Beinahe wunschgemäß aber viel zu früh!

"Lass dich nicht hochmütig machen vom Sieg, lass dich nicht brechen von der Niederlage. Werde nicht leichtfertig, wenn alles ruhig ist. Und werde nicht panisch, wenn Gefahr droht."

Kano Jigoro, japanischer Gelehrter und Begründer der Kampfsportart Judo

Laufgeschichten aus meiner Feder gibt es viele; doch keine gleicht der nun folgenden, meiner vielleicht wichtigsten. Sie soll nicht erschrecken, auch wenn der Schrecken mancherorts zwischen den Zeilen lauert. Wie immer erzählt sie von Erlebtem. Diesmal so offen, persönlich und schonungslos wie wahrscheinlich nie zuvor. Sie soll erhellen und jene zum Nachdenken anregen, die ihre Laufleidenschaft gleichermaßen sorglos leben wie ich, bis ...

... Montag, den 19. Juli 2021.

Auf einen Saisonhöhepunkt wie die 100 Meilen Berlin, den so genannten "Mauerweglauf", war ich von jeher maximal fokussiert. Und nichts bereitete mich darauf besser vor als Aufbauwettkämpfe in kurzer Folge mit wachsender Beanspruchung. Vor Corona ließ sich das auf Monate hinaus planen, nun nicht mehr. Im ersten Halbjahr rannte ich alles, was irgendwer, irgendwo, irgendwann und irgendwie auf eine Weise anbot, dass ich mich letztlich in einer Wertungsliste wiederfand. Methodische Trainingsansätze, insbesondere die erwähnte wachsende Beanspruchung, blieben dabei weitgehend auf der Strecke - im wahren Sinne des Wortes. Im Juli gab es dann endlich wieder die Möglichkeit zu planen, zumindest auf ein paar Wochen hinaus schien die Durchführung von Wettkämpfen gesichert.

Nur ist das (Läufer-) Leben kein Wunschkonzert. Ich stellte angebotene Läufe dem Anspruch einer guten Vorbereitung gegenüber, sortierte überdies aus, was zu Terminkonflikten geführt hätte. Übrig blieb - zu meinem Leidwesen - kein brauchbarer Aufbau. Notgedrungen ging ich Kompromisse ein, doch auch auf diese Weise ließ sich die Lücke am gerade vollendeten Wochenende nicht schließen. Also fasste Udo den unerhörten Entschluss sich selbst einen Ultralauf über 70 km zu planen, obgleich es ihm widerstrebt weiter als 30 km ohne "zählbaren Lorbeer" zu laufen. Er stieg in einen Zug, fuhr ein Stück südwärts und rannte dann drauflos. Erst durchs Unterallgäu, vorbei an Bad Wörishofen, durch Kaufbeuren zum Ziel in der Nähe von Kempten. Anfangs nahm er gute Feldwege, später ausschließlich Straßen. Seine Frau Ines "supportete" ihn während der letzten vier Stunden, davor besorgte er sich Getränke in Supermärkten. So geschehen am Freitag, den 16. Juli, gefolgt von zwei Tagen regenerativem Faulenzen.

Am heutigen Montag breche ich spät nachmittags zu einem Trainingslauf mit einigen Höhenmetern auf, Start und Ziel an der Haustür. Das Tempo soll sich an der in zwei Tagen erreichten Erholung orientieren. Zu meiner Freude spüre ich ein unerwartet hohes Maß an Leistungsbereitschaft und lege nach dem Einlaufen ein für meine Verhältnisse zügiges Tempo vor. Zügig aber beileibe nicht schnell, nicht übermäßig belastend, nicht erschöpfend. Ich werde mich mit etwa 15 Kilometern zufrieden geben müssen, weil der Timer der Sauna schon tickt. Und vorm Schwitzbad will ich noch eine halbe Stunde aufs Durstlöschen verwenden.

Erst folge ich dem Ufer der Wertach. Später biege ich zu einem hügeligen Waldgebiet hin ab, dem "Naturpark Augsburg westliche Wälder", der unweit meines Wohnortes beginnt. Natürlich reihe ich nur Abschnitte aneinander, deren Ausdehnung ich kenne, um kein zeitliches Risiko einzugehen. Grob kalkuliert ergibt sich eine Gesamtstrecke von 16 km. Offenbar haben zwei Tage Regeneration ein kleines Wunder bewirkt: Diverse Kilometer und Anstiege später spüre ich noch immer keinerlei Ermüdung. Längst bedauere ich den Lauf so spät angetreten und meinen Radius durch den Sauna-Timer begrenzt zu haben. Ohne dieses Limit würde ich die Runde sicher auf 20 bis 25 Kilometer ausdehnen.

Nach 13 Kilometern, den Wald ließ ich bereits wieder hinter mir, laufe ich mit langen Schritten in einem Wohngebiet stark abschüssig bergab. Ohne Vorwarnung, plötzlich und mit Urgewalt, von null auf Maximum binnen weniger Sekunden, ergreift etwas Unbekanntes Besitz von mir. Ein Gefühl der Beklemmung von der Stelle unterm Brustbein ausgehend, nicht Zug, nicht Druck, und doch auf gleichermaßen unheimliche wie unbeschreibliche Weise zupackend, sofort auf Hals- und Nackenpartie übergreifend, begleitet von einem leichten Schmerz im linken Arm. Zwanghaft senke ich den Kopf zur Brust, bin im selben Augenblick unfähig auch nur einen weiteren Schritt zu laufen.

Ich gehe über die Straße und setze mich dort auf die Bank einer Bushaltestelle. Ich warte, dass "es" abklingt, dass der Spuk wieder verschwindet. Was ist mit mir los? Natürlich denke ich sofort an einen Herzinfarkt. Geradezu klassisch die Symptome, von denen ich wie wohl die meisten Menschen schon hörte: Schmerzen in der Brust, die in den Körper ausstrahlen ... Ich taste nach meinem Puls: Das Herz schlägt regelmäßig und mit jeder Sekunde, die ich auf der Bank verbringe, langsamer.

Was war das? Ich beobachte mein "Sportgerät" Körper ständig und aufmerksam, sowohl unter Belastung als auch in Erholungsphasen. Als Ultraläufer bin ich darauf angewiesen körperliche Wahrnehmungen möglichst korrekt zu deuten und mein Verhalten danach auszurichten. Eine Empfindung dieser brachialen Art hatte ich nie in 67 Lebensjahren. Auch nichts Ähnliches ... Bis nach Hause fehlen noch gut drei Kilometer. Alsbald stehe ich auf, gehe ein Stück, versuche dann sehr langsam zu traben. Die Symptome sind abgeklungen aber nicht verschwunden. Mit den ersten Laufschritten springt mich die Beklemmung neuerlich an, der Schmerz im Arm verstärkt sich wieder. Ich gehe, gehe und gehe ... Nächster Laufversuch: Wieder ergreift der unbekannte Dämon von mir Besitz. Dämon klingt dämlich, es fühlt sich aber wirklich so an. Was es auch ist, es zwingt mich zu gehen. Zwei weitere erfolglose Laufversuche und etliche Gehminuten später fehlt noch ein halber Kilometer bis zur Haustür: Ich trabe extrem langsam an und zwinge mich dabei zu bleiben ...

Ist das klug? Wohl eher nicht. Da ist Unbeugsamkeit am Werk, unzweifelhaft Teil meines Charakters. Doch keiner wird zum Ultraläufer, der nicht in ausreichendem Maß darüber verfügt. Zuhause klingen die Symptome weiter ab. Insbesondere während der zwei Stunden, die ich anschließend in der Sauna verbringe. Dort fühle ich mich wohl, spüre nichts mehr von dem Unerklärlichen, das mich zuvor befiel und dominierte. Den Abend erlebe ich ziemlich erschöpft, nach Training plus Sauna aber eher die Regel. In der folgenden Nacht schlafe ich wie üblich tief und fest.

 

Dienstag, 20. Juli

Beim Aufstehen fühle ich mich noch ziemlich unfrisch, doch auch das ist nach forderndem Training gefolgt von Saunabädern durchaus nicht ungewöhnlich. Mein Vormittag verläuft normal, keinerlei Probleme oder körperliche Einschränkungen. Natürlich will ich wissen, ob die "Sache" ausgestanden ist und starte am frühen Nachmittag einen Laufversuch. Beim Einlaufen bewege ich mich überaus bedächtig, gehe mit mir um wie mit einem rohen Ei, horche hoch konzentriert in mich hinein. Zunächst stellen sich vertraute Körperechos ein, wie tausendfach zuvor ... ... ... Doch nach einem halben Kilometer, also etwa ab dem Zeitpunkt, da Energiestoffwechsel und Kreislauf "auf Touren kommen", geht es wieder los. Zwar nur ein Anflug von Beklemmung, nicht zupackend wie gestern, dazu ein leichtes Ziehen im linken Arm. Unzweifelhaft dieselbe beunruhigend hässliche Wahrnehmung wie gestern. Hartnäckig provoziere ich das "Phänomen" auf weiteren 500 Metern ... Sinnlos, der Teufel in Brust und Arm lässt nicht locker. Enttäuscht kehre ich um, bin nach zwei Kilometern wieder zurück am Auto und breche die Einheit ab.

Dann und wann, eher selten, kürzte ich Trainingseinheiten, wenn mein Körper mir zu hohe Restermüdung signalisierte. Doch zum ersten Mal in 19 Jahren seit ich Marathon laufe muss ich einen Lauf schon zu Beginn abbrechen. Ich fahre heim, greife sofort zum Telefon und vereinbare einen Termin bei meinem Sport- und Hausarzt am nächsten Tag, 11:30 Uhr.

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Hinweis: Was nun folgt, hat mit einem Laufbericht über viele Zeilen hinweg wenig gemein. Spannung und "Unterhaltung" - ähnlich jener in Horrorfilmen - verspreche ich trotzdem. Und, wer "durchhält", wird zum Ende hin auch wieder von "sportlichen Leistungen" lesen.

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Mittwoch, 21. Juli

Aufstehen, frühstücken, danach zwei Stunden Wohnungsputz - ich fühle mich wie gewohnt quietschfidel und leistungsbereit. Entsprechend optimistisch, wenn auch mental ungut vorgespannt, fahre ich zu meinem Arzttermin. Großes Fragezeichen: Welche Art Streich spielt mein Körper mir diesmal? Nicht zum ersten Mal in bald sieben Dekaden, die ich überwiegend als Sporttreibender verlebte. Zum Beispiel sowas: Vor fast 30 Jahren lebte ich Sportspaß als Vereinsfußballer aus. Eines heiteren Sommertages, beim Aufwärmtraining, absolut ohne Vorwarnung und aus dem Nichts heraus, stellten sich plötzlich heftige Schmerzen ein. Brustkorb links, dort, wo das Herz schlägt. Laufen unmöglich, also Trainingsabbruch und heim ... Ein Internist fand heraus: Eine harmlose Magenschleimhautentzündung tarnte sich mit Fake-Herzschmerzen. Auch in jüngerer Zeit zeigte mir mein Magen-Darmtrakt immer mal wieder beim Training den Mittelfinger (allerdings mit anderer Schmerzsymptomatik). Deshalb vermute ich, dass da auch diesmal irgend ein "Pups" unter der Bauchdecke klemmt.

11:30 Uhr, Termin bei meinem Sport-/Hausarzt: Eingehende Untersuchung, EKG, verschiedene Blutmarker werden gecheckt, Lungenfunktionstest. Ergebnis: Infarktmarker negativ aber ein Eiweißwert ist drastisch erhöht. Dieser Wert zeigt an, dass im Körper Gewebe "zerrissen" ist, so erklärt es mir der Doc. Leider ist dieser Eiweiß-Marker unspezifisch, lässt keinen Rückschluss auf Ort und Ursache zu. Ich werde noch einmal genauestens abgehorcht, Brustkorb vorn und hinten. Lauter scheußliche, vor allem brandgefährliche Diagnosen stehen im Raum: Es könnte eine Lungenembolie vorliegen, auch ein Aneurysma oder eine Aortenerweiterung. Mein Arzt, mit dem ich mich duze, blickt finster vor sich hin, so finster wie ich ihn noch nie habe blicken sehen. Ein bisschen auch, als säße eine tickende Zeitbombe vor ihm auf dem Stuhl ... Gefühlt eine halbe Ewigkeit lang starrt er schweigend auf EKG und Messwerte. So konzentriert, dass er mir beim Versuch eine Frage zu stellen sogar das Wort abschneidet. Schließlich richtet er hör- und sichtbar schweren Herzens einen Appell an mich: "Ich würde dir das gerne ersparen, aber ich rate dir dringend dich als Notfallpatient in die Uniklinik Augsburg einweisen zu lassen."

Ich vertraue Dr. Andreas Weniger vorbehaltlos. Dafür gibt es verschiedene Gründe, vor allem jedoch seine ärztliche Kompetenz, die er mir als Patienten in 10 Jahren häufig demonstrierte. Stets lag er mit Diagnose und Therapieansätzen richtig. Mich seiner Einschätzung und dem Vorschlag zur Notfalleinweisung zu widersetzen erwäge ich deshalb keine Sekunde. Auch wenn - davon bin ich felsenfest überzeugt - dabei nichts wirklich Bedrohliches rauskommen wird. Wahrscheinlich dieses festen Glaubens wegen verspüre ich keine Furcht vor dem, was da auf mich zurollen könnte. Ebenso wenig wie vorgestern, als das Unerklärliche von mir Besitz ergriff. Angst empfand ich zu keinem Zeitpunkt, immerhin schien ich jederzeit Herr der Lage und meiner selbst zu sein - von der Unfähigkeit beschwerdefrei zu laufen mal abgesehen.

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Noch ein Hinweis: Um meine Empfindungen und Reaktionen in den folgenden Schilderungen einordnen zu können, ist es hilfreich meine körperliche Verfassung zum nämlichen Zeitpunkt zu bedenken: Ich fühle mich pudelwohl, voll belastbar und nicht krank. Allenfalls wie jemand, dem man nach unerklärlichem Zwischenfall zu einer eingehenden Untersuchung rät, die selbstverständlich weitgehend ergebnislos verlaufen wird ...

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Noch in der Arztpraxis wird mir ein Zugang gelegt und ein Tropf angehängt (Kochsalzlösung). Offensichtlich die übliche Vorgehensweise, wenn jemand zum "Notfall" erklärt wird. Zum ersten Mal telefoniere ich mit meiner Frau Ines: "Hallo, ich bin's, bitte erschrick jetzt nicht ...". Ich erläutere ihr die Situation, spiele die Bedeutung des Geschehens allerdings herunter. Wieso auch nicht? Da ist ja nix und das wird sich rasch herausstellen ... Keine Viertelstunde danach übernehmen mich die angeforderten Rettungshelfer, verfrachten mich auf eine Liege, rollen mich zum Rettungswagen, dessen Kastenaufbau mich "verschluckt". Bei all dem komme mir vor wie ein Simulant, bestimmt nicht weit davon entfernt vor Scham zu erröten. Auch wie den einer Witzfigur, eines Darstellers in einem bizarren Comedy-Sketch, empfinde ich meinen Auftritt oder besser: Abgang. Blutdruck, Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung werden fortlaufend gemessen. Von nun an lebe ich nicht einfach nur, ich höre mir dabei zu: Piep, piep, piep ... Einer der Sanis fährt, der andere steht neben mir, unterhält sich mit mir. Im Gespräch deute ich den Umfang meiner sportlichen Aktivitäten an, ernte Erstaunen. Womöglich wundert er sich auch ein wenig über die "Spitzenwerte" meiner Vitalfunktionen, Ergebnis regelmäßigen und intensiven Ausdauertrainings.

Sie liefern den "Unkranken" - einen Zombie der merkwürdigen Art - im Flur der Notaufnahme ab, melden ihn an und helfen ihm von der Krankentrage auf eines von mehreren bereitstehenden Krankenhausbetten zu rutschen. Noch ein "Alles Gute für Sie!", dann sind sie weg ... Zwischen "echt" Kranken, Siechen und blutig Verunfallten komme mir lächerlich vor, absolut deplatziert. Oder auch undercover, wie ein Skandal-Reporter, der sich eingeschlichen hat, um heimlich Stoff für ein Reality-TV-Format zu sammeln. Mittlerweile zeigt die Uhr halb eins. Erst nach und nach werde ich erkennen: Die Ankunft in der Notaufnahme ist so etwas wie der Startschuss zum sicher nervigsten Marathon meines Lebens. Anstelle von Laufschritten werde ich nun lange Wartephasen aneinander reihen ...

Immobil und weitgehend unselbständig wartend am Tropf zu hängen hat aber auch sein Gutes. Ich überdenke die Situation, sortiere Fakten, forsche nach Abhängigkeiten und Verwicklungen. Meine Frau Ines, die den Nachmittag frei hat, bricht in diesen Minuten zu einer Freundin in einem anderen Stadtteil in Augsburg auf. Mit Nachdruck habe ich darauf bestanden, dass sie ihren Tag lebt wie geplant. Weil das von mir entfesselte Tamtam ohnehin bald als Hornberger Schießen enden wird! Weiter denken: Mein Auto steht beim Arzt auf dem Parkplatz. Siedendheiß fällt mir ein, dass ich mein Portemonnaie mit Papieren und Geld vorm Arztbesuch in der Mittelkonsole des Autos verstaute, somit keinen Cent bei mir trage ... Mist! Ich beschließe Ines anzurufen. Mein Handy bedauert: Leider kein Netz in den Katakomben der Klinik! Freies WLAN vielleicht? Für eine Textnachricht? WLAN finde ich, aber es verlangt Zugangsdaten. Sackgasse.

Minuten später spreche ich eine Schwester an und bitte um ein WLAN-Passwort. Zu kompliziert. Stattdessen bringt sie mir ein Festnetztelefon: Ines entschließt sich den Autoschlüssel bei mir abzuholen. Und nun wieder: warten ... Irgendwann rührt sich was: Mein Bett wird im Flur verschoben, sodann: weiter warten. Von der neuen Position aus habe ich freie Sicht auf zwei Frauen, denen es zweifelsfrei ziemlich elend geht. Eine der beiden lässt von Zeit zu Zeit ein Stöhnen hören. Meinem ersten Blick folgt kein zweiter mehr, ich achte die Privatsphäre der Frauen. Weiter warten ... Nach und nach verrinnen Minuten und jegliches Zeitgefühl. Um nicht sinnlos Löcher in die Luft zu starren, durchforste ich mein Handy nach Lesbarem. Finde diverse, abfotografierte Artikel aus einem Laufmagazin, die ich längst lesen wollte. Es bleibt beim Versuch zu lesen. Weder kann ich mich auf den Text konzentrieren, noch interessieren mich im momentanen Status "laufunfähig" Feinheiten rund um mein Hobby ... Unvermittelt wird mir Blut abgenommen, wofür man mich nicht verletzen muss, dem gelegten Zugang sei Dank. Blut und Vampir (w) entschwinden, wohin auch immer. Weiter warten ...

Plötzlich Bewegung: Eine Pflegerin rollt mich samt Bett in einen Untersuchungsraum. Dort angekommen müht man sich zu zweit um mich, zieht mir auch endlich die Schuhe aus, stopft sie in eine Art Abfallsack. Ja, ungelogen: bisher lag ich mit Schuhen im Bett. T-Shirt ausziehen, anschließend werde ich verkabelt. Ein luftiges OP-Hemdchen, so ein Dings, das am Rücken gebunden wird, macht mich dann auch optisch zum Patienten. Einmal mehr werden Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Herzfrequenz gemessen, von nun an allerdings dauerhaft. Zum dritten Mal an diesem Tag werde ich nach Allergien gefragt. Stereotype Antwort: Nur Penicillin. Ein EKG soll geschrieben werden. Der Zappelphilipp Udo überhört die Anweisung "Stillhalten!". Der daraufhin fällige Anschiss zerteilt die klimatisierte Raumluft wie ein scharfes Schwert: "Wenn Sie nicht stillhalten, dann stehe ich morgen früh noch hier!" Zum vorläufigen Abschluss noch ein Corona-Schnelltest, vor dem mich auch der schon wirksame Impfschutz nicht bewahrt. Leider Vorschrift für alle, heißt es lapidar. - Das routinierte Handling der Pflegekräfte war willkommene, wenn auch nur Minuten währende Abwechslung. Ich bleibe allein und mit Versprechen im Behandlungsraum zurück: Bald (!) werde sich ein Arzt um mich kümmern. Na, dann warte ich eben noch ein bisschen ...

Im Behandlungsraum nebenan quäkt eine Frau mit Akzent und gequälter Stimme: "Schwässtaaa!?" Wiederholt unentwegt denselben Ruf nach nicht allzu langer Pause: "Schwässtaaa!?" ... "Schwässtaaa!?" ... Offenbar wächst ihre Verzweiflung. Nach geraumer Zeit fügt sie dem "Schwässtaaa!" jeweils ein "Hiilfäää!" hinzu ... Mit der Vernachlässigten zu fühlen und der Wunsch ihr den Hals umzudrehen, um so die Stille wiederherzustellen, wechseln im Takt ihres Krähens. An der Wand gegenüber hängt eine altertümliche Uhr. So ein mechanisches Ding, dessen Sekundenzeiger Wartende mit stetem Klack-klack-klack in den Wahnsinn treibt. Diesen tickenden Folterknecht rufe ich in den Zeugenstand: Es dauert länger als eine halbe Stunde (!), bis die Bedauernswerte endlich Gehör findet. Bis man ihr erklärt, dass der Arzt bald (!) Zeit für sie hat ... Bald (!) aber eben noch nicht jetzt.

Die Schiebetür geht auf und herein kommt - nein, kein Arzt - meine Frau Ines, eingelassen von einer "Schwässtaaa". Neben maximaler Freude ist noch Platz für ein bisschen Wundern: Wie hat sie es trotz Corona geschafft die Notaufnahme zu entern? - Leistet sie mir 5 Minuten Gesellschaft oder 50? Was auch immer da langsam in meine Vene tropft, es neutralisiert mein Zeitempfinden. Schließlich ist Ines wieder weg, zugleich mein Autoschlüssel. Unterstützt von der Freundin wird sie mein Auto abholen und vor der Klinik parken.

"Bald" endet nach mehr als einer Stunde! Endlich kümmert sich eine (Assistenz-) Ärztin um mich. Stellt sich vor, studiert meine Einweisungspapiere, beginnt mit der Anamnese. Wie Prahlhans komme ich mir vor, da ich nicht nur schildere unter welchen Umständen mich das Unheimliche heimsuchte. Heilungserfolg, lasse ich mich entschuldigend ein, hängt entscheidend von der Mitarbeit des Patienten ab. Hört sie solche Sprüche häufiger in der Notaufnahme? Jedenfalls lächelt sie, während ich aushole und von 300 mal Marathon und weiter erzähle, vier davon an vier Tagen vorletzte Woche, abschließend auch die 70 Kilometer vom vergangenen Freitag nicht unerwähnt lasse. Ihre Finger huschen über eine Computertastatur, verewigen meine Story in der Klinik-Cloud. Zehnfingersystem! Woher kann sie das? Ich bin 67 und lernte es in der Schule an einer mechanischen Schreibmaschine. Die Assi-Ärztin bringt es auf irgendwas zwischen 30 und 40 Lenzen. Wo lernte sie mit zehn Fingern zu tippen? Wird das noch an Schulen gelehrt?

Dann schaut sie sich meinen Pumpmuskel im Ultraschallecho an. Ich verrenkte mir den Hals und schaue mit: Verwaschenes Zucken in Schwarz-Weiß. Dauernde perspektivische Wechsel, je nach Stellung des Ultraschallkopfes auf meiner mit Glibber verschmierten Brust. Eine Kardiologin kommt dazu, schaut wie angekündigt "noch mal drüber". Zu sehen gibt es anscheinend nur "Normales", wenn ich mir das Kardiologen-Kauderwelsch richtig übersetze. Schließlich legt die Fachärztin noch selber Hand an und lässt den Ultraschallkopf lustig über meinen Brustkorb flutschen. Meine Augen wandern zwischen Monitor und ihrem Gesicht hin und her. Ihr Blick verfinstert sich nicht, hält das verbindlich warme Lächeln fest. Alles gut, oder? - Plötzlich Verunsicherung: Mehrmals misst sie den Aortenausgang meines Herzens aus: Vier Zentimeter stellt sie verdutzt fest. Offenbar hat kein Mensch eine so dicke Aorta. Sie traue diesem Ultraschallgerät nicht, beruhigt sie mich. Wieder schliddert der Ultraschallkopf hin und her, Messung, noch eine, abschließend: 3,7 Zentimeter. Eintrag der Messdaten in meinen Klinik-Blog mit Zusatz "nicht valide", anderweitig verifizieren. Schließlich entschwindet sie durch eine Schiebetür in die Nachbarzelle. Ja, exakt dorthin, wo vorhin die "Schwässta!-Rufe verstummten (mit einem Kissen erstickt und jetzt Wiederbelebung?). Zuletzt ragt nur noch ihr Kopf in meine Sphäre und der wünscht: "Alles Gute für Sie!" Gerade noch rechtzeitig zieht sie ihren Kopf zurück, bevor die Schiebetür nach Art einer Giullotine zuschnappt.

Meine Assi-Ärztin tippt Einstweiliges in ihre "Schreibmaschine" und meint beiläufig: "Für eine Herzkatheteruntersuchung behalten wir sie auf jeden Fall hier." Herzkatheter? - Minimalinvasive Methode, wenig Schmerz zu erwarten, also bleibe ich gelassen. Außerdem interpretiere ich das Vorgehen so: Ultraschall ohne Ergebnis, also weitersuchen und auch mit dem Katheter werden sie nichts finden! Da ist nämlich nix! - Von der Notaufnahme rollt man mich zur AST (Aufnahmestation). Der Begriff legt nahe, dass ich womöglich über Nacht werde hierbleiben müssen ... Auf der AST legt erstmals ein bekittelter Mann Hand an, bisher wähnte ich mich in "Amazonien". Worüber ich nicht böse bin: Frauen erlebte ich von jeher in Wort und Tat als das sensiblere, damit angenehmere Geschlecht.

Doch dieser Grünkittel ist mir willkommen! Männer handeln manchmal tollkühn. Und mutige Entschlossenheit beweist er: erlaubt mir einen Toilettenbesuch auf eigenen Füßen stehend! Mutig weil: Wenn ich im Klo umfalle und verende, muss er seinen grünen gegen einen gestreiften Kittel tauschen! - Wieder im Bett, wieder warten ... 18 Uhr vorbei, noch länger warten. Längst spüre ich Hunger und Durst. Man reicht mir einen Plastikbecher mit zwei Schlucken Wasser. Irgendwann geht die Tür auf und mein Schutzengel schwebt herein: Ines. Musste sie ihre Seele verpfänden, um ohne Covid-Test in die AST vorzudringen? Sie übergibt mir den Autoschlüssel, eine Zeitung (Augsburger Allgemeine, was noch wichtig werden wird) und ein Magazin. Im Bioladen raffte sie rasch Ess- und Trinkbares für mich zusammen: Brötchen, Wiener Würstchen, Knabbergebäck, Säfte und Limonaden. Mein Überleben in dieser Anstalt scheint auf viele Stunden hinaus gesichert ...

Ines hat sich verabschiedet, bringt die Freundin zurück, fährt anschließend heim. Sie wirkt nicht so, aber ich ahne wie tief der Schrecken in ihr wurzelt. Sobald der Katheter meine Unversehrtheit ans Licht gebracht hat, werde ich sie anrufen. Um Furcht und Erschrecken zu zerstreuen, die mich selbst nicht belästigen. Weder jetzt, noch als "es" geschah. Manchmal komme ich mir vor wie ein abseits stehender Beobachter, gar nicht selbst betroffen. Warum ist das so? - Eine Pflegerin händigt mir Merkblätter zu möglichen "Nebenwirkungen" des Herzkatheters aus. Die Ärzte hätten nicht die Zeit mich aufzuklären, also bittet man mich ausnahmsweise selbst zu lesen, was mir zustoßen könnte. "Aber unterschreiben brauchen Sie nichts!" - Also lese ich und nehme zur Kenntnis, auf welche Weise die an sich harmlose Untersuchung unmittelbar oder verzögert zum Tode führen könnte, sofern dies oder das, möglicherweise auch jenes, schiefgehen sollte. Im Grunde ist es wie mit dem Impfen: Maximaler Nutzen, der das minimale Risiko um ein Zigfaches übersteigt. Die Strichaufzählung möglicher Kunstfehler und Komplikationen will nicht enden. Alsbald verweigert mein Geist Lesen und Verstehen. Wenn ich Sicherheit über meine Herzgesundheit wünsche, führt am Herzkatheter kein Weg vorbei. Was nützt es mir also vorab zu wissen, warum ich hinterher tot bin, wenn ich tot bin?

19:45 Uhr: Ich werde abgeholt. Zwischenstation beim Röntgen. Danach rollt das Bett mit Udo drin zum Aufzug. Im zweiten Stock endet die Zubringerfahrt vor Räumen mit der Aufschrift "Herzkatheter". Tür auf, Bett rein. Samt Verkabelung und Zugängen rutsche ich vom Bett auf eine schmale Liege. Allerdings erst nach Entblößen meines Unterleibs. Zum ersten Mal fühle ich mich ausgesetzt - Blicken und der Prozedur, die man sogleich an mir vornimmt: Zwei Katheter-kundige Pflegerinnen bereiten mich vor und erklären jeden Schritt. Die rechte Hälfte des Schambeins bis rüber zum Oberschenkel wird rasiert und mit giftig braun-gelber Lösung desinfiziert. Quer übers "Gemächt" legt man mir eine schwere Bleischürze. Eine blaue, keimfreie Kunststoffdecke wird gekonnt so entfaltet, dass die Oberseite keimfrei bleibt. Das etwa handtellergroße Loch in der Decke wird über der desinfizierten Stelle an meiner Leiste positioniert und mit selbstklebendem Rand fixiert. Vorbereitung abgeschlossen.

Längst haben meine ruhelos hin und her irrenden Augen die "Maschine" taxiert. Konnten von allen Vorrichtungen allerdings nur dem 6er-Set Monitore eine Funktion zuweisen. Auf zwei übereinander angeordneten Monitorzeilen wird's was zu sehen geben. Anscheinend auch für mich ... Im Gelass hinter einer Glaswand wurde Frau Doktor unterdessen steril verpackt, tritt nun heran, stellt sich vor und klärt mich auf: Sie wird eine Schleuse in meiner Leistenarterie verankern, durch die sie den Katheterschlauch einführen wird. Was sie sagt, mehr noch wie sie es sagt, ist geeignet der Prozedur die Harmlosigkeit eines im Allerwertesten versenkten Fieberthermometers zu verleihen ... Ich bleibe gelassen, was aber auch am Beruhigungsmittel liegen könnte, das man mir eben verabreichte ... Der Untersuchung könne bei Bedarf auch sofort ein Eingriff folgen, meint sie, je nachdem, was man vorfinde ... Finden werdet ihr nix denke ich noch und dann legt sie auch schon los ...

Ich liege flach, kann nur den Kopf leicht anheben und hin und her drehen. Was sie mir "da unten reinschieben" will, erkenne ich nur schemenhaft. Der Einstich der Schleuse schmerzt geringfügig mehr als der einer normalen Spritze. Danach spüre ich nichts mehr. Das 6er-Bildschirmset schwebt links von mir in Hüfthöhe, damit sie es vor Augen hat. Auf einem der Bildschirme werde ich mein Sterben beobachten können: Die jetzt dort sichtbaren Herzimpulse werden flacher werden, ausbleiben, zuletzt: Flatline und Ende. Vermutlich fällt dann auch der Wert der Sauerstoffsättigung, der - in den letzten Stunden mehrfach gemessen - immer nahe bei 100 Prozent lag ... Dass ich nichts spüre bezieht sich natürlich auf das "vorwitzige Ding" in mir, das sich inzwischen seinen Weg durch meine Arterie bahnt.

In meiner zunächst falschen Vorstellung vom Aufbau der Anlage schiebt die Ärztin eine Art Kamera in Richtung Herzinneres voran. Deshalb versuche ich das Wischiwaschi-Bild auf dem Hauptmonitor als Innenansicht eines Röhrensystems zu interpretieren. Dazu passt auch noch, dass ich - ehrlich beeindruckt - kurz darauf einer meiner Herzklappen beim rhythmischen Öffnen und Schließen zusehen darf. Wow! Herzklappe auf und zu, auf und zu, ... Ist das echt meine? Bildhübsch oder etwa nicht? Doch dann wird's ganz und gar unverständlich: Was ist das für eine "Liane", die da offenbar im Takt meines Herzschlages quer übern Bildschirm zappelt?* Und welchen Sinn hat eigentlich das rechteckige Ding, das über meinem Herzen hin und her fährt, mal über, bald an der Seite meines Brustkorbs Position bezieht?

*) Herzarterie mit Verästelungen

Ich bin kurz davor die tatsächliche Funktionsweise der Maschine zu verstehen, als mich die Ärztin anspricht: Ein Blutgerinnsel habe sich in meiner Koronararterie gebildet. Das sagt sie mir einfach so, dabei kann das gar nicht sein!? Das böse, mit "I" beginnende Wort vermeidet sie. Das erlaubt meinem naiven Sportlerhirn die "Sache" zu bagatellisieren. Da gibt es also ein Blutgerinnsel. Aha. Noch eine Spur harmloser klingt das Fremdwort, das sie wechselweise benutzt: Thrombus. Und nun? Dass das Gerinnsel beseitigt werden muss, ist klar. Wenn ich sie richtig verstehe, will sie es absaugen. Bloß misslingt der "Aspirationsversuch", so steht es später im Arztbrief. Bisher spürte ich absolut nichts von den Manipulationen an MEINEM schlagenden Herzen. Das ändert sich jetzt durchgreifend und brutal: Die Beklemmung vom Montag, als es passierte, ist wieder da, intensiviert sich rasch, ist weit heftiger als dort auf der Straße. Ich teile mich mit, spreche von meiner Not. "Das sind wir!" Die Ärztin spricht leise, will mich beruhigen. Und obwohl diese zupackende Faust in meiner Brust kaum noch zu ertragen ist, geben mir ihre Worte Halt. "Das sind wir!" meint eben auch: Wir sind dran, tun was, bald wird es besser werden! - "Schon besser?" erkundigt sie sich folgerichtig. Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ich hechele inzwischen, keuche, winde mich zwanghaft auf meiner Liege, wie ein Aal auf dem Trockenen ... Keine Atemnot, keine Schmerzen, weder Druck noch Zug, dennoch unerträglich, unsäglich, unerbittlich, auf übermächtige Weise beklemmend. Warum empfinde ich keine Furcht? - Wegen: "Das sind wir!"? Oder bin ich zu sehr mit Aushalten beschäftigt?

Absichtserklärung der Ärztin: Sie werde jetzt für 10 Minuten ein Medikament über den Katheter freisetzen, um den Thrombus aufzulösen. Ihr Versprechen: "Es wird "gleich" besser werden!" - Unter Vokabeln wie "bald" oder "gleich" versteht man hier im Haus etwas völlig anderes als der Duden. Das war während der langen Wartezeit so und wiederholt sich jetzt. Das Böse in meiner Brust will nicht weichen. Lange nicht. Mangels Zeitempfinden unmöglich zu sagen wie lange nicht. Die Spanne dehnt sich endlos ... Ich erinnere mich an nichts, was mir in meinem Leben derart zugesetzt hätte. Und das ohne mir wehzutun. Ich ächze, stöhne, keuche, hechele, zucke, zappele ... Möchte aufstehen, weglaufen, um dem Grauen, das in meinem Herzen nistet zu entkommen. Schrecklich, wirkmächtig, beklemmend. Schweiß steht mir auf der Stirn, rinnt an den Schläfen.

Dann lockert sich der Zugriff. Langsam, sehr langsam. Ich spreche es aus: "Jetzt ist es ein bisschen besser!" Sie nickt mir zu, bleibt sparsam mit Worten: "Gut so!" oder irgendwas in der Art. Zeit vergeht ... Nein: Sekunden tropfen von der niedrigen Raumdecke zäh wie Honig ... Immer wieder mal "bimmelt" die Maschine, zwinkert dabei mit einer gelben Kontrolllampe, deren Sinn mir bis heute verborgen blieb. Sorge mich nicht, Lampe und Glocke machten sich von Beginn an mehrfach bemerkbar. Der Teufel in meinem Herzen verliert mehr und mehr an Kraft. Nun weiß ich den wahren Sinn des Wortes zu deuten: Mir wird leicht ums Herz! Sie wolle weitere 10 Minuten noch einmal dieselbe Dosis des Medikaments freisetzen erklärt mir meine bekittelte gute Fee. Ich signalisiere mein Okay. Pro forma. In Wahrheit liegt mein Schicksal allein in ihren Händen. "Sie besitzen sehr dicke Herzarterien, was gut ist!" schiebt sie nach. "Sind Sie geimpft?" Obschon in der Akutsituation scheinbar irrelevant, kommt mir die Frage nicht ungewöhnlich vor. "Wann war ihre letzte Impfung?" bohrt sie weiter. "Zwei oder drei Wochen her" gebe ich zu Protokoll und kapiere endlich ihren Verdacht.

Udo ein Opfer von Nebenwirkungen der Corona-Impfung? Einerseits erschreckt mich der Gedanke, andererseits nehme ich ihn dankbar an. Nicht mein Körper hat versagt, das böse "Vakzin" hat mir übel mitgespielt! Insofern tröstlich, weil es mir wie die Entweihung des heiligen Grals vorkäme, sollte ausgerechnet ich, der Vielläufer Udo, einen Infa ... äh, ... ein Blutgerinnsel am Herzen erlitten haben.

Vorhin klang sie und stimmte mich optimistisch: Ausräumen den Thrombus, dann ist alles gut und mein Herz wieder topfit. Der widerborstige, gigantische, überdies Kaugummi-zähe Thrombus, der - das erfahre ich später - sich partout nicht komplett auflösen will, zerstört ihre anfängliche Zuversicht. Sie werde den Eingriff jetzt beenden, den Zugang an der Leiste aber drin lassen. Morgen wolle man noch einmal da reinschauen. "Second Look erforderlich" heißt es später in meiner Patientenakte. - Mir ist alles recht, nur erst mal dieser Maschine entrinnen. Keine Spur von Beklemmung mehr, ich bekomme wieder Oberwasser. Kann es kaum erwarten, dass sie endlich die "fette Pferdedecke" von meinem Körper pellen. Schließlich hilft man mir aufs herbei geschobene Bett zu rutschen. Mit Vorsicht wie Frau Doktor betont. Flach liegen bleiben! Keinesfalls aufrichten, sonst könnte die Schleuse in der Leiste meine Arterie verletzen. Die Konsequenz "Verbluten" hätte nicht ausgesprochen werden müssen, die ist mir auch so klar. - Um 22:30 Uhr rollt mein Bett über die Flure, nach zweieinhalb Stunden Sitzung im Herzkatheter.

Die Bettfahrt endet auf der Intensivstation. Wo denn auch sonst, nach einem Eingriff am Herzen!? Man positioniert mich vor einer gewaltigen Batterie von Geräten, die fortan meine Vitalfunktionen überwachen und die Gabe von Medikamenten per Tropf regeln werden. Über zwei Zugänge inzwischen, einer in der linken und einer in der rechten Armbeuge. Wichtig: Ines anrufen. Schlechtes Netz, sie hört mich nur zeitweise. Verdammtes Deutschland: Überheblichkeit allerorten, aber unfähig ein flächendeckendes Handynetz aufzubauen. Die Pflegerin bringt mir ein Festnetztelefon. Ich brauche mir nicht mal Mühe zu geben am Telefon unerschrocken zu wirken. Weil ich es bin. Ich schildere Zwischenergebnis und überstandene Prozedur. Die Fakten sind rasch erklärt. Auch Zuversicht auszustrahlen fällt mir leicht, bin erfüllt davon. Warum auch immer. Ich wünsche meiner Frau eine gute Nacht, verspreche sie auf dem Laufenden zu halten. Die vergangenen Stunden müssen Ines zugesetzt haben. Hoffentlich kann sie schlafen!? Was mich angeht, so schlafe ich unerwartet gut, obschon auf dem Rücken liegend fixiert. Ein paar Mal unterbrechen Piepgeräusche meinen Schlaf, doch jeweils Sekunden später bin ich wieder weg ...

 

Donnerstag, 22. Juli

Es soll einer der scheußlichsten Tage meines Lebens werden und er beginnt gegen 7 Uhr morgens. Das Putzgeschwader hält Einzug, leert aus, wischt nass über alles hinweg. Lust auf Frühstück stellt sich ein, vor allem auf Kaffee. Mein Wunsch erfüllt sich nicht. Ich muss vor der zweiten Katheter-Sitzung nüchtern bleiben. Dass mich die "Maschine" gestern Abend mit gesättigtem Magen visitierte, lasse ich mal lieber unerwähnt. Die Pflegerin schaut nach mir, stellt warmes Wasser, Handtuch, Lappen und Zahnputzset bereit. Frisch machen? Kannste vergessen, mit all den Kabeln und Schläuchen am und im Leib und dem Verbot sich aufzurichten. Katzenwäsche: Gesicht, Hals, Achselhöhlen, Ende. Wenigstens Frische im Mund. Auszuhalten. Noch.

Nach und nach lerne ich: Räkeln im Bett, etwa höher raufrutschen oder Kopfkissen zurechtrücken, beschleunigt den Herzschlag, dem ein Piepen folgt. Gebe ich Ruhe, liege still, verstummt das Piepen wieder. Ich lese Zeitung, knicke dabei den Arm ab (blockiere so unabsichtlich den Zufluss in der Armbeuge). Ein anderes Piepen setzt ein. Im Gegensatz zum Herzschlag-Piepen endet es nicht von selbst, wird stattdessen nach etwa einer Minute Nichtbeachtung um ein Vielfaches, höchst penetrant lauter. Die Pflegerin erscheint, kontrolliert den Zugang, killt das Piepen per Knopfdruck, ist wieder weg. Inzwischen halte ich die Zeitung mit der linken Hand. Man ahnt es: Zugang links blockiert, Piepen setzt neuerlich ein ... Die Pflegerin erklärt mir endlich den Zusammenhang. Ach so!

Dass hinterm Paravent, vorm Fenster, ein Leidensgenosse vor sich hin dämmert, entdeckte ich erst kurz vor der Nachtruhe. Ich erfuhr, dass er da schon den ganzen Tag lag und auf seinen geplanten Kathetereingriff wartete. Allerdings habe sich der wegen mehrerer Notfälle verzögert. Ich begriff: Einer dieser Notfälle war ich. Seltsamerweise schwingt in der Stimme des verborgenen Mannes nicht mal ein Anflug von Ungeduld mit. Wie kann das sein? Liegt da stundenlang rum, sicher mehrfach vertröstet, hungert, wartet und ergibt sich klaglos seinem Schicksal. Wirkte unendlich dankbar und - nicht übertrieben - sogar zufrieden, als die Pflegerin ihm spät abends doch noch eine Mahlzeit servierte ...

Die Tür zum Krankenzimmer besitzt kein Schloss. Man kann sie nur lose in ihren Rahmen drücken. Bisher stand sie stets weit offen. Ich lausche: Irgendwo piept es immer, mal in diesem, mal in jenem Zimmer. Nervig. Warum schließen sie die Tür nicht? Jeder, der auf dem Flur vorbeigeht, und das sind etliche an diesem Morgen, bedenkt mich mit einem Blick. Ich beneide den Zimmergenossen hinterm Sichtschirm. Anders als ihm bleibt mir kaum Privatsphäre. Kapiere: Einstweilen bin ich nicht Mensch noch Bürger, sondern Patient. Dazu passt auch, dass ich jede und jeden mit nacktem "Gemächt" belästigen könnte, so ich nur die Bettdecke lupfte. Was Anstand verbietet führt leider zu unerträglichem Hitzestau. Abhilfe: Beine seitlich rausstrecken.

Ich widme mich wieder dem Exemplar der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die mir Ines gestern mitbrachte. Zeitungen lese ich von vorne nach hinten. Zeitgeschehen, Wirtschaftsteil, zum Sportteil komme ich jetzt. Bevor ich umblättere beschleicht mich so eine Ahnung: Vorletzte Woche absolvierte ich nach einer Kurzserie von 4 Marathons in 4 Tagen meinen 300. Marathon (und weiter). Eine Gelegenheit Werbung für unseren Verein zu machen, die der Pressewart nicht ungenutzt würde verstreichen lassen. Werbung, um Sponsoren bei der Stange zu halten. Ein Artikel, der meine Leistung würdigt, steht jedoch noch aus. Er wird doch nicht ... es kann doch nicht ... oh, bitte nicht ausgerechnet in dieser Ausgabe ... Ich blättere um und starre mir ins Gesicht. Überschrift: "Pitsch sammelt Marathons". Untertitel: "300 Rennen über 42,195 km". Ich könnte nicht erschlagener daliegen, hätte der Blitz in mein Bettgestell eingeschlagen; noch nie fühlte ich mich vom Schicksal derart verhöhnt. Im Bett auf der Intensivstation ein Loblied auf den Vielläufer Udo. Ausgerechnet jetzt, nachdem mein wichtigster Mitarbeiter, mein Herz, nach mehr als 67 Jahren die Mitarbeit verweigert. Tragisch oder komisch? Im Rhythmus meines Herzschlags schwanke ich zwischen diesen Alternativen.

Wieder warten, diesmal auf die Visite. Genauer gesagt: auf zwei Visiten; erst eine kleine, bestehend aus drei Ärztinnen, die erst tuscheln, dann kommentarlos wieder verschwinden. Kaum Männer hier drin, 90 Prozent Amazonen. Mindestens. Eine Stunde später wünschte ich es wären 100 Prozent. Chefarztvisite: The Master of Heart Disaster himself samt gewaltiger Entourage rauscht ins Zimmer, an mir vorbei zum Bettnachbarn am Fenster. Vortrag einer weiblichen Stimme. Auf diese Weise erfahre ich: Die arme Sau hinterm Paravent leidet an einem Karzinom, dazu Anämie (Blutarmut) und weil beides noch nicht reichte ihn umzubringen schwächelt auch sein Herz. Daher wartet er auf einen Platz im Herzkatheter. Muss ich mich jetzt schuldig fühlen, weil ich gestern dem Todkranken seinen Platz streitig machte? Was für ein bitteres Schicksal!

Und nun Chefarztvisite zu Udos Füßen: Dieselbe Frauenstimme trägt meinen "Fall" vor. Wenn ich je ein vielfach befeuertes Klischee bestätigt fand, dann dieses hier: Seine Majestät der Chefarzt der Kardiologie hält Hof. Rings um den Gottgleichen herum pochen unterwürfig kleinlaute Ober-, Fach- und Assistenzarztherzen. Peripher zuhörend, fast unsichtbar, offenbar ein paar verängstigte Exemplare der nichtswürdigen Spezies Medizinstudent. Nie zuvor war mir ein Mensch so spontan und so total unsympathisch wie dieser - pardon - Schönling im Chefarzthabitus. Ich schaffe es nicht den Blick von seinem Haupthaar zu lösen. Wahnsinn: Die schwarz glänzende Pracht ist in völliger Unordnung gestylt. So perfekt unordentlich, dass man keine Sekunde an der Mühe zweifelt, die er auf die formvollendete Wildheit seiner Strähnen verwendete. Die schlanke, hoch aufgeschossene, Respekt mittels gebieterischer Haltung einfordernde Chefarzterscheinung studiert erst meine papierene Akte, tritt dann seitlich ans Bett ... Nein, nicht zu mir, wo denkst du hin? Zum Computer am Kopfende des Bettes. Ruft Bilder der Kathetersitzung auf ... Kommentiert ungehalten, unwirsch, tadelnd. Wen kann er anders meinen als die Ärztin, die gestern Abend den Eingriff vornahm? Worauf sonst könnte er sich beziehen, wenn nicht auf deren fachliche Einschätzung?

Ich verstehe nur Satzfetzen, die er wie spitze Speere gegen die Abwesende schleudert: " ... das sieht mir nicht aus wie ...", " ... für mich ist das ...", " ... da muss man nochmal genauer ...", " ... second look ..." Dabei ignoriert er sein Gefolge, spricht alleine zu einem jüngeren Arzt mit Dutt. Schon wieder bin ich fasziniert von einer Haarkonstruktion. Offenbar langes, mittelblondes Haar, der Hygiene zuliebe am Hinterkopf festgetackert. Während die Chefarztkarikatur samt Gefolge von hinnen rauscht, lässt sich der Dutt dazu herab mir die weiteren Absichten zu verkünden: Man wisse noch nichts Genaues, müsse da noch mal reinschauen. Und wohl einen Stent setzen, wo das Gerinnsel entstand. Dann hastet er dem Gottvater der Kardiologie hinterher. Zurück bleibt ein Patient mit Fragen. Stent? Wieso Stent? Die Ärztin gestern Abend war der Auffassung, dass die "Sache" nach Beseitigung des Thrombus ausgestanden wäre. Man müsse nur noch einmal nachsehen, ob das auch vollends gelungen sei und nach der Ursache suchen.

9:30 Uhr, ich warte. Frage beiläufig die Schwester, wann ich ihrer Einschätzung nach drankommen werde. Weiß sie natürlich nicht, macht mir dennoch Hoffnung: Sie könne sich vorstellen, dass ich "bald" untersucht werde, da die Schleuse noch in meiner Leiste stecke ... Dran kommt verdientermaßen gegen 10 Uhr der Herr hinterm Sichtschirm. Mein Trostpflaster fürs Weiterwarten: Endlich WLAN! Eine überaus nette Dame aus der Verwaltung überreicht mir den Zugangscode. Also kann ich nun E-Mails checken, mich von anstehenden Wettkämpfen abmelden, vor allem reservierte Unterkünfte stornieren. Und - auch das ist mir ein Bedürfnis - zwei enge Lauffreunde per Sprachnachricht über mein Schicksal in Kenntnis setzen (also erschrecken) ...

Wollte ich die nächsten, mit qualvollem Warten verbrachten Stunden authentisch wiedergeben, müsste ich dich vor allem langweilen, nerven, vielleicht sogar verärgern. Hätte zigfach das Gepiepse zu erwähnen, von mir oder anderen verursacht, das sich immer tiefer in mein Hirn bohrt. So tief, dass ich es vermutlich sogar höre, wenn es mal ausnahmsweise sekundenlang verstummt. Dürfte ferner das Klack-klack der vorsintflutlichen Uhr über der Tür nicht vergessen, von einem Folterknecht ersonnen, um Warten hörbar zu machen. Müsste überdies von Rückenschmerzen berichten, die sich infolge stundenlangen Liegens einstellen, vom Hunger, der im Gedärm rumort und den Belästigungen der automatischen Blutdruckmanschette, die mir viertelstündlich den linken Oberarm abtrennen möchte. Bohrende Kopfschmerzen wollen nicht verfliegen, obschon ich am Morgen eine Tablette dagegen bekam. Je länger ich rumliege, immer seltener mit Zeitungslesen, ansonsten mit Nichtstun und Warten beschäftigt, umso mehr verstehe ich die Sanftmut meines Zimmergenossen, die der nach einem mit Warten verbrachten Tag an denselben legte. Meine Teilnahmslosigkeit wächst exponentiell und schon kleinen Gesten, wie etwa dem Nachfragen der Pflegerin, ob alles in Ordnung sei, begegne ich mit tiefer Dankbarkeit.

Gegen elf, als sie meinen Zimmergenossen mit frisch eingepflanztem Stent wieder reinrollen, startet man den Versuch meiner Hoffnung neues Leben einzuhauchen: "Sie kommen bestimmt auch "bald" dran!" Ich hör's, allein mir fehlt der Glaube, und ich soll Recht behalten ... - Kurz vor Mittag plötzlich Bewegung im Zimmer. Jetzt isses soweit, oder? - Wie ich auf das nun Folgende reagiere, beweist, wie sehr Abwarten und Ans-Bett-gefesselt-sein die Festung Udo schon geschleift haben: Eine Amazone mit Doktortitel will die Schleuse in meiner Hüfte entfernen. Statt mir aufs Übelste veräppelt vorzukommen und wütend zu protestieren, mit scharfen Worten eine Erklärung einzufordern, warum man mich eine Nacht und einen halben Tag mit diesem Ding im Leib zur völligen Bewegungslosigkeit verdonnerte und das Sch ... ding nun doch entfernt, lasse ich die Prozedur still über mich ergehen. Und sie ist schmerzhaft, die Prozedur: Die Pflegerin zieht die Schleuse, zugleich drückt die Ärztin mit beiden Fäusten, unter Einsatz ihres vollen Körpergewichts auf die Leistenarterie. Verdammt, tut das weh! Geschlagene fünf Minuten - immer wieder blickt sie zur Uhr - verlagert sie mehrfach den Druck ihrer Fäuste, als wolle sie mir das Bein abquetschen. In meinen Adern kreist Gerinnungshemmer in hoher Dosierung. Wenn sie einen groben Fehler macht, verblute ich. Und doch hoffe ich, dass sie bald damit aufhört ... Fünf Minuten um: die Ärztinnenfäuste werden von Schwesternfäusten abgelöst. Frau Doktor verabschiedet sich, sichtlich erschöpft von fünf Minuten Fitnesstraining ...

Die Pflegerin setzt die Behandlung fort, mit erträglicherem Druck. Wie lange noch? frage ich. Weitere 10 Minuten muss sie die Stelle malträtieren ... Nach den wahrscheinlich längsten 10 Minuten des Tages gibt sie vorsichtig meine Hüfte frei und legt einen Druckverband an. Den darf man sich einer Windel nicht unähnlich vorstellen: Erst eine breite Lage um Hintern und Hüfte, anschließend ein Band um den rechten Oberschenkel, alles mit Klettverschluss bombenfest arretiert. Mehrmals checkt sie, ob der Verband einblutet ... Ich habe Glück, er bleibt makellos weiß. Mehr Bewegungsfreiheit nun für Udo? Mitnichten! Erst in 12 Stunden kann der Druckverband entfernt werden und bis dahin darf ich die Hüfte nicht anwinkeln!

Irgendwann telefoniere ich mit Ines, hielt sie bisher mit WhatsApp-Botschaften auf dem (Nicht-) Laufenden. Sie wird mir nach Büroschluss dringend benötigte Utensilien bringen: Waschtasche, Unterwäsche, etc. Sehen werde ich sie kaum. Sicher lässt man keine Angehörigen zu Noch-Corona-Zeiten zur Intensivstation vor. - "Klack, klack, klack ..." Nutzlose Sekunden verketten sich unter heftiger Gegenwehr zu unwiederbringlich versäumten Minuten. "Klack, klack, klack ..." Minuten häufen sich nach endlosem Dahinwarten zu grässlich toten Stunden ... "Klack, klack, klack ..." Apathie ist ein Schutzschild des Geistes! "Klack, klack, klack ..." Um nicht verrückt zu werden, schaltet der sich mehr und mehr ab. Ich versuche zu lesen - breche ab - lese - nicke ein - lese - hänge rum - und im Hintergrund fortwährend dieses entsetzliche Gepiepe. Psychoterror hoch fünf ...

... bis mir plötzlich Ines im Traum erscheint. Dabei ist es kein Traum, die Pflegerin hat ihr Erscheinen angekündigt, ihr sogar einen Stuhl hingestellt. Tatsächlich Ines. Wie um alles in der Welt ist sie hier reingekommen? Ohne gültigen Coronatest! In die Intensivstation! Egal ... Schlagartig geht es mir besser und die Uhr läuft endlich auch wieder schneller. Ines bricht den Bann: Kurz vor 18 Uhr holt man mich endlich ab: Herzkatheter, Runde zwei. Wird nicht soooo lange dauern, meint die Pflegerin, "ihr Mann ist bald (!) zurück". Ines wird in der Halle warten und von Zeit zu Zeit auf der Station anrufen, ob ich zurück bin.

Vorbereitendes Prozedere wie gehabt. Diesmal allerdings in männlicher Obhut. Ein erfahrener Pfleger verbreitet gute Laune, schürt meine Zuversicht, die längst wieder die Oberhand gewann. Der Arzt stellt sich vor. Wieder habe ich Glück, treffe auf einen Menschen, den eine Aura aus medizinischer Kompetenz und Empathie umgibt. Diesem kongenialen Arzt-Pfleger-Team bringe ich vorbehaltlos Vertrauen entgegen. Der Doc erklärt die Vorgehensweise: Reingucken, ob das Gerinnsel sich aufgelöst hat, dann die "kaputte" Stelle finden, dort einen Stent setzen, fertig.

Teil eins: Bis auf einen unbedeutenden Rest kein Thrombusmaterial mehr in meiner Herzarterie. Er leitet die Fahndung ein, sucht den Tatort. Und die Maschine geht ab wie Schmidts Katze: Lampe blinkt, Klingel bimmelt, Arterienstrang zappelt auf dem Monitor - wie putzig wär das alles, ginge es dabei nicht um meine Gesundheit. Bild friert ein, Doc steht unbeweglich, schaut ... Blinken, Bimmeln, Zappeln, wieder Bild einfrieren, mehrfach. Irgendwann legt er die Hände resignierend vor sich aufs Gerät und meint nur: "Tja!?" Dann lange nichts mehr. Verharren und auf den Monitor starren. Endlich an mich gewandt: "Also offen gesagt weiß ich auch nicht so genau, wo die verletzte Stelle ist!?" Dann neuerlich Stille und angestrengtes Studium ...

Als man mich aus dem Katheterraum rollt steckt ein spezieller Stent, einer der über Monate ein Medikament absondert und sich dabei auflöst, mittig in meinem rechten Herzkranzgefäß. Auf Verdacht dort, wo sich der Thrombus befand, ohne mit Gewissheit sagen zu können, ob das Gerinnsel tatsächlich an dieser Stelle entstand. Ein anderer Arzt hätte mir abschließend alles Gute gewünscht und sich entfernt. Dieser hier nicht. Er sucht das Gespräch mit mir, lässt erkennen, dass auch er intensiv und häufig Ausdauersport betreibt. Dass er mithin nachvollziehen könne, welche Zäsur diese Erkrankung für mich bedeutet. Er wolle mir zwei Ratschläge mit auf den Weg geben: Erstens solle ich mich nicht an der Frage abarbeiten "Warum ausgerechnet ich?". Darauf gäbe es ohnehin keine Antwort. Darüber hinaus müsse ich in den folgenden Wochen einen Weg finden, meinem Körper wieder zu vertrauen. Ich verstehe, was er mir sagen will, erkenne mich darin auf Anhieb wieder. Deshalb wage ich eine Frage, die ich einem anderen Doc vermutlich nicht gestellt hätte. Zumindest nicht hier und zu diesem Zeitpunkt: "Ich weiß, es gibt keine Garantie ..." beginne ich "... doch auf ihrer Erfahrung mit vielen ähnlichen Fällen basierend, was schätzen Sie, wann ich wieder mit Laufen werde beginnen können?"

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21 Uhr, zurück auf der Intensivstation: Schläfrig blinzelnd und nach wie vor zur Bewegungslosigkeit verdammt auf dem Rücken liegend überdenke ich noch einmal entscheidende Momente des langen Tages. Mal um Mal kehre ich zur Antwort des Arztes zurück, die ganz anders ausfiel, als ich befürchtet hatte. Ich war von einem langen Zeitraum ausgegangen, bis ich wieder würde laufen dürfen. Nicht diese lächerlich kurzen "zwei bis vier Wochen", die der Doc mir zu pausieren riet. Was für Aussichten! Und dann noch seine scherzhafte Abschiedsformel: "Na, dann steht den 400 Marathons ja nichts mehr im Wege!" Natürlich ein Scherz, dessen todernst gemeinten Kern ich trotzdem nicht überhörte!

Obschon das "bald" in "ihr Mann ist bald zurück" wieder länger als eine Stunde in Anspruch nahm, war Ines nach dem Eingriff noch einmal bei mir. Ich hoffe mein überschäumender Optimismus teilte sich ihr mit und erleichterte ihr Herz. Apropos Erleichterung: Der Schwester nahm ich das Versprechen ab mich um null Uhr zu wecken und die Druckverbände abzunehmen, den an der Leiste und den am Handgelenk, wo die Katheterschleuse beim zweiten Mal angelegt wurde. Letzterer darf zum Glück bereits nach vier Stunden entfernt werden. Keine Spur mehr von der Teilnahmslosigkeit, die mich den Tag über gefangen hielt. Ich entwickele wieder Initiative, dränge darauf Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung schrittweise zurückzubekommen. Sobald der Druckverband entfernt wurde, kann ich zumindest wieder neben dem Bett stehen. Dann brauche ich den Blasenkatheter nicht mehr. Jenes Übel, das ich nicht anders denn als maximalen Verlust von Souveränität und Würde empfinden kann.

Es ist dunkel im Zimmer als ich gegen zwanzig vor eins aufwache. Und übergangslos bin ich sauer, weil die Schwester ihr Versprechen nicht einlöste. Ich taste nach dem Rufknopf, der bisher stets neben mir im Bett lag, finde ihn aber nicht. Verdammt! Ich richte mich halbwegs auf und blicke hinters Bett in Richtung der Überwachungsgeräte. Zu dunkel, da ist nichts zu erkennen. Was nun? Ein paar Minuten starre ich auf das Bullauge in der Tür, im Moment meine einzige Verbindung zur Außenwelt. Sobald jemand vorbeigeht, werde ich rufen. Um diese Uhrzeit bleibt der Flur allerdings minutenlang verwaist ... Sauer schlägt um in wütend! Okay, dann eben so: Ich streife den Clip zur Messung der Sauerstoffsättigung vom Finger und ziehe den Stecker der EKG-Elektroden - das sollte genügen, um mir Aufmerksamkeit zu verschaffen! Lange muss ich nicht warten, dann spurtet ein Pfleger ins Zimmer. Ich muss mich weder erklären noch verteidigen. Vermutlich erstickt die Tatsache, dass man mich ohne "Alarmknopf" zurückließ jeden Tadel im Keim. Er bringt die "Verdrahtung" wieder in Ordnung und verspricht die zuständige Pflegerin zu verständigen.

Auch auf sie muss ich nun nicht lange warten. Ohne viel Federlesen löst sie die beiden Druckverbände. "Und nun den Katheter!" verlange ich. Den will sie allerdings lieber noch an Ort und delikater Stelle belassen. Dies zum Preis einen spontan nörgelnden und gar nicht mehr liebenswürdigen Udo zu erleben. "Ich muss erst den Arzt fragen!" wiegelt sie ab. "Wieso müssen sie dazu einen Arzt fragen? Immerhin habe ich selbst darum gebeten mir den Katheter zu setzen!" - Mit dem Versprechen umgehend den Arzt zu konsultieren entzieht sie sich dem Wortgefecht. Rechnet sie damit, dass ich wieder einschlafe? Kann sie angesichts meiner aufgeputschten Hormonlage vergessen. - Etliche Minuten später bekomme ich dann doch meinen Willen. Die Schwester schickt einen Pfleger, der den lästigen Schlauch entfernt.

Ein männlicher "Handlanger" zum Schutz meines Schamgefühls? Was nicht existiert, muss man nicht schützen. Immerhin "vergriff" sich ihre Kollegin bereits beim Setzen der Vorrichtung an meinem Intimbereich. Darüber hinaus inspizierten bereits etliche andere weibliche Kittelträger mein Geschlecht. Immerhin liege ich grob geschätzt seit 29 Stunden unten ohne in diesem Bett. Als dem Kommando "Jetzt mal tief einatmen!" (oder war's "ausatmen?") das Ziehen des Katheters folgt, vermisse ich "weibliche Sensibilität" augenblicklich. Im Gegensatz zum Einführen, das ich kaum spürte, schmerzt das Ziehen des Katheterschlauches heftig. Der Pfleger hat den Raum kaum verlassen, da stehe ich schon neben dem Bett und pinkele in die bereitstehende Flasche. Na bitte, geht doch! Erleichterung in doppelter Hinsicht. Rasch lässt auch das Brennen nach, das dem Entfernen des Schlauches folgte.

Mit dem befriedigenden Empfinden einen ersten kleinen Erfolg, wenn nicht gar Sieg über Umstände und Mächte errungen zu haben, flankiert vom Bewusstsein wieder über Bewegungsspielraum zu verfügen, drehe (!) ich mich im Bett auf die Seite und schlafe alsbald ein.

 

Freitag, 23. Juli

Katzenwäsche, Zähneputzen und endlich das Geschlecht mit einer Unterhose verhüllen. Nimm dem Menschen die elementaren Dinge des Lebens und er lernt ihre Bedeutung zu schätzen! Es geht aufwärts. Der nächste Schritt zurück ins Leben bilden zwei Tassen Kaffee zum Frühstück. Der erste Kaffee seit vorgestern früh. Was für ein Genuss! Danach warte ich auf die Visite. Will endlich raus aus diesem Irrenhaus, will abgenabelt werden von Zuläufen und Kabeln. Weg vom ständigen Gepiepe, das mir stündlich mehr auf den Wecker geht.

Chefarztvisite: Seine Majestät (vermutlich) samt Gefolge verharrt draußen auf dem Gang, hält Hof. Ein paar verständliche Satzfetzen dringen durch die geschlossene Tür, man verhandelt meinen Fall. Es muss schon deshalb ich gemeint sein, da mein Zimmergenosse vorhin verlegt wurde. Das glaub' ich jetzt nicht, was für ein Affront. Was für eine Art Mensch muss man sein, um Patienten komplett zu ignorieren und auf diese Weise vor den Kopf zu stoßen? Dann rauscht der Trupp von hinnen und ein Parlamentär wird zu mir entsandt: Alles sei stabil, man wolle mich schnellstmöglich auf eine normale Station verlegen.

"Schnellstmöglich" dauert. Weil auf Station 8.5b noch kein Bett frei ist. Ich kann's erwarten, insbesondere heute Morgen, da sich in der Frühschicht von allen Pflegerinnen, die ich kennen lernen durfte, die mit Abstand eifrigste und mitfühlendste meiner annimmt. Sie tut weit mehr als sie muss. Neben unabdingbarer medizinischer Belange und elementarer Versorgung hat sie auch meine Bequemlichkeit im Sinn. Funktionierte kurzerhand ein Handtuch zum Bettvorleger um, damit ich beim Frühstück meine nackten Füße nicht auf den kalten Boden setzen musste. Mehrmals erkundigt sie sich, ob ich noch etwas brauche. Dafür schenke ich ihr, der noch etwas radebrechenden Ausländerin aus Osteuropa, jedes Mal mein innigstes und wärmstes Lächeln: Danke!

Sich mühen hat einen Preis. Nicht für mich, für sie selbst. Keine vor ihr war so flott und umtriebig unterwegs. Manchmal fällt sie sogar in eine Art Laufschritt. Anscheinend ist das übliche Pensum plus "Lebensqualität für Patienten" anders nicht zu bewältigen. Vermutlich ist sie noch nicht lange hier und wahrscheinlich reibt sie sich Schicht für Schicht auf. Wie lange wird es dauern, bis sie ermüdet resigniert und einen Gang zurückschaltet?

Als man mich endlich abholt bin ich dann doch heilfroh. Vor einer halben Stunde brach in meinem Zimmer die Hölle los. Erst rollte man ein Beatmungsgerät ins Zimmer, dann, nach beendeter OP, einen Patienten. Mehrere Ärzte und Pflegerinnen kümmerten sich um den Mann. Bisher ungehörte Pieptöne steigerten das schon bestehende akustische Inferno. Ganz so schlimm schien es um den Patienten hinterm Raumteiler allerdings nicht zu stehen, schon nach zwei Minuten tauschte man sich an seinem Bett über Wochenenderlebnisse am Gardasee aus ...

Ich rolle im Bett über Flure und fahre mit dem Aufzug in den achten Stock. Die automatische Tür zur Station 8.5b öffnet sich und man schiebt mich ins vermeintliche Paradies. Hier herrscht eine völlig andere Atmosphäre als unten "auf intensiv". Erste Wahrnehmung: Stille, obwohl sich einige Pfleger und Patienten auf dem Flur hin und her bewegen. Aber nirgendwo ein Piepgeräusch! Ein junger Pfleger begrüßt mich auf der Station. Verbindlich im Umgang, Kompetenz ausstrahlend. Er bedauere, dass ich hier auf dem Flur noch werde warten müssen. Leider seien alle zur Entlassung anstehenden Patienten noch auf der Station in ihren Zimmern ...

Also warte ich Zeitung lesend im Bett auf dem Flur - vollauf zufrieden mit allem übrigens. Mir ist klar: Praktiken wie Hexen oder Wunderwirken sieht der Ausbildungsplan für Pfleger nicht vor. Ob ich etwas zu trinken haben möchte, fragt er oder sonst etwas brauche. Ich lehne dankend ab, bin einfach nur froh dem Folterkabinett "Intensivstation" entronnen zu sein. Etwa eine Dreiviertelstunde später schiebt er mich in mein neues Zuhause für unbestimmte Zeit, Zimmer 210. Eigentlich ist da noch kein Platz frei, der bereits entlassene Patient wartet auf seine Abholung. Doch mein künftiger Zimmergenosse hält sich samt Bett gerade irgendwo zur Behandlung auf und wird so bald nicht zurückkehren. Also rollt der gewitzte Pfleger mein Bett einstweilen an dessen Platz.

Duschen!!! Der Wunsch wurde im Verlauf des Vormittags geradezu übermächtig in mir. Also verschwinde ich so rasch wie möglich in der Nasszelle und schrubbe mir den Mief vom Leib. Ich ziehe bequeme Straßenkleidung an, T-Shirt und kurze Hose. Was für eine Wohltat! Nebenbei bemerkt fühle ich mich völlig "normal" und intakt, als wenn nie etwas gewesen wäre. Ausgeruht, kräftig, wie an den mehr als 67 mal 365 Tagen vor meinem ... Infarkt. Irgendwann habe ich mich getraut das böse I-Wort in Gedanken zuzulassen. Und siehe da: es tat gar nicht weh. Wie soll ich mit der neuen Situation umgehen? Zu hadern lenkte mich von Sinnvollem ab. Es gilt mein bisheriges Leben zu sichten und wo nötig Veränderungen vorzunehmen. Noch stehe ich am Anfang dieser Aufgabe. Und doch will mir scheinen, dass ich wenig oder gar keine kapitalen Fehler finden werde. Wenn doch, werde ich sie abstellen!

Der Entlassene ist 80 Jahre alt, wirkt aber eher wie ein tatkräftiger Endfünfziger. Nur wird er nicht als geheilt entlassen. Er muss wiederkommen, um an einer Herzklappe, die lediglich noch 20 Prozent Leistung erbringt, operiert zu werden 20 Prozent Restfunktion!? Kaum vorstellbar, doch wurde der Eingriff infolge Überlastung der Kardiologie auf unbestimmte Zeit zurückgestellt. Zu Hause wird er auf Abruf warten. Wie lange konnte ihm niemand sagen. Endlose Wartezeiten, verschobene Operationen, überlastete Pfleger und anderes - alle Defizite, die ich den letzten Tagen hier sah oder erlebte, waren mir schon vorher bekannt. Man liest, surft und schaut Fernsehen. Es dann quasi hautnah zu erfahren ist aber noch einmal eine ganz andere Hausnummer. Etwa 5.000 Angestellte halten das Räderwerk Uniklinik Augsburg in Gang. Davon mehr als 700 Ärzte und fast 1.500 Pflegekräfte. Ich verzichte ganz bewusst aufs "Gendern", möchte aber nicht unerwähnt lassen, dass etwa vier Fünftel (!) des Personals weiblich ist. Die täglich im Dreischichtsystem erbrachte Leistung dieser Menschen vermag selbst einer nicht zu ermessen, der wie ich ein paar Tage hier verbrachte. Und das alles bei durchaus verbesserungswürdiger Entlohnung. Ein Pfleger im Herzkatheter drückte es so aus: Das Gehalt ist schon okay, nur die Überstunden werden sehr schlecht bezahlt. Als er mit mir darüber sprach, war er bereits 20 Stunden vor Ort und hatte weitere Bereitschaftsstunden vor sich ...

Der Entlassene wurde abgeholt, wir wünschten uns gegenseitig alles Gute. Alles Gute! - eine im Alltag oft seelenlos dahingesprochene Floskel. "Hier drin" schaut man sich dabei in die Augen und wünscht es seinem Gegenüber ehrlich und von Herzen. "Hier drin in der Anstalt" begreifst du rasch: Nichts ist wichtiger als, dass "alles gut wird". Oder, wenn schon nicht gut, dann wenigstens besser, erträglich, stabil, die Lebenserwartung verlängernd. Ich kann mich nicht erinnern einem "Alles Gute!" jemals so bewusst zugehört und es selbst mit solcher Empathie ausgesprochen zu haben.

Mein Bett hat seinen endgültigen Platz neben der "Nasszelle" eingenommen, der Fensterplatz ist wieder frei. Bis sie meinen Bettnachbarn hereinrollen. Ich werde ihn stets als "Bettnachbar" (kurz: "Bn") bezeichnen und nie namentlich erwähnen, obwohl wir uns sofort sympathisch sind und duzen. Wer er wirklich ist, geht niemanden etwas an. Bn ist 70 Jahre alt und lange werde ich nicht wissen, woran er in der Hauptsache leidet. Relativ bald wird mir jedoch klar, dass er es war, den man in der Intensivstation in "mein" Krankenzimmer rollte und kurzzeitig beatmete. Nach einer Lungenuntersuchung, weil sein Körper das Narkosemittel zu langsam abbaute. Jedenfalls wird es ihm die verantwortliche Narkoseärztin in meinem Beisein so erklären.

Bn ist ein Pfundskerl. Obwohl im Wesen grundverschieden, harmonieren wir sofort. Das ist "hier drin" wichtig. Wehe du hast einen Stinkstiefel als Bettnachbarn! Bn hustet in unserer ersten gemeinsamen Nacht, als wolle seine Lunge nach 70 Jahren endlich raus aus dem beleibten Körper. Mehrmals wache ich auf, was mich aber kaum stört, da ich ohnehin viermal (!) zur Toilette muss und danach rasch wieder einschlafe. Zum Glück verfügte ich schon immer über einen ausgezeichneten Schlaf, der mich auch "hier drin" nicht im Stich lässt ...

 

Samstag, 24. Juli

Ich fühle mich beim Aufwachen frisch und ausgeschlafen. Geweckt werden wir kurz nach sieben von einer Pflegerin, die unsere Vitalwerte misst (Herzfrequenz, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Körpertemperatur) und die tägliche, als höchst indiskret empfundene Frage hinsichtlich des "festen Stoffwechsels" stellt. Bn verpasst sie darüber hinaus eine frische Infusion mit einem Antibiotikum. Er hat sich zusätzlich zu seinem eigentlichen Leiden eine Lungenentzündung eingefangen. Trotzdem hofft er noch im Laufe dieses Samstags entlassen zu werden; am Tag nach der Untersuchung, das habe man ihm versprochen. Ich bleibe skeptisch. Wie soll das gehen mit dem Husten? Außerdem bekommt er noch Infusionen. Zu seinem Leidwesen wird sich meine Skepsis bewahrheiten ...

Ich kleide mich an. Schon das ein Ritus, den ich genieße und als nächsten Schritt zurück in mein vormaliges Leben begrüße. Schlafwäsche aus, Tagesanzug an. Super! Dann Bett ordentlich machen, das kann ich selbst, dafür brauche ich keine Pflegerin. Ich schlendere auf den Flur, halte Ausschau nach dem Frühstück. Wird noch dauern, die Schwestern sind noch nicht mit der Vitalwerte-Aufnahme durch. Also zapfe ich mir am bereitstehenden Wagen wenigstens schon mal einen Kaffee. Frage Bn, ob er auch einen will und schlendere nochmal los. Eigenständiges Handeln, etwas tun und wenn's nur das Besorgen einer Tasse Kaffee für den Zimmergenossen betrifft. Wie hätte ich wissen sollen, welche Bedeutung ich diesen simplen Handlungen einmal beimessen würde?

Wir frühstücken, sitzen danach noch länger zusammen, skizzieren dem Gegenüber die Umrisse des eigenen Lebens. Bn steuert vom Krankenlager aus sein kleines Unternehmen mit dem Handy. Auch übers Wochenende. Obschon im Rentenalter, hat er das Ruder noch selbst in der Hand. Das liegt an seiner verfahrenen, im Grunde traurigen familiären Situation, die er nach und nach vor mir ausbreitet*. Ich erzähle von mir und rasch begreift er, dass er als leicht Gehbehinderter keinerlei Hemmungen haben muss, mich auch noch die dritte und vierte gemeinsame Tasse Kaffee holen zu lassen ...

*) Aus Gründen des Personenschutzes muss ich vage formulieren.

Irgendwann an diesem Vormittag stelle ich mich mit meiner Zeitung draußen am Ende des Flurs vors Fenster. Stehen als muskuläres Training. Zusätzlich beuge ich einbeinig links und rechts in 20er-Serien mehrfach das Knie. Ein bisschen Anstrengung für die Beine, die nun wochenlang weitgehend beschäftigungslos sein werden. Wann mir die Idee einer ersten "vertrauensbildenden Maßnahme" in den Sinn kommt, weiß ich nicht mehr: Mein Herz soll den Beweis erbringen, dass es tatsächlich in der Verfassung ist, die ich spüre. Ich frage eine Pflegerin, ob man die Tür zum Treppenhaus öffnen kann, ohne damit Alarm auszulösen. Dass ich per pedes acht Stockwerke in die Eingangshalle runter laufen will, ist ihr damit klar. Aber natürlich nicht, dass ich anschließend ebendiese acht Stockwerke auch wieder hochsteigen will ...

Als ich die erste Stufe aufwärts nehme begleiten mich weder Zweifel noch Furcht. So sicher bin ich, dass mein Herz die Leistung klaglos erbringen wird. Um jedes Risiko zu vermeiden, gehe ich trotzdem behutsam zu Werke; sehr langsam treppauf und hochkonzentriert auf Signale aus der linken Brustseite achtend. Bereit sofort abzubrechen, falls auch nur ... - Es dauert zwei, drei Etagen, bis mein Herzschlag sich spürbar beschleunigt, denn noch bin ich hochausdauertrainiert. Noch. Alles wie immer, keinerlei Anzeichen von Erschöpfung, keine fremdartigen Wahrnehmungen, schon gar keine Beklemmung. Als wäre da nie etwas gewesen. Am Nachmittag, nach Ines' Besuch, der uns diesmal in der Halle zusammenführte, weil man ihr ohne gültigen Corona-Test den Zugang zum Krankenhaus verwehrte*, wiederhole ich die "Bergbesteigung". Jetzt in normalem Tempo. Erneut keinerlei Anzeichen von Schwäche, keine anderen als übliche Wahrnehmungen einer Ausdauerbelastung durch Treppensteigen. Die erste und zweite vertrauensbildende Maßnahme waren erfolgreich, mein Stimmungsbarometer erreicht neue Höchstwerte!

*) Und wieso durfte sie gestern und vorgestern ungetestet rein, sogar in die Intensivstation?

Natürlich hätten dem Patienten gegenüber zur Vorsicht verpflichtete Ärzte und Schwestern von diesem "Experiment" abgeraten. Wie hätte ich auch glaubhaft machen sollen, wieso ich "intuitiv" sicher bin damit kein Risiko einzugehen? Jedenfalls bin ich fest entschlossen die Verantwortung für meinen Körper, für mein Wohl und Wehe, nun wieder selbst zu übernehmen, wie in den vergangenen 67 Jahren minus Kindheit und Jugend. Dazu gehört auch ärztliche Betreuung in Anspruch zu nehmen, mehr und häufiger als früher, da ich einige Medikamente - Blutverdünner und Lipidsenker - lebenslang werde einnehmen müssen. Das schließt definitiv auch ein, mich ärztlichem Rat nicht zu verweigern, auf der Grundlage eines hohen Maßes an Vertrauen. Das bringe ich mir unbekannten Medizinern nur bedingt entgegen, so weit ich muss. Im Herzkatheter hatte ich keine Wahl. Zum Glück traf ich dort auf versierte, überaus einfühlsame Menschen!

Schon der anschließenden Betreuung "auf Intensiv" begegnete ich mit Vorbehalten, ausgelöst von der patienten-missachtenden Durchführung der Visite. Hier auf der Station schwelt mein Misstrauen vor sich hin. Nicht, weil ein Gefühl "fortschreitender Genesung" zwischendurch erlahmten Widerspruchsgeist stimulieren würde. Mir missfällt, hier keine ärztliche Betreuung zu erfahren - zumindest keine, die Gelegenheit zum persönlichen Gespräch böte. Gestern fand der Stationsarzt den Weg nicht zu mir und am Wochenende werden wir ihn gleichfalls nicht zu Gesicht bekommen. Er sei - O-Ton einer Pflegerin - Samstag und Sonntag für insgesamt fünf Stationen zuständig. Aus diesem Grund sei es üblich die tägliche Visite gemäß Papierlage ohne Kontakt zum Patienten zu erledigen. Ein unbefriedigender Umstand, aus dem ich zu gegebener Zeit Konsequenzen ziehen werde.

 

Sonntag, 25. Juli

Nach dem Frühstück starte ich zur dritten vertrauensbildenden Maßnahme. Nur mein Zimmergenosse Bn weiß, dass ich mir draußen die Füße vertreten will. Zu Fuß die Treppe runter, dann raus an die frische Luft und losmarschieren ... Im weiten Bogen um die Uniklinik, dann die Augsburger Stadtgrenze überschreiten, die gleich hinter der Klinik verläuft und rein in den nächsten Ort. Natürlich könnte ich einem Stundenläufer ähnlich die Uniklinik permanent umkreisen. Vertrauensbildung verlangt jedoch mich zu entfernen. Zu spüren, dass sich mir dabei weder körperlich noch mental Hürden in den Weg stellen ... Trotz aller unterstellten Unbedenklichkeit habe ich mein Handy dabei. Als erste Konsequenz, die ich aus dem mir Widerfahrenen gezogen habe: Nie wieder ohne Handy unterwegs sein, schon gar nicht zum Laufen! - Nach 90 Minuten zügigen Marsches, also ungefähr sechs bis sieben Kilometern, betrete ich wieder die Halle des Krankenhauses und kröne meine "Leistung" indem ich zügig acht Stockwerke emporsteige. Nichts Unvorhergesehenes geschieht, alle Körperampeln zeigen konstant "grün". - Schon jetzt steht für mich fest, dass ich die Klinik morgen früh verlassen werde!

Ines' Besuch am Nachmittag macht zusätzlich Laune und so rechne ich mit einem verträglichen Ausklang des Sonntags. Bis ich eine Notiz auf meinem Nachttisch finde, die mich für morgen früh 9:30 Uhr zum EKG bestellt. Was soll's denke ich, ein EKG nahm hier nie länger als fünf Minuten in Anspruch. Ich schlendere zum Stationsbüro, um mich zu erkundigen, wo im Hause das EKG geschrieben werden soll. Dabei erfahre ich, dass man beabsichtigt ein Langzeit-EKG über 24 Stunden aufzuzeichnen. Was das bedeutet ist mir klar und jagt mir nahezu augenblicklich Schauer des Unmuts über die Haut. Ich verzichte auf harsche Worte, stelle dem leitenden und "unschuldigen" Pfleger gegenüber allerdings unmissverständlich fest, dass ich morgen diese Station verlassen werde. Ein Blick in meine Augen scheint zu genügen, um das Unabänderliche meines Entschlusses zu erfassen. Er werde morgen früh mit dem Arzt sprechen, ich solle den Termin erst einmal ignorieren ...

Wieder zurück im Zimmer will mein Zorn nicht abklingen: Wieso morgen ein 24-Stunden-EKG? Wieso nicht gestern auf heute oder von heute auf morgen? Geht es darum noch ein paar Tagessätze von meiner Krankenkasse abzugreifen? Ich überdenke die Sache mehrfach, komme jedoch immer wieder zum selben Ergebnis: Ich erkenne keinen Sinn darin morgens und abends Puls und Blutdruck gemessen zu bekommen, ansonsten jedoch keinerlei ärztliche Betreuung zu erfahren. Wäre meine Verfassung auch nur minimal instabil, man hätte dieses EKG längst in Auftrag gegeben. Und ein Arzt hätte mir Umstände erläutert, die mein weiteres Verbleiben rechtfertigen. Es ist Sonntag. Vorgestern wurde ich auf diese Station verlegt, einen Arzt habe ich seither nicht gesehen. Es mag nicht in der Absicht des Hauses liegen, doch nun fühle ich mich gewaltig zum Narren gehalten. Entschluss: Nur einem gewichtigen Argument werde ich morgen Folge leisten und einen weiteren Tag hierbleiben. Wenn ich dieses Argument nicht höre, entlasse ich mich morgen früh und vereinbare schnellstmöglich einen Termin mit meinem Hausarzt.

 

Montag, 26. Juli

Noch immer im Kokon der Entrüstung eingesponnen, unfähig meine Gedanken auf anderes zu lenken als meine heutige Entlassung, kamen meine Gespräche mit Bn zum Erliegen. Natürlich bleibt ihm meine innere Anspannung nicht verborgen. Er lässt mich in Ruhe, wofür ich ihm dankbar bin. Nach drei Tagen Stillstand, Nichtstun, Ausharren genügt schon ein Funke meinen Zorn auflodern zu lassen. Wie etwa beim morgendlichen Messen der Vitalwerte: Wie üblich misst die Pflegerin Temperatur, Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Puls. Letzterer füllt, da er wie stets den eingestellten Grenzwert unterschreitet, alsbald den Raum mit einem alarmierend langsamen Piepen ... Unverständlich für sie: "Also ihre Sauerstoffsättigung ist ja gut, 98 Prozent bei Raumluft, sogar 99 Prozent, aber der Puls!?" Und nun vorwurfsvoll: "Nur 49!?" - Nahe dran meine Selbstbeherrschung zu verlieren suche ich Zuflucht in Sarkasmus: "Es mag zur Zeit nicht danach aussehen, aber eigentlich sitzt hier ein Leistungssportler!" - Als sie verschwunden ist, bereue ich meine Reaktion. Sie kannte mich nicht und ermittelte Werte, die nicht zusammenpassten. Sich darüber zu wundern ist eine normale menschliche Reaktion, dazu Teil ihres Jobs. Und ich bin lediglich ein genervter Patient mehr, der ihr den Tag verleidet. Kein Ruhmesblatt also für Udo.

Endlich Visite, der Stationsarzt erscheint. Zunächst spricht er mit Bn. Ich frage, ob ich das Zimmer verlassen soll, obschon ich die Antwort bereits kenne. Als Patient könne ich anwesend sein, meint er nur. Das mag geltendem "Krankenhausrecht" entsprechen, ich finde es dennoch unangemessen. Immerhin bin ich angezogen, geh- und stehfähig, könnte ohne weiteres ein paar Minuten draußen warten, um Bn's Intimsphäre zu wahren. So erfahre ich in den nächsten Minuten, wie es wirklich um meinen Zimmergenossen steht. Und es bestätigt sich, was ihm schon klar war: Er wird noch bis Mittwoch bleiben müssen. Bei ihm ergibt das Sinn, weil weitere Infusionen seine Konstitution stabilisieren sollen.

In meinem Fall sieht das ganz anders aus, wofür der Herr Doktor Einsicht zeigt: "Und Sie wollen uns also schon wieder verlassen ..." - Meine "Ansprache", durchaus länger als seine Antwort darauf, vermeidet alles, was nach Vorwurf klingen könnte. Etwa, dass ich erst heute, am vierten Tag auf dieser Station erstmalig mit einem Arzt spreche, oder die Frage, wieso man mir dieses Langzeit-EKG nicht schon gestern anlegte. Ich erläutere lediglich meine Auffassung, wieso ein weiterer Tag "hier drin" meiner Genesung eher im Wege steht. Lasse selbstverständlich auch die Eskapaden der "vertrauensbildenden Maßnahmen" zum Beweis meiner fortgeschrittenen Rekonvaleszenz nicht unerwähnt. Man werde sich meinem Wunsch nicht verschließen meint er, eine Mitnahme des Langzeit-EKG, die ich anbot, komme aber nicht infrage. Also werde man mich in Bälde auf "ausdrücklichen eigenen Wunsch" entlassen. So wird es im Entlassbrief an meinen Hausarzt stehen, zusammen mit den Bemerkungen "gegen unseren ärztlichen Rat" und "in stabilem Allgemeinzustand". Gerade das Widersprüchliche beider Formulierungen, die juristische Rückversicherung und ihre Relativierung, untermauern meine Überzeugung richtig zu handeln.

Damit endet mein Aufenthalt "hier drin". Zum Leidwesen von Bn, der sich, wie er sagt, nun wieder auf einen "Neuen" einstellen muss. Ich wünsche ihm ehrlich und von ganzem Herzen - oder besser: von ganzer Seele, die ja bekanntlich unsterblich sein soll -, dass es ihm bald besser gehen möge und ihm ein verträglicher neuer Bettnachbar beschieden sein möge. Während ich auf die Entlassungspapiere warte, telefoniere ich mit meinem Hausarzt und vereinbare einen Termin noch am selben Tag.

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Mit den ersten Sätzen danke ich meinem Hausarzt für sein wachsames Drängen, mich als Notfallpatient einweisen zu lassen. Ich bin mir bewusst, dass er damit mindestens eine dauerhafte Schädigung meines Herzens verhinderte, mir vielleicht sogar das Leben rettete. Wir besprechen meine anfängliche Medikation und ich erhalte Ratschläge für meine Lebensführung der nächsten zwei Wochen, die seinem offenbar riesigen ärztlichen Erfahrungsschatz entspringen. Zuletzt legt man mir das Langzeit-EKG an. Ein Gerät, über das natürlich auch viele niedergelassene Ärzte verfügen (Ergebnis der Auswertung: Alles völlig normal).

 

Und was nun?

Ich hatte und habe - jetzt, etwa vier Wochen nach diesem Geschehen - keine Angst. Objektiv mag mein Leben in Gefahr gewesen sein, subjektiv fühlte es sich jedoch zu keinem Zeitpunkt so an. Es war ein leichter, so genannter Hinterwandinfarkt. "Leicht" ergibt sich aus der Tatsache, dass es zu keinem Totalverschluss der Herzarterie kam. Dadurch blieben Beweglichkeit und Handlungsfähigkeit jederzeit erhalten, zum anderen das Muskelgewebe des Herzens dauerhaft mit Blut, also mit Sauerstoff versorgt. Der nachbehandelnde Kardiologe, der mein Herz vor wenigen Tagen einer genauen "Inspektion" unterzog, konnte keinerlei Folgen des Infarkts (chronische Herzinsuffizienz) feststellen. Und ohne, dass ich ihn zu einer solchen Einschätzung aufgefordert hätte, erhielt ich die Versicherung auch künftig "so laufen zu können wie zuvor". Er betonte mit Nachdruck, dass bei mir keine Herzkrankheit vorläge. Allerdings wiesen meine Gefäße gewisse Anomalien auf, die wie eine Arteriosklerose zu behandeln seien. Mit der dauerhaften Einnahme bestimmter Medikamente, im wesentlichen Blutverdünner und Cholesterinsenker, könne man nach ärztlichem Ermessen jedoch weiteren Vorfällen der erlittenen Art vorbeugen.

Nachdem die gesicherte Diagnose vor- und ich mit ihr auf der Intensivstation festgenagelt lag, beherrschte mich ein ziemlich seltsames Gefühl. Seltsam, wenn man bedenkt, dass ich vor ein paar Stunden dem Sensenmann entronnen war. Wie gesagt keine Furcht, stattdessen ein Gefühl, das man noch am ehesten mit "Enttäuschung" beschreiben könnte. Wahrscheinlich ähnlich derjenigen, die ich nach einem misslungenen Wettkampf mit DNF* empfinden würde. Eine Schmach, die mir bekanntermaßen trotz 300 mal Marathon und weiter bisher erspart blieb. Enttäuschung: Ich hatte zu akzeptieren, dass ich sterblich bin. Sicher reizt eine solche Aussage ein wenig zum Lachen oder dazu mich nicht ernst zu nehmen. Andererseits war ich in fast sieben Dekaden nie ernstlich krank und erbrachte bis vor kurzem Leistungen, die dem größten Teil meiner Mitmenschen auf immer verwehrt bleiben werden. Und deshalb hätte ich Wetten darauf abgeschlossen, gerade dieses Schicksal, das des Gefäßkranken und Infarktpatienten, nie erleiden zu müssen. Wie übrigens jede und jeder, die/den ich in den letzten Wochen mit dem konfrontierte, was mir zustieß. Alle waren sie im höchsten Maße erstaunt, gar perplex und reagierten unisono mit einem "Wie kann das sein? Jemand, der so viel läuft wie du?"

*) DNF: Did not finish

Nicht nur mein Umfeld, auch ich selbst hielt mich für weitestgehend "unkaputtbar". Für unverwüstlich, vor den Konsequenzen des Alters gut geschützt, unverwundbar, eben unsterblich. Wie leicht hätte mir das zum tragischen Irrtum werden können. Die in mir lauernde erbliche Vorbelastung für Gefäßkrankheiten und damit Blutgerinnseln an lebensbedrohlichen Körperstellen hatte ich verdrängt oder vielleicht auch nicht wirklich wahrgenommen. Und das, obwohl mein Vater im Alter von etwa 60 Jahren einen Infarkt erlitt und mein Bruder mit nicht mal 60 einen Hirnschlag. Beide lebten ungesund. Wenig Bewegung, Übergewicht, Rauchen, Alkohol, Stress. Ich ging einen anderen Weg und glaubte mich deshalb nicht vorsehen zu müssen. Tatsächlich ging das über viele Jahre gut und meine außergewöhnlich positive körperliche Verfassung dürfte zudem für den leichten Verlauf des Infarkts hauptverantwortlich sein. Und doch möchte ich andere (Viel-) Läufer davor warnen klare Indikatoren für mögliche Krankheitsverläufe zu ignorieren. Die Tatsache, sehr intensiv auch noch im fortgeschrittenen Alter Sport zu treibenm, hebt genetisch programmierte Risiken nicht auf!

Trotz vorbeugender Medikation gibt es keine Garantie für mich, nicht doch wieder einen Herzinfarkt zu erleiden. Wie es auch keine Gewähr dafür gibt, dass das Blutgerinnsel tatsächlich durch einen arteriellen Riss an der Stelle entstand, wo es beim Eingriff gefunden wurde. Auch deshalb nahm und nehme ich diesen Schuss vor den Bug zum Anlass meine Lebensführung auf den Prüfstand zu stellen. Dazu stelle ich mir Fragen wie diese:

Keiner der in Rede stehenden Gründe für die Entstehung des Blutgerinnsels erreicht hundert Prozent Wahrscheinlichkeit. Obschon inzwischen von Seiten der Mediziner (und auch von meiner) verworfen, scheidet die Corona-Impfung als Ursache für den Thrombus nicht völlig aus. Wahrscheinlicher - viel wahrscheinlicher! - ist jedoch die Entstehung in der Herzarterie. Dagegen spricht zwar, dass dort kein Riss erkannt wurde. Dafür votieren jedoch Anomalien in meinen Gefäßen und die erhebliche genetische Vorbelastung. Als für meine Gesundheit alleinverantwortliche Instanz beuge ich mich ärztlicher Einschätzung und akzeptiere die nunmehr nötige vorbeugende, leider lebenslange Einnahme von Medikamenten. Eine herbe Konsequenz für jemanden, der zeitlebens Chemie im Körper nur ausnahmsweise hinzunehmen bereit war. Ich stehe allerdings an der Schwelle, mit diesem Umstand meinen Frieden zu machen. Umso mehr als davon auszugehen ist, dass sich in einem beinahe 70jährigen Körper keine dramatischen Entwicklungen mehr vollziehen, die eine Dauermedikation verhunzen könnte.

Ich trug das Risiko einen Infarkt zu erleiden erblich/genetisch stets bei mir. Das ist in etwa so, wie man als Autofahrer jederzeit dem Risiko ausgesetzt ist einen Unfall zu erleiden, sobald man sich ans Steuer setzt. Treffen mehrere ungünstige Umstände zusammen, passiert es eben. Diesen Vergleich fand auch der Kardiologe schlüssig, den ich bat das "Warum?" zu erklären. Die ungünstigen Umstände ergaben sich aus der Tatsache, dass mein Gefäßsystem/Herz zum Zeitpunkt des Infarkts, während des Trainingslaufes, höherem Blutdruck und erhöhter Herzfrequenz ausgesetzt war. Dabei treten Scherkräfte auf, die einen Gefäßeinriss auslösen können. Vielleicht spielte auch die Tatsache zusätzlicher Erschütterungen eine Rolle, weil ich in den entscheidenden Sekunden einen Berg abwärts lief.*

*) Es gibt noch andere Situationen/Zeitpunkte, in/zu denen Infarkte gehäuft ausgelöst werden. Laut Kardiologe zum Beispiel in den frühen Morgenstunden, wenn sich der Stoffwechsel des Körpers von Ruhe auf Belastung umstellt.

Letztlich hätte ich die Körperkatastrophe kaum verhindern, allenfalls ihren Zeitpunkt noch weiter in die Zukunft verschieben können. Damit meine ich nicht aufs Laufen zu verzichten, weniger oder anders zu laufen. Zu wenig Sport hätte die ererbte Gefäßkrankheit nur beschleunigt oder verschlimmert. Vielleicht hätte ich durch strengere Kontrolle meiner Ernährung den Cholesterinwert positiv beeinflussen und so die Frist strecken können. Deshalb frage ich: Wäre es mir in vollem Bewusstsein des abstrakten Risikos wert gewesen da und dort zu verzichten? - Die Antwort ist eindeutig: Nein. Selbst in klarer Erkenntnis der Gefahr hätte ich den Verzicht auf Lebensqualität in der Ernährung (wie ich sie für mich definiere) nicht durchgehalten. Ebenso wenig wie Übergewichtige es schaffen ausschließlich der Wahrscheinlichkeit drohender Erkrankungen wegen ihren Konsum einzuschränken. Und künftig? - Als lebenslang nicht rauchender, nicht übergewichtiger, nicht übermäßig Alkohol konsumierender, Stress gerne aus dem Weg gehender und sich Zeit seines Lebens viel Bewegung verschaffender Mensch sehe ich auch künftig nicht ein auf kleine, kulinarische Sünden zu verzichten.

Non, Je ne regrette rien

Ni le bien qu'on m'a fait

Ni le mal*

aus: "Non, Je ne regrette rien" Chanson von Edith Piaf (1915 - 1963)

Was muss ich ansonsten ändern? Außer Frage steht, dass ich so bald wie möglich wieder lange Distanzen laufen will und werde (mit kleineren begann ich nach vier Wochen). So oft wie zuvor und so weit wie es sinnvoll und vertretbar ist. Der Kardiologe machte in dieser Hinsicht keinerlei Vorbehalte geltend. Um annähernd die Form vorm Infarkt zu erreichen, gilt es jedoch noch die Medikation zu optimieren. Derzeit hält sie beispielsweise meinen Blutdruck "im Keller", was mir Ausdauerbelastungen nicht eben erleichtert. Auch Sicherheitsvorkehrungen habe ich bereits überdacht. Künftig werde ich keinen Lauf ohne Mitnahme eines Handys absolvieren, um im Notfall Hilfe herbeitelefonieren zu können.

Zum Abschluss eine Bitte: Sollte mir künftig Ähnliches oder Schlimmeres laufend zustoßen, dann möge man sich erinnern: Mein Wunsch ist nach Möglichkeit nicht im Bett das Zeitliche zu segnen. Gerne verließe ich diese Welt beim Laufen. Scherzhaft formulierte ich das häufig so: Ich möchte mit 100 Lebensjahren bei einem Marathon tot umfallen, nach Möglichkeit unmittelbar hinter der Ziellinie. Wenn es so kommt, dann feiert eine rauschende Party und vermeidet zu trauern, weil mir eine letzte Gnade zuteil wurde! Dieser Gnade war ich vor kurzem nahe, beinahe wunschgemäß aber natürlich viel zu früh!

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Anmerkung: In der Uniklinik Augsburg durchlief ich von der Notaufnahme über die Intensivstation bis hin zur "normalen" Station viele Bereiche; jeweils bei vollem Bewusstsein und mit ungetrübter Auffassungsgabe. Trotzdem fand ich mich zunehmend in physischer, davon ausgehend auch mentaler Bedrängung wieder, auch wenn ich nie um mein Leben fürchtete. Um meine manchmal launigen, bisweilen von Unmut geprägten Darstellungen im Bericht zurechtzurücken, führe ich hier als Schlusswort und mit Nachdruck an, dass ich allerorten professionelles Arbeiten und Hinwendung zum Patienten erlebte. Den meisten der geschilderten Unzulänglichkeiten begegnete ich mit Einsicht. Aus Engpässen und begrenzten Ressourcen gleich welcher Art resultieren nun einmal Friktionen. Einfühlungsvermögen, Empathie, oft sogar bedingungslose Hingabe schienen mir dennoch das Tun des überwiegenden Teils der dort beschäftigten Menschen als Leitmotiv zu überstrahlen. Auch aus diesem Grund hinterließen mich die fünf Tage Uniklinik Augsburg außerordentlich beeindruckt.

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