17. Juni 2023

Der Härteste im Norden  -  Tollensesee Marathon 2023

Man kann beschaulicher in den Urlaub starten, keine Frage. Wenn wir aber ohnedies reichlich Deutschland von Süd nach Nord abmessen, dann muss dabei wenigstens ein Marathon ’rausspringen. Einer, den ich bereits vor 15 Jahren in meinem Laufbuch verewigte; der unterdessen, im Bewusstsein klimatischer Folgen (auch) meines Handelns, die ausschließliche Anreise zum Laufen nicht mehr rechtfertigt. Für den „Urlaubsläufer“ scheint an diesem Tag aber alles zu passen. Meine Frau ist wieder dabei und 15 Jahre waren nicht lange genug, mich die Naturschönheiten entlang der Strecke vergessen zu lassen. Auch Petrus scheint halbwegs gute Miene zum anstrengenden Spiel machen zu wollen.

Der Start soll um 10 Uhr erfolgen. Kurz nach neun rollt unser Auto auf den Parkplatz im Kulturpark Neubrandenburg. Zum üblichen Nervenkitzel vor Laufveranstaltungen kommt ein für uns brandneuer hinzu: Vor einer Ladesäule für E-Autos parken und unseren fahrbaren Untersatz einstöpseln. Nur eine Woche hatten wir Zeit uns in die Welt der E-Mobilität vorzutasten. Vieles ist neu oder unerwartet anders. Im Prinzip auch kinderleicht, wenn man erst mal weiß wie’s geht. Schon knapp 700 km gen Norden zu „düsen“ und unterwegs zu laden, mutete im Vorhinein abenteuerlich an. Letztlich „null problemo“. Hier am Parkplatz erwartet uns die letzte, noch nicht erpropte „Anstöpselvariante“: Ladesäule ohne Kabel, eigenes Kabel auspacken und beidseits einstecken.

Mehr als dreihundert Teilnahmen an Marathon- und Ultraläufen lehrten mich etliche Varianten, wie mein Läuferherz schon vorm Lauf zu höherfrequentem Pochen stimuliert werden kann. Etwa im Stau auf gesperrter Autobahn feststecken und gerade noch rechtzeitig ankommen. Ein anderes Mal bemerkte ich drei Minuten bevor sich die Läufermasse ringsum in Bewegung setzte, dass ich vergaß die Kamera an mich zu nehmen und bereinigte die Unterlassung im Sprint. Als Klassiker gilt mir eine elend lange Warteschlange vor der Toilette, während der große Zeiger im Sauseschritt gen Startzeit voranrückt - um nur drei Beispiele zu nennen. Eine Ladesäule, die sich weigert Strom fließen zu lassen, verschärft vom Problem zu engen Parkens eines anderen Läufer-E-Laders, nimmt fortan in der Liste „Pre-Run-Thrill“ die Pole-Position ein. Ersteres liegt an nicht sachgemäßer Einleitung des Ladeprozederes, das uns der hilfsbereite Zu-eng-Parker nach Abholen seiner Startnummer erläutert. Da er obendrein umparkt, löst sich der E-Aufreger binnen nicht mal zehn Minuten in mecklenburg-vorpommersche Luft auf.

Der Rest klappt reibungslos, was vor allem der eingespielten, gut gelaunten „Orga“ der 31. Auflage des Tollensesee Laufes* geschuldet ist. Als einer von vielleicht hundert Marathonis in der Startaufstellung studiere ich vor allem den Himmel. Noch dominiert hohe Bewölkung, Blau zeigt sich nur hie und da. Lässt sich die Sonne kurz blicken, spürt man schlagartig die herrschende Schwüle. Und das, obschon das Quecksilber noch ein, zwei Teilstriche unter der 20°C-Marke rangiert.

*) Außer dem Marathon stehen auch Halbmarathon, 10 km und Kinderläufe (Vortag) auf dem Programm des Tollensesee Laufes. Wer hier in relativer Nähe wohnt oder Urlaub macht, sollte sich die Veranstaltung nicht entgehen lassen.

Wie wird es mir in den kommenden Stunden ergehen? - Ich halte mir zugute unterwegs mit meist verlässlichem Laufgefühl gesegnet zu sein. Vor einem Start, zu was auch immer, verfüge ich jedoch nicht mal ansatzweise darüber. Übrigens war das schon immer so. Nicht mal heftiges Lampenfieber in den Anfangsjahren oder später vor großen Herausforderungen vermochte mir ein Gespür davon zu vermitteln, wie viel von hundert Prozent Ladung - um es im E-Auto-Jargon auszudrücken - ich nach dem Startschuss würde abrufen können. Und so stehe ich auch heute hier in Neubrandenburg und spüre auf meine Tagesform bezogen: nichts. Startschuss! Und was für ein dröhnender Böller! Das Feld setzt sich in Bewegung und Udo überdies ein fotogenes Gesicht auf: Irgendwo im Schatten der Bäume wartet Ines mit schussbereiter Kamera …

Hätte ich nicht schon ein paar hundert lange Kanten hinter mir, ich fiele unverzüglich blankem Entsetzen anheim: Wann waren meine Beine je so schwer? Auf den ersten, nicht den letzten Metern eines Marathons. Zuwarten, wird schon werden, rät Lauferfahrung. Muss auch werden, denn Ausreden/Erklärungen für läuferisches Unvermögen stünden mir „today“ nicht zur Verfügung. Über den Bogen eines Brückleins gelange ich vom Kulturpark Neubrandenburg auf den Tollensesee Uferweg, fortan beschirmt von Kronen alter Laubbäume. Was an verschütteten, 15 Jahre alten Bildern ins Bewusstsein aufsteigt, deckt sich mit der Gegenwart: Gut belaufbarer Rad- und Fußweg, oft mit „Durchblick“ zum See und lange Zeit flach dahin. Abschnittsweise lässt dicht geschlossenes Blattwerk nicht mehr als dämmrigen Spätvormittag zu. In feuchter, schwüler Luft rinnen dennoch erste Schweißtropfen an den Schläfen herunter.

Nach und nach normalisiert sich mein Belastungsempfinden. Mit Blick zur GPS-Tempoanzeige versuche ich die Selbstwahrnehmung einzuordnen. Die ist subjektiv aber real, für einzelne GPS-Messwerte unter Bäumen gilt das eher nicht. Nach mehrfachem Hinsehen und erfassen der „Tempotendenz“, bin ich aber beruhigt: Um die 6 min/km sind ziemlich „flott“ für den ältesten Teilnehmer im Marathonfeld … Wäre ich klug oder zumindest von Vorsicht beseelt, nähme ich nun Tempo raus. Immerhin verlieh der Veranstalter dem Tollensesee Marathon den Beinamen „Der Härteste im Norden“. Tatsächlich dümpeln diverse Anstiege - verschwommen, bis auf einen nichts Konkretes - in den trüben Fluten meines Gedächtnisses. Damals 2008, in der Blüte meiner Läufertage, reagierte ich mit süffisantem Schmunzeln auf die apostrophierte „Härte“ der Route; absolvierte trotz erschöpfender Trainingsläufe in der Woche davor die Distanz in achtbaren 3:39:xx Stunden. „Leichtigkeit läuferischen Seins“, die mir unwiederbringlich abhanden kam. Also sollte ich mich vor den mecklenburgischen Buckeln in Acht nehmen und defensiver laufen …

In Wahrheit ist mir egal wie das heute ausgeht. Angst vor Schmerzen auf dem letzten Wegdrittel oder -viertel habe ich ohnehin nicht. Beschwerden werden früher oder später einsetzen und darin sie auszuhalten bin ich „geschult“. Ein erster Buckel, im „Tunnel“ unter Bäumen, den selbst der M70-Udo als harmlos einstuft, droht mit weiterem Ungemach. Ich „schwimme“ im Schlussteil des Feldes mit, ohne zu wissen wie viele Mitläufer noch folgen. Voraus trabt rund eine Handvoll bunte Gestalten durch mein Sichtfeld. Nach etwa acht herausfordernd absolvierten Kilometern schälen sich die ersten Häuser des Weilers Klein Nemerow aus dem Wald hervor. Wald, der in bisheriger Massierung und Dichte für lange Zeit der Vergangenheit angehören wird. Schon innerorts Klein Nemerow beginnt das stete Auf und Ab der Route, das sich meiner Erinnerung nach fast bis ins Ziel fortsetzen wird.

Hastig lasse ich am Verpflegungsstand zwei Becher Wasser durch meine Kehle rinnen. Eine zugegebenermaßen sinnlose Eile. Jegliches Wetteifern, ob kontra Mitläufer oder pro persönliche Bestzeiten, gehört längst der Vergangenheit an. Dereinst angeeignetes, reflexhaftes Verhalten, dem ich kritiklos weiterhin fröne. Und warum auch nicht? - Ich halte die Augen offen in Klein Nemerow, hoffe/erwarte meine Frau irgendwo zu erspähen. Sie wollte sich eine Koppel mit Stuten und Fohlen ansehen, die ich vor 15 Jahren im Bild festhielt. Und die Koppel gibt es immer noch, sofern Google-Earth nicht lügt.

Keine Spur von Ines, andererseits kam ich auch noch nicht am Ort ihres Interesses vorbei … Hinter Klein Nemerow setzt sich der Radweg als schmale, fest geschotterte Piste in idyllischer Umgebung fort. Hügel mit üppiger Vegetation wölben sich beidseits des Weges, verwehren bis auf Weiteres den bislang sporadisch möglichen Blick zum See. Unverhofft kommt mir dann doch noch Ines mit Roxi an der Leine entgegen: Kurzes, intensives Hallo, für eine Minute bade ich in Ines guter Laune wie einst Siegfried im Blut des Drachen. Des Recken Nimbus der Unverwundbarkeit nehme ich vermutlich nicht mit, als ich von hinnen zuckele. Und schon die nächsten Hügel lassen mich von Neuem die Endlichkeit allen Menschseins spüren …

Buckel an Buckel. Einige so steil, dass sie den Helden ans Limit treiben. Nur ihrer Kürze wegen vermag Siegfried die Drachen im Trab zu besiegen. Manchen Anstieg erkenne ich wieder. Verlieh damals keinem von ihnen das Prädikat „grenzwertig“, mit dem ich die Eindrücke nun „runderneuert“ abspeichere. Für eine Weile folge ich dem zur Bundesstraße 96 parallelen Radweg: Empfand ich es damals auch schon als ungerecht, motorgetriebenen Vehikeln das Auf und Ab Mecklenburgs mit einer Straße einzuebnen? Wohingegen man pure Beinkraft einsetzenden Läufern auf dem Radweg Höhen und Tiefen des Landschaftsprofils in voller Amplitude zumutet? Zwar widerstehen meine Beine allen Anfechtungen, doch wie lange noch bei diesem Einsatz?

Von hier oben, auf dem Radweg entlang der Straße, ist vom See nur ein schmales, weit entferntes Band auszumachen. Dem Reiz der wellig ländlichen Umgebung tut das keinen Abbruch. Endlich wendet sich die Route von der Straße ab, zugleich verliere ich an Höhe. Schritte nähern sich rasch von hinten … Flott und zu meiner Überraschung überholt mich Grit auf diesen Metern. Ich wähnte die stärkere Läuferin längst enteilt. Vorm Start frischten wir gemeinsame Erinnerungen auf. Vor allem an den Mauerweglauf (100 Meilen Berlin) im Jahr 2014, als wir stückweit durch Kreuzberg Seite an Seite liefen. Grit entschied damals die Frauenkonkurrenz für sich. Und mir ist dieser erste von meinen drei Mauerwegläufen noch immer so präsent, als hätte ich ihn letzte Woche gefinished. Beim Blick in meine Läufervita fristet der Wettkampf neben den beiden deutschen Seniorentiteln im 24-Stundenlauf und dem Erfolg beim Spartathlon 2016 eher ein Mauerblümchendasein. Aus rein sportlicher Perspektive betrachtet rückt er dagegen mit Abstand an die Spitze: Nie war ich vom ersten bis zum letzten Kilometer kraftvoller unterwegs, fühlte mich auf langer Distanz nie besser, weder davor noch danach. Beim Mauerweglauf 2014 erlebte ich meine läuferische Sternstunde!

Die vorbeiziehende mecklenburgische Landschaft unterhält mich, an die visuelle Abwesenheit des Sees verschwende keinen Gedanken. Wärme und gelegentlicher Sonnenschein tun ein Übriges, um mich zwischen Hügeln, Wiesen, Feldern, Büschen, Bäumen, auch mal Wäldchen bei guter Stimmung zu halten. Und der ebene Asphalt des Radweges erleichtert das Vorwärtskommen … alles in allerbester Kondition! Alles bis auf mich: Die Buckel haben mir zugesetzt. Fraglos auch, weil ich das Anfangstempo zu forsch wählte. Vorhin, nach 16 Kilometern, am dortigen VP, der erste Kalorien-Schuss. Maximal fünf Gels gestehe ich mir heute zu. Ich versuche die Pace so gut es eben geht zu konservieren. Wie gut es geht? Keine Ahnung, so schnell wie zu Beginn bin ich jedoch nicht mehr unterwegs. Für den ersten Viertelmarathon meldete der Wecker am Handgelenk rund 1:06 Stunden. Mithin 4:24 Stunden als mögliche Endzeit? - Daran glaubt zur Stunde nur noch, wer nicht spürt, was ich auf den Kilometern 16, 17, 18 spüre …

Nur schere ich mich nicht darum, wie ich auch der taktischen Dummheit des zu schnellen Beginns mit Gleichmut begegne. Es gibt nichts zu verlieren und den Gewinn, das Erlebnis einer reizvollen Strecke, kann mir so eine Torheit nicht verleiden. - Kilometer 19: Der Radweg mündet in eine Straße, die ersten Läufer kommen mir entgegen. Ab hier bis zur Ortschaft Hohenzieritz ergänzt eine Pendelstrecke den Kurs auf Marathondistanz. Dort „oben“ in Hohenzieritz, in der Nähe des gleichnamigen Schlosses, werde ich auch wieder Ines treffen … Aus der Wortwahl „dort oben“ spricht mein Respekt vor dem „Reißzahn“ im Profil, den es auf der Pendelstrecke zu bewältigen gilt. Eine Rampe, die sogar in der Erinnerung des vormals laufstarken Udo mit Respekt vermerkt wurde. Doch zunächst geht es harmlos wellig voran, bleibt mir genug Puste, um ein paar Fotos von hin- und zurückstrebenden Läufern zu schießen … Alles halb so schlimm? Spielt mir mein Gedächtnis einen Streich? Weitere anderthalb Kilometer sieht es ganz danach aus, bis ein Höhenrücken Ernst macht. Hinter Kurve und Waldsaum verbirgt sich zunächst, was mich erwartet. Nach und nach gibt sich die Rampe als echte Herausforderung zu erkennen - zumindest für mich, im Jahr 2023 und an diesem Tag …

Vielleicht hilft das Zuckerdoping von vorhin, ganz sicher aber das harte Training der letzten Wochen: Mein Tempo bricht zwar ein, in Nöte bringt mich der tausend Meter lange Hang aber nicht. 700 Meter auf Asphalt, weitere 300 auf Wegen im Schlosspark Hohenzieritz … Längst avancierte Schweißwischen neben Schritte-setzen zum läuferischen „Kerngeschäft“. Erst recht jetzt hinan und so bin ich dankbar für den nächsten VP, um wieder reichlich Flüssigkeit nachtanken zu können. Erstmals wird außer Wasser auch Cola angeboten, der ich bedenkenlos zuspreche. Zwei Becher davon, einen weiteren mit Wasser zum Verdünnen hinterher, Danksagung und weiter. Ich halte Ausschau nach Ines, die ich alsbald vorm Rundbau der ehemaligen Schlosskirche entdecke. Volle Fixierung auf meine Frau, wodurch mir die Ansicht des Schlosses komplett entgeht. Aber sollte es in einer Beziehung, auch wenn sie schon Edelmetall-würdig lange währt, nicht exakt so sein: Beim Anblick des Partners verliert alles andere an Bedeutung!?

Betankt mit Ines’ Frohsinn und versorgt mit zwei von ihr übergebenen Gels vollende ich die kleine Schlosspark-Schleife am Ende der Pendelstrecke. Alsbald wieder hinab, anderen Läufern entgegen, denen die Steigung sichtlich zu schaffen macht. Schon die Aussicht von hier oben, vom offenbar höchsten Hügel der Gegend, war die Mühe des Aufstiegs wert. Was die vorbei Schnaufenden erst verstehen werden, wenn sie gleich mir ihre Laufrichtung umkehren … Ich konzentriere mich auf meine Schritte: Achte darauf sie zu verlängern. Will mich nicht selbst ausbremsen und vom Gefälle maximal profitieren. Dass meine Haxen die rasche Talfahrt nach 23 Kilometern Belastung noch weitgehend beschwerdefrei zuwege bringen, verbuche ich als Erfolg.

Eine Ration Gel konsumierte ich vorhin in Ines’ Gegenwart, ein Tütchen stopfte ich in die Gesäßtasche und ein weiteres trage ich mangels Stauraum in der Hand durch Mecklenburg. Wie immer umfasst meine Rechte die Digicam. Gelpäckchen links, Kamera rechts - und womit soll ich mir fortan den Schweiß von der Stirn wischen? Praktiziere es mehr schlecht als recht mit dem Handrücken. Eine Methode die a) nur unbefriedigenden „Wischerfolg“ zeitigt und mir b) rasch auf den Zeiger geht. Zweieinhalb Kilometer weiter, am nächsten VP, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe: Inhalt des Tütchens runterschlucken, also Hand wieder frei und durch Gel-Doppelkonsum binnen weniger Minuten raschem Kräfteverschleiß einen Riegel vorschieben.

Dafür „klumpt“ es jetzt im Bauch und ich übe mich in Cola-Reue: hätte bei Wasser bleiben und auf die schwarz-süße Pampe verzichten sollen. Einerlei, das bisschen Unwohlsein wird rasch erdwärts durchsacken … Kilometer 26: Zur Abwechslung wird ein „böser Tritt“ angekündigt: Mit 12 Prozent Steigung droht das Verkehrschild, fordert zugleich Radfahrer zum Absteigen auf. Eine Anweisung, die mir im Zenit der Wölbung noch weniger einleuchtet als zu ihren Füßen. Warum in aller Welt sollen Radfahrer absteigen? Gedanken in einem durchaus vor Anstrengung „ächzenden“ Körper, der aber auch diese kurze Prüfung mit einiger Bravour besteht. Seit der Pendelstrecke nutzt die Route Straßen. Zwei Weiler habe ich bereits hinter mir: Prillwitz und die drei Häuser von Zippelow. Erwähnt einzig, weil mir die Ortsnamen lustig im Ohr klingen. Liegt’s am „Prill“ oder eher am „witz? Vielleicht kitzelt auch „Zippel“ meine Synapsen. Wahrscheinlich finde ich alle Namen putzig, in denen ein „z“ Furore macht!?

Der Kurs knickt 90° nach Norden ab, vom Asphaltsträßchen auf einen brauchbaren Feldweg. Ein weiterer VP hilft der Unordnung in meinen Eingeweiden ab: Ich trinke Wasser zum Verdünnen nach. Weiter durchs Hügelland, auf der Suche nach einem Bild. Das Bild stand mir in all den Jahren stets vor Augen, wenn ich mir diesen Marathon in Erinnerung rief: Ein riesiges Getreidefeld, das sich über einen sanften Hügel wölbt, am Horizont fotogen von Laubgehölz begrenzt. Mohn- und Kornblumen zwischen den Ähren, sattes Rot und Blau von der Sonne zum Leuchten gebracht. Überwältigend schön, geradezu paradiesisch. Ich laufe und vergleiche … finde natürlich nicht, was mir im Gedächtnis blieb, dafür ähnlich bezaubernde Ansichten. Eine Parade von Bildern in herrlicher Landschaft, jedes einzelne davon wert gerahmt im Wohnzimmer zu hängen.

(Sicht-) Kontakte zu Mitläufern ergeben sich nur dann und wann. Vorhin zu einem mit Krämpfen, den ich mit knappem „Geht’s?“ aufforderte mir die „Lizenz zum Weiterlaufen“ zu erteilen. Jetzt ein Läuferpaar (Sie und Er), das ich wohl dauerhaft nicht mehr werde „abschütteln“ können: Am Berg gehen die beiden und Udo überholt. Wird’s flacher oder abschüssig zuckeln sie wieder an mir vorbei … Kilometer 30, der Feldweg mündet in eine Form von Straße, die man in dieser Gegend häufiger vorfindet: Uraltes knubbeliges Pflaster, bestehend aus Kinderkopf-großen, unbearbeiteten Sandsteinen zieht sich als wagenbreite Piste durch die Hügel. Pferdegespanne waren dem Gerüttel und Geratter sicher gewachsen, die Nerven motorisierter Verkehrsteilnehmer der Neuzeit eher nicht. Auch meine Füße zucken vor Entsetzen, sind froh, dass der DDR-Rechtsnachfolgerstaat ein Einsehen hatte und ein köstlich ebenes Band daneben pflasterte. Wieso diese Umstände? denkt es sogleich kostenkritisch in mir. Mehrere Kilometer Straße aus modernen Pflastersteinen parallel zum bestehenden Alt-Pflaster? Das Alte zu erhalten, dieser Absicht spende ich vorbehaltlos Beifall. Aber wäre es nicht sinnvoller gewesen anstelle des verletzlichen, wartungsintensiven Neu-Pflasters zu asphaltieren?

Einerlei, ob Pflaster oder Asphalt - in langem, forderndem Anstieg zerfließt die Frage in Strömen von Schweiß. Übrigens die letzte „Challenge“ dieser Art, so steht’s verschwommen im Gedächtnis ge- und wird demnächst von der Gegenwart überschrieben werden. Schmucke Gegenwart offeriert auf den nächsten Metern das Dorf „Alt Rhese“: Reetgedeckte Fachwerkhäuser säumen das Alt-Pflaster der Dorfstraße. Idylle hoch drei. Bilder-Resonanz im Kopf: hier war ich schon mal. Eingenommen von diesen Ansichten oder zu früh abgelenkt vom Rufen eines Offiziellen? Jedenfalls entgeht mir, was Ines und ich in ein paar Stunden von Einheimischen anlässlich eines Rundgangs erfahren werden: Die Häuschen entstanden erst nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, Mitte der 1930er-Jahre, in identischem Stil. Von damals offenbar „linientreu völkischen“ Bauherren. Jedes Haus wurde einem „Gau“ des deutschen Reiches gewidmet. Der treueste der getreuen Paladine, mit denen sich Adolf Hitler umgab, Martin Bormann, soll eine Weile hier gewohnt haben.

„Hier entlang!“ Der Streckenposten versucht mich „einzufangen“. Es dauert eine Weile bis ich den Rufer identifiziere und seinen richtungsweisenden Armbewegungen folge. Doch wohin? Ich peile auf direktem Weg den VP an. Der Offizielle gerät halbwegs aus dem Häuschen: „Nein, nein! Erst registrieren, sonst zählt der Lauf nicht!?“ Eine Matte zum Überlaufen suche ich sekundenlang vergebens. Bis ich vier Sender auf Ständern ausmache, die wie große, viereckige Lampen mit weißem Schirm aussehen. Dass ich schnurstracks darauf zuhalte stellt den Mann auch nicht zufrieden. „In der Nähe vorbei reicht schon!“ schallt es hinter mir her …

Erst geschichtlich Interessantes, gerade eben „lebenserhaltend“ Flüssiges und nun noch die plakativ überflüssige Präsentation eines Querdenkers auf und vor der Front einer alten Scheune. Dargebracht von einem Vertreter jener Sorte Mensch, die sich im Besitze der letztgültigen Wahrheit glauben, sowohl auf religiösem, als auch weltlich politischem Feld. Also allumfassend - wie man lesen und aufdringlicher Symbolik entnehmen kann. Der Verursacher solcher Dorfverschandelung thront wie einst Buddha erhöht und inmitten seiner „Botschaften“. Gebieterisch, vor Sendungsbewusstsein strotzend, starrt er herüber zum laufenden Nichtsnutz. Denkt man sich das Gebieterische weg, ebenso den offenbar angesammelten Unmut (Hass?), bleibt ausdruckslose Leere. Schon ein bisschen verstörend dieses Monument von Verbohrtheit und Totalverweigerung inmitten malerisch mecklenburgischen Landlebens. Menschliche Verblendung scheint den Weiler Alt Rhese auch mehr als 70 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus nicht aus seinen Fängen freigeben zu wollen …

Abwärts hinter Alt Rhese, noch 10 km. Zügig strebe ich dem Ufer des Tollensesees zu, von dem durch Sichtschneisen nur selten ein Blick zu erhaschen ist. Zwei Kilometer später, von nun an meist dem Ufer folgend, ändert sich das grundlegend. Zweimal raffe ich mich noch zu Fotos auf, um hübsche Seepanoramen einzufangen. Zu mehr fehlt die Kraft. Alles fließt in die Absicht auf dem nun flacheren Schlussteil so rasch es noch geht „Strecke zu machen“. Hochrechnungen billigen mir allenfalls eine Endzeit um die 4:40 Stunden zu. Dem Gift zunehmender Erschöpfung vermag ich nur mit äußerster Willensanstrengung zu wehren. Ein VP mitten im Wald kommt dem gepeinigten Läufer-Ich gerade recht: Wenigstens ein paar Sekunden rasten …

Noch sechs, noch fünf, noch vier Kilometer. Ach könnte ich doch mein Bewusstsein für ein paar Minuten abschalten. Müsste nicht mehr denken, noch diese Not in allen Fasern spüren. Geht aber nicht und so übe ich mich wie hunderte Male zuvor im Aushalten körperlicher Härte. Die setzt sich heute anders zusammen als sonst. Kaum muskuläre oder sonstige Schmerzen im Fahrgestell, dafür kämpfe ich zunehmend gegen Erdschwere und Lähmung der Beine. Heute mal weniger orthopädische Abnutzung, dafür schwächelt die Ausdauer.

Die Sonne scheint schon länger nicht mehr, unterm Blätterdach hüllt mich dämmrige Stille ein. Dunkle Wolkengebilde jenseits des Sees nahm ich zur Kenntnis, mehr nicht. Dass sich auch über mir und den Baumkronen etwas zusammenbraut, bemerke ich erst jetzt. Die Veränderung am Himmel scheint rasend schnell voranzuschreiten. Ein erstes, noch entferntes Donnergrollen beunruhigt mich nicht. Es mag widersinnig klingen, aber Gewittern wohnt für mich zeitlebens etwas „Heimeliges“ inne. Als Junge ließ ich mich manchmal vom „Fangerlesspiel“ unterhalten, das Blitz und Donner vorm offenem Dachgaubenfenster aufführten; beobachtete vergnügt wie die Welt hinter rauschendem Regenvorhang unterging und gereinigt wiedererstand … Sorglosigkeit gepaart mit Überzeugung das Ziel noch trocken zu erreichen: drei Kilometer Reststrecke, was soll da noch groß passieren? … Was mir kurz darauf zustößt, ist eine letzte vermaledeite Steigung im Uferweg. Und während ich mich mühsam hinan kämpfe, klatschen erste Regentropfen aufs Blätterdach, verdichten sich alsbald zu heftigem Prasseln.

Ein gewaltiger Donnerschlag lässt mich beinahe körperlich erzittern, rollt sekundenlang über den Baumkronen aus. Das Prasseln wird lauter, zerplatzte Tropfen sprühen herab. Der Buckel liegt hinter mir. Am letzten VP versucht eine Helferin Regenempfindliches in Sicherheit zu bringen. Zwei Kilometer vorm Ziel noch ein VP? Auch ohne die rauschende Ouvertüre zum Weltuntergang unterbräche ich meinen Lauf nun nicht mehr. Schon vom vorletzten VP, der keine drei Kilometer her sein kann, ließ ich mich nicht mehr aufhalten. Wenige Meter weiter muss ich den grünen Regenschirm hinter mir lassen, renne alsbald pudelnass durch den weitläufigen Park am Nordende des Sees. Gefühlt renne ich tatsächlich im strömenden Regen, jedes verbliebene Fünkchen Energie rekrutierend. Eine Streckenpostin harrt aus, schickt mich mit aufmunternder Stimme über eine hölzerne Brücke: „Nur noch ein Kilometer!“ Steil wölbt sich der Steg über einen Zufluss des Sees. Fast zu steil, um auch dieses Hindernis noch in zentimeterkurzen Steppschritten zu überwinden.

Geschafft und Blick zur Uhr, die gerade vier Stunden und vierunddreißig Minuten vollendet. Vielleicht schaffe ich die „4:39h“!? Das entspräche genau einer Stunde mehr als vor 15 Jahren. Eine reichlich bedeutungslose Marge, der nachzujagen mir aber den finalen Kilometer erleichtert. Ein Kilometer der sich zieht, … endlos zieht, auf dem ich meine Pace noch einmal steigere … Können tausend Meter so lang sein? Bleischwer die Beine, leer der Kopf … ein letzter Schwenk, die Zielgerade, fünfzig Meter noch, endlich Erlösung. Ein paar im Regen ausharrende Zuschauer, Offizielle und natürlich meine Frau Ines beklatschen mein Finish nach 4:40:18 Stunden.

 

Anmerkung zum Bild: Mein Supporter Team vertrat mich bei der Siegerehrung, während ich unter der Dusche stand.

 

Fazit zur Veranstaltung

Vor 15 Jahren schrieb ich:

„Der Tollenseseelauf - gemäß Finisher Shirt „Der Härteste im Norden“ - hat mich begeistert. Eine atemberaubend schöne Strecke und die reibungslose, engagierte, mit Liebe zum Detail durchgeführte Organisation zeichnen hierfür gleichermaßen verantwortlich. Dieser Marathon steht auf der Liste jener Läufe, die ich gerne mehrmals absolvieren würde und wirklich jedem nahe lege, der gerne in Landschaften unterwegs ist.“

Dieser Einschätzung schließe ich mich 15 Jahre später vorbehaltlos an; füge höchstens mein Erstaunen hinzu, dass es dem ausrichtenden Verein SV Turbine Neubrandenburg gelang die Qualität der Veranstaltung über anderthalb Dekaden zu bewahren. Herzlichen Dank dafür!

Fazit: Gerne wieder! Vielleicht in 15 Jahren, dann in Altersklasse M85?