5. März 2023

„System Restart“  -  Neckarufer Marathon 2023

Die Beanspruchung beim ersten halben empfand ich verglichen mit der Erschöpfung nach dem ganzen Marathon oft als wenig berichtenswert. Das gilt auch für die heutige Auftaktrunde am Neckarufer. Darum gleich „rein“ in Runde zwei, die mir schwerer fallen wird, ganz einfach, weil sie jemandem mit noch mangelhafter Marathonreife schwerer fallen muss. Schon dieser Umstand meines Auftritts leugnet die fehlende Wettkampfabsicht. Nun wird, wer meine Marathon- und Ultrasammelleidenschaft häufiger verfolgte, einwenden, dass fehlendes Wetteifern eigentlich jeden meiner Auftritte kennzeichnet und das seit geraumer Zeit. Vollkommen korrekt: Welchen Blumentopf wollte ein dieses Jahr erstmals in Altersklasse M70 antretender Läufer denn auch noch gewinnen? Sonst achte ich wenigstens auf die Platzierungen meiner Altersgenossen. Nachträglich, um einzuordnen, welcher Stellenwert dem eigenen Ergebnis zukommt. An diesem Sonntag, anlässlich meiner M70-Premiere, ist selbst das kein Thema. Ich starte ausschließlich zu Trainingszwecken und mit beträchtlichem Trainingsrückstand. Erklärung dazu folgt, weiter unten …

Weil’s hart werden wird, setze ich auf reichlich Gel, hielt fünf Päckchen vor. Die Anzahl ergibt sich aus der Streckenführung: Ein Halbmarathonkurs, bestehend aus Flussab- und Flussaufwärtsschleife. Flussabwärts etwa zehn, flussaufwärts (Richtung Zentrum) rund elf Kilometer. Am jeweils entferntesten Punkt der Schleife, dort, wo wir den Fluss überqueren, um am Gegenufer zurück zu laufen, plante Veranstalter Michael Weber eine Verpflegungsstation ein. Eine dritte sinnvollerweise im Start-/Zielbereich, wo ich vorhin, nach den knapp 10 km der Flussabwärtsschleife, meinem „Energiehaushalt“ erstmals Zuckernachschub gönnte. Eine weitere Ration warf ich kurz hinterm Umkehrpunkt der Flussaufwärtsschleife (Km 16) ein und soeben Ration drei nach erstmaligem Zieldurchlauf (2:18:30 h).

All die Jahre finishte ich so häufig und an so vielen Orten Marathonläufe, dass ich längst den Überblick verlor. Wie oft und wann rannte ich hier in Stuttgart? Dreimal Neckarufer mutmaßte ich vorhin im Gespräch, liege damit aber um eine Teilnahme daneben. Tatsächlich stand ich seit 2019 jedes Jahr hinter der Startlinie. Erstaunlich genug: Michael Weber brachte es mit Flexibiltät und enormem Einsatz zuwege seinen Lauf auch in den Pandemiejahren anzubieten. 2021 zwar mit erheblichen Einschränkungen - keine elektronische Zeitnahme, keine Verpflegung, dazu individuelle Starts im Rahmen eines zweistündigen Startfensters -, konnte dennoch immerhin 67 Läuferinnen und Läufer in der Einlaufliste erfassen. Unentwegte, die sich auch vom damals nötigen Hygieneregime, das ein gewöhnungsbedürftiges Regelwerk zeugte, nicht abschrecken ließen. Viermal Neckarufer, folglich kenne ich die Strecke wie meine Westentasche.

Hinterm DRLG-Haus mit dem Start-/Zielbereich nehme ich das etwa einen Kilometer lange Uferstück bis zur nächsten Staustufe jetzt zum zweiten Mal unter die Füße. Ufernah stehende Alleebäume passierend fühlen sich meine Hax’n inzwischen schwerer an, versehen aber wie erhofft noch tempokonstant ihren Dienst. Das war nach 21 Kilometern in drei langen Läufen an den vergangenen Wochenenden jeweils nicht mehr der Fall. Heute helfen die Gels, zum anderen läuferische Zurückhaltung in dieser Woche. Zudem der Psychoeffekt, dass ein offizieller Start mehr Motivation freisetzt, als die ewig gleichen, heimischen Trainingswege. Ich trainiere hier und kontrolliere deshalb fortlaufend den Erfolg mit Kontrollblicken zum GPS-Tacho am Handgelenk. Die „Tachonadel“ pendelte vom Start weg im Bereich 6:20 bis 6:30 min/km, justiert vom inneren Autopiloten. Ich sah und sehe auch weiterhin keine Veranlassung daran etwas zu ändern. Schneller zu laufen wäre illusorisch, weil es mir an Ausdauer fehlt. Langsamer wäre eine Option, die jedoch meinem Ehrgeiz missfiele, wenngleich ich fürchten muss das Tempo hinter der 30 Kilometermarke nicht mehr halten zu können.

Ich blicke selten über den Fluss oder hinüber zum anderen Ufer. Mit Fokussierung auf innere Wahrnehmungen und Tempokontrolle hat das weniger zu tun als mit dem Wetter. Überm Neckartal hängt ein grauer Himmel, der jegliches Leuchten verhindert. Farbkräftiges Leuchten, das ich hier schon erlebte, das zuweilen vorm inneren Auge die Realität dieses Morgens überlagert. Himmelblau oben, stahlblau der Fluss und auch sonst da und dort ein Farbtupfer. Wenn sich das Dia der Erinnerung verflüchtigt dominiert wieder Grau und kalt ist es obendrein. Umgeben von warmen Schichten komme ich damit gut klar. Seit der Staustufe orientiert sich der asphaltierte Fuß- und Radweg am nahen Uferhang, vom Neckar meist durch einen schmalen Saum von Büschen und Bäumen getrennt. Durchblicke zum Wasser gestattet der Bewuchs jederzeit, nur gibt es auf diesem Abschnitt des Flusses rein gar nichts zu sehen. Schiffsverkehr war schon in den vergangenen Jahren die seltene Ausnahme. Liegt vielleicht an der Sonntagsruhe, obschon Fracht transportierende Kähne doch auch an Sonn- und Feiertagen unterwegs sind.

Der Weg variiert häufiger seine Höhe. Das ist mir in den Vorjahren nie so gravierend aufgefallen wie heute. Jede kleine Rampe, auch wenn sie in Summe vielleicht nur einen oder zwei Meter überwindet, steigert nun schon das Empfinden müder Knochen. Mein Tempo behalte ich trotzdem bei. Mal schauen wie lange noch … Kaum mehr Läufer unterwegs. Nach inzwischen 23 Kilometern hat sich die Kette aus etwa 170 Beinpaaren schier endlos in die Länge gezogen und besteht „hier hinten“, bei mir, bei den Schleichern, überwiegend aus Lücken. Die zweite Staustufe kommt in Sicht, der Uferwechsel bahnt sich an. Beim Weg über die als Fahrstraße ausgebaute Staumauer und dem dabei möglichen Blick in beide Flussrichtungen kommt keine rechte Freude auf. Himmel, Erde und Fluss „in more than fifty shades of grey“ - abweisend, winterlich unwirtlich. Immerhin soll es trocken bleiben und Wind ist nur da und dort spürbar.

Ich halte kurz am Verpflegungspunkt, trinke einen Becher Cola. Heute verschmähe ich Wasser, will mir mit ein paar Zuckerkalorien zusätzlich das Durchhalten erleichtern. Natürlich weiß ich, dass Cola und zeitgleich konsumiertes Energiegel im Magen eine hochkonzentrierte Pampe „andicken“. Dadurch reduziert sich die Flüssigkeitsaufnahmerate erheblich. Ich nehme es in Kauf, da der Schweißverlust witterungsbedingt heute vergleichsweise gering ausfällt. Die eisige Cola zu trinken kostet Überwindung. Anders als sonst stürze ich sie nicht runter, verleibe sie mir mit kleinen Schlucken ein, auch wenn das Zeit kostet. Wieder weiter, wieder zurück in den Modus dauerhaften Überwindens stetig wachsender Widerstände. Inzwischen muss ich meinem Bewegungsapparat Schritte richtiggehend abtrotzen, dabei die vom Laufen ausgehenden unangenehmen Gefühle zurückdrängen. 27 Kilometer, dann 28, schließlich 29. Schmerzzustände kommen und gehen. Eine Weile hatte ich Beschwerden unter der linken Ferse, dann am Nagel des linken großen Zehs, später an der gleichen Stelle rechts, ab und zu zieht es im Kreuz. Wie gesagt: Schmerzliches Kommen und Gehen. Als wollte mein Körper immer wieder daran erinnern, mit welchem Maß an Ablehnung er meinem Wunsch weite Strecken zu laufen derzeit begegnet. Ich weiß nicht einmal, ob ich die Zipperlein tatsächlich spüre oder mir den Körperprotest nur einbilde.

Bald einen Kilometer Kläranlage auf der rechten Seite hinterm Zaun, dann taucht die erste von zwei imposanten Fußgängerbrücken auf. Zwei, drei Höhenmeter hoch zum Brückenscheitel, hoch genug, um meinen Atem zu beschleunigen. Drüben zum tiefer liegenden Ufer hinab, dabei bereits „kantige“ Schritte setzend. Deutliches Zeichen, dass auch die nervale Ermüdung begonnen hat. Die letzten anderthalb Kilometer vorm Start-/Zielbereich decken sich mit dem Hinweg. Kilometer 30: Immerhin vermag ich noch weitgehend kontrolliert zu laufen und büßte an Tempo allenfalls etwa fünf bis zehn Sekunden auf den Kilometer ein.

Ich verpflege mich im Startbereich, nasche Gel, trinke Cola. Mit gemischten Gefühlen registriere ich dabei mehr als eine halbe Minute zu verlieren. Seltsam, dass ich mit Sekunden geize, obschon es für mich nicht um formidable Laufzeiten, sondern rein um „laufend Ankommen“ geht. Als alternder Läufer grundsätzlich und heute - „trainierend“, den Formaufbau fortsetzend -, erst recht. Alsbald befehle ich meinen Füßen wieder Laufschritte zu formen. Von selbst tun die das inzwischen nicht mehr. Ich nehm’s mit Gleichmut. Viel zu früh gegen rabiate Widerstände anjoggen zu müssen, ist mir in den vergangenen Wochen zur zweiten Natur geworden. Wenigstens habe ich keine relevanten Schmerzen auszuhalten, was ich nach den gesundheitlichen Katastrophen der jüngeren Vergangenheit durchaus optimistisch feiere. Mir war klar, dass der „Restart“ nach „Systemabsturz“ und drei Monaten Marathonabstinenz eine ziemlich harte Kiste werden würde. Drei Monate kein Marathon, dabei war erklärte Absicht auch im Winter von Zeit zu Zeit über die lange Distanz zu gehen. Damit ich nicht wie früher in ein tiefes Ausdauerloch falle. „Früher“ war das hinnehmbar. In den letzten Jahren belehrte mich jedoch die Erfahrung enormer Härte beim Neustart zur Vorbereitung auf Marathon und Ultra eines Besseren. Und nun doch drei Monate kein Marathon. Was war passiert?

Mitte November setzten Rückenschmerzen ein, die rasch ein bösartiges Eigenleben entwickelten. Immer wieder plötzlich einsetzten, rasch ein entsetzliches Ausmaß erreichten, anhielten, um danach nur zögerlich abzuklingen. Mich eine Viertelstunde, manchmal länger marterten, im Übrigen vor sich hin „muckerten“, nur selten gar nicht mehr spürbar waren. Schlafen konnte ich nur noch in einer Stellung, oft nicht mal ungestört in der. Laufen half meistens, dabei spürte ich kaum was und hinterher hielt der Segen eine Weile vor. Obschon Laufen eher guttat, zogen mich die unberechenbar häufigen, in der Spitze jeweils barbarischen Schmerzen auch läuferisch ziemlich runter.*

*) Ein MRT bestätigte den Verdacht der Ärzte: Bandscheibenvorwölbung. Aber zu wenig „Schaden“, um ernsthaft über mehr als „Aushalten“ und „Krafttraining beibehalten“ nachzudenken.

Zwei Tage nach Weihnachten erwischt mich überdies eine rätselhafte Viruserkrankung. Kein Corona, aber was ist es dann? Von diversen Symptomen, machen mich zwei wesentliche fix und fertig. Zum einen Schwäche. Tagelang kann ich kaum Sitzen und nur wenige Schritte gehen. Über mehr als zwei Wochen hat mich die Schwäche im Griff, weicht nur zögerlich. Ich kann nicht mehr joggen in diesen Tagen, mich somit auch nicht mehr temporär von Rückenschmerzen befreien. Unterdessen setzen zusätzlich Hustenkrampfanfälle ein. Urplötzlich, hin und wieder, auch mal nachts, entsetzliches Krampfen bis hin zu bleibenden Schmerzen in der Rippenmuskulatur. Auch die werden sukzessive seltener. Einen ersten Laufversuch nach anderthalb Wochen breche ich nach wenigen Minuten ab. Bin einfach noch zu schwach. Der Test endet in einem der schlimmsten Hustenanfälle, der mich beim Ausziehen der Laufschuhe überfällt. Fünf Tage danach ein neuer Versuch: Nach fünf Kilometern fühle ich mich ausgepumpt, als hätte ich gerade den Zielstrich eines Hundert-Kilometer-Laufes überquert. Das geschah am 12. Januar. Zu diesem Zeitpunkt fühle ich mich längst wieder gesund, habe jedoch den Totalverlust meiner Ausdauer zu beklagen.

In der Folgezeit päppele ich mich wieder auf, trainiere hart, mit begrenztem Erfolg. Daran ist nichts mysteriös. Ein M70-Körper reagiert träge auf Ausdauertraining. Lässt mich an sich kalt, zumal bald auch der Teufel im Rücken die Lust am bösen Spiel verliert und mich wieder Hoffnung schöpfen lässt. Hoffnung worauf? Udo kann’s nicht lassen, hat sich (ein letztes Mal?) für die 100 Meilen in Berlin angemeldet. Und genau daraus ergibt sich mein Dilemma. Als ich mich am 9. November anmeldete (Startplätze sind wenige Stunden nach Anmeldebeginn vergriffen), nur wenige Wochen nach dem für mich höchst erfolgreichen Lauf in Graz, standen alle Ampeln auf Grün. Zwei Wochen danach sprangen sie auf Gelb und zum Jahreswechsel auf Rot. Nun flackern Rot- und Gelblicht unentschieden vor sich hin. Ich ringe weiter um meine Form, heute - jetzt - hier am Neckarufer …

… auf schweren Beinen, die nun im Kilometerrhythmus an Unbeweglichkeit zunehmen. Stückweit entlang des Neckars, alsbald ein Schlenker zum benachbarten Max-Eyth-See. Nur ein kurzer Schlenker, einschließlich einer „Minischikane“, die der vermessenen Strecke exakte HM-Distanz verleiht. Rechts neben mir, mit einigem Abstand auf der breiten, rot geklinkerten Promenade, beobachtet ein Mitläufer ein paar der hier allerorten watschelnden Wildgänse und wählt den falschen Abzweig. Mein Weckruf „Hier geht’s lang!“ wird der einzige Satz bleiben, den ich zwischen Start und Ziel über die Lippen bringe. Ach halt: Vorhin brummte ich noch ein zustimmendes „Ja!“ als sich ein Mitläufer verärgert über die Rücksichtslosigkeit mancher Radler einließ.

Am Wendepunkt der Minischikane wacht eine gut gelaunte Dame, klatscht Beifall, feuert an. Das tat sie vor 21,1 Kilometern auch schon, nahm inzwischen allerdings auf ihrem Klappstuhl Platz. Kurz vor mir passiert Judith die Wendemarke. Judith und Andreas, der ebenfalls irgendwo vor mir unterwegs ist, organisieren interessante und kuriose Marathonläufe in und um München herum. Im letzten September beschenkten sie mich mit dem München Olympia Erinnerungsmarathon, auf der Originalstrecke, exakt 50 Jahre nach dem olympischen Marathonlauf von 1972. Und am nächsten Wochenende werde ich mein „Aufbautraining“ anlässlich des von ihnen ausgerichteten Munich Urban Trails fortsetzen.

Ich kehre dem Max-Eyth-See den Rücken und jogge auf die imposanteste Fußgängerbrücke zu, die mir je begegnete. Ein Geflecht aus zwei armdicken Trag- und dünneren Halteseilen verleiht der kühnen Konstruktion Stabilität. Der Weg zum Brückenscheitel fordert zugleich mit der steilsten Rampe des ganzen Kurses. Augenblicklich schrumpft die Spannweite meiner Schritte auf Kaffeebohnenlänge. Mühsam erkämpfe ich mir die nötige Höhe, wobei mein Blick einmal mehr den dekorativen, brusthohen Maschendrahtzaun einfängt, der das Bauwerk seitlich begrenzt. Und zum zweiten Mal stelle ich mir die Frage, ob reine Ordnungsliebe seitens der Verwaltung oder eine Form von Missbrauch durch die Nutzer für die beklagenswerte Veränderung verantwortlich ist. In diesem Jahr fehlen die aberhundert Vorhängeschlösser, die Liebespaare in den Zaunmaschen als Zeichen dauerhafter Zweisamkeit hinterließen (Foto entstand 2021). Was mag da vorgefallen sein? Einen reinen Verwaltungsakt zur Durchsetzung irgendwelcher Paragraphen oder Verordnungen will ich mir gar nicht vorstellen. So rücksichtslos gebärdet sich Bürokratie selbst in Deutschland nicht. Oder doch?

Jenseits steil hinab, eine Orientierung, die meine Beine noch weniger gutheißen, als den steilen Aufstieg Sekunden zuvor. Auf halber Höhe ein Schlenker zum Flussufer hin, wo wie jedes Jahr eine Streckenpostin weniger den Weg weist - der ist dank üppig ausgebrachter Markierungen ohnehin nicht zu verfehlen -, als sie Vorbeilaufenden zujubelt. Ich täusche mich bestimmt nicht: Dieselbe junge Dame stand schon in den Vorjahren an dieser Stelle und verbreitete lauthals gute Laune! Weiter am Neckarufer, stückweit dem Fuß des südwärts blickenden, steil ansteigenden, mit Weinreben gespickten Uferhanges folgend. Noch immer sind sonntägliche Spaziergänger Mangelware, was mutmaßlich dem trüben, kalten Wetter geschuldet ist. Aus den Vorjahren, zumal unter blauem Himmel, habe ich das ganz anders in Erinnerung.

Der Neckar beginnt seinen S-förmigen, sich über mehrere Kilometer hinziehenden Umweg. Ich imitiere ihn dem Ufer folgend, nun unablässig mit wenigen Metern Abstand zum Wasser. Immer wieder tummeln sich Ruderer da draußen, ein Achter samt Steuermann, Zweier, auch diesen oder jenen Einer habe ich gesehen. Gegenüber erkenne ich die Anlegestelle des Rudervereins. Noch ein paar Kilometer, dann werde ich dort vorbei laufen … Auf dem Damm zwischen Fluss und angrenzendem Wohngebiet komme ich gut voran. Wobei „gut“ lediglich die Tatsache meint, dass mein Tempo noch immer nicht einbricht. Nach wie vor etwa 10 Sekunden auf tausend Meter mehr als zu Beginn. Ansonsten fühlt sich Laufen alles andere als gut an. Genau genommen fühlte es sich zu keinem Zeitpunkt wirklich gut an. Da ist dieser zähe Widerstand, den ich vom Start weg überwinden musste. Und da ist diese - wie drücke ich es verständlich aus? - diese „Steifigkeit“ im Lendenwirbelbereich. Das klingt komisch, weil Menschen in der LWS-Region ohnehin „steifer“ gebaut sind, sein müssen, als im Bereich der übrigen Gliedmaßen. Bei mir fühlt es sich aber an als hätte man den unteren Rücken quer zum Steiß mit einer Stahlschiene verschraubt.

Ist mir jetzt aber egal, denn inzwischen geben sich alle Fasern steif und schwer und ich konzentriere mich rein darauf Schritte aneinander zu reihen. Noch sieben Kilometer. Alsbald vorbei am Müll verbrennenden Kraft- und Fernheizwerk, jetzt noch sechs Kilometer und endlich über die Brücke hinüber nach Cannstatt; vorbei am Theaterschiff, das ich heute keines Blickes würdige. Etwa fünf Kilometer vorm Ziel erwartet mich letzte, schwarz im Becher perlende Labsal. Lediglich noch diesen Becher Cola, das letzte Gel verleibte ich mir abweichend vom Plan bereits vor 20 Minuten ein. Ließ mich von der Überlegung leiten, dass zwei relativ kurz aufeinander folgende Zuckerrationen dem zügig voranschreitenden Kräfteverfall besser wehren. Und auf den Schlusskilometern, wenn das Zuckerdoping abklingt, hoffe ich mit der Bald-geschafft-Pille mental letzte Reserven mobilisieren zu können. Natürlich hätte ich mehr Gel einwerfen und mir die Marter hinten raus erleichtern können. Mein Magen-Darmtrakt kann Gel in rauen Massen ab, das habe ich vielfach getestet. Andererseits will Trainingsdisziplin doch genau das: Völliges Verausgaben, Tiefenentladung aller Ressourcen. Nur so zwinge ich meinen Körper zur bestmöglichen Anpassung.

Ich trabe am riesigen Spielplatz vorbei, wo gleichfalls ein Streckenposten steht. Auch wenn ich es abwegig finde - Michael Weber, der Veranstalter, erzählte mir einst entlang eines gemeinsamen gelaufenen Wegstücks, dass hier tatsächlich Läufer abkürzen. Dass sie den unübersehbar holprigen Pfad auf der Uferseite des Spielplatzes, dem etwas ausholenden, dafür kraftsparender zu laufenden Fußweg vorziehen. Spielplatz zur Hälfte umlaufen: Heute ist er nicht da, dennoch sehe ich den Dreikäsehoch vor mir den Weg queren, vom Spielplatz zur Straße wetzen. Im letzten (?) Jahr wendete ich besorgt den Blick, um sicher zu gehen, dass er sich nicht etwa der elterlichen Kontrolle entzog und auf der Straße in Gefahr brachte …

Noch vier Kilometer. Spaß definiere ich anders! Was mich jetzt noch am Laufen hält sind Reste von Energie und stetig wachsender Willenseinsatz. „Ich kann nicht mehr!“ denkt es mehrmals in mir. Offensichtlich eine Notlüge, die mein gepeinigter Körper inszeniert. Verschafft mir das Erleichterung oder aus welchem Grund sonst huschen mir solche Sprüche durch den Kopf? Okay, nun bleibt mein Hirn bei der Wahrheit, lässt mich denken: „Verdammt, ist das hart!“ Die Umgebung, wieder Fluss links und steiler Rebenhang rechts, würdige ich in Runde zwei keines Blickes mehr. Sehnen beherrscht mich, einstweilen dasjenige nach der nächsten Kilometertafel. Mein GPS-basierter Kilometerzähler eilt inzwischen fast einen halben Kilometer voraus. Was mir zupass kommt, da ich mir dadurch doppelt so oft ein Trostpflästerchen aufs heftig gefolterte Gemüt kleben kann. Gerade wieder eins, in Höhe der Einfahrt zum Ruderverein, die Tafel mit der „19“. Und in nur etwa drei Minuten wird die Uhr bereits den vollendeten 41. Kilometer melden.

Nimmst du mir ab, dass mir die Laufzeit trotz aller widrigen Umstände und des final grässlichen Laufgefühls nicht gleichgültig ist? Immer wieder rechne ich meinen Zieleinlauf hoch. So kurz vorm Ende mit ziemlich verlässlichem Ergebnis: um die 4:40 Stunden werde ich brauchen. Ein paar Sekunden darunter, irgendwas mit 4:39 Stunden, „sähe besser aus“. So denke ich schon seit geraumer Zeit. Und ebenso lange ist mir klar, dass das eng werden wird. Muss kein anderer anmerken: Ich schelte mich selbst einen Narren, um Sekunden zu feilschen, die doch für niemanden, einschließlich mir selbst, Bedeutung besitzen. Mit wieder klarem Kopf, hier daheim und mit den Fingern auf der Tastatur, stellt sich das dann aber schon etwas anders dar. Es geht immer auch darum, mir zu beweisen, dass ich das noch kann: in Bedrängnis geraten kämpfen! Ziele realisieren, auch wenn’s wehtut! Als Zeitziel hatte ich heute irgendwas zwischen 6:30 und 6:39 Stunden im Sinn, die ich eindeutig als Erfolg werten würde. Das scheint nun möglich und deshalb will ich es, auf Biegen und möglichst nicht Brechen.

Unter der Autobrücke hindurch und vor der letzten Streckenpostin rechts abbiegen. Es beginnt ein gefühlt endloser Anstieg im Park am Max-Eyth-See. Rote Klinkerplatten zu meinen Füßen, von denen jeder nun mindestens eine Tonne wiegt. Gefühlt watschele ich so gemächlich da rauf wie die Gänse nebenan übern Rasen. Aber mehr ist nicht mehr drin. Die sicher nicht mal ein Grad „steile“ Rampe will und will kein Ende nehmen. Ab und zu luge ich voraus, sehne den „Gipfel“ herbei. Auch weil „dort oben“ die Kilometertafel mit der „20“ steht. Endlich, endlich, endlich bleibt das Schild zurück, noch 1,1 Kilometer. Irgendein Bekloppter in mir entschließt sich zur vollkommen idiotischen Schlussoffensive. Ein Anderer ächzt: „Das halte ich nie einen Kilometer durch!“ Und doch drücke ich die Tachonadel auf Werte unter 6 min/km. Einfach verdrängen wie weh das tut, dass nun untenrum die Hölle tobt. Weiter voran, rasch, rasch, will unter 4:40 bleiben … Noch etwa 500 Meter und beruhigend viel Zeit auf der Uhr. Dennoch lasse ich den Fuß auf dem Gas. Welchen Sinn hätte es gehabt bis hierher zu rennen, wenn ich nun wieder Zeit im Austrudeln verschenkte? Eine letzte Rechtskurve vor mir, dahinter wartet das Ziel … Nach 4:38:41 Stunden bleibe ich hinter der Zielmatte stehen und pumpe auf meine Oberschenkel gestützt sekundenlang wie ein Maikäfer; ganz und gar durchflutet von nur einem Gedanken: Geschafft!

 

Fazit zum Lauf

Mein Ziel - überlanges Training und Zielzeit einhalten - konnte ich realisieren. Die Zeit von knapp 4:39 Stunden scheint auf den ersten Blick der letztjährigen Leistung (nur zwei Minuten weniger) ebenbürtig. Dem ist nicht so, weil die Strecke 2021 geändert werden musste und zwei harsche Anstiege enthielt. Zudem schluckte ich zu jener Zeit noch einen Betablocker, der meine Ausdauer und Trainingsfähigkeit beeinträchtigte. Ich hänge also dem Vorjahreslevel noch um einiges hinterher. Was mich den nächsten Monaten skeptischer als der Zeitvergleich entgegen sehen lässt, ist mein Gefühl beim Laufen. Dass mich jeweils von Beginn Widerstände begleiten, die den Laufspaß erodieren. Natürlich hoffe ich auf Besserung und werde um meine Form kämpfen. Trotzdem lasse ich den Gedanken an einen endgültigen Abschied von den sehr langen Ultrastrecken schon im laufenden Jahr zu. Das ist schon deshalb nötig, weil ich mich sonst unter zu hohen, also ungesunden Druck setzen würde.

 

Fazit zur Veranstaltung

Ich mache es mir einfach und verweise auf die sehr positive Wertung der Vorjahre. Michael Weber hat auch in diesem Jahr eine Marathonveranstaltung ausgerichtet, der man nur die Bestnote Eins mit Sternchen verleihen kann.

Fazit: Stets gerne wieder!