Für diesen Erfolg will und muss ich allerdings unter maximal zugestandenen sieben Stunden finishen. Darf folglich grob gerechnet nicht mehr als 1:20 Stunden pro 10 km brauchen. Bislang vermied ich den Blick zur Uhr, bin aber sicher diese Marge nicht mal annähernd ausgereizt zu haben. Erst der lange Aufstieg bis Bauschlott, danach eine ziemliche Weile bergab, zeitliche Nach- und Vorteile dürften sich inzwischen
gegeneinander aufheben. Am einstweilen tiefsten Punkt, nach 20 Kilometern, nehme ich die Zeit: 2:24 Stunden sind um. Also gut eine Viertelstunde dem rechnerischen Maximum voraus - beruhigend!
Auf dem Damm des kleinen Stausees sitzen wie in jedem Jahr Angler. Zwischen Büschen bekommt man sie erst auf den jeweils letzten Metern zu sehen. „Petri Heil“ möchte man jenem zurufen, der am Ufer gerade mit einem Käscher hantiert, in dem ein Flossenträger zappelt. Mein Beutezug gilt nicht den Fischen, in meinem „Käscher“ verfangen sich lediglich ein paar in der Bewegung geschossene Fotos … Am Ende des Damms parkt ein Auto, Heckklappe offen. Eine ältere Frau, an der ich vorhin schon irgendwo vorbei trabte, macht mir ein Angebot. Da ich nicht verstehe, was sie offeriert,
auch nichts Genaues erkennen kann, lehne ich dankend ab. Ich unterstelle, dass sie auf ihren mitlaufenden Mann wartet. Eine Vermutung, die nicht zu ihrer Frage passt: „Wie viele kommen denn noch?“ - „Ich weiß es nicht genau, aber schon noch einige!“ lasse ich sie wissen und bin auch schon vorbei …
Bin vorbei und jogge nach langer Verschnaufpause, in der ich fast ausschließlich abschüssig, zuletzt einen Kilometer auf flachem Asphalt unterwegs war, prompt in der nächsten Steigung. Wird das jetzt zur Regel, dass mir alle Steigungen steiler vorkommen, als ich sie in Erinnerung habe? Ich nehme die Rampe zum Anlass mir ein Gel einzuverleiben und mit Wasser aus meiner Flasche nachzuspülen. Das Ganze gehend, um mich nicht mit süßem „Klebstoff“ zu bekleckern. Zumindest rede ich mir das als Grund ein und gewinne mit dem Manöver vielleicht 30 Meter ansteigende Piste. Danach wieder antraben - einerseits Pflicht, gleichzeitig auch als Test. Test erfolgreich bestanden: Es fällt mir nach fast 21 Kilometern immer noch leicht am Berg in Laufschritte zu fallen, eine weitere „Beruhigungspille“. Man kann es aber auch so sehen: Vorhin stellte ich Berechnungen an, um den Zielschluss nicht zu überschreiten. Und nun teste ich meine körperliche Verfassung - beides Zeichen von Verunsicherung nach zuletzt beunruhigend miesen Laufleistungen.
Hinterm Buckel abwärts und für einen Kilometer durch erfrischend kühlen Wald. Anschließend parallel zu und in Hör-, bisweilen auch Sichtweite, einer viel befahrenen Straße. Hab ich so erwartet, sogar noch ein Foto im Kopf, das ich übers Land, gegen die tiefstehende, von Schichtwolken umflorte Sonne schoss. Ein ähnlicher Anblick ist mir heute beschieden, was mich einigermaßen verwirrt. Bin doch heute langsamer unterwegs - wie kann dann die Sonne ähnlich hoch stehen wie seinerzeit?*
*) 2018 war ich auf identischer Strecke mit unserer Hündin Roxi unterwegs. Sie zu versorgen, insbesondere an den Weihern/Seen jeweils zum Bad zu animieren, verzögerte meinen Lauf. Ich war seinerzeit ungefähr gleich langsam unterwegs wie heute. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.
Nächster VP in Knittlingen. Ich würge noch ein weiteres, der vom Veranstalter angebotenen Ekelgels runter und spüle mit Flüssigkeit reichlich nach. Zeitverlust: allenfalls eine Minute. Gehend den letzten Becher austrinken und nun quer durch die Ortschaft. Noch innerorts steigt die Route gehörig an. Da und dort erreicht mich Applaus aus Vorgärten. Ein radelnder Junge schließt zu mir auf: „Entschuldigung!“ spricht er mich halblaut an „Können sie mir bitte sagen, warum so viele Leute mit Startnummer unterwegs sind?“ Ich bin beeindruckt, wie dezent und gewählt sich der vielleicht 11, 12 Jahre alte Junge auszudrücken versteht und gebe ihm gerne Auskunft … Anschließend weiter zwischen Feldern und Wiesen, sanft bergan. Die Sonne kann noch nicht untergegangen sein, obwohl bereits eine irgendwie seltsam anmutende „Dämmerung“ überm Land Einzug gehalten hat. Bislang achtete ich kaum darauf,
was am Himmel vor sich ging. Richtung Westen, so weit ich das einschätzen kann noch weit entfernt, braut sich was zusammen. Das „Düstere“ möge dort im Westen bleiben und mich verschonen, flehe ich inbrünstig. Reicht schon, dass mir die Front durch vorgeschobene Wolkenschleier die Abendsonne raubt.
Und das ausgerechnet auf einer der schönsten Passagen, die in meiner Erinnerung wundervolle, von der untergehenden Sonne rotgold getünchte Bilder hinterließ. Heute bleiben die Eindrücke stumpf, dokumentiere ich die Route fotografisch eher „lustlos“. Ich behalte den GPS-Zähler im Blick, will die „26“ nicht verpassen, lese dann nach halber Distanz rund 3:09 Stunden ab. Natürlich verdopple ich nicht blauäugig auf „6:18“ als mögliche Endzeit.
Die äußeren Bedingungen haben sich zwar verbessert, dafür werden mich zunehmend innere Widerstände am Fortkommen hindern. Erfreulich immerhin, dass ich von diesen Widerständen derzeit noch rein gar nichts spüre. Unter 6:30 Stunden zu finishen scheint unter diesen Umständen nicht unrealistisch …
Von hinten wetzen zwei Läufer heran. Junge Kerle, vermutlich als Staffelläufer unterwegs. Dennoch ein „doofes“ Gefühl, wenn nach halber Strecke zwei an dir vorbeizischen als hättest du dich wie zuletzt die Klimaaktivisten auf der Strecke festgeklebt … Zwei junge Mädels jubeln ihnen zu, die ich zu Beginn als Teilnehmerinnen im Feld ausmachte und nach vier Kilometern überholte. In einem nahezu flachen Abschnitt der Strecke mussten sie bereits gehen, hatten ihr Pulver offensichtlich schon verschossen. Kein Wunder, dass die „Ablösung“ mich erst jetzt überholt und nun den nächsten Hang erstürmt, dem Wald entgegen. Ich folge gemessenen Schrittes und fühle mich von der Anstrengung zum ersten Mal „angefasst“. Entsprechend verhalten trabe ich durch den Wald, in dem der Weg nun steiler ansteigt. Steiler und deutlich länger als in meiner Erinnerung …
Der Wald endet vor dem nächsten kleinen, aufgestauten Weiher. Auch hier nahm Roxi 2018 ein Bad. Vorbei am Weiher und nun unterhalb von Weingärten sanft bergan. Wie in den Vorjahren bin ich nicht in der Lage die Weinbauregion zu bezeichnen. Heute werde ich auch keine perspektivisch attraktiven Fotos von steil ansteigenden, dicht an dicht mit Reben bepflanzten Hängen mitnehmen können. Zumindest keine, die im Abendlicht für sich werben. Dazu
ist die Dämmerung schon zu weit fortgeschritten. Ich höre erstes Donnergrollen … sehe nur Minuten später in entfernten Wolken auch das von Blitzen ausgehende Wetterleuchten. Schräg hinter mir zieht ein Gewitter auf. Nachdem ich am Weinberg Höhe und damit auch an Weitblick gewonnen habe, mache ich ein zweites Gewitter seitlich von mir aus. Erste Tropfen klatschen auf den Asphalt. Ich krame meine Schildkappe aus dem Rucksack und setze sie auf. Die Brille muss trocken bleiben, beeinträchtigte Sicht kann ich mir bei hereinbrechender Dunkelheit nicht leisten …
Noch hoffe ich von den Naturgewalten verschont zu werden. Im Grunde gegen besseres Wissen. Das sind nicht einfach Wärmegewitter. Was da heranrückt ist eine Kaltfront, die schon heute Morgen im Westen Deutschlands für ergiebige Niederschläge sorgte. Und doch: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Dass die
Tropfen wieder versiegen, nachdem ich den Höhenrücken erklommen habe, lässt wieder Zuversicht aufflackern. Vielleicht komme ich ja doch ungeschoren davon!?
Wieder abwärts nun, zunächst mit wenig Gefälle, nach dem Abbiegen aber ziemlich brachial. 31 Kilometer liegen hinter mir. „Unten“ angekommen biege ich scharf rechts ab und finde mich erneut in einer Steigung wieder. Nicht überraschend, ich kenne auch diese Abschnitte des Weges hinreichend genau. Wie ich auch weiß, dass die Steigung hinter der nächsten Kurve mächtig zunehmen wird. Also vorsorglich verhalten einher tippeln … Die Gewitter rücken unterdessen immer näher heran. Blitz und Donner trennen nur noch wenige Sekunden. Wieder beginnt es zu Tröpfeln, wieder setze ich die Schildkappe auf. Kämpfe mich auf nun steilem, weitgehend verdunkeltem Asphalt bergan. Hindernisse könnte ich noch ausmachen, daher stelle ich das Anlegen der Stirnlampe noch zurück. Ein „offizieller“ Radler holt auf, überholt und fragt: „Alles gut?“ - Am Steilhang um Luft ringend bleibe ich stumm. Wiederholt der Mensch doch seine Frage - „Alles gut?“ - und zu schlechter Letzt auch noch mit Nachdruck
um Antwort heischend zum dritten Mal: „Geht’s dir gut?“ - Wie wenig Sportverstand muss man haben, um einen hörbar schwer atmenden, trotzdem laufenden (!) Wettkämpfer, nach mehr als 31 Kilometern, in „sausteilem“ Aufstieg zu fragen, ob „alles gut“ ist. Ich habe nicht wenig Lust, dafür aber keine Puste, ihm eine Gegenfrage „überzubraten“: Ob er noch recht bei Trost ist, unter solchen Umständen eine offensichtlich überflüssige Frage zu stellen und auf einer Antwort zu bestehen? - Um ihn endlich loszuwerden, quetsche ich ein ersterbendes „Ja“ zwischen den Zähnen hervor.
Während Blitz und Donner dem tippelnden Menschlein zürnen, kämpft es sich weitere zwei, drei Minuten im Dunkeln hinan. Dann habe ich die Kuppe genommen und steuere durchatmend abwärts aufs Dorf Grossvillars zu. Tropfen fallen nun dichter, Blitze zucken häufiger, ohrenbetäubender Donner beginnt mich zu beeindrucken. Als ich die Ortsgrenze überschreite schicken mich tagsüber leuchtend hellgrüne, im Beinahedunkel nun fahle Richtungspfeile nach rechts: Streckenänderung! In einer der Ortschaften - so hieß es bei der Einweisung* - fände ein Dorffest statt, man habe sich deshalb für eine Umleitung entschieden. Ab hier keine Streckenkenntnis mehr, also peinlich genau auf Pfeile achten!
*) Ich weiß von der Streckenänderung, weil Cornelius mich vorm Start kurz informierte. Die Einweisung selbst verpasste ich infolge Schusseligkeit.
Die Straßen in Grossvillars sind beleuchtet, folglich noch immer keine Veranlassung die Stirnlampe rauszukramen. Dazu muss ich das hintere Reißverschlussfach öffnen, also stehenbleiben und den Rucksack ablegen - nur Houdini brächte das Kunststück fertig der Lampe in der Bewegung habhaft zu werden. Während ich noch den geeigneten Zeitpunkt für einen Stirnlampenstopp erwäge - vielleicht am VP, hier irgendwo im Ort? - wechselt das meteorologische Pferd sprunghaft die Gangart, fällt in verhaltenen Galopp. Aus bisher dicht an dicht einschlagenden Tropfen wird ergiebiger Regen, Blitz und Donner ereilen mich nun zeitgleich. Sekunden später erspähe ich den weit vorkragenden Holzbalkon eines Wohnhauses. Kein Zaun oder Türchen, das mein Eindringen verhindern könnte. Vielleicht sollte ich dort im Trockenen die Stirnlampe aufsetzen und abwarten, wie sich Regen und Gewitter entwickeln? Es ist nur ein Gedanke. Allenfalls drei Schritte vollende ich, um ihn zu denken. Drei Schritte bis zum Beginn des Weltuntergangs. Kübelweise Wasser ergießt sich ab jetzt auf jeden Quadratzentimeter Welt. Mein Obdach erweist sich als vortrefflich „gewählt“. Der Balkon über mir füllt eine Ecke des Wohnhauses aus, in deren Tiefe mich Wind und Wolkenbruch nicht erwischen. Rasch krame ich die Stirnlampe raus und streife den Rucksack wieder über. Zugleich ungläubig und zweifelnd schwenkt mein Blick zwischen Asphalt und Lichtkegel einer Straßenlaterne hin und her. Jetzt da raus? Im Gefälle der Straße gurgeln Sturzfluten vorbei und im Schein der Laterne verfängt sich mein Blick im undurchdringlichen Regenvorhang. Liefe ich jetzt weiter, stünde Sekunden später das Wasser in meinen Schuhen. Ich wäre nass bis auf die Haut und wer weiß, ob ich mich im Wolkenbruch korrekt orientieren könnte …
Während ich stehe und die Laufuhr befrage, wie lange ich hier abwarten kann, ohne den Zielschluss zu überschreiten, trotten mehrere begossene Pudel vorbei. Auch Reinhold ist dabei. Wasser trieft an ihm herab, um seine Füße herum spritzen Fontänen. Ich sehe mich in meinem Entschluss bestätigt das Abebben des Gewittersturms im Trockenen abzuwarten … Die Uhr steht bei 4:05 Stunden, GPS meldet ca. 33 Kilometer. Also bleiben mir knapp drei Stunden für die restlichen 19 Kilometer. Ausreichend Puffer, den ich jetzt nutze. Sch… auf die Laufzeit, wichtiger ist im „Jubiläumslauf“ ohne wirkliche Schwierigkeiten anzukommen. Und Schwierigkeiten wären mutmaßlich die Folge, wagte ich mich „da raus“. Im Starkregen war ich noch nie unterwegs und 19 Kilometer Rest sind nicht eben wenig …
Immer wieder spähe ich ungeduldig zum Lichtkegel der Laterne hin, während auf der Straße weitere klatschnass triefende Gestalten m/w/d vorbeiplatschen. Sie nehmen mich in der hinteren Ecke meines Obdachs nicht wahr … Hinter mir rattert der Rolladen des erleuchteten Küchenfensters runter. Alle Luken dichtmachen! Ob die Dame des Hauses den Schutz suchenden Eindringling vorm Fenster bemerkt hat? Ich erwarte, dass die Frau jeden Moment in der Haustür erscheint. Doch entweder wurde ich nicht entdeckt oder man duldet mein „berechtigtes Anliegen“. Minuten verstreichen, der Wasserfall pladdert ungebremst hernieder, spannt meinen Geduldsfaden … Wann wird der reißen? Wann werde ich das ungenutzte Verstreichen von Wettkampfzeit nicht länger ertragen?
Volle zehn Minuten vergehen bis der Regen nachlässt und auf ein erträgliches Maß zurückgeht. Ich schalte die Lampe ein und wage mich aus meinem Unterschlupf hervor. Mist! Ganz großer Mist! Noch nie musste ich Stirnlampe und Schildkappe miteinander kombinieren. Und rasch stelle ich fest, dass das ebenso unmöglich ist wie die sprichwörtliche Quadratur des Kreises. Erste Version: Stirnlampe unterm Schild der Kappe. Ergebnis: der Kappenschirm reflektiert das Licht, wirft es in meine Brillengläser. Von greller Helligkeit geblendet tappe ich blind durch Pfützen. Zweite Version: Schild tiefer in die Stirn, Lampe oberhalb des Schilds montieren. Ergebnis: Der Schirm hält die entscheidenden drei Meter vor meinen Füßen im Dunkeln.
Einstweilen lasse ich es dabei, Straßenlaternen leuchten die Straße hell genug aus. Ich hoffe nur, dass die mit Sprühkreide ausgebrachten Richtungspfeile nicht weggespült wurden … Zumindest diese Sorge ist unbegründet, ich finde die Route mühelos. Überall steht Wasser, ich tappe durch Pfützen auf welligem Straßenbelag. Noch regnet es verhalten, was mich aber nicht stört. Keinen halben Kilometer später setzt jedoch die Sturzflut wieder ein. Fieberhaft fahnde ich nach einem neuen
Unterschlupf, stelle mich schließlich unter einen Dachvorsprung und presse den Rücken an ein Garagentor. Auch hier bin ich vorm anschwellenden Regen geschützt.
Stehen und Warten, was bleibt mir auch anderes übrig. Jetzt weiterlaufen bedeutete die zehn Minuten vorhin nutzlos „geopfert“ zu haben. Ich blicke in den Himmel und mache vor der Restdämmerung am klaren Abendhimmel auf mich zufliegende Wolkenfetzen aus. Bald wird das Unwetter vorbei sein! Also abwarten!
Nach fünf Minuten, ebenso abrupt wie der Guss begann, dreht Petrus die Dusche ab. Im versiegenden Regen breche ich auf, nur wenige Schritte später kein Tropfen mehr von oben. Ich platsche durch die Straßen des Dorfes bis ich vor den verwaisten Biertischen am Versorgungspunkt stehe. Dessen Mannschaft evakuierte die Labsal und sich selbst kurzerhand ins Foyer der dahinter gelegenen Schule. Als ich ihrer Einladung folge und eintrete, schlägt mir schwülwarme, feuchte Luft entgegen. Ähnlich fühlte es sich im südamerikanischen Dschungel an und auch im Gewächshaus des botanischen Gartens in Augsburg, wo Tropenpflanzen bestens gedeihen.
Die „Masse Mensch“ macht hier das Klima. 20 oder noch mehr feuchte Läufer stehen rum, diskutieren. „Ich breche hier ab!“ höre ich eine Läuferin sagen, während ich mich verpflege, eine weitere schließt sich an.* Ich beeile mich abschließend noch meine Trinkflasche aufzufüllen und fliehe ins Freie. Eine Gruppe von fünf, sechs Läufern bricht kurz vor mir auf. Draußen und in frischer Luft durchschnaufend beglückwünsche mich zum Entschluss vor den tosenden Elementen Schutz gesucht zu haben. Meine Füße sind zwar auch feucht, schwimmen aber nicht in den Schuhen. 18 Kilometer werde ich damit ohne Schwierigkeiten schaffen. Wundlaufen werde ich mich auch nicht, die Hüftpartie ist zwar schweißfeucht aber eben nicht triefnass. Also alles paletti!
*) Von rund hundert gestarteten Läufern erreichen nur gut 70 das Ziel. Die übrigen gaben auf oder kamen zu spät ins Ziel. Meine Entscheidung mich unterzustellen und abzuwarten bewerte ich auch nachträglich als goldrichtig.
Die Sturmfront ist durch, alles wird gut. Stirnlampe an und los … Rasch verliere ich Anschluss an die Gruppe, halte dafür Kontakt zu einer Nachzüglerin. Vier Augen sehen mehr als zwei, auch wenn mir die Strecke nun wieder bekannt ist. Hinterm Dorf stückweit hinab, dann mehr oder weniger geradeaus im Talgrund, parallel zu einem
Bach*. Tiefe wegbreite Pfützen müssen mehrmals am Rand umgangen werden. Meistens bemerke ich sie im Lampenlicht rechtzeitig, nasse Füße lassen sich aber nicht vermeiden. Eine Gruppe Radfahrer überholt, verschwindet voraus in der Dunkelheit. Das kurz darauf durch die Nacht gellende Kreischen einer der Radlerinnen bereitet mich auf den nächsten „See“ vor. Wieder am Rand durchs nasse Gras und zurück auf den Asphalt. Ich komme trotzdem gut voran, spüre zu meiner Freude auf diesem Abschnitt keinerlei Ermüdung. Ich führe es auf die Zwangspausen zurück, die meinen Beinen etwas Erholung gönnten.
*) Nichts von alledem kann ich zu diesem Zeitpunkt sehen, kenne die Details u.a. vom letzten Night52, der im Pandemiejahr 2020 zwei Stunden früher gestartet wurde.
Meine „Begleiterin“ kann mir nicht mehr folgen. Einerlei. Ich kenne mich aus, zudem sind die Pfeile im Lampenkegel nicht zu übersehen. Nun wieder Steigung, in der sich meine Beine noch immer betont ausgeruht geben. Das ist sicher nicht nur dem „Regenpäuschen“ geschuldet. Offenbar bin ich heute wirklich um Längen besser „drauf“ als zuletzt. Das macht Laune. Gute Laune, ganz im Gegensatz zu früheren „Dunkelläufen“. Mit der Sonne ging in aller Regel auch meine Lauflust hinterm Horizont unter …
Zu beschreiben gibt es nun im Grunde nichts mehr. Was im nächtlichen Reich der Schatten noch wahrnehmbar ist, entgeht mir meist. Dauerhaft „kleben“ meine Augen auf einem spärlich erleuchteten Fleck etwa zwei Meter vor meinen Füßen. Sollen mich vor Unebenheiten, Hindernissen oder auch Pfützen rechtzeitig warnen. Vermutlich komme ich weniger „hurtig“ voran, als mir mein von der Dunkelheit verzerrtes Laufgefühl suggerieren will. Ist aber auch egal, alle abgelesenen Zwischenzeiten prophezeien, dass ich ausreichend lange vorm Zielschluss Bretten erreichen werde. Aktuelle Messung: Eine lange Steigung aufwärts tippelnd meldet die Uhr vollendete 38 km nach 4:56:30 Stunden Laufzeit. Für die letzten 14 Kilometer bleiben also noch mehr als zwei Stunden …
Zwei weitere kapitale Hügel liegen hinter mir. Natürlich können meine Beine die inzwischen absolvierten 39 Kilometer nicht mehr leugnen. Doch keine der Steigungen trieb mich auch nur annähernd in den Grenzbereich. Nun halte ich bergab auf die nächste Ortschaft und den vorletzten Versorgungsposten zu. Ich finde ihn heute unmittelbar am Ortseingang und werde von einer beträchtlichen Zuschauerkolonie mit reichlich Beifall empfangen. „War’s schlimm im Gewitter?“ Mitleidsvoll erkundigt sich der Mann hinter der „Theke“ nach meinen Erfahrungen. Zwischen zwei Bechern Cola schlüpfe ich in die Rolle des „Wetterschlaumeiers“ und merke an: „Es war schlimm …“, betone dabei das „war“ und schicke hinterher „ … aber ich habe mich untergestellt und den Wolkenbruch abgewartet!“
Zwei Kilometer fast innerorts, das meiste davon im Anstieg. Anstrengend. Aber nur, weil ich für meine Verhältnisse zügig voran trabe. Wahrscheinlich empfände ich mehr Freude darüber heute in stabiler Verfassung unterwegs zu sein, zumal im 350. Marathon, wären da nicht die Umstände. Schwärze um mich her und nun wieder einsetzender Regen. Was nervt, ist nicht die Nässe von oben. Niederschlag zwingt mich die Schildkappe wieder aufzuziehen und die Stirnlampe in die Hand zu nehmen. Folglich arbeite ich mich nun im „wischenden“ Lichtschein voran. Wischen im Takt meines schwingenden Armes. Um davon nicht „seekrank“ zu werden, begrenze ich die Amplitude der Armbewegung. Konsequenz: Unrunder Lauf, so geht’s also auch nicht.
Links von mir zucken wieder Blitze, lassen Wolkenformationen aufleuchten. Von ferne rollt Donner heran. Nicht schon wieder! Zu allem Überdruss nun auch noch Feldwege - also kullernde Steine, da und dort nasses Gras und reichlich Pfützen. Ein „Sommernachtsalbtraum“ beginnt! Der Regen verstärkt sich, das „Lustspiel“ beginnt mich zu nerven. Vielleicht hundert Meter voraus irrlichtern ein paar Kopflampen durch die Dunkelheit. Nahm sie schon ausgangs des Dorfes wahr. Bergauf schien ich mich ihnen zu nähern. Inzwischen auf einer Kuppe angelangt und alsbald bergab, entfernen sie sich wieder. Ich richte die Lampe auf meine Uhr: 5:27:xx gelaufen, noch 10 Kilometer …
Der Feld- wird zum Waldweg, aus Dunkelheit undurchdringliche Finsternis. Die macht sich zunehmend auch in meinem Inneren breit. Die Füße platschen über aufgeweichtes, quatschnasses Geläuf. Das kostet zusätzlich Körner; von denen ich glücklicherweise heute ausreichend an Bord habe, weswegen meine Stimmung nicht total abstürzt. Zudem tippelt unsere Hündin Roxi als guter Geist durch meinen Kopf. 2018 war sie hier neben mir, erster und einziger gemeinsamer Lauf in der Dunkelheit. Seinerzeit ein Experiment, da nicht abschätzbar, wie Roxi sich in dieser Situation gebärden würde. Sonst stets selbstbewusst und selbständig agierend, ihr eigenes Ding machend, mal voraus tippelnd, mal zum Schnüffeln zurückbleibend, war ich darauf vorbereitet sie an die Leine zu nehmen. Zwar hatte ich ihr ein Leuchthalsband angelegt. Trotzdem stand zu befürchten, dass ich sie in einem unbedachtem Augenblick oder verwirrenden Umständen verlieren könnte. Alle Bedenken erwiesen sich als überflüssig: Sobald es dunkel wurde, suchte Roxi in für sie untypischer Manier meine Nähe. Lief ohne Aufforderung im Lichtkegel der Lampe nebenher. Instinktiv schien sie in der Dunkelheit Schutz „im Rudel“ zu suchen. Ich gedachte heute schon häufiger meiner betagten Laufbegleiterin, die zur Stund’ daheim bequem zusammengerollt auf ihrer Decke schläft. Seite an Seite mit ihr war Lichtlosigkeit, die sich mir beim Laufen stets aufs Gemüt legte, gut auszuhalten. Schlummert in mir vielleicht auch ein „verkapptes Rudeltier“?
Weiter hinan im Wald, Regen fällt, bisweilen grollt Petrus noch durch Nacht und Bäume. Endlich Kuppe erreicht, bergab, noch 9 km … … … Noch immer Regen, noch immer die Lampe in der Hand, noch immer dieses trunken machende Wischen des Lichtscheins vor meinen Füßen … Aber wenigstens abwärts jetzt mit wenig Kraftaufwand, vermutlich rascher und dem nächsten Verpflegungspunkt entgegen … Den nehme ich gedanklich schon voraus, obschon noch kilometerweit entfernt und bin in Gedanken schon wieder bei Roxi. Mein Hund erregte dort am VP vor fünf Jahren Aufsehen, wurde von den Helfern umsorgt und gefeiert wie ein Champion. Wie alt sie denn sei, wurde ich gefragt. Ihre damals elf Jahre rechnete einer flugs in Menschenjahre um: Schon 77 Jahre alt und dann noch so weit laufen!? - zollte man Roxi gehörigen Respekt. Derlei Überlegungen hatten mich bis dahin nie beschäftigt. Zu Hause wollte ich dann aber ihr Alter in Menschenjahren selbst errechnen. Die Formel „Hundejahre mal sieben ist gleich Menschenjahre“ stimmt so nicht. Unter anderem spielt auch das Gewicht des Hundes eine Rolle (je schwerer der Hund, umso schneller altert er). Es stellte sich heraus, das Roxi und ich zum Zeitpunkt unseres gemeinsamen „Sommernachtstraums“ exakt gleich alt waren. Leider eilte sie mir seitdem auf flinken Pfoten voraus, an 90 Menschenjahren dürfte nun nicht mehr viel fehlen.
Schwacher Lichtschein auf der Kuppe, das muss der Versorgungspunkt sein. Um ihn zu erreichen muss ich noch ein Stück steilen Asphalt überwinden. Im Anstieg steigert sich das bislang erträglich nasse „Piano“ binnen weniger Schritte zum „Fortissimo“ eines weiteren Wolkenbruchs. Die Mannschaft am VP, ausnahmslos sehr junge Leute, nutzt große Sonnenschirme - dem Ständer entrissen und über die Schulter gelegt -, um einigermaßen trocken zu bleiben. Regen prasselt auf mich nieder, als wollte Petrus den Sünder per Sintflut vom Antlitz der Erde tilgen. Nass bin ich ohnehin, es ist mir egal. Muss mir auch gleichgültig sein, eine weitere Pause zum Unterstellen wage ich nicht mehr einzulegen, um rechtzeitig zu finishen. Eilig kippe ich ein, zwei Becher mit irgendwas drin hinter die Binde und bedanke mich herzlich bei den Helfern. Die harren in diesem Unwetter auch für mich aus! Und nun nix wie weg, noch sieben Kilometer …
Bald bergab, schon wieder auf miserablem Feldweg. Müsste ich nicht schon längst nach links abbiegen? Bin ich zu weit gelaufen? Meine Orientierung hat unterm strömenden Regen offenbar gelitten. Ich bleibe stehen, richte den Lampenkegel seitwärts in einen scheinbaren Abzweig. Keine Markierung, also weiter. Noch eine Minute mulmiges Gefühl, dann erkenne ich den nächsten Pfeil, alles gut. Das fehlte noch, sich auf den letzten Kilometern infolge Sintflut zu verlaufen. In der Senke schlingere ich durch angespültes Erdreich, drohe auszurutschen, fange mich … Wieder aufwärts … ich wusste, dass noch ein paar Anstiege ausstehen. Wie lang und steil sie sind, hatte ich verdrängt. Jetzt einer auf rissigem Beton, schlagartig sehe ich Roxi neben mir her tippeln … Auf diesem Abschnitt begegnete uns mitten in der Nacht ein Gassigeher mit seinem Hund. Bis heute ist mir schleierhaft, wie der Mann sich ohne Lampe zurechtfand. Vielleicht hat er sich ja von seinem Vierbeiner führen lassen …
Endlich oben, aber noch immer im Wald. Erst als ich den verlasse, stelle ich erleichtert fest, dass die himmlische Gießkanne leer zu sein scheint. Kappe runter, Stirnlampe aufsetzen, Schluss mit dem kirre machendem „Lichtgewische“. „Oben joggen“ hat im Kraichgau nicht lange Bestand, also wieder runter. Auf asphaltiertem Feldweg, was mir das Vorankommen erleichtert. Runter, runter, runter … noch drei Kilometer. Zu früh allerdings, um Entwarnung zu geben, denn „einer kommt noch“. Brutal steil zu Beginn, nach einem halben Kilometer gottlob abflachend. Ist mir jetzt alles egal, bald ist „Ende Gelände“. Außerdem baut auch dieser Buckel mich auf, weil ich noch Reserven spüre. Im Grunde das nützlichste „Resultat“ dieses Abends. Wichtiger als anzukommen oder hinter den „350sten“ einen Haken zu setzen. Noch zwei Kilometer. Nun unwiderruflich abwärts und dem Städtchen Bretten zu … Kurz vor der Stadt pedaliert mir einer auf dem Fahrrad entgegen. „Bald g’schaffd! Jätzt no’ in ind’ Stadt nunda, lang grad’aus, na’ links! Hasches bald g’schaffd!“ schwäbelt die stramplende Wanderkarte mir langatmig hinterher.
Stille, seltsam lichtlose Straßen nehmen mich auf. Ist hier die Straßenbeleuchtung infolge Blitzschlag ausgefallen? Weit nach Mitternacht, in manchen Fenstern brennt noch Licht. Also zumindest kein allgemeiner Stromausfall. Weiter geradeaus, irgendwann links, die Fußgängerzone auf Kopfsteinpflaster querend. Im hübschen Altstadtkern Brettens, wo sonst im Freien ausharrende, nächtliche Zecher den Läufern applaudieren, bleibt alles still. Dann doch noch Ansporn aus lallender Kehle, ein paar Unerschrockene haben sich unterm Baldachin einer Kneipe verschanzt. Letzte Meter abwärts durch enge Gassen, zuletzt auf den Sportplatz zu … Die wie üblich absurd überflüssige „Ehrenrunde“ auf der Tartanbahn bleibt mir auch heute nicht erspart. Einerlei. Es ist geschafft. Nach 6:45:58 Stunden laufe ich über die Ziellinie.
„Die tolle Jagd, sie macht mir weh und bange!
Je mehr ich fleh, je minder ich erlange.“
Aus „Ein Sommernachtstraum“, zweier Aufzug, zweite Szene,
von William Shakespeare (1564 - 1616)
Ein gut organisierter, von allen Beteiligten mit viel Spaß umgesetzter Ultralauf. Reichlich Verpflegung unterwegs und insbesondere im Ziel. Hervorheben sollte man die exzellente Streckenmarkierung. Sich zu verlaufen war auch im Dunkeln so gut wie unmöglich.
Landschaftlich reizvolle, sehr abwechslungsreiche Strecke auf überwiegend asphaltierten, meist nur für landwirtschaftlichen Verkehr freigegebenen Wegen. Die nicht asphaltierten Abschnitte häufen sich auf den letzten zehn Kilometern.
Fazit: Hinfahren und laufen! Gut möglich, dass man mich dort, rund um Bretten, auch wieder antreffen wird!