18. Juni 2022

Phoenix in der Asche  -  Lüneburger Heide Ultramarathon 2022

Abergläubig bin ich zum Glück nicht. Andernfalls ließe ich schon vorm ersten von weit über 100.000 Schritten den Kopf hängen. Was fatal wäre, Ultrastrecken verlangen den mental starken Kerl im Läufer. Letztes Jahr wollte Corona nicht, dass ich den Hunderter laufe, er wurde auf dieses Jahr verschoben. Danach verweigerte mein Körper zeitweilig komplett den Läuferdienst. Ich musste mir mühsam wieder Reichweite aneignen, ab da zu meinem Leidwesen behindert von "Drogen". So fuhr ich Richtung Lüneburger Heide in der miserabelsten Verfassung, in der ich je zu einem 100 km-Lauf aufbrach. Wer aber - so mein Kalkül - den Rennsteiglauf mit 74 km und 1.700 Höhenmeter durchsteht, der überlebt auch das weniger anspruchsvolle Profil eines Heide-Hunderters. Ich stehe also früh um sechs Uhr auf und gucke mir anlässlich der Morgentoilette ins Gesicht. Erster Schrecken schlägt um in blinde Wut. Wut gegen ... das Schicksal, die Götter des Laufsports, was weiß ich ...

Ich sehe rot, nicht sprichwörtlich, tatsächlich blutrot. Kein Weiß mehr im rechten Auge, alles blutunterlaufen. Stößt mir jetzt zum dritten oder vierten Mal zu, seit ich zwei Präparate zur Blutverdünnung nehme. Zuletzt vor Monaten. Also schon lange nicht mehr und nun ausgerechnet heute. Der Zufall ist ein Drecksack! Die Einblutung hindert nicht und langes Laufen wird sie nicht verschlimmern. Vom Doc erhielt ich nie die Anweisung in diesem Fall körperliche Aktivitäten einzuschränken. Also "business as usual!" - es wird gelaufen als wäre alles in bester Ordnung!

Darum stehe ich jetzt hier, gegen 6:50 Uhr, in Begleitung meiner "Fanbase", Ehefrau Ines auf zwei, langjährige Laufbegleiterin Roxi auf vier Beinen. "Hier" meint am Rande der Stadt Lüneburg auf riesiger, begrünter Freifläche, die sogar das ansonsten doofe Navi unseres fahrbaren Untersatzes als "Sülzwiesen" kennt. Aus den Lautsprechern quakt, quietscht und pfeift es dissonant, bis Sprecher oder Bediener die Rückkopplung endlich in den Griff bekommen. Begrüßung, Infos zur Streckenmarkierung und der übliche Appell an die Selbstverantwortung folgen: Wer sich nicht gut fühlt, soll angesichts der vorhergesagten Hitze gar nicht erst loslaufen. Worauf ich Ines spontan zuraune: "Wenn's darum ginge, wie ich mich fühle, könnten wir gleich wieder heimfahren!" - Spaß und Ernst in einem: Natürlich fühle ich mich nicht "gut". Bedenken trug ich stets zur Startlinie, wenn ich zu einem entsetzlich weit entfernten Ziel aufbrach. Früher waren das Ziele hinter der 20 Stunden- oder 200 Kilometer-Grenze. Jetzt im "Alter" und unter erschwerten Trainingsbedingungen eben dieser Hunderter. Und eines weiß ich aufgrund der jüngsten Marathon- und Ultraerfahrungen ganz sicher: Die Frage ist nicht, ob ich leiden werde, sondern nur wie bald!

Innige Umarmung, dann der Abschied. Ich sauge Ines' mit Nachdruck geäußerte Zuversicht auf wie ein trockener Schwamm: "Du wirst es schaffen!" - Die übliche bunte Schar sammelt sich zum Start. Von etwa 170 Läufern w/m gehe ich aus, so viele standen in der Startliste. 150 Teilnehmer über die gesamte Distanz und die Startläufer von 20 Zweierstaffeln. Der Hauptlauf, fast 40 Staffeln mit je fünf bis 10 Teilnehmern, muss noch eine Stunde mit den Füßen scharren. Soll mich stören, dass man die Ultras eher als "Anhängsel" zu betrachten scheint? "3. Internationaler Lüneburger Heide-Staffellauf & Ultra-Marathon". Ich beschloss die Marginalisierung in der Überschrift ebenso zu ignorieren wie den negativ angehauchten Kommentar eines ehemaligen Teilnehmers. Den traf ich vor zwei Wochen bei "Rund um Detmold". Er lobte die reizvolle Strecke und tadelte den schon weit fortgeschrittenen Abbau der "Kulisse" beim Zieleinlauf. Womit die "Zielzeitfrage" angerissen wäre. Wie lange werde ich brauchen?

Etappe 1: Lüneburg - Südergellersen, 10,3 km

Meine mutmaßliche Zielzeit konnte ich vor zwei Wochen ebenso wenig abschätzen wie gestern oder jetzt, kurz nach dem Start. Irgendwas zwischen 13 bis 15 Stunden, die maximal vom Veranstalter eingeräumt werden. Anders als früher bekam ich den Ausdauerwert meiner Vorbereitung nie wirklich zu fassen. Zu unterschiedlich fielen die Ergebnisse aus und zu zögerlich gestaltete sich der Aufbau. Weitere Unsicherheiten ergeben sich aus weitgehend fehlender Streckenkenntnis und nicht zuletzt aus dem Einfluss der vorhergesagten Tageshitze. Kurz nach dem Start ... es fühlt sich grauenvoll an. Körper total versteift und Beine schwer wie Blei. Auch innerlich kommt nichts "in Bewegung". Ich kenne das von vielen Trainingsläufen. Nichtsdestoweniger löst es hier und jetzt fast so etwas wie Panik aus. Kraftlos mein Aufbruch zu *in Worten*: einhundert Kilometer.

Ein erster Buckel in der Straße erlebt mich kurzatmig. Auf sich anschließendem, fest geschottertem Fuß- und Radweg unter dicht stehenden Alleebäumen bleibt die Stadt zurück. Immer noch aufwärts trabend komme ich zögerlich in Gang, halte mich wie schon am Start irgendwo im letzten Drittel. Leere im Kopf und sicher auch im Blick. Nur dieses Echo: 100 Kilometer - wie soll das gehen? Ich muss komplett verrückt sein. Andere Läufer rings um mich her, ich nehme sie nicht wirklich wahr. Einen dann doch: Ziemlich korpulent, schon in morgendlich noch kühler Luft von 20°C schweißüberströmt. Kann sein die Laufgötter schoben ihn zur Wiedergutmachung in mein Sichtfeld. Damit ich gedanklich aufbegehre: "Was der kann, kann ich auch!" - Nicht mehr als ein Mutmachspruch. Schließlich weiß ich nicht, ob er's kann. Andererseits gehöre ich zum Typus Läufer, in dessen Wortschatz die Vokabel "aufgeben" von jeher fehlt.

"Diesen Weg kommen wir auch wieder zurück!" erläutert sie hinterrücks ihm die Route. Einem Reflex folgend blicke ich zur Uhr, lese drei gelaufene Kilometer ab und präge mir die Stelle ein. Heute Abend erschöpft, mit fast leeren Akkus verlässlich die Reststrecke zu kennen wird mir mental vielleicht helfen. - Ab in den Wald, ... Wald, Wald, Wald ... Laub dominiert die Forste der Heideregion, vielfach aufgelockert mit Kiefern. Zu meiner Freude wachsen hier im Norden Deutschlands unfassbar viele meiner Lieblingsbäume: Eichen. Selten in meiner Region nahe Augsburg, hier allgegenwärtig. Wir biegen mehrmals ab, mal rechts, mal links, einerlei. Pfeilen und Schildern zolle ich kaum Beachtung, bunte Rückenansichten stets in Sichtweite leiten mich sicher. Ich richte mein Augenmerk aufs brauchbare aber ungewisse Geläuf. Zugleich lausche ich inneren Echos. Offenbar geht doch mehr als der überaus zähe Anfang suggerierte. Ich komme ins Rollen, verhalten. Doch mehr als "verhalten" darf ohnehin nicht sein, soll die Puste bis zum Abend reichen. Das Tempo überlasse ich völlig meinem Laufgefühl.

Ende Gelände, ein Weiler beginnt. In Bälde hoffe ich die erste Getränkestation zu sichten*. Ein erstes Gel wartet im Magen seit einigen Minuten auf Verdünnung. Was den Kaloriennachschub angeht, werde ich heute nach der bewährten Devise "nicht kleckern, sondern klotzen" verfahren. Zu jeder halben Stunde eine Portion Gel (100 kcal), drohen meine Kräfte zu versiegen werde ich das Intervall auf 20 Minuten verkürzen. Eine in vielen Wettkämpfen, unter anderem beim Spartathlon, erprobte Taktik. Sogar "Boostern" mit zwei Gelpäckchen auf einmal toleriert mein Magen im "energetischen Notfall".

*) Stationen mit Vollverpflegung sind an den neun Wechselorten der Staffeln eingerichtet, also nach jeweils 10 km (+/-). Ungefähr auf halber Etappe gibt es jeweils eine Getränkestation. Ausgenommen auf Etappe sechs, sie misst nur 6,9 km.

"Heiligenthal" heißt das winzige Heidekaff und Getränke gibt's neben der Bushaltestelle. Eilig (ohne es wirklich eilig zu haben) kippe ich mir drei Becher Cola hinter die Binde, danke der Helferin und bin keine Minute später auch schon wieder weg. Cola war eine unüberlegte Wahl! meint ganz entschieden mein Magen und unterstreicht seine Auffassung mit Völlegefühl in der Körpermitte. Er fordert mich auf demnächst ausschließlich Wasser zu trinken, um die Gelpampe hinlänglich zu verdünnen.

Etwa vier Kilometer trennen mich vom eigentlichen Verpflegungspunkt und auf dem Weg dorthin widerfährt mir unerwartet so etwas wie Laufgenuss. Nicht unschuldig daran der bestens asphaltierte Radweg, durch einen Grünstreifen von der Straße getrennt. Zunächst im noch immer angenehm kühlen Wald, alsbald mit Gefälle im Sonnenschein und zuletzt sanft hinan am Rand eines Getreidefeldes. Angenehm wärmt die Sonne im Nacken und sanft wiegt sich die Armada der Ähren nebenan im Wind. Ich genieße den Blick über das fast schon erntereife, goldgelbe Feld und weiß nicht einmal, wieso mich dieses einfache, ländliche Panorama anrührt. Ist auch egal. Nach hässlichem Auftakt komme ich im Moment erfreulich gut mit mir zurecht. Vielleicht erlebe ich eine Überraschung heute, mal wieder eine kleine Sternstunde nach all dem Kuddelmuddel des letzten Jahres. Zeit wär's!

"Südergellersen" steht auf dem Ortschild und der Entfernungsmesser am Handgelenk vollendet gerade den zehnten Kilometer. Ich biege von einer Neben- auf die Haupt- und nur einige Schritte danach erneut in eine Nebenstraße ab. Spontan in mir aufwallende Freude gilt weniger der Verpflegungsstation, sondern meiner Frau Ines, die mich lächelnd und applaudierend erwartet. Und Ines denkt mit, deutet auf die Instanz der Zwischenzeitnahme, in einer von rot-weißem Trassenband aufgespannten Gasse. Der Transponder am rechten Handgelenk blinkt rot als ich an dem auf einem Dreibein montierten Lesegerät vorbeitrabe. Also korrekt registriert, alles paletti! Ich ergänze meinen Gelvorrat aus Ines' Bauchladen, einer kurzerhand von ihr umfunktionierten kleinen Kühltasche. Sieben Gelpäckchen stecken nun wieder im Gürtel, den ich so gut wie unsichtbar unterm Shirt in Hüfthöhe trage. Damit "überlebe" ich zur Not mehrere Stunden autark, sollte der Nachschub stocken.

Etappe 2: Südergellersen - Amelinghausen, 13,8 km (gesamt: 24,1 km)

Fast ungestörtes Laufen am Straßenrand, beinahe ständig beschirmt von den Kronen mächtiger Alleebäume. Autos sind hier Mangelware, in überholenden sitzen ohnehin meist Angehörige der Läufer. Irgendwann tuckert Ines vorbei, hält ihren Arm winkend aus dem Seitenfenster; um ein Haar wäre es mir gelungen ihre Hand abzuklatschen. Unsere Hündin Roxi kläfft frenetisch hinterm Heckfenster ... Natürlich hat sie mich erkannt. Und ganz sicher "versteht" Hundeoma Roxi - sie wird im August 15 Jahre alt -, was ihr Herrchen da treibt. Überdies bin ich felsenfest davon überzeugt, dass mein Tun Erinnerungen in ihr weckt. An die vielen Jahre, da wir als sechsbeiniges Laufduo Marathons und Ultras auch gemeinsam bestritten, bis zu ihrer weitesten Laufstrecke von 72 km*. Hundemenschen verbindet mit ihrem Vierbeiner eine innige, emotionale Beziehung. Sie sehen im Tier mehr als ein Tier mit tierischen Instinkten, erkennen seine unverwechselbare Persönlichkeit. Wer mit seinem Hund läuft, womöglich sehr weite Strecken läuft, erschließt noch einmal eine andere Dimension der Mensch-Hund-Beziehung. Mit jedem gemeinsamen Tag, mehr noch mit jedem Kilometer Laufstrecke wuchs meine Achtung vor der Leistung meiner vierbeinigen Gefährtin. Roxi wurde und ist weiterhin Teil meines Läuferherzens, auch wenn sie meine Schritte nun nicht mehr begleiten kann ...

*) Längere Distanzen wären für Roxi kein Problem gewesen. Da ich sie ihrem Naturell entsprechend jedoch ohne Leine "führen" wollte, war ich gleichermaßen Läufer und Hundeführer. Letzterem fehlt es irgendwann ermüdungsbedingt an der nötigen Konzentration. Den dadurch entstehenden Risiken - etwa beim Überqueren von Straßen - durfte ich Roxi nicht aussetzen.

Nicht zum ersten Mal trabt der hoch aufgeschossene, ältere Mitläufer an mir vorbei. Wo der "Lulatsch" zwei Schritte setzt, brauche ich drei. Überholt, hält noch Sekunden das Tempo, dann geht er wieder. Weswegen ich ihn kurz darauf im stoisch betulichen Gleichmaß meiner Schritte überhole. Böte mir jemand eine Wette an, ich setzte ein Vermögen darauf, sein Tapptapp in Bälde wieder nahen zu hören. Das aufgezwungene "Dauerduell" nervt, ich weiß nur nicht warum. Es gibt keine Veranlassung dazu. Rein "stoffwechsel-energetisch" betrachtet ist seine Taktik Laufen-Gehen weniger effizient als mein konstant gemächlicher Dauertrab. Vielleicht kommt er mental nicht anders klar oder glaubt das verschleppte Tempo nicht dauerhaft über Stunden realisieren zu können. Wie dem auch sei: Seine 100-Kilometer-Strategie ist ganz allein seine Sache. Und darum nervt mich, dass mir sein Rhythmus auf die Nerven geht.

Wetzen trennt uns einstweilen. Wetzen steht auf dem Ortsschild und natürlich fordert der Ort ein Bonmot geradezu heraus: "Wetzen" werde ich auf hundert Kilometern sicher keinen Meter weit! - Wetzen bringt auch Linderung im bereits wieder trockenen Mund. An der Zwischentränke fülle ich mir rasch den Magen mit drei vollen Bechern Wasser. Das "rasch" ist wörtlich zu verstehen. Viel und schnell trinken machte ich mir als Wettkampfläufer zu eigen. Im Zuge anfänglicher Marathon-Bestzeit-Bestrebungen optimierte ich auch den Trinkvorgang. Und dabei blieb es, auch wenn ich längst keine Sekundenvorteile mehr "er-saufen" muss. Keine halbe Minute, dann setze ich unterstützt von einer "Streckenpostin" über die Vorfahrtsstraße und kehre dem Dorf den Rücken - weiterhin guten Mutes auf flacher, asphaltierter Route ...

Was wird man hier oben im deutschen Norden bei archäologischen Grabungen in vielleicht 5.000 Jahren entdecken? Und was davon wäre kennzeichnend fürs Klima zu Beginn des dritten Jahrtausends? Unter Garantie Reste von Windkraftanlagen, weil die Menschen in einer Sackgasse ihrer Zivilisation angekommen endlich erkannten, dass die Schätze der Erde zu verfeuern ins Verderben führt. Da die Umkehr sich aber über Jahrzehnte hinzog, werden Archäologen auch Reste von armdicken Schläuchen, Saugrohren, großen Schlauchtrommellafetten und weitreichenden Wasserkanonen finden. Tage- und nächtelang musste wertvolles Grundwasser über Feldern versprüht werden, wollte man die Ernte in staubtrockenen Sommern retten! - Was nebenan im Acker - nun schon mehrfach entlang der Strecke gesichtet - als Selbstverständlichkeit daherkommt, auch "lustig" anmutet, besonders wenn die Kanone wie diesmal einen künstlichen Regenbogen auffächert, ist in Wahrheit Indiz für die schon längst eingetretene Klimakatastrophe!

Apropos Katastrophe: Der Ortsname "Oldendorf/Luhe" will mich in Harmlosigkeit einlullen, das 30er-Zone-Schild provozieren und die Warnung "Straßenunebenheiten" auf eine "böse" Temposchwelle vorbereiten. Fährt man im Kreis Lüneburg gelegentlich auch links, oder warum wurde der Schilderwald beidseits der Straße gepflanzt? - Wie? Ach so, nein, die Katastrophe kommt erst noch. Sie beginnt übergangslos beim Abbiegen im Ort und manifestiert sich als Kopfsteinpflaster. Mein Erschrecken ist echt, weil wenig die Kugellager meines Getriebes rascher verschleißt als grob verlegte Wackersteine ... Meine Panik war verfrüht: Beidseits der Pflasterstraße bahnten sich lange vor mir "Verkehrsteilnehmer jeder Art" einen brauchbaren Weg. Die kurzzeitig versteilten Nackenhaare legen sich wieder, Udo entspannt ...

Einstweilen kein Asphalt mehr, vom Pflastersträßchen am Waldrand schickt mich die Markierung auf einen Wanderweg im Forst. Ein gut "fußläufiger" Weg und so bin ich sogar dankbar fürs Verzweigen. Wald speichert die morgendliche Kühle noch eine Weile, wohingegen die zuletzt offenen, in Sonne gebadeten Abschnitte auf Landstraßen bereits meine Poren fluteten. Völlig überrumpelt bin ich von der Aussicht, die sich mir wenig später bietet: Eine Heidefläche, nur ein paar Fußballfelder groß und gänzlich von Wald umschlossen. So begrenzt in ihrer Ausdehnung kenne ich die Lüneburger Heide nicht. Fast wäre ich geneigt zu fragen: Wie kommt die hierher? Darauf gäbe es sogar eine schlüssige Antwort, die der Zufall mir zwei Tage später zuspielen wird. Eine höchst erstaunliche, meine Vorstellung von der Entstehung der Lüneburger Heide auf den Kopf stellende Antwort übrigens. Nur so viel: Was Naturliebhaber heute entzückt, begann einst als ökologischer Sündenfall mit Langzeitfolgen*.

*) Zur Entstehungsgeschichte der Heide siehe Link auf Wikipedia.

Innere Harmonie im Gleichmaß der Schritte, Einssein mit mir, mit meinem Lauf und der Welt um mich her. Dieses Gefühl entbehre ich schon viel zu lange. Die Bedingungen, unter denen ich trainierte und lief, waren zu schwierig. Und nun kehren Anflüge solchen Empfindens nach etwa 20 gelaufenen Kilometern zurück. Zufriedenheit, die ich noch ein Weilchen im dichten Auwald genieße, alsbald am Ufer eines Stausees. Ich folge dem Uferweg des Lopausees, den ich aus ungewohnter Perspektive erst nach einer Weile wiedererkenne*. Ich wäre nicht überrascht in Höhe des Seecafes, wo wir letztes Jahr Einkehr hielten, Ines und Roxi zu entdecken. Ines beim Frühstück und Roxi vielleicht mit vier Beinen im kühlen Nass. Keine "Fans" am Ufer, das Cafe hat noch nicht offen. Dann eben in Bälde im Zielort Amelinghausen!

*) Wir verbrachten einen Teil unseres Urlaubs im letzten Jahr in der Lüneburger Heide. Ursächlich dafür war der Heide Ultra. Der wurde auf heuer verschoben, der Urlaub war aber bereits fix gebucht.

Am Südende des Sees verliebe ich mich spontan in eine unweit vom Ufer im Wasser dümpelnde Gänsefamilie. Herr und Frau Gans mit drei Küken. Wirklich Gänse oder doch vielleicht Enten? Die Zeichnung der Elterntiere ist mir unbekannt. Das Idyll kostet mich eine halbe Minute Laufzeit für Fotos und eine spätere Recherche*. Und weil ich den Läuferrücken, der mir in den letzten Minuten bequeme Orientierung bot, aus den Augen verlor, steigt der Preis weiter: Zurück im Wettkampf setze ich per Steg über die Lopau und stehe hilflos vor einer Weggabelung: Dem Pfad geradeaus folgen, weiter am See entlang, oder rechts in den Auwald abbiegen? Ich suche intensiv nach Pfeilen, einem Schild, irgendeine Wegweisung. Nichts. Definitiv, ganz eindeutig und absolut sicher: Keine Markierung an dieser Stelle. Instinkt und Orientierungssinn raten unisono: Bieg rechts ab! Markierer-Logik aus zig Wettkämpfen befiehlt anderes: Wo keine Markierung, da geradeaus! - Und so halte ich es dann auch, setze mich zögerlich, meinem Entschluss misstrauend in Bewegung. Komme zum Glück nur 30 Meter voran, bis mich lautes Rufen zweier Staffelläufer herumfahren lässt. Mit Handzeichen bedeutet man mir zu folgen. Also doch in den Auwald, intuitiv lag ich richtig!

*) Es handelt sich um Kanadagänse, ursprünglich nicht heimisch in Europa.

Ich folge den Staffelläufern, verliere sie aber sofort aus den Augen - zu unübersichtlich der Pfad, zu schnell die beiden Männer. Innerlich aufgescheucht und verunsichert achte ich nun peinlich genau auf den Weg. Das darf mir nicht noch einmal passieren! Wobei der freche, kleine Mann im Ohr fröhlich Zweifel sät: Wenn keine Markierung da ist, kannst du auch keine finden! Ich tippele betont langsam und umsichtig voran. Wähne mich minutenlang auf dem korrekten Weg, mache allerdings auch nirgends eine Wegmarke aus. Unsicherheit krallt sich im Nacken fest, das weiß ich nun wieder ganz sicher. Von dort aus überzieht sie die Haut in alle Richtungen. Weckt Furcht vorm Verlaufen im Kopf und haut just in dem Moment auf den Panikknopf, da der Weg in ein Sträßchen mündet. Rechts oder links? Kein Schild, kein Pfeil. Ich stehe und blicke ratlos umher, verloren in Zeit und Raum.

Gewaltig der Druck und ich lasse ihn ab. Ein lauter Schrei entlädt sich, nicht druckreif! Das Problem indes bleibt: Rechts oder links? Diesmal rettet mich kein Läufer mit Streckenkenntnis. Keine Ahnung wie lange ich da stehe und sekündlich mehr Zorn im Bauch aufwallen spüre ... Instinktiv wende ich mich schließlich nach rechts. Da ich peinlich genau auf Markierungen achtete, jedoch keine fand, komme ich nicht auf die Idee mich verlaufen zu haben ... Ein paar hundert Meter weiter Hoffnung: Stückweit voraus taucht ein Läufer auf ... kommt von links, läuft geradeaus und bergauf weiter. Wieso kommt der von links? Ich erreiche die Stelle: Zufahrt eines Campingplatzes, auch hier keine Markierung. Verwirrt bleibe ich neuerlich stehen und schreie hinter dem anderen her: "Hallo!? Haaalloooo!?" Flehen um Orientierung, ein Zeichen, irgendwas. Kurz dreht er sich um, sieht mich, winkt ihm zu folgen ...

Und ich folge, angefüllt mit quälenden Zweifeln und Wut. Die Zweifel verpuffen, als ich links voraus des Stadions von Amelinghausen ansichtig werde. Ohnmächtiger Zorn bleibt: Eine nachlässig und/oder stellenweise gar nicht markierte Strecke? Das geht gar nicht! Nicht im Grundsatz und schon gar nicht auf einer 100-Kilometer-Ultrastrecke. Ich drehe auf der Tartanbahn eine fast vollständige Runde, registriere mich in Höhe der Zeitmessung und wende mich dann dem Läuferbuffet zu. Und hier lasse ich Luft ab. Wissend, dass die Helfer hinterm Tresen mein Malheur nicht zu verantworten haben, leite ich meine Rede mit vor Wut zitternder Stimme ein mit: "Sagt eurem Streckenverantwortlichen ..." Ich werde nicht ausfallend, lasse es aber an Nachdruck und Eindeutigkeit nicht fehlen. Ganz sicher bin ich rund um die Verpflegungsstelle nicht zu überhören. "Hast du dich auch verlaufen?" springt mir einer bei, als der Helfer mit einem hilflosen "Aber gestern waren die Markierungen noch da!" meiner Beschwerde den Boden entziehen will. Und noch ein weiterer unterstützt meinen Protest, der gleichfalls nur "irgendwie" ins Stadion von Amelinghausen fand. Natürlich findet sich auch einer der relativiert: Also da gab's schon eine Markierung, aber man hätte sie vielleicht besser ... deutlicher ... weiter hier oder da ... usw. Das ist mir dann doch zu blöd. Drei Leute kurz hintereinander, die vom Weg abkamen, dazu der Irrläufer, der mir bedeutete ihm zu folgen - die Fakten sprechen für sich: Note sechs mit Sternchen für den Verantwortlichen in diesem Streckenabschnitt!

Etappe 3: Amelinghausen - Schwindebeck, 9,4 km (gesamt: 33,5 km)

Nichts baut rascher und nachhaltiger ungute Emotionen ab als ausdauerndes Laufen. Schon am Ortsende von Amelinghausen habe ich den Frust komplett über Bord geworfen. Ines, der ich am Ausgang des Stadions begegnete, trat ich leider noch "vergrätzt" und unterm Eindruck des Verlaufens gegenüber. Aber das wird sie rasch abschütteln. Von meinem plötzlichen Auftauchen war sie total überrascht. Und erst nach unserem Abschied, da mir andere Läufer entgegen kamen, begriff ich, wieso ich sie derart überrumpeln konnte. Erkannte überdies, dass ich auf dem letzten Kilometer keiner unmarkierten Strecke folgte, sondern irgendwo falsch verzweigte.*

*) Zu meiner Beruhigung ergab die spätere Auswertung des aufgezeichneten Tracks: Meine Ist-Strecke war sogar etwas länger, als die Soll-Strecke.

Die Laufzeit zwischen Amelinghausen und Schwindebeck vergeht weitgehend ereignislos. Abgesehen von ein paar hübschen, naturbelassenen Blühwiesen, Eldorado für alles, was summt, verzeichnet meine Erinnerung keine positiven aber auch null negative Ausreißer. Ich vollziehe geradezu sklavisch mein Gel-Schluck-Intervall und trabe mit konstant zurückhaltendem Tempo einher. Von Zeit zu Zeit werde ich überholt, vermutlich Staffelläuferinnen oder -läufer. Längst suche ich jedes Fleckchen Schatten entlang der Strecke. Die Wärme hat spürbar zugenommen, dürfte jetzt, am späten Vormittag, bereits etwa 25°C erreicht haben. Die gestiegene Temperatur und weniger Schatten auf dieser Etappe treiben mir den Schweiß aus allen Poren. Aber ich komme gut zurecht, bleibe zuversichtlich und hänge - wie die spätere Auswertung zeigt - dem Irrglauben an, noch immer im selben Tempo unterwegs zu sein wie zu Beginn. Tatsächlich werde ich stetig etwas langsamer, offenbar im selben Maße wie die Quecksilbersäule steigt ...

Etappe 4: Schwindebeck - Bispingen, 8,9 km (gesamt: 42,4 km)

Auch der Weg von Schwindebeck nach Bispingen bereichert meinen "Schatz an Lauferlebnissen" kaum. Und doch bin ich zufrieden, da kaum von Höhenunterschieden gefordert und ausschließlich energiesparend auf Asphalt unterwegs. Beides tut zunehmend Not, weil ich just auf diesem Abschnitt, zwischen Kilometer 33 und Marathon, erstmals einen Substanzverlust spüre. Sogar deutlich spüre und nicht verstehe, wieso sich Ermüdung binnen weniger Kilometer von wahrnehmbar zu belästigend steigert. Amüsanterweise kenne ich einen Teil der Strecke von Trainingsläufen aus dem vorigen Jahr. Wiederbegegne zum Beispiel dem "schauerlichen Drachen", einer mannshohen Holzskulptur, die von der betonierten Umfriedung eines Werkgeländes herab fauchend vor unbefugtem Betreten warnt. Auch den Wildschütz Hans Eidig, dem auf hölzernem Sockel ein Denkmal gesetzt wurde, kenne ich vom Sehen.

Sobald die Sonne vom Himmel brennt gelüstet es erfahrungsgemäß viele Läufer nach einer Dusche. Auch mir wird sie zweimal angeboten. Erstmals in Form einer Gießkanne in Höhe der Getränkestation auf halbem Weg. Wie üblich lehne ich ab mich nassspritzen zu lassen. Weil ich's nicht brauche, die Elektronik meiner Kamera darunter leiden könnte und es mir aus unerfindlichen Gründen unangenehm wäre. Dieselbe Ablehnung wird zwei Mädchen zuteil, vielleicht sieben, acht Jahre alt, die sich ein paar Kilometer weiter mit Papas Gartenschlauch einen Spaß daraus machen vorbei trottende Läufer abzukühlen. Herrlich! Wann darf man schon mal Erwachsene von oben bis unten nassspritzen? Und dann tippelt da ein Spielverderber heran, der den Mordsspaß ablehnt!? "Aber warum?" quietscht eine von beiden enttäuscht und entrüstet zugleich. "Sie haben doch nicht mal Wasser dabei!!!" Der Opa in mir bedauert seine Weigerung zutiefst, würde den Zwergen zu gerne den Gefallen tun, zumindest seine Ablehnung begründen. Nur leider bin ich auf einer 100 km-Laufstrecke und nicht zum Familienbesuch unterwegs.

Innerorts Bispingen und nicht weit vorm nächsten Verpflegungspunkt gewinnt der Kurs ein paar Minuten weit an Höhe. Moderat, kaum erwähnenswert, aber offenbar fordernd genug, um mehreren meiner Mitläufer Gehschritte aufzuzwingen. Ich sammele drei von ihnen ein und verspüre dabei nicht mal einen Anflug von Genugtuung. Vielmehr frage ich mich, wie weit (oder lange) es mir vergönnt sein wird solche Anstiege joggend zu überwinden. Was wie stets meiner bedingungslosen Absicht entspricht: Alles laufen, nicht gehen! Allenfalls gehen, wenn laufen nicht mehr möglich ist. Vor einer Stunde hätte ich mir noch gute Aussichten für 100 Prozent Laufschritte auf 100 Kilometern attestiert. Inzwischen setze ich zumindest schon mal ein erstes Fragezeichen.

Nicht mehr weit bis zum Marathon. Wie auf fast jeder längeren Ultrastrecke ein Ort, dem ich mit wachsendem Verlangen zustrebe. Welches Motiv dahinter steckt, weiß ich nicht. Der Streckenpunkt 42,195 km hat auf längeren Strecken keine Bedeutung. Bräche ich dort ab, reiste ich ohne Lorbeer nach Hause. Trotzdem schaue ich immer wieder zur Uhr und berechne die noch fehlende Distanz. Mindestens als Zwischenziel ist die Marke willkommen. Wenn realisiert, kann ich ein neues anstreben, wahrscheinlich dann die 50 Kilometer. Und wenn auch die geschafft sein werden, als nächstes Zwischenziel vielleicht die Stelle, an der mich "nur" noch ein Marathon vom Zieleinlauf trennt.

Vorbei an Pferdekoppeln, abseits der Straße nutze ich einen Radweg innerorts Bispingen. Weit kann's nicht mehr sein bis zum nächsten Rendezvous mit Ines. Parkplatz und großes Aufgebot an fahrbaren Untersätzen rechts voraus. Eine Ansammlung von Menschen deutet auf eine Attraktion im Urlaubsgebiet hin. Dass es sich um ein großes Freibad handelt, bekomme ich schon nicht mehr mit. Frühzeitig erkenne ich voraus den Verpflegungspunkt und - noch erfreulicher - auch meine Frau ... Vorfreude verdrängt alles übrige aus meinem Kopf. Über lange Zeit war ich auf das Näherrücken der Marathondistanz fixiert. Und nun, zweihundert Meter vorm nächsten Treff mit meiner Frau, laufe ich achtlos darüber hinweg.

Etappe 5: Bispingen - Overhaverbeck, 10,8 km (gesamt: 53,2 km)

Alles Selbstverständliche fehlt meinem Lauf unterdessen. Zwischen "loslaufen wollen" und "tatsächlich loslaufen" vergeht bereits Zeit und Willenskraft muss die Bewegung unterstützen. Ein paar Schritte, dann automatisiert sich der "Prozess Laufen". Noch. Vermutlich nicht mehr allzu lange hin, dann werde ich mir auch die Schritte mit mentalem Aufwand abringen müssen. Was mich daran beunruhigt ist nicht die Ermüdung an sich. Bedenken richten sich auf den frühen Zeitpunkt. Noch fehlen sieben Kilometer zur halben Strecke.

Ich verlasse Bispingen auf fordernd ansteigendem Radweg parallel zu einer Ausfallstraße. Alle Ultras gehen, nur einer nicht. Möglichweise nimmt man den vorbei tippelnden, am Trikot kenntlichen "Augsburger" als Staffelläufer wahr. Welcher Depp aus dem letzten Drittel des Feldes würde in der Mittagshitze den Berg hochrennen? - Ich schufte und schwitze - wie alle anderen auch, bin schließlich kein Außerirdischer. Nur macht mir das nichts aus. Die Hitze kratzt nicht an meiner Lauffreude, stabilisiert sie eher. "Oben" angekommen tippele ich weiter vor mich hin, lasse mich von einigen der ausgeruhten Geher wieder überholen.

Linkerhand, westwärts, wird der Blick frei über Felder. Ganz sicher wird mich dieser Irrsinn stets aufs Neue erschrecken, wenn ich seiner ansichtig werde. Nicht, weil das Ding riesig und abgrundtief hässlich die Landschaft verschandelt. Darum geht es nicht. Es hätte nie gebaut werden dürfen, stellt es doch eine Verirrung menschlichen Erfindungsreichtums dar. "Snow Dome Bispingen" - der Wahnsinn hat sogar einen klangvollen, wenngleich englischen Namen. Eine riesige Halle in der man 365 Tage im Jahr bei -4°C Rodeln und Skifahren kann. Mitten im weitgehend flachen, zuweilen - so wie heute - auf fast 30°C aufgeheizten Norddeutschland. Idiotischer, klimaruinöser geht es fast nicht mehr. Und das ohne wirtschaftliche Zwänge, wie sie vielfach als Ausrede herhalten müssen. Nein, diese Energieverschwendung dient ausschließlich der dekadenten Lustentfaltung von Menschen, denen die Folgen zügelloser "Freizeitgestaltung" am Allerwertesten vorbei gehen! An fehlendem Wissen kann es nicht liegen. Jeder Schulanfänger weiß inzwischen mit dem Begriff "Klimakrise" etwas anzufangen. Übrigens schon bevor Putins blutbefleckte Hand begann den Gashahn zuzudrehen ...

Bergauf in der Sonne, bergab nun deutlich schattiger von Wald beschirmt. Die Ortstafel dieses Bispinger Ortsteils entlockt mir unwillkürlich ein Schmunzeln: "Borstel in der Kuhle". In Borstel, drunten "in der Kuhle", biege ich vom "bequemen" Rad- auf einen Wirtschaftsweg westwärts ab. Die Piste verliert sich alsbald im Wald des Tales und wird mit jedem Schritt schlechter. Anfangs steinig, zunehmend schmäler, sich zuletzt auf eine schmale Pfadspur verengend. Beruhigend, dass suchend vorauseilende Blicke zweimal auch eine Markierung ausmachen. Ansonsten konzentriere ich mich auf Stolperfallen im Geläuf ... Fahrzeuglärm von der nahen Autobahn A7 schwillt immer mehr an. Zwar weiß ich nicht, wo genau ich mich derzeit befinde, dank Urlaub im letzten Jahr und Streckenstudium jedoch wie es jenseits der Autobahn weitergehen wird.

Er kommt mir verunsichert entgegen und lässt sich von mir beruhigen. Weil ich Markierungen sah, die ihm entgingen, ihm darüber hinaus versichere mich auszukennen. Gemeinsam nähern wir uns auf dem Pfad der nahen Autobahn, stehen schließlich vor der Maschendrahttür, die ihn umkehren ließ. Die ist aber nur angelehnt und lässt sich mühelos öffnen. "Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen!" raunt er mir reichlich perplex zu. Wir unterqueren die A7 und tauchen jenseits wieder im Wald unter. Den Badesee, gleichfalls aufgestaut wie der heute Morgen, kenne ich von "außen und drinnen". Mit kühlem Bad nach einem Hitzelauf wusch ich mir im letzten Jahr den Schweiß vom Leib. Die Strecke folgt dem Ufer, aber mit Abstand zu diversen Badegästen. Noch ein paar Meter in dichtem Auwald, dann stehe ich vor einer weiteren Zwischentränke. Keine Minute zu früh. Längst trinke ich nicht mehr nur vorsorglich. Trockener Mund und Durst sind stete Begleiter geworden.

Asphalt unter den Füßen und kaum Steigung. Insofern begrüße ich diesen Abschnitt, schweißtreibende sechs Kilometer, überwiegend geradeaus. Radweg neben der Straße, auf der etliche Autos vorbeibrausen. Optik nicht berauschend: Äcker, eingehegt von Waldrändern und Buschgruppen beidseits der Straße. Und endlich, um 13:15 Uhr, ist es soweit: 50 Kilometer auf der Uhr! Halber Weg, aber mit rund 6:15 Stunden Laufzeit unter Garantie nicht halbe Laufzeit. Ich bin müde, und meine Laufwerkzeuge fühlen sich abgenutzt an. Lediglich die regelmäßigen Gelrationen halten mich am Laufen. Der Tempoeinbruch gestaltet sich schleichend und wird fortschreiten. Außerdem werde ich mehr und mehr Zeit zum Verpflegen aufwenden müssen. Am Ende vielleicht 13:30 Stunden? Mehr? Weniger?

Eine Tafel am Wegrand begrüßt mich im "Naturschutzgebiet Lüneburger Heide". Alsbald bekomme ich auch eine erste "Ahnung" von dem, was mich auf der nächsten Etappe erwartet: Jenseits der Straße, hinter einem Getreidefeld, erste Wachholderbüsche und wohl auch Heidekraut ... In Overhaverbeck - wenig mehr "Infrastruktur" als ein paar Höfe, ein großer Wandererparkplatz und eine Haltestelle für Heidekutschen - biege ich von der Straße ab und tippele bergan. Vergleichsweise "steil" bergan. Wärme und Steigung setzen mir zu, die Erwartung "dort oben" meine Frau zu treffen, macht mir aber Beine ...

Hastige Begrüßung, registrieren bei der Zeitmessung nicht vergessen und nun endlich Durst löschen! Gewaltigen Durst, der sich erstmals nicht mehr mit nachgeschenkten Bechern zufrieden gibt. Wasser aus einer Halbliterflasche rinnt in erstaunlich kurzer Zeit durch meine Kehle. Und nun Gel! Eins gleich jetzt, zusätzlich mehrere Päckchen im inzwischen leeren Gürtel "bunkern". Ines' Gesichtsausdruck wechselt übergangslos von freudig zu hilflos-entsetzt. Sie rechnete nicht damit, dass ich Gel brauche. Mein Gelvorrat wartet im Auto, 10 Gehminuten entfernt auf dem Wandererparkplatz. Das Malheur lässt sich allerdings ausbügeln. Ich erbitte mir drei Gelpäckchen von einem der Helfer* und Ines wird mich - anders als von ihr geplant - auch am nächsten Verpflegungspunkt treffen.

*) Die vom Veranstalter angebotene Gelpaste wird auf der Basis von Honig hergestellt. Ist also natürlichen Ursprungs und damit gesünder, nur leider sehr zähflüssig, was die Handhabung des Präparats erschwert. Darum bediene ich mich lieber aus eigenen Beständen.

Etappe 6: Overhaverbeck - Undeloh, 6,9 km (gesamt: 60,1 km)

Zumindest den Auftakt der "Heide-Etappe", etwa anderthalb Kilometer, kenne ich von einer Wanderung im letzten Jahr. Unbeschreiblich und unverwechselbar das hügelig karge, mit Heidekraut, ein paar Birken und Wachholder bewachsene, offene Areal. Angesichts dieses Panoramas fällt auch das mit Abstand übelste Geläuf der bisherigen Strecke kaum ins Gewicht. Ohnehin bleibe ich häufig stehen, um fotografisch einzufangen, was ich sehe ...

In diesem Teil des Naturschutzgebiets weist die Heidelandschaft Profil auf. Ein langer Anstieg fordert mich, umso mehr als die Hitze mit 29°C und ungebremster Sonne von oben das Tageslimit längst erreicht hat. Ich habe die Wahl: Grobes, altes Pflaster oder randläufiges Übel. Am Rand wetteifern sandige Stellen mit kullerndem Schotter. Ich ignoriere den "bösen Tritt" jedoch ebenso, wie eindeutige Signale von Schwäche, die mein Körper unausgesetzt versendet. Der Zauber dieses einzigartigen Landstrichs neutralisiert einstweilen alles Beschwerliche.

Der Heide-Abschnitt endet im Wald. Relativ reizlos nun die Umgebung, dafür jubilieren meine Füße auf bestem Asphalt. Ab hier belaufe ich wieder unbekanntes Terrain und gehe ein wenig enttäuscht davon aus, dass es bei diesen anderthalb Kilometer Heide-Panorama bleiben wird. Zum Glück ein Irrtum, wie sich alsbald herausstellen soll ... Doch erst einmal trompetet es aus meiner Gesäßtasche. Auf Unangenehmes bis Katastrophales gefasst fische ich mein Handy heraus und nehme Ines' Anruf entgegen. Kurzversion: Sie traut sich nicht auf die A7, weil dort der Verkehr stockt. Über die Ausweichstrecke wird sie laut Navi erst in 40 Minuten zum Rendezvous in Undeloh eintreffen, wo ich gegebenenfalls auf sie werde warten müssen. Die Überschlagsrechnung "Reststrecke multipliziert mit geschrumpfter Pace" signalisiert allerdings Entspannung: Ines wird zeitgleich mit mir Undeloh erreichen.

Vermutlich wird sie sogar deutlich vor mir vor Ort sein, weil zunehmend touristische Höhepunkte mein Vorankommen bremsen. Zunächst weitere Postkartenansichten aus dem Naturpark Lüneburger Heide, an denen ich mich vermutlich nie werde sattsehen können. Nach 57 gelaufenen Kilometern betrete ich das Heide-Dorf "Wilsede". Weit verstreute Gebäude, ehedem sicher Bauernhöfe, jetzt ein einziges Freiluftmuseum. Alles im Urzustand (zumindest wirkt es auf einen uninformierten Betrachter so), vom Holzzaun, der das Grundstück umfriedet, über die Reetdächer der Fachwerkhäuser und -scheunen bis hin zum "Belag" der "Straßen". Entweder Schotter oder Kopfsteinpflaster, auf jeden Fall nichts, was meine Füße mögen ... Foto um Foto entsteht, Minute um Minute verrinnt. Die Kilometerangabe auf einem Wegweiser - "Undeloh 4,2 km" - nehme ich zum Anlass einer weiteren Hochrechnung. Arme Ines: Hetzt getrieben von der Sorge sich zu verspäten im Auto durch die Heide. Und wird zur Belohnung obendrein eine Weile auf mich warten müssen ...

Zwischen Wilsede und Undeloh: weitere Heideansichten, vorwiegend flach, aber nicht weniger reizvoll. Geläuf mittelprächtig, immerhin finde ich am Rand des Kopfsteinpflasters einen mindestens brauchbaren Fußweg vor. Geschaffen von abertausend Wanderersohlen und Radlern, die allesamt den groben Steinen der Holperpiste auswichen. Diese Wahl haben die beiden gedrungenen, die Touristen-Kutsche ziehenden Kaltblüter leider nicht. Dafür sind ihre klappernden Hufe mit Eisen beschlagen. Wie wär's mit Hufeisen auf Ultraläufersohlen?

"57,8" male ich mir schon einige Zeit als "magische Zahl" aus. Ergänzt auf volle hundert Kilometer fehlt dann "nur" noch ein Marathon zum Glück. Glück, das schon jetzt ausschließlich darin zu bestehen scheint nicht mehr laufen zu müssen. Nicht mehr gegen den dauerhaften Widerstand des Körpers ankämpfen zu müssen. Widerstand von recht merkwürdiger "Konsistenz": Knochen, Sehnen und Muskeln tun nicht wirklich weh, über diese Phase lief ich schon vorzeiten hinaus. Geblieben ist ein alle Fasern durchziehendes, erträgliches "Weh". Nur an den Zehenspitzen links ziept es zuweilen etwas mehr. Schwerer wiegt mein Ausdauerproblem. Wobei es "schwerer wiegen" ziemlich gut trifft. Inzwischen "hieve" ich sicher schon eine halbe Tonne "Biomasse" durch die Gegend. Ohne fortwährende Gabe von Energie-Gel und massiven mentalen Einsatz ein Ding der Unmöglichkeit. Der Wille macht wett, was an physiologischen Fähigkeiten fehlt. Das war auf längsten Strecken natürlich immer so. Nur nie so frühzeitig, zugleich auf so niedrigem Niveau.

Wegen Verlaufens und GPS-Toleranzen unterstelle ich den "Restmarathon", wenn die Uhr 58,5 Kilometer anzeigt ... Dann endlich ist es soweit und ... nichts! Der erhoffte, bei früheren Gelegenheiten mehrfach erlebte Motivationsschub bleibt aus. Kunststück: Wer so mitgenommen durch die Gegend schlurft wie ich seit halber Strecke - ach was, schon länger! - bei dem zünden verbleibende 42,195 Kilometer keine "Rakete" mehr. Ist aber nicht schlimm. Gemessen am miesen Laufgefühl befinde ich mich in Hochstimmung. Einerseits der vielen unauslöschlichen Eindrücke wegen. Und natürlich freue ich mich nun, da die 60 km-Marke immer näher rückt, auch auf meine Frau ... Meine Freude erfüllt sich! Da vorne steht Ines, hält Roxi an der Leine und mir die schussbereite Handycam entgegen! Wunderbar!

6,9 km trockene Heide hinterließen Spuren. Ich leere die nächste 0,5 Literflasche und mein Magen-Darmtrakt scheint das Wasser unmittelbar an meine Poren weiterzuleiten ... Gel muss rein: Diverse Päckchen in den Gürtel und eins gleich in den Bauch. Fast 10 Minuten (gemäß späterer Auswertung) verbringe ich hier am Rand der Ortschaft Undeloh. Im Schatten der Bäume natürlich, währenddessen ein wenig von der Härte des Läuferlebens an meine Frau "hinjammernd". Das hilft. Noch aufbauender empfinde ich Ines' ungebrochene Zuversicht, ihren offenbar unerschütterlichen Glauben daran, dass ihrem laufblöden Ehemann rein gar nichts den nächsten Ultraerfolg wird streitig machen können.

Etappe 7: Undeloh - Egestorf, 9,2 km (gesamt: 69,3 km)

Infolge oberflächlicher Vorbereitung habe ich von der bevorstehenden Etappe keine konkrete Vorstellung. Außer der einen, keine weiteren Heideflächen mehr zu Gesicht zu bekommen. Ein bisschen Nachdenken, zu dem mein gleichermaßen erschöpfter wie erhitzter Geist jedoch so gar keine Lust mehr verspürt, hätte mich eines Besseren belehren müssen. Ich verlasse Undeloh auf einem Wanderpfad im Wald und ... jogge erneut durch die Heide. Bilderbuch-Heide reif für Bildbände - im Herbst dann, wenn sie blüht. Heide, die sich beidseits des Weges über die Flanken eines Tales zieht und deshalb verändert auf den Betrachter wirkt. Am tiefsten Punkt einher trottend fordert die Landschaft unablässig meine Blicke heraus, lädt eigentlich zum Stillstehen und Genießen ein ...

In der Talflanke geht es voran. Langsam voran, sehr langsam. Das Geläuf lässt mich fluchen. Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne (lautlos) fluche, hadere, um die Not zu lindern. Und doch genieße ich den Trip. Hinterher werde ich es wieder wissen. Gegenwärtig nicht, weil es gerade extrem hart wird. Ich kämpfe mich durch drei Kilometer baumlose Heide und die Sonne gart mich auf großer Flamme. Meine Zunge klebt nach ein paar Minuten am Gaumen, Schweiß rinnt unaufhörlich. Der Pfad verengt sich abschnittsweise auf Fahrradreifenbreite, unmöglich darin zu laufen. Und doch möchte ich mit den Gäulen vor weiteren drei Kutschen, die mir begegnen, nicht tauschen: Ihre Hufe versinken nebenan im knöcheltiefen Sand des Fahrweges.

Unendlich lang kommt mir diese - im wahrsten Sinne des Wortes - Durststrecke vor. Mehr als einmal mache ich mir schimpfend Luft: Nimmt denn dieser Sch ... weg kein Ende mehr? Dabei will mein "Über-Ich" gar nicht, dass der Weg endet. Denn als ich endlich wieder gut fußläufigen Boden betrete, bleibt der optisch schönste Teil des Laufs unwiderruflich hinter mir zurück. Andererseits überstünde ich nie und nimmer weitere 35 Kilometer "trailige" Heidepfade. Und ziemlich genau diese Distanz trennt mich noch vom Erfolg.

Endlich eine erträgliche Schotterpiste, alsbald Asphalt auf Radwegen - ich komme wieder knochen- und kraftschonender voran. Felder beidseits, meine Kamera schläft ein ... und dann, angesichts des rätselhaften Geschehens, das sich stückweit voraus auf einem Feld vollzieht, mich vollkommen in seinen Bann zieht, vergesse ich ebendiese Kamera zu benutzen. Mit jedem Schritt erschließen sich mir neue Details, die wie Puzzleteile nach und nach ein Bild ergeben: Mehrere Menschen bei der Ernte. Geerntet wird etwas, das nach Blumenkohl aussieht. Den eigentlichen Erntevorgang übernimmt ein gigantisches Monstrum von Maschine. Die rollt auf breiten Reifen und wird von einem farbigen, übers ganze Gesicht strahlenden Mann im Führerhaus gesteuert. Warum er lächelt? Wer weiß, vielleicht ist er einfach nur glücklich? Gerade wendet er den weit nach beiden Seiten des Gefährts hin ausladenden Ernter. Als das vollzogen ist, erkenne ich im hinteren Teil der Maschine eine Frau, kaum einen Meter über dem Erdboden sitzend. Wie der Blumenkohl (?) letztlich aus dem Boden und in den bereits gut gefüllten Vorratskorb der Maschine gelangt, kann ich nicht erkennen. Das ist aber noch nicht alles: Schon vor dem Wenden der Maschine nahm ich am Feldrand einen Laster mit Auflieger wahr, auf dessen seitlich freiliegender Ladefläche sich Körbe voll mit Blumenkohl (?) stapeln. Wodurch sich die Anwesenheit mehrerer Leute auf dem Feld erklärt. Und als ich im Begriff bin das halbwegs entschlüsselte Rätsel zurückzulassen, schaukelt vom Feldrand her bereits träge der nächste Dreiachs-Lkw zur Beladung heran ... Morgen, spätestens übermorgen, gibt's vielerorts frischen Blumenkohl im Supermarkt!

Etappe 8: Egestorf - Salzhausen 10,7 km (gesamt: 80,0 km)

Gerade aufgebrochen, noch gehend und einen halbvollen Becher Wasser in der Hand. Vielleicht presse ich diese letzten Schlucke Flüssigkeit nur alibihalber in meine Eingeweide, um noch eine Weile nicht tippeln zu müssen. Leerte immerhin schon am Verpflegungspunkt rastend die übliche Halbliterflasche. Hilft nix, ich muss wieder los. Muss, weil ich will. Und ich will, weil ohne Not zu gehen mich rasch in Unzufriedenheit katapultierte. Außerdem gilt es die bereits neuneinhalb Stunden währende Tortur nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Und so überrede ich mich zu trotten, was mir nach unterdessen 70 Kilometern unsagbar schwer fällt. Anfangs watschele ich wie eine Ente, wohl auch mit deren Schrittweite. Mit nachlassendem "Restart-Schmerz" greifen die Füße weiter aus, komme ich zügiger voran. Der "Statistiker" in mir wüsste schon gerne, ob ich nach langer Versorgungspause - wieder etwa sechs Minuten - annähernd das vorherige Tempo zu restaurieren vermag. Allerdings untersage ich mir seit Stunden Tempowerte abzulesen. Zwar kenne ich mich mental als nicht sonderlich fragil. Doch auch andere Erfahrungswerte stellen sich inzwischen anders dar als früher. Also unnötige Risiken meiden. Das lecke Schiff nicht mutwillig in Schieflage bringen, es könnte vorm rettenden Hafen untergehen ...

Das unterschwellig schon lange wahrgenommene Rauschen verstärkt sich mit jeder Minute, anscheinend nähere ich mich endlich der A7. Endlich, auch wenn völlig unerheblich ist, wann und wo ich die Fernstraße kreuze, geht davon doch so etwas wie Vorfreude aus. Die A7 als "Limes", hinter dem das gelobte Land liegt, Lüneburg, das Ziel, die Erlösung ... Seit ich am Versorgungspunkt aufbrach und mich auf einem Feldweg wiederfand, hoffe ich auf planen, ebenen Untergrund. Und jetzt das: Kurz vor der Autobahn halte ich auf eine Unterführung zu. Davor senkt sich der Weg und geht in eine dieser vermaledeiten Pflasterstraßen über. Mein Schrecken ist nicht gespielt, als mir klar wird, dass es diesmal kein Entrinnen gibt. Kein belaufbarer Rand! Seitlich erhebt sich zunächst die Böschung, später undurchdringliches mit Brennnesseln durchsetztes Gestrüpp. Erst abwärts, dann wieder aufwärts minutenlang ohne Chance dem Fegefeuer zu entrinnen. Das Fegefeuer - erklärte man mir als Kind - sei für die kleinen und reuigen Sünder vorgesehen, die danach geläutert in lichte Höhen aufsteigen dürften. An dieser ebenso einschüchternden wie Hoffnung verbreitenden Mär scheint tatsächlich was dran zu sein! Nach mehreren hundert Metern, zuletzt auf jaulenden Gehwerkzeugen, mit düster umflortem Geist, werde ich ins Paradies entlassen - auf feinen Asphalt! Wieso kam in vielen Stunden alttestamentarischer Unterweisung nie zur Sprache, dass die Wege im Paradies asphaltiert sind?

Ende Asphalt, Wirtschaftsweg im Wald und weiter aufwärts. Als Folge des nervigen Kopfsteinpflaster-Intermezzos und ganz allgemein lechze ich nach Aufbauendem. Die beiden munter an mir vorbeiziehenden, identisch gekleideten Damen unternehmen einen Versuch mich in dieser Hinsicht zu unterstützen. Mit einem Scherz, über den sie, bereits 20 Meter in Front sich noch mal umwendend, aus zwei vollen Hälsen lachen. Ich würde gerne mitlachen. Leider kommt mir ihre Rede nur unverständlich verstümmelt zu Ohren. Also selber motivieren, das Richtige denken, positiv denken: Der Weg hat Steigung und gar nicht mal wenig. Dass die beiden Staffelläuferinnen (wieso eigentlich zwei als Duo nebeneinander?) den Anstieg locker flockig im Trimmtrabtempo bewältigen, leuchtet mir ein. Dass ich selbst das auch noch schaffe, wenn auch nicht locker flockig, nach 72 Kilometern und mit inzwischen gefühlt einer Bruttoregistertonne Körpergewicht, nährt dagegen die Hoffnung, dieses Abenteuer vielleicht doch in Gänze laufend überstehen zu können ...

Die Rampe nimmt kein Ende, unentwegt tippele ich hinan, in dumpfem Schädel über Nichtiges brütend, selbstvergessen einen Punkt vor meinen Füßen fixierend. Bis der Forstweg in einen zweiten, quer verlaufenden mündet und ich nicht die klitzekleinste Richtungsangabe finde. Ich stehe wie angewurzelt da, "scanne" die Kreuzung mit den Augen ab, wiederhole den Vorgang mehrmals ... Es bleibt dabei: offensichtlich verlaufen!? Wirklich verlaufen? Ich gehe 50 Meter zurück, hoffe auf nachfolgende Läufer. Und tatsächlich: Einer im roten Shirt schleicht im Anstieg aufwärts ... Vielleicht dreihundert Meter von mir entfernt bleibt er stehen, schaut in meine Richtung. Offenbar außer Rufweite winkt er! Deutet seitlich in den Wald und verschwindet dann in exakt in dieser Richtung ... Die Tafel mit dem Richtungspfeil im geschätzten Format von 40 x 20 Zentimetern ist auffällig weiß lackiert und steckt keinen Meter vom Weg entfernt im Gras ... Am Rande: Die Götter des Laufsports sind gerecht! Bei meinem rot "behemdeten" Retter handelt es sich um denselben Mann, dem ich im Wald hinter Bispingen auf den rechten Weg verhalf!

Wald und Wald und noch mehr Wald mit erträglichem Geläuf. Ein paar sandige oder ruppige Stellen in der Piste, ansonsten komme ich gut zurecht und voran. Irgendwann neigt sich die Piste wieder abwärts. Wahrscheinlich habe ich jetzt einen der auffälligen Zacken im Streckenprofil überwunden - vielleicht ja schon der letzte ... 17:30 Uhr: Am Waldrand und neuerlich keinen Meter zu früh gibt es Trinkbares. Durst peinigt mich, trotz rückläufiger Temperatur und zuletzt mehrerer Kilometer zwischen Bäumen. Noch konnte ich das Wasserdefizit nicht ausgleichen, werde es vielleicht bis zum Ende nicht schaffen. Während ich mir den obligatorischen halben Liter Wasser eintrichtere, entspinnt sich ein munteres Gespräch mit dem "vereinsamten" älteren Paar, das die "Quelle" hier in der Einöde am Sprudeln hält. Untypisch dieses Gespräch. Nicht die Tatsache der Unterhaltung an sich. Weitgehend arbeitslos stehen die beiden sich für mich die Beine in den Bauch. Wie könnte ich ihnen Rede und Antwort verweigern? Untypisch ist der Redefluss, die Unmenge von Sätzen, die mein Mund in den frühen Abend entlässt. Drei Viertel der Strecke liegen hinter, "nur noch" 25 km vor mir. Ist das die Ursache meiner Redseligkeit? - Schon möglich, denn rein gar nichts wird nun noch verhindern, dass ich diese verfluchten 100 Kilometer finishe!

Asphalt vom Ort der Tränke an. Ach, um wie viel leichter läuft es sich doch auf Asphalt! Asphalt in einer Senke, Asphalt hinan, Asphalt nachdem ich auf der Kuppe weisungsgemäß links abgebogen bin ... Sanft weiter abwärts mit fast unbegrenztem Weitblick - ja! genau: auf Asphalt. Plötzlich Verwirrung: Links zweigt ein Feldweg ab und kein Pfeil legt die Richtung fest. Ohne die Hypothek bereits zweimaligen Verlaufens hätte ich von dem Abzweig vermutlich nicht mal Notiz genommen. Verunsichert unterbreche ich den Lauf und suche Pfeile: Zur Seite, zurück, voraus ... Keine Pfeile, nichts. Zum Glück ist das Gelände weithin einsehbar. In der Ferne, vielleicht einen halben Kilometer voraus, bewegt sich ein blau bedresstes "Männlein". Auch wenn die Beobachtung meine Zweifel nicht völlig aufhebt, beschließe ich dem Mitläufer zu folgen. Landschaft unspektakulär, aber nicht langweilig, eine sich über mehrere Kilometer erstreckende Mulde. Wiesen reihen sich an Wiesen und Felder an Felder. Rechts voraus, noch kilometerweit entfernt, ein Dorf. An dessen Rand will eine alte Windmühle besichtigt werden. Und so ahne ich die weitere Wegführung, der Streckenplaner wird mir den optischen Leckerbissen kaum vorenthalten.

In einigem Abstand, den mein Zoomobjektiv überbrückt, vorbei an der Mühle Eyendorf und auf kürzestem Wege durchs gleichnamige Dorf. Dahinter weiter per Radweg am Straßenrand und nach nur wenigen Minuten betrete ich Salzhausen, das nächste Etappenziel. Vorm örtlichen Sportplatz parkt unser fahrbarer Untersatz. Ein Anblick, der Freude weckt und meine Stimmung gleich eine Oktave in die Höhe schnellen lässt. Durchs Tor ins Stadion, runter auf die Tartanbahn. Auf der drehe ich eine Dreiviertelrunde, die ich nach rund 100.000 Schritten, dem Äquivalent von 80 hart errungenen Kilometern, einfach nur als überflüssige Schikane empfinde ... Sei's drum, drüben, hinter der Zeitmessanlage, wartet meine Belohnung, mein persönlicher Fanclub, Ines und Roxi. Wobei Letztere mir ausnahmsweise abgeleint und schwanzwedelnd die letzten Meter entgegen tippelt. Mit Frohsinn werde ich auf zwei, mit bellend verlautbarter Freude auf vier Beinen empfangen.

Etappe 9: Salzhausen - Südergellersen 10,9 km (gesamt: 90,9 km)

Etappe neun hinterlässt wenig Spuren. Körperliche vermutlich schon, aber so gut wie keine im Oberstübchen, wo die Erinnerung wohnt. Das liegt nicht an mir. Mein Wahrnehmungsvermögen hat auf den letzten zwei, drei Etappen nicht gelitten. Gel aus dem wieder prall gefüllten Gürtel hält mich nach wie vor am Leben und Laufen. Die Landschaft wenige Kilometer westlich von Lüneburg geizt mit Reizen und Einprägsamem. Und wenn schon, inzwischen ist mir das von Herzen gleichgültig. Einstweilen darf ich auf Radwegen oder Straßen traben, Kilometer abhaken, das alleine zählt. Noch 19, 18, 17 Kilometer ...

Kilometer 85: Boxenstopp. Die Wasserstelle duckt sich wie diejenige auf der vorhergehenden Etappe unter Ästen am Waldrand, wird gleichfalls von einem Paar betrieben. Als derzeit einziger Gast des fortgeschrittenen Abends kommen wir rasch ins Gespräch. Und wieder plaudert Udo wie ein Wasserfall. Bin das wirklich ich? Der nicht selten mundfaule Udo, der abgesehen von "Hallo!" und "Danke!" ultraweit schweigen kann wie ein Mönch in Klausur? Fast 12 Stunden gelaufen, länger als irgendwann in diesem Jahr. Ich muss weit im Laufkalender zurückblättern, um eine längere Laufzeit zu finden. Tatsächlich bis Oktober 2020, als ich in Griechenland auf der "Straße der Unsterblichen" fast 19 Stunden unterwegs war ... Und nun stehe ich hier, nuckele an meiner Wasserflasche und quatsche, als säßen wir in einer Lüneburger Altstadtkneipe gemütlich beim Bier.

Unzweifelhaft gebe ich dem Gespräch eine Richtung. Um mir zu verschaffen, was ich neben Gel und Wasser am dringendsten brauche: Motivation von außen. Auf eine Bemerkung meines männlichen Gegenübers hin lasse ich mich in einer Weise ein, die Nachhaken provoziert: Ob ich solche Distanzen häufiger laufe? Natürlich halte ich mit der exakten Zahl - heute Marathon/Ultra Nummer 323 - nicht hinter dem Berg. Die beiden gucken mich an, als stünde ihnen ein entlaufener Irrer gegenüber. Was so falsch ja auch nicht ist: Ich "entlaufe" häufiger und: Irre muss man dafür nicht sein, aber es hilft ... Als sie mir schließlich den entscheidenden Ball zuspielen, der mich quasi "zwingt" mein Alter zu enthüllen, kennt ihre "Ehrfurcht" keine Grenzen mehr. Das war eindeutig gesteuert, war "Fishing for Compliments", sonst absolut nicht meine Art. Aber es hat mir gut getan, mich mental ein bisschen "gepampert", mir den Aufbruch erleichtert. Und eine Weile treibt es mich noch entschlossener vorwärts.

Antrieb, den ich nur wenige Minuten nach Abschied von den netten Helfern nötiger habe als mir lieb ist. Entgegen allzu optimistischer Erwartungen muss ich mir doch noch einmal gehörig Höhe erarbeiten. Und das im Wald auf unliebsamen Schotterwegen. Ich spiele die üblichen Trumpfkarten: Gel plus Fluchen plus Unbeugsamkeit. Mühsam und sehr langsam aufwärts. Neben Gel ist Zeit die einzige mir noch reichlich verbliebene Ressource. Vermutlich werde ich knapp unter 14 Stunden das Ziel erreichen. Und wenn nicht? Sch ... drauf! Dann brauche ich eben länger!

Zurück auf ramponierter Straße, löchrig, rissig, teilweise flächig verwittert. War ich hier heute Morgen schon mal unterwegs? Mehrfach will es mir so scheinen, als irrig erweist sich die Vermutung erst im Dorf Südergellersen. Ab jener Stelle, da erstmals Pfeile ihre Spitze auf mich richten, gepaart mit solchen, denen ich jetzt am Abend folgen muss. In Minutenfrist werde ich noch einmal Ines treffen, mit jetzt tatsächlich schon mehr als 90 Kilometern auf dem Zähler. Keiner nimmt mir jetzt mehr die Butter vom Brot! Was sollte mich auf verbleibenden neun Kilometern noch aufhalten? Seltsam mit welcher Selbstverständlichkeit ich diesen für meine Verhältnisse absolut aberwitzigen, im Übrigen noch nicht einmal vollendeten Erfolg nun schon für mich vereinnahme. Als hätte mich nie auch nur der Hauch eines Zweifels berührt.

Ich trabe die letzten Meter zum Verpflegungspunkt runter, auf gleichbleibend niedrigem aber stabilem Niveau wie seit Stunden schon. Ines wartet, lächelt, freut sich, fragt, ob noch was fehlt. Ich brauche nichts mehr, nur Wasser, von dem ich mir eine weitere Flasche einverleibe. Ich zwinge mich die Flasche auszutrinken, wogegen mein Magen sich nun zu sperren beginnt. Was den ganzen Tag über mit wenigen Zügen möglich war, gelingt nur noch schluckweise. Und schluckweise dauert. Einerlei. Das ist ein bisschen wie ein an mir selbst vollzogener "Schwedentrunk" wie ihn Landsknechte im 30jährigen Krieg an ihren Feinden praktizierten. Folter, von deren immenser Bedeutung ich in diesem Moment noch nichts ahne ...

Etappe 10: Südergellersen - Lüneburg Sülzwiesen 9,1 km (gesamt: 100 km)

In Ines' Freude über den trotz miserabler Voraussetzungen vorm guten Ende stehenden 100 Kilometer-Coup mischt sich beim Abschied eine Portion Mitleid. Vermutlich sehe ich aus der Nähe betrachtet genauso aus, wie ich mich fühle. "Das Ding wird jetzt mit Anstand zu Ende gelitten!" lasse ich mich ein. Mein Standardspruch in derartigen Situationen. Hört sich nach Phrase an, ist aber keine. Ich meine es, wie ich es sage!

Ich kenne die Reststrecke überwiegend schon, weiß aber, dass sie in einigen Kilometern vom Hinweg abweichen wird. Einstweilen genieße ich das vergleichsweise bequeme Vorankommen auf dem Radweg neben einer Straße. Über einen Kilometer weit in leichtem Gefälle. Abendstimmung liegt über dem Land. Die Sonne steht in meinem Rücken tief genug, um die goldgelb reifen Ähren des Getreidefeldes nebenan leuchten zu lassen. Irgendwann verwerfe ich den nur Minuten alten Vorsatz nicht mehr stehenzubleiben. Zu reizvoll der vieltausendfach wiederholte Reflex von Sonnenlicht, das sich in Grannen fängt. Leider scheitern meine Versuche die geradezu mystische Gegenlichtstimmung mit der Kamera einzufangen kläglich. Menschliche "Objektive" sind nun mal leistungsfähiger als das Auge der Kamera ...

Als ich mich endlich zum Loslaufen überwinde, büße ich die Unterbrechung mit heftigen Schmerzen. Allumfassender Schmerz, so gut wie keinen Körperteil auslassend. Da und dort konzentriert, etwa an den Füßen. Mein Körper wehrt sich vehement gegen die ihm abgeforderte raschere Bewegung. 40, 50 Schritte bis ich in einen erträglichen Laufrhythmus zurückfinde. Eine Weile nun bergauf, wobei sich der Radweg zuweilen von der Straße trennt und einen übermütigen Schlenker seitwärts im Wald vollführt. Die Abwechslung vollzieht sich leider auch in vertikaler Ausdehnung, was ich schon heute Morgen, auf Gegenkurs als ungerecht empfand. Maschinengetriebenen Vehikeln spendierte man nebenan moderat konstante Steigung, menschliche Motoren mutet man dagegen Extrabuckel zu. Einer davon ist steil, will rausfinden, was ich noch drauf habe. Natürlich schnellen meine Vitalwerte dem Hügel gleich in die Höhe, in Gefahr gehen zu müssen gerate ich aber nicht.

Einmal mehr gibt mein Körper mir Rätsel auf. Vermittelte mir frühzeitig den Eindruck irgendwann völlig zu versagen, baute enormen Widerstand auf, den ich aber stundenlang und eben auch in Steigungen immer wieder zu überwinden vermochte. Das eigentliche Problem daran: Gegen diese unerbittliche Härte anzukämpfen machte viel zu früh keinen Spaß mehr! Bis Marathon fühlte ich mich heute stark genug. In der Heide lenkten mich grandiose Ansichten von meinen Schwierigkeiten ab, das ging dann auch noch. Danach jedoch handelte ich mit mir selbst ein Abkommen aus: In diesem Jahr keine Läufe mehr, die die 50 km-Grenze wesentlich übersteigen. Schmerzlicher, da einen Herzenswunsch von mir frühzeitig beerdigend: Ich werde mich nicht für den Mauerweglauf, die 100 Meilen Berlin, 2023 anmelden. Das müsste ich in diesem Jahr Anfang November tun, zu einem Zeitpunkt da meine Ausdauerverfassung noch nicht geklärt sein wird.*

*) Über den Sommer werde ich meine Wettkampfteilnahmen ausdünnen. Im Juli steht eine letzte Reduktion meiner Medikamente an. Nur Aspirin zur Blutverdünnung wird übrig bleiben. Aspirin steht nicht im Verdacht die Ausdauerleistung zu beeinträchtigen. Dann will ich anders trainieren, mich neu aufbauen und ergründen, was von meinen Schwierigkeiten tatsächlich den "Pillen" geschuldet war. November ist zu früh für eine Entscheidung "Pro 100 Meilen". Nach gelaufenen 100 Kilometern weitere 60 so viehisch zu leiden wie heute auf der zweiten Hälfte werde ich mir auf keinen Fall antun.

Ich schwitze noch immer ergiebig, obwohl es am Abend deutlich abkühlte, ich überdies häufig im Wald unterwegs bin. Schon kurz nach der Verpflegungsstelle kehrt der Durst zurück. Es wäre auch Zeit fürs nächste Gel. Doch mit trockenem Mund erzeugt schon der Gedanke an Gel starken Widerwillen. Ich beschließe bis zur Wasserstation zu warten, von der mich nur noch Minuten trennen. "Heiligenthal" steht auf dem Ortsschild, ich erkenne den Weiler wieder: Da war diese Bushaltestelle mit palettenweise gestapeltem Wasser ... nur leider und zu meiner Verblüffung präsentiert sich das Bushäuschen verwaist und picobello aufgeräumt. Kein Fitzelchen Abfall erinnert daran, dass hier heute Morgen Getränke ausgeschenkt wurden. Meine Route stimmt, die Pfeile waren und sind eindeutig. Wurde die Tränke "abschnittsmittiger" eingerichtet? Immerhin ist der Rückweg kürzer als der Hinweg heute morgen.

Ich will daran glauben, wenngleich mir die Vorstellung vom Aufwand alles einzupacken, um es ein, zwei Kilometer weiter neu aufzubauen ziemlich absurd vorkommt. Der Weiler bleibt alsbald hinter mir zurück, ich biege in den Wald ab. Forstwege nun wieder, objektiv natürlich brauchbar. Subjektiv, mit mehr als 94 Kilometern in den Knochen und ramponierten Füßen, pure Folter. Zwei starke Sehnsüchte konkurrieren nun in meiner Brust: Bald wieder Asphalt und endlich Wasser, um meinen Durst zu stillen. Ich trotte voran, schenke meiner Umgebung kaum mehr Beachtung. Purer Zufall, dass mir die hoch oben am Stamm einer Birke angebrachte Tafel auffällt: "Achtung! Wolf-Streifgebiet Hunde anleinen und Kinder beaufsichtigen!" Mir war gar nicht bewusst, dass Wolfsrudel bereits so weit nach Westen vordrangen.

Es bleibt dabei: kein Wasser. Ich stolpere durstig durch den Wald, irgendwann dann über einen Feldweg. Und obwohl ich die Hoffnung auf einen Schluck Wasser noch immer nicht aufgebe, wächst mein Unmut minütlich. Was ist da passiert? - Auf der Internetseite des Laufes wird ein Zielzeitlimit von 15 Stunden zugestanden. Hochgerechnet 14 davon werde ich verbrauchen. Zugleich werden Wasserstellen in der Mitte jeder Etappe zugesichert. Der Sprecher vorm Start heute Morgen bekräftigte diese Intervalle noch einmal ausdrücklich. Erwähnte lediglich eine Ausnahme: Abschnitt 6 in der Heide, der nur 6,9 Kilometer misst. Die Tränke auf diesen letzten immerhin 9,1 Kilometern, für die ich mehr als eine Stunde brauchen werde, wurde schlichtweg bereits abgebaut. Es wird nichts passieren. Aber was, wenn doch einer dehydriert kollabiert? Dann kümmert sich ein Staatsanwalt um die Verantwortlichen solchen Organisationsversagens. Manches, wie etwa die miserable Streckenmarkierung vor Amelinghausen, sollte nicht passieren, kann aber passieren. Dass zwischen Kilometer 90 und 100 eine versprochene Tränke fehlt, DARF nicht passieren. Das ist unentschuldbar.

Meine Beine werden gefühlt mit jedem Schritt schwerer. Was daran liegt, dass ich auf die Tränke wartete, um mir ein Gel einzuflößen. Nun ist es zu spät, nur noch etwa dreieinhalb Kilometer trennen mich von der Erlösung. Die letzte Hochrechnung, die zweifelsfrei ergab, dass ich keinesfalls unter 14 Stunden finishen werde, knipste das Licht aus. Antriebslos tippele ich seither vor mich hin. Für lodernden Zorn, wie er mich heute Morgen beim Verlaufen überkam, fehlt mir die Kraft. Ich warte auf die Stelle, die ich mir mit dem Attribut "noch drei Kilometer" versehen einprägte. Beim Abbiegen auf die Allee vor Lüneburg glaube ich mich an Ort und Stelle. Was jedoch nicht stimmen kann. Dann bemäße sich die Schlussetappe auf über 10 Kilometer. Vollends durcheinander bringt mich ein an dieser Stelle steckendes Schild mit der Aufschrift "1 km". Solche Schilder steckten oft (immer?) vor einem Verpflegungspunkt oder einer Wasserstelle. Was in aller Welt will mir die Tafel an dieser Stelle mitteilen? Zwei Kilometer noch bis ins Ziel sagt meine am letzten Verpflegungspunkt mit Etappenlänge 9,1 km geeichte Uhr. Völlig sinnlos also das Schild. Eine Tränke ein Kilometer vorm Ziel? Am Ende dieses Tages bin ich geneigt dem Veranstalter einigen Unfug zuzutrauen, aber das wäre dann doch zu abwegig.

Kurz vor 21 Uhr trotte ich über den feinen Schotter der Allee schon im Stadtgebiet von Lüneburg. Die Sonne steht noch eine Fingerbreite überm Horizont. Schade, dass ich diese letzten Schritte, die ja eigentlich meinen Triumph über mich selbst und alle Schwierigkeiten besiegeln, nicht freudig genießen kann. Feiern werde ich später. Zu starke negative Emotionen auf dem Schlussstück. Um sie abzuwerfen fehlt es einfach an Kraft. Zuletzt torkele ich mehr als ich laufe. Von der Allee in eine Wohnstraße, noch 400 Meter. Ich bleibe noch einmal kurz stehen. Zur Sammlung und um mich in die Pflicht zu nehmen. Ich hatte es mir versprochen: Mit Anstand zu Ende leiden! Und so setze ich mich ein letztes Mal in Bewegung. Konzentriere mich ein letztes Mal beim Überqueren einer Querstraße, schon mit dem Ziel auf den Sülzwiesen vor Augen. Finale Schritte im Zielkanal, Blickverbindung mit meiner lieben Frau und nach 14:06:38 Stunden beende ich als ältester Teilnehmer des Tages den Wettbewerb.

 

Statistik

Von 150 in der Startliste vermerkten Läuferinnen und Läufern gingen lediglich 102 an den Start. Mögliche Gründe: Der von 2021 auf 2022 um ein Jahr verschobene Start und die für den Veranstaltungstag vorhergesagte Hitze.

Besagte Tagestemperaturen dürften auch für die hohe DNF-Quote (32 von 102) verantwortlich gewesen sein. Ebenso für meine vergleichsweise befriedigende Platzierung (Rang 53 von gesamt 70).

 

Fazit zur Veranstaltung

Das Fazit kann nur lauten: Ultras sollten diese Veranstaltung meiden. Auf die Leistungen des Veranstalters, auch auf absolut essenzielle wie die versprochene Wasserstelle ist kein Verlass! Auch wenn das kaum vorstellbar erscheint: Die zugesagte Tränke in einer kritischen Phase nach 95 km war bereits abgebaut. Darüber hinaus war die Markierung der Strecke - einer 100 (!) Kilometer langen Strecke - an wenigstens zwei Stellen nicht ausreichend. Mehrere Teilnehmer verliefen sich dort.

Die Strecke belohnt den Läufer mit vielen Reizen, vor allem in zwei Heideetappen. Allerdings: Grob geschätzt nur acht von 100 Kilometern entfallen auf die Heide. Heide, die nicht blüht, das typische Rosa des Herbstes also vermissen lässt, obwohl die Aufmachung der Internetseite genau das suggeriert. Warum der Veranstalter solche Taschenspielertricks nötig hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Fazit: Ganz sicher nicht noch einmal!

 

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