20. Juni 2021

Trostpflaster  -  Cuxhaven Marathon

Unter welchen Umständen stellt mich ein Marathon voll zufrieden? - Eine attraktive Strecke gehört dazu, sonniges, nicht zu kühles Wetter, ich erreiche mein gestecktes Ziel und fühle mich auf dem Weg dorthin in "guter" körperlicher Verfassung - in dieser Reihenfolge mit aufsteigender Gewichtung. Die Erfüllung aller vier "Zutaten" begründet "Glanz und Gloria", schlechtes körperliches Befinden für sich genommen schließt Zufriedenheit aus. Und was erwartet mich heute, hier in Cuxhaven?

Die Strecke - ich kenne sie von 2008 - blieb im Kern unverändert, vier identische Runden. Klingt ansatzweise fad, bis man erfährt, dass etwa drei Kilometer jedes Umlaufes die Cuxhavener Strandpromenade nutzen mit ungehindertem Blick zur Nordsee.

Zum Wetter wollte sich nicht mal der "ureinwohnende Reinemachemann" im Cuxhavener Bahnhof beim "Klönschnack" mit meiner Frau Ines festlegen: "Gegen Mittag soll noch mal 'was runterkommen. Aber das weiß man in Cuxhaven nie so genau ...". Wie? Ach ja, die Wetter-Äpp. Die kannste verbrennen! Gestern versprach sie noch 10 Sonnenstunden. Realität bei Ankunft: Vorerst letzte Regentropfen einer durchziehenden Schlechtwetterfront perlen von unserem Schirm. In "kurz-kurz-sommerlich" bin ich dennoch wettergerecht gekleidet, wie sich alsbald zeigen soll. Ergänzendes Accessoire: Schildkappe untern Hosenbund geklemmt, falls weitere Schauer meine Hoffnung auf Sonne wegschwemmen sollten.

Entschieden unentschieden bewerte ich auch meine Chance das heute gesteckte Ziel zu verwirklichen, obwohl ich mir in flachem Terrain lediglich bescheidene 4:30 Stunden (eher als Schamgrenze) vorgebe. Dem Befinden der vergangenen Tage zufolge werde ich die Marke verfehlen. Eine pessimistische Vorschau, die sich jedoch nicht erfüllen muss. In nicht wenigen Fällen vermochte ich am Lauftag alles Ungemach im wahrsten Sinne des Wortes hinter mir zu lassen.

Der Cuxhaven Marathon war lange Zeit Corona-Wackelkandidat wie alle Laufveranstaltungen im ersten Halbjahr 2021. Ein wagemutiges, die drohende Absage hinauszögerndes örtliches Event-Management und zuletzt drastisch sinkende Inzidenzen ersparten dem Lauf das Schicksal vieler anderer. Offenbar gelang es dem Veranstalter die örtlichen Behörden mit seinem ausgeklügelten Hygienekonzept zu überzeugen: Voraussetzung zur Teilnahme war eines der der drei "g": Gesund, geimpft oder getestet. Darüber hinaus: Entflechtung der Starts von Marathon, Halbmarathon, 10 km- und 6 km-Lauf über den ganzen Tag. Start in 100er-Blöcken, die zeitversetzt zunächst im "Call Room" aufgerufen, dann in den Startbereich geführt und dort auf nummerierten Positionen mit Abstand auf die Strecke entlassen werden. Das geschieht ohne Startschuss durch einen Offiziellen, der die mit Abstand stehenden Viererreihen mit etwa drei Sekunden Abstand freigibt. Am meisten überrascht mich die Tatsache, dass sich alle Läufer diszipliniert und ohne überflüssige Diskussionen dem Prozedere unterwerfen. Sogar an das während der Startsequenz geforderte Tragen der Gesichtsmaske halten sich ausnahmslos alle ...

Und dann bin ich unterwegs, "klappe" nach Überlaufen der Startlinie das Visier nach unten* und trabe siegesgewisse Zeichen in die Handy-Linse meiner Frau Ines versendend durch die Cuxhavener Fußgängerzone ... Schwerfällig und hölzern fühlt sich das an, also kein bisschen dem signalisierten "Viktory" entsprechend. Mit jedem Schritt füge ich dem löchrigen Puzzle meiner Erinnerung neue Teile hinzu. Zum Beispiel jetzt, nordwärts laufend, am Fuß des grasbewachsenen, etwa drei Meter hohen Hafendeiches. Zu meiner Linken die Innenstadt, Lokale, Wohnhäuser, zu dieser Zeit alles noch weitgehend menschenleer. Das ändert sich auch in der zweiten, dezentral im Hafenviertel gelegenen Fußgängerzone nicht. Lediglich vor Bäckern und Caféhäusern genießen ein paar Leute ihr Frühstück.

*) Dass man unter der FFP2-Maske nur eingeschränkt Luft bekommt, wusste ich schon vom Krafttraining, das sich infolge gehäufter Atempausen in die Länge zog. Laufend hatte ich mit der "Maulsperre" allerdings noch keine Erfahrung. Tatsächlich schaffe ich es gerade mal über die Startlinie, dann zwingt mich Atemnot den Fetzen runterzureißen.

Die Sonne gibt vom Start weg ein Gastspiel. Einerseits nährt sie Hoffnungen auf anhaltendenden Sonnenschein und mehr Wärme. Zugleich stimuliert sie meine Poren, die den Wasserausstoß mit nur wenig Verzug drastisch erhöhen. Die Luft ist noch kühl, keine 20°C, aber ziemlich schwül, was ich erst jetzt, in Bewegung, wirklich wahrnehme. Der nach zwei Kilometern in der Fußgängerzone aufgebaute Verpflegungsstand kommt mir daher gerade recht: Zwei große Schlucke Wasser rinnen meine Kehle hinunter. Zickzack in Cuxhavener Wohnstraßen, zuletzt vorbei an einer Kirche, deren Geläut gerade die Gläubigen zur Messe ruft. Autos? - Einstweilen Fehlanzeige, offenbar wurden alle vom Lauf berührten Verkehrswege gesperrt.

Ich entere den Deich auf steiler Asphaltschräge, vermutlich keine acht Meter Höhenunterschied, gefühlt aber deutlich mehr. Vereinzelt ziehen es Mitläufer vor das Bollwerk gegen Sturmfluten gehend zu bewältigen. Das halte ich dann doch für reichlich übertrieben, selbst für ostfriesische Flachländer, die möglichweise lange nicht mehr marathonweit unterwegs waren. Auf dem Weg von der Deichkrone hinab zur "Waterkant" bedrängt mich eine Sturmflut von Eindrücken: Strandkörbe - allesamt "unbewohnt" - auf sanftauslaufender, seeseitig mit Gras bewachsener Deichflanke. - Am Ufer erhebt sich der nach Art eines Leuchtturmes rot-weiß gestrichene Wachturm der örtlichen Wasserrettung, dahinter stehen zwei rot gedeckte Pavillons der diensthabenden Retter. - Eine riesige Wohnanlage (besser nicht nach der Höhe des Mietzinses fragen) reckt sich mehrere Etagen hoch übern Deich, unbegrenzten Meerblick aus Wohnzimmern garantierend. - In einem der ostwärts, zur Elbmündung hin gelegenen Hafenbecken entdecke ich die Aufbauten eines Seenotrettungskreuzers und das Heck eines kleineren Passgierschiffes*. - Dies alles und noch mehr getoppt von der Weite, dem Blick übers Wasser ...

*) Fährschiff, das ganzjährig zwischen Cuxhaven und Helgoland pendelt.

Entlang des so genannten "Grünstrandes" nehme ich die Parade der bunten Strandkörbe ab. Recht harmlos anmutende, nur zentimeterhohe Wellen laufen auf der steinernen Wehr vorm Uferweg aus. Schlussfolgerungen: Ablandiger Wind verhindert höheren Wellengang, weht zugleich schwüle Landluft herbei. Als Landratte rechne ich den beobachteten Wasserstand eher der Flut zu, wenngleich mir weniges so fremd ist wie die Gezeiten im Wattenmeer. Pfützen, Zeugen unlängst ergiebigen Regens, stehen da und dort auf der langsam abtrocknenden Uferpromenade. Deren Asphalt fühlt sich seltsam schlüpfrig unter meinen Sohlen an. Liegt das nur an der Restfeuchte des Belages? Wie gesagt: Seltsam.

Die anfangs empfundene Trägheit - um nicht zu sagen: Blockade - meines Bewegungsapparates setzt sich mit anderer Wahrnehmung fort: Als unangenehmes Ziehen im Gesäßmuskel links beginnend bis in den hinteren Oberschenkel. Nicht behindernd aber lästig und mit Schlimmerem drohend. Meiner stabil guten Stimmung tut das keinen Abbruch. Dieser Küstenabschnitt samt Fernsicht wusste mich schon vor 13 Jahren zu erfreuen, riss mich damals zu wahren Begeisterungstürmen hin. Damals im 41. Marathon (hab nachgerechnet), da ich mich schon mit prallem Erfahrungsschatz ausgestattet glaubte. Wie sollte ich seinerzeit auch wissen, wie sich meine Laufleidenschaft entwickeln, dass ich mehr als ein Jahrzehnt später auf dem Weg zum 296. Finish hier neuerlich meine Visitenkarte abgeben würde?

Die Bucht des Grünstrandes läuft als ins Meer vorspringende Landzunge aus. Der Uferweg knickt davor ab, bringt mich kurz darauf - wie auf Erinnerngsbildern vorhergesehen - zum Cuxhavener Sandstrand. Landseitig keine Veränderung: Betonierte Promenade, links davon die befestigte Deichkrone. Seeseitig rücken nach und nach die erwarteten Rudel von Strandkörben ins Bild. Neu sind Palisaden aus übermannshohem Reisig (?), offenbar als Windbrecher gepflanzt. Die künstlichen, dunkelbraunen Hecken ziehen sich vom Uferweg im rechten Winkel bis in die Nähe der Wasserlinie. Zu einer Wasserlinie, die bereits etliche Meter an den Strand grenzendes Watt freigibt. Ablaufendes Wasser? Demnächst Ebbe?

Im wahrsten Sinne des Wortes "in Windes Eile" hat sich die Wolkendecke wieder geschlossen. Stufenlos hurtig verdunkelt sich der Tag, bis neuerlich einsetzender Regen nur noch eine Frage von Sekunden zu sein scheint. Solche äußeren wie auch die erwähnten inneren Widrigkeiten dämpfen die Freude an diesem Lauf jedoch kaum. Ohne Unterlass schweift mein Blick über Sand und Strandkörbe, verweilt nur kurz am trocken gefallenen Watt, irrt ruhelos übers Wasser zum Horizont und wieder zurück. Ein Containerschiff verlässt den gewaltigen Trichter der Elbmündung, steuert westwärts seinem unbekannten Ziel entgegen. Unablässig füttere ich meine Digicam mit Schnappschüssen. Sie bleiben unter grauem Himmel farbschwach. Doch wer weiß, ob ich die Strandkulisse ein weiteres Mal bei ähnlich brauchbarer Witterung passieren werde.

Nach knapp einem Kilometer wendet sich die Strecke vom Sandstrand ab. Eine betonierte, abschüssige Rampe bringt mich zum stadtseitigen Deichfuß. Meine Erwartung den dort verlaufenden Weg nehmen zu müssen zerschellt jäh vor einer Schikane: Etwa 50 Meter in einen vom Deich wegführenden Weg traben, dann wenden und wieder zurück. Vermutlich die beste Stelle, um die Strecke auf exakte 42.195 Marathonmeter zu ergänzen. Drei Minuten weiter am Deichfuß, dann knickt der Fußweg vor einem mit Wald bewachsenen Hindernis Richtung Stadt ab. Das eigentliche Wesen dieses "Hindernisses" erfasste ich vermutlich schon vor 13 Jahren nicht.* Mache mir auch heute keine Gedanken darüber. Wichtiger: Eine Verpflegungsstation offeriert Trinkbares und dem spreche ich reichlich zu. Des Zuckeranteils wegen greife ich nach den Bechern mit ausgeschenkter Cola. Auf Gels werde ich heute verzichten, hatte nicht mal welche im Gepäck. Grundgedanke dabei: Einen Marathon schaffe ich auch so.

*) Meine spätere Internet-Recherche ergibt: Hinter Bäumen und in ungefährer Deichhöhe verbirgt sich das "Fort Kugelbake". Die Verteidigungsanlage wurde im 19. Jahrhundert erbaut und mit 10 seewärts gerichteten Kanonen des Kalibers 28 cm bestückt. Die Schussweite betrug 10 km, wodurch die Elbmündung in ihrer gesamten Breite gegen einfahrende Feindschiffe verteidigt werden konnte (Mehr: siehe Wikipedia).

Trotz und Spuren von Hybris mischen sich in solchem Denken. Natürlich verfüge ich noch immer über ausreichend "Power", um einen Marathon nahezu jederzeit und "irgendwie" erfolgreich zu absolvieren. Zumal eher (normale) altersbedingte, orthopädische Degeneration als mangelnde Ausdauertrainierbarkeit meine Reichweite begrenzt. Dennoch hülfe hochkonzentrierter Brennstoff in Form von Gel das "irgendwie" mit weniger Selbstquälerei zu überstehen. Der heutige Lauf ist allerdings nicht nur Ziel, er dient vor allem einem "höheren" Zweck. Ziel: Ein paar Stunden auf reizvoller Strecke Marathon laufen. Zweck: Vorhandene Ausdauer konservieren, das eigentliche, um ein Vielfaches härtere Saisonziel steht noch bevor. In diesem Sinne muss mir daran gelegen sein, meine Energiespeicher durch Gel-Verzicht (ca. 500 kcal) so tief wie möglich zu entladen. Das bisschen Cola-Zucker kann die fehlende Gel-Energie nicht ausgleichen.

Wieder zurück am Deichfuss. Gefühlt lief ich von Beginn an mit konstantem Tempo, wenngleich die Uhr anderes behauptet. Zu Anfang pendelte die Tachonadel um die 6:00, jetzt eher zwischen 6:15 bis 6:30 min/km. Einerlei. Anlässlich überwiegend "zweckdienlichen" Laufens unterwerfe ich mich schon lange nicht mehr dem Diktat der Uhr.

Wäre ich nicht von pausenlosem "Meerblick" abgelenkt gewesen, der Mann hätte mir längst auffallen müssen. Immerhin joggt er durch mehrere meiner Aufnahmen. Als ich unbeabsichtigt zu ihm aufschließe, testet er mit humoriger Bemerkung zum "drohenden" Überholmanöver meine Dialogfähigkeit. Dass ich nicht wie so oft wortkarg auf derlei Ansprache reagiere, mich im Gegenteil sogar auf einen munteren Wortwechsel einlasse, zeigt wie gut ich an diesem Tag drauf bin - unbeschadet körperlicher Einschränkungen. In den folgenden Minuten schlägt unser Gespräch einen weiten Bogen, beschränkt sich nicht aufs übliche "läuferische Update" oder aufs Wetter. Bei Letzterem streben unsere Vorstellungen übrigens diametral auseinander: Während er den bedeckten Himmel anhimmelt, erflehe ich zu seiner Überraschung pralle Sonne.

Am Ende des Abschnitts am Deichfuß, nach etwa acht Kilometern, begegne ich erstmals meiner Frau Ines. Kurzes Abklatschen und weiter. Ab hier decken sich Hin- und Rückweg. Gelegenheit fortan die schnelleren Läufer im Marathonfeld zu studieren. Voran durch die Fußgängerzone, alsbald entlang des Hafendeiches, schlussendlich auf Innenstadt und Zielbereich zu. Kurz vorm Ziel erwarten mich die fußläufig grässlichsten Meter: Stadtplaners Wohlgefallen, grobes Kopfsteinpflaster, schreddert Läuferfüße. Gottlob aber höchstens 300 Meter weit, dann biege ich auf die Zielgerade ein und vollende "ertappt" meine erste Runde: "Startnummer B84, Udo Pitsch von der TG Viktoria Augsburg".

Skepsis konkurriert mit der Empfindung leichterer Beine in der zweiten Runde. Mehrmalige Tempochecks ergeben zumindest keinen Anhaltspunkt meiner Wahrnehmung zu misstrauen. Nicht der erste offizielle Lauf in den vergangenen Monaten, der zäh begann, in dem ich sehr lange brauchte, um mich quasi "freizulaufen". Das blöde Ziehen in der Achse "linker Gesäßmuskel - Oberschenkel hinten" widersetzt sich leider dem Aufwärtstrend - jedoch mit konstanter, also erträglicher Intensität. Kurz vor Schräge hoch zur Deichkrone zischt ein Radler an mir vorbei. Wenige Meter dahinter der führende Läufer mit langen, geschmeidigen Schritten. Keine 13 Kilometer gelaufen und schon überrundet ...

Ich erstürme den Deich. Klingt dynamisch, "locker flockig", passt aber überhaupt nicht zum tatsächlichen Bewegungsablauf. Der Dame hinterm Rollator, mühsam einen Fuß vor den anderen setzend, ihre Gehhilfe bergauf schiebend, muss mein Überholmanöver dennoch so vorkommen. Was sie wohl empfindet angesichts der vielen Läufer, die an ihr - vergleichsweise - vorbeihuschen? - Welches Maß an Achtung und Bewunderung ich ihr entgegenbringe, kann sie nicht ahnen: Das Schicksal mag einen niederstrecken. Entscheidend ist nicht liegenzubleiben, wieder aufzustehen und dem körperlichen Verfall die Stirn zu bieten! - Ines unterbricht meine Gedanken. Sie wartet jenseits der Deichkrone mit schussbereitem Handy. Wir winken uns zu, danach genieße ich zum zweiten Mal das maritime Flair der Cuxhavener Strandpromenade.

Obschon die Sonne sich weiter rar macht, ist der Asphalt inzwischen weitgehend abgetrocknet. Letzten Pfützen weiche ich ebenso aus wie sonntäglichen Passanten, die den Weg nun vermehrt zu Spaziergängen nutzen. Auf der Spitze der Landzunge mache ich einmal mehr das auf mich unfertig wirkende "Gestell" aus. Ich nenne es "Gestell", weil ich seinerzeit wie heute nur wilde Spekulationen über seinen Zweck anzustellen vermag. Ein zig Meter hoher, sich nach oben verjüngender Aufbau, halb Gerüst, halb Turm, mit vier Eckpfosten fest im Sand verankert. Erst späterer, meiner Neugier entspringender Internet-Recherche entnehme ich, dass es sich hierbei um die so genannte "Kugelbake" handelt. In früheren Zeiten zur Orientierung für Seefahrer errichtet, heute nur noch Cuxhavens Wahrzeichen. Auf Letzteres wäre ich ohne Wiki-Unterweisung nie gekommen, ebenso wenig auf die Bezeichnung "Kugelbake". Zu provisorisch wirkt das "Ding" auf mich und von einer Kugel ist seine Gestalt so weit entfernt ich wie ich derzeit noch vom Finish. Nur aus der Nähe und bei genauer Betrachtung erkennt man zwei unterschiedlich große, scheinbar von der Spitze der Bake aufgespießte Kugeln ...

Auf zur dritten Runde. Start-Zielbereich verlassen, rasch auch die Fußgängerzone und Richtung Hafen unterwegs, schließlich am Fuß des begrünten, etwa drei bis vier Meter hohen Hafendeiches trabend. Wäre ich wie so oft in diesem Jahr mit mir alleine auf der Strecke, die Szene fiele im unablässigen Strom alltäglicher, weniger als erwähnenswerter Begegebenheiten für alle Zeiten dem Vergessen anheim. Da ich aber nach langer Covid-19-Einsamkeit endlich wieder Mitläufer um mich habe, weihe ich der sich entspinnenden Episode diesen Abschnitt: Parallelität zweier Prozesse. Ich setze gerade zum Überholen eines männlichen Laufduos an. Während ich an den beiden vorbeiziehe, versucht eine blutjunge Frau die steile Grasflanke des Deichs zu erklettern. Grund: Ihr Freund (Mann?) steht oben auf der Deichkrone, wo der Fußweg verläuft, sie unten, wo es kein Trottoir auf dieser Seite der Straße gibt. Offenbar konnten sich die beiden zu Beginn des Deiches nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen. Ihr Versuch scheitert. Ob zum ersten Mal, vermag ich nicht zu sagen. Halblaut Verwünschungen murmelnd rutscht sie ab und gibt auf ... Dann sind wir vorbei - das Laufduo inzwischen hinter meinem Rücken - und ein paar Schritte später bekomme ich eine Kostprobe trockenen nordischen Humors: "Wenn ihn demnächst wer fragt, ... " raunt der eine seinem Laufpartner zu, " ... warum sie sich getrennt haben, dann wird er antworten: Weil sie's nich' auf'n Deich geschafft hat!" Lauthals mein Lachen, gefolgt von einem rückwärts gerichteten Daumen-hoch-Zeichen und beantwortet durch ein bekräftigendes "Na, ist doch wahr!"

Sonnenschein wischte die Regendrohung einfach so vom Himmel. Um die Wolken aufzureißen, brauchte Petrus wieder nur Minuten. Entlang des Grünstrandes unternehme ich den Versuch das inzwischen dominierende Azur des Himmels in gleichermaßen farbintensive wie aussagekräftige Fotos umzuwandeln. Was fehlt, sind Läufer. Keine fünf Beinpaare zähle ich voraus und nahebei nur eins; ein müdes, gehendes allerdings, von dem ich mir kein attraktives Bild verspreche. Von mir überholt zu werden scheint seinen Ehrgeiz anzustacheln. Keine Minute später zieht er wieder an mir vorbei. Und so gelingt mir doch noch die Bildkomposition "Läufer am sonnigen Grünstrand".

Kilometer 25: Mein Körper gibt mir nicht zum ersten Mal Rätsel auf. "Von Rechts wegen" sollte er allmählich ermüden, mindestens aber anfängliche Spritzigkeit eingebüßt haben. Das Gegenteil ist der Fall: In dieser dritten Runde gibt sich mein Bewegungsapparat noch "williger" als in der ohnehin schon mit gewisser Leichtigkeit bewältigten zweiten zuvor. Das doofe Ziehen links unten blieb, holt sich unterdessen Schützenhilfe von der beanspruchten rechten Seite. Dennoch spule ich die Meter auf Basis ungebrochener Ausdauer flüssiger ab. Meine Zuversicht wächst im letzten Streckenviertel nicht einzubrechen, was mir lange als sicher galt.

Die in einem Standkorb auf der Promenade sitzende Frau vermietet ebendiese Strandkörbe, was an ihrer Ausstattung, insbesondere Klemmbrett und Liste, unschwer zu erkennen ist. Zum dritten Mal trabe ich an ihr vorbei, diesmal gerade noch Corona-Abstand einhaltend, um nicht mit einer Gruppe Spaziergänger zu kollidieren. Lächelnd entbietet sie mir das landesübliche "Moin!" Vermutlich blieb ich stumm, da überrascht und in Sekundenbruchteilen ohnehin vorbei. In den Tagen des sich anschließenden Urlaubs in ostfriesischen Gefilden wird uns ein schnelles, selbstverständliches "Moin!" noch häufiger begrüßen. Die Menschen des friesischen Nordens geben sich offener, zugewandter, pflegen vielfach schon im ersten Gespräch einen verbindlicheren, freundlicheren Ton als ich das von daheim gewohnt bin.

Meine "Mädels", Ines und unsere Hündin Roxi, sind da, nur sehe ich sie nicht. Sie verweilen etwas abseits auf der Deichkrone, von wo meine Frau ein paar Fotos von mir schießt. Im "Abseits" bleiben hier an der Nordseeküste alle Hundebesitzer. Auf der Strandpromenade besteht absolutes Hundeverbot, auch angeleint. Eine "Tendenz", die wir in den folgenden Tagen vielfach entlang der friesischen Waterkant bestätigt vorfinden werden. Übrigens nicht nur auf ohnehin eingezäunten Deichen. Dort ist das Verbot sinnvoll und geeignet Hundestress von den in großen Herden grasenden Schafen fernzuhalten. So viel an die Adresse jener Hundemenschen, die sich mit dem Gedanken einer Sommerfrische an der Nordsee tragen. Ihnen sei als Alternative die Ostsee empfohlen, wo wir im vergangenen Jahr weitgehend unbehelligt von Hundeverbotsschildern urlaubten.

Der Deichfuß gibt wieder die Richtung vor, bringt mich zurück zur Stadt. "Crazy Weather": Binnen Minuten rückten die Wolken neuerlich zusammen, verdeckten die Sonne, lassen zwischenzeitliche Ströme von Schweiß nach und nach versiegen. Die Fußgängerzone hat sich derweil mit Leben gefüllt. Unter anderem gut besetzte Außenbereiche von Cafés und Gastwirtschaften legen davon Zeugnis ab. Hie und da begleitet spontaner Applaus meinen Weg, für den ich mich meist mit Handzeichen bedanke. Auch wenig willkommenes, da motorisiertes Leben kreuzt meinen Weg. Eine verirrte (?) Autofahrerin vollführt ein aufwändiges Wendemanöver in der Fußgängerzone, bar jedweder Bedenken, das absolute Autoverbot geflissentlich ignorierend. Einer der Momente, da mir das Lied "Aber Menschen?" von Heinz Rudolf Kunze in den Sinn kommt. Kunze beendet seinen Song, mehr oder weniger ratlos stammelnd, mit den Worten: "Aber Menschen? Nee ... Menschen? Geh mir weg ... Menschen ..."

Runde vier: Ich spüre die Anstrengung; als fortschreitende Verhärtung überall im "Fahrgestell" und Notwendigkeit die Schritte zunehmend mit Willenskraft zu begleiten. Einbrechen werde ich nicht, so viel steht fest. Ginge es um mehr als Zielerreichung und Zweckerfüllung könnte ich mir sogar noch ein wenig die Sporen geben. Ines begegne ich noch einmal am Grünstrand, nehme mir sogar die Zeit kurz zu verharren und ein paar Worte mit ihr zu wechseln.

Die Sonne schmollt, weigert sich beharrlich zum rauschenden Finale durch die Wolken zu brechen. Also verabschiede ich mich von einer farbarmen Variante des Strandpanoramas, von der ruhigen See in Höhe des Grünstrandes, hunderten Strandkörben und dem feuchtdunklen, sich hinterm Sandstrand seewärts erstreckenden Watt. Frau "Strandkorbvermieterin" darf ich leider nicht Lebewohl sagen. Ihr Platz ist leer, mutmaßlich mangels Bedarf an Strandkörben an diesem zwar schwülen aber luftkühlen und sonnenarmen Sommertag.

Tschüss Schikane, tschüss Deichfußweg, noch drei Kilometer. Mehrfach mit wachsender Genauigkeit angestellten Hochrechnungen zufolge werde ich das Ziel unter 4:25 Stunden erreichen, die anvisierte Zielzeit damit eindeutig unterschreiten. Erfreulich daran nicht zuletzt, dass ich mich für diesen Erfolg nicht einmal quälen musste. Der Cuxhaven Marathon wird damit tatsächlich zum erhofften Trostpflaster. Eigentlich standen gestern 100 Kilometer in der Lüneburger Heide in meiner Laufplanung, um die herum wir unseren Urlaub gestalteten. Ja, richtig: abgesagt, vor Wochen schon. Den Urlaub wollten und konnten wir nicht verschieben. Cuxhaven rückte erst vor drei Wochen in mein Blickfeld, als der Marathon unter strengem Hygieneregime genehmigt wurde. 42,195 Kilometer sind ein Trostpflaster, aber kein Ersatz für 100 km. Einmal mehr ein Tritt gegen das Schienbein meines Formaufbaus für sehr lange Distanzen. Den werde ich nach dem Urlaub realisieren müssen, irgendwie.

Vom Hafenviertel Richtung Innenstadt. Ich überquere die heute gesperrte Straße zum Bahnhof. Kurz vorher und nahebei ertönt das "Tatütata" eines Martinshorns, lässt den bisher stets gelangweilt wirkenden Feuerwehr-Doppelposten eilig beidseits der Strecke sichernde Position beziehen. Vergebliche Liebesmüh', der unsichtbare Verursacher des Alarms entfernt sich hörbar. Ein letztes Mal geben mir meine Füße in aller Klarheit zu verstehen wie sehr sie Pflastersteine hassen, dann biege ich in die Zielgerade ein und laufe mit Beifall und vor Ines Handykamera ins Ziel. Die offizielle Uhr bleibt nach 4:22:44 Stunden für mich stehen.

 

Fazit zur Veranstaltung

Einen Marathon in vier identische Runden zu vierteln mag anderenorts langweilige zweite, dritte und vierte Umläufe zur Folge haben. Nicht so in Cuxhaven. Ungefähr drei Kilometer "Meerblick" pro Runde halten Spannung und Begeisterung am Leben.

Hinsichtlich Vorbereitung und Durchführung des Laufes komme ich nicht umhin dem Veranstalter und seinen vielen Helfern ein dickes Lob auszusprechen. Das per E-Mail und auf der Internetseite kommunizierte, wirklich ausgefeilte Hygienekonzept wurde konsequent umgesetzt.

Ein Kompliment geht auch in Richtung der Teilnehmer, die sich willig dem Regime der eingrenzenden Regeln und Prozeduren unterordneten.

Fazit: Leider zu weit weg von meinem Zuhause. Bei sich bietender Gelegenheit jedoch gerne wieder!

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