9. Mai 2021

Wieder Schatten jagen  -  RuR Ultralauf

(RuR: Rund um Rutesheim)

Rund um Rutesheim (RuR) kreisend finde ich reichlich Zeit, um über vieles nachzudenken. Unter anderem auch, wieso ich erst jetzt, Mai 2021, zu diesem Laufziel fand. Wie nicht anders zu erwarten: Corona ist schuld. In der Not leerer Marathon- und Ultralauf-Kalender (wieder-) entdeckte ich die Seite des 100 Marathon Clubs. Und nur dort ist der Lauf gelistet. Die Runde um die schwäbische Kleinstadt Rutesheim erreicht etwa Halbmarathonlänge. Einschließlich eines kurzen Auftaktschlenkers erkämpft man sich nach zwei Runden einen (vermessenen) Marathon, der in diesem Jahr bereits zum achten (!) Mal stattfindet. Eine Marathonserie also, die auch Ultraläufer lockt: Durch Anhängen einer dritten Runde kommt man auf etwa 63 Kilometer.

Als Start und Ziel fungiert die Eisengriffhütte, an der Peripherie der Stadt gelegen. Auf dem Parkplatz gegenüber brauche ich nur ein paar Minuten, um meine Startvorbereitungen abzuschließen. Purer Zufall also, dass ich Veranstalter Norbert Fender in einer seiner Verpflegungspausen zwischen zwei Runden hier treffe und kennenlerne. Wie bei allen, der im Lockdown überhaupt noch stattfindenden Läufe, wurden auch die Regeln der RuR angepasst: Jeder startet individuell irgendwann nach Sonnenaufgang, dreht seine Runden und weist den korrekt absolvierten Lauf durch Übersenden seiner GPS-Aufzeichnung nach. Also hoffe ich, dass das mit der GPS-Aufzeichnung einmal mehr fehlerfrei klappen wird. Schiefgehen kann da durchaus was: Fehlbedienung der Uhr - ich bin Spitze in sowas! - oder Verlust der gpx-Datei beim Übertragen von der Uhr zur App über Bluetooth. Letzteres widerfuhr mir sehr selten, ausgeschlossen ist es aber nicht. Positiv denken! Wird schon klappen!

"Positiv denken!" ist überhaupt eine wichtige Taktik, will ich der bisher längsten Laufprüfung des verflixten Pandemiejahres mit einigem Mut begegnen. Und das gleich in mehrerlei Hinsicht. Ich komme noch drauf zurück, lauf' jetzt aber erstmal los ... Ich verabschiede mich von Norbert und gehe die paar Meter zur Startlinie vor der Eisengriffhütte rüber. Wozu die Holzhütte dient, kann ich nur vermuten. Drum herum warten jedenfalls Grillstelle, Liegewiese sowie ein Spielplatz auf große und kleine Nutzer. Ich drücke die Uhr ab und vollende zunächst eine kurze Wendeschleife auf dem Anfahrtsweg, keine 300 Meter hin und zurück. Dann geht's auf eine das schmale Tal überspannende Autobahnbrücke zu und unter dieser hindurch. Die Runde um Rutesheim schneidet die Autobahn A8 mehrfach. Hinter der Brücke rechts ab, um einen ersten Buckel zu erstürmen. Mit einem Fluch auf den Lippen breche ich den Versuch nach ein paar Metern ab: Ich vergaß Nacken und Arme mit Sonnenschutzmittel einzureiben, was unter wolkenfreiem Himmel bei mutmaßlich über sieben Stunden Laufzeit nicht so bleiben kann. Also fummele ich die kleine Tube aus dem Laufrucksack hervor und hole das Versäumte aufwärts gehend nach ...

Knapp zwei Kilometer verbringe ich stets in Sichtweite der sechsspurigen A8-Rennbahn, dann biegt der Weg in Richtung Wald ab. Im wesentlichen Laubwald, dessen noch junges, unvollständiges Blattkleid zum Glück schon einigen Schutz vor der Sonne gewährt. Ich mag die Sonne, sehr sogar, und bin heilfroh, dass sie mir nach endlosen Kältewochen endlich einen Lauf im Warmen schenken wird. Und doch muss ich mich vor ihr schützen. Heute zumindest, denn zu krass war der Übergang: Vorgestern fror ich noch bei einem Trainingsjogg in wirklich eisigem Wind. Und heute soll das Quecksilber 28°C erreichen. Wie erwähnt: Positiv denken! Ich bin ein Sonnenmensch und werde das aushalten.

Gepflegte Waldwege bringen mich vorwärts. Wo reichlich ausgebrachter, feinkörniger, bodenlosem Treibsand nicht unähnlicher Schotter stört, laufe ich am Rand. Sonnenschein, frische, kühle Luft im Wald, Vogelstimmen allerorten und kaum merkliches Auf und Ab der Wege. Im Grunde alles rundherum wunderbar! Und doch gibt es Anlass, meine Erfolgsaussichten mit Skepsis zu betrachten. Ich fühle mich "unfrisch", irgendwie gehemmt, wodurch auch immer. Mein letzter Marathon datiert vor neun Tagen und sah mich in vergleichsweise blendender Form. Seither war ich lediglich viermal, jeweils nicht nennenswert weit, unterwegs. Folglich sollte ich vor Kraft schier bersten und nicht sinnieren müssen, was wohl der Grund für meinen "luschigen Zustand" sein könnte. Einstweilen gebe ich mich der Hoffnung hin, der Booster möge alsbald zünden. Positiv denken!

Zickzack im Wald, wobei ich jedoch nie Gefahr laufe mich zu verlaufen. Bin dreifach gesichert unterwegs: Erstens geleitet von Schildern eines Wanderweges rund um Rutesheim. Zweitens in der Obhut von Kreidepfeilen, die Norbert an Abzweigen sprühte. Und drittens folge ich dem gpx-Track auf meiner Uhr. Drei Kilometer inmitten grellgrün frischen Grüns, dann biege ich auf ein asphaltiertes Sträßchen ein und folge dem Waldrand. Felder nun zu meiner Linken: Saftig dunkelgrün und knöchelhoch sprießt Getreide, dahinter erstreckt sich das Erdbraun eines Kartoffelfeldes. Stückweit voraus schmückt sich Raps mit ersten gelben Blüten. Just in Höhe des Rapsfeldes schickt mich die Uhr nach links, parallel nun zu dicht an dicht gezogenen Erddämmen eines Kartoffelfeldes. Sonne im Rücken, meine Silhouette auf Asphalt: Endlich darf ich wieder meinen Schatten jagen! In lauer Luft unter verlässlich blauer Kuppel, vergleichsweise in einen Hauch von nichts gehüllt. Noch vor zwei Tagen fror ich beim Training in eisigem Wind, obschon eingepackt wie im Winter, einschließlich Mütze und Handschuhen. Was für ein krasser Wetterumschwung!

"SOLAWI"* steht in Großbuchstaben auf der Holztafel am Feldrain, darunter eine Internetadresse. Bin zu rasch vorbei, um den Sinn des Anschlags zu erfassen. Der Blick zum dahinter liegenden Feld mit Gewächshaus und in langen Reihen gepflanztem Freilandgemüse liefert jedoch die gewünschte Antwort: Offenbar verwirklicht sich hier eine Selbstversorger-Kooperative. Zwei Umläufe bleiben, beim nächsten werde ich die Tafel ablichten und zu Hause ins world wide web abtauchen, um letzte Zweifel zu beseitigen.

*) SOLAWI: Solidarische Landwirtschaft Heckengäu eG

Wieder mal aufwärts. Keineswegs steil, dennoch anstrengend. Bisher warte ich vergeblich auf das Zünden des Nachbrenners ... Der asphaltierte Feldweg mündet vor einer Pferdekoppel in einen weiteren. Zwei friedlich grasende Schweifträger, haflinger-braun und rappenschwarz, bleiben zurück, während ich mich anschicke die Hügelkuppe zu erobern. Nächstes Mal, dann 21 Laufkilometer älter, wird mir das ungleich schwerer vom Fuß gehen. An Runde drei wage ich einstweilen keinen Gedanken zu verschwenden. "On top of the hill" stellt sich optisch begründete Erleichterung ein: Offenbar jogge ich über den weit und breit höchsten Punkt der Gegend, darf eine Weile mit meinen Kräften haushalten ...

Ich trabe durch Perouse, einen Ortsteil von Rutesheim, sanft abwärts zunächst, dann eine Weile flach zwischen Vorgärten und abgestellten Autos. Perouse ... ? Klingt französisch, nicht deutsch und schon gar nicht schwäbisch. Ein Rätsel, das zu lösen ich mir gleichfalls für daheim aufgebe. Gemäß dem vielfach erprobten Grundsatz: Wikipedia weiß (fast) alles! Der Trip im Ort endet auf der gegenüberliegenden Dorfseite, wo die Route auf breiter, neu angelegter Rampe einen Damm erklettert und mich per Fußgängersteg über eine Straßenschlucht geleitet. Von oben besehen entpuppt sich der Damm als Lärmschutzwall. Lärm von Autos und noch mehr Lärm von Bikern, denen der warme Tag nun auch wieder Leben eingehaucht hat. Lärm der weiter anschwillt, weil ich mich einmal mehr der sechsspurigen Rennbahn A8 nähere und wenig später gemächlich drüber hinweg trabe.

Endlich darf ich mich von der stark befahrenen Verkehrsader ab- und dem nahen Wald zuwenden. Viel stiller wird's dadurch zunächst nicht. Ich komme an einer Alphütte vorbei! Natürlich alles andere als original, dafür kitschig täuschend nachempfunden. Ein Alp(-b)traum in Holz, nicht mal die fußballgroßen Felsbrocken zur Beschwerung der Dachschindeln wurden vergessen. "Kraxi-Alm" lese ich im Vorbeilaufen. Mein Lauffreund "Kraxi", wohnhaft in der wunderschönen Steiermark, fände die Bezeichnung sicher kurios. Gleich mir, dem den geläufigen Namen des Freundes im Kopf ein klitzekleiner Lesefehler unterlief: Tatsächlich firmiert der Alpenkitsch unter der Bezeichnung "Kraxl-Alm" ... Was ist das hier? Nicht mal elf Uhr vormittags, bereits gut gefüllte Parkplätze und reichlich Menschen, die mich zu Schlangenlinien nötigen. Slalom vor allem um Familien mit Kindern. Offenbar eine Art Erlebnispark!? Rechts hinterm Lattenzaun eine Minigolfanlage, daneben etwas seltsam Ähnliches auf langen Tischen arrangiert, das ich nicht zu deuten weiß!??* Hundert Schritte später weiterer Aufschluss beim Blick in eine Waldschneise, über die sich Tragseile und Hindernisse eines Klettergartens spannen ...

*) Es handelt sich um "Pit-Pat", eine Mischung aus Bahnengolf und Billard.

Wieder umgeben von der relativen Einsamkeit des Ultraläufers. Relativ meint: Bei gutem Wetter, stadtnah, mitten in der Pandemie kann Freiluft-Alleinsein nicht mehr als eine Momentaufnahme sein. Radler, Spaziergänger, Eltern mit Kinderwägen, Walker, Jogger, Wanderer, Reiter, cirka 50jährige Kinder beim Spielen mit einer Drohne - je später der Tag, umso höher und vielfältiger die Begegnungsrate. Vom Flächengrün der Streuobstwiesen und Felder wechsele ich wieder ins dreidimensionale des Waldes und empfinde schon jetzt Dank für jedes Fleckchen Halbschatten. Es ist wärmer geworden, Wasser bricht aus allen Poren. Zumindest, wenn ich wie jetzt bergauf laufe. Unangenehm steil, gottlob nur etwa hundert Meter weit. Der Wald wird dichter, ein wenig kühler und ohne Vorwarnung neigt sich der Weg zur Schussfahrt; behält diese Orientierung eine Weile bei, steigt kurz an, um schließlich ein weiteres Mal entschlossen auf eine nicht erkennbare Senke zuzuhalten. Mir schwant nichts Gutes ...

Und richtig: Wie vermutet muss ich mir Minuten später die preisgegebene Höhe wieder erarbeiten. In anspruchsvoller Steigung und elend lange - an einem Kilometer fehlt sicher nicht viel. Spontan graut mir vor der nächsten Runde: Ich hätte der mit vielen Buckeln und Zacken bewehrten Darstellung der RuR-Höhenlinie mehr Beachtung schenken sollen (auch wenn ich mich derzeit noch weigere die angegeben 400 Höhenmeter pro Runde für bare Münze zu nehmen). Tatsächlich präsentierte sich der Kurs bisher in beinahe stetem Wechsel auf und ab. Anfangs eher harmlos, zuletzt durchaus fordernd. Und den Wald verlassend, eine Straße querend, gegenüber auf einem Feldweg gleich wieder Höhe verlierend, sieht es ganz danach aus, als sollte sich das auf ähnliche Weise fortsetzen ...

Tut es auch, nur jetzt bar jeglichen Schattens, zwischen Wiesen und Feldern. Runter, rauf, runter, rauf ... die sanft gewellte, um nicht zu sagen liebliche Landschaft verleiht der steten Achterbahn ein Flair totaler Harmlosigkeit. Dem ich zunehmend misstraue, auf dem dennoch jetzt meine Hoffungen ruhen - nachdem die von Beginn an bestehende "Ladehemmung" sich nicht geben wollte. Nach wie vor spüre ich einen nicht näher bestimmbaren Widerstand, der einen Teil meiner Ausdauer blockiert, die zweifelsohne vorhanden sein muss. Natürlich grübele ich seit Längerem darüber nach, welche Ursachen diese Blockade haben könnte. Da bietet sich einiges an, auch wenn ich nichts davon auch nur ansatzweise werde nachweisen können. Menschliche Körper verfügen über keine Biosensoren, die dir verlässlich melden, wenn dich Hitze beutelt. Ebenso wenig wird sich die These bestätigen, dass einen der Übergang von quasi Winter noch vorgestern auf subtropische Wärme dahinrafft. Auch der Verdacht die Corona-Erstimpfung vom Montag setzte mir noch zu, bleibt reine Spekulation. Dienstag "Matschbirne", Mittwoch Kopfschmerzen, Reste von Letzterem bis vorgestern. Bin ohnehin vorsichtig unterwegs, mit mehr innerem Fokus als sonst, seit der Stoff von AstraZeneca in meiner Blutbahn zirkuliert, auch wenn ich gefährliche Nebenwirkungen für mich ausschließe. Nebenwirkungen gab's, aber heute immer noch eine leistungshemmende Immunreaktion meines Körpers? Selbst der "Rat der Impfheiligen" würde das wahrscheinlich verneinen. Also, was bleibt dann? Ich hasse die Antwort, weil sie wie stets in solcher Situation das körperlich Unerklärliche ohne Beweiskraft "subsummiert": Miserable Tagesform!

Ich passiere ein Rutesheimer Gewerbegebiet. Zunächst vorbei an etwas so Schnödem wie diesem Klamotten-Discounter mit drei Buchstaben. Bis unters Dach angefüllt mit Fummeln, die irgendwo auf der Welt von Frauen (oder Kindern?) für einen Hungerlohn zusammengenäht werden. Oder gibt es irgendwo noch Naive, die glauben ein für wenige Euro verkauftes T-Shirt, an dem Zwischenhändler, Transporteure und andere verdienen, ließe auch noch der Letzten und Schwächsten in der Wertschöpfungskette, der Näherin, genug zum Leben? Vom Schnöden zum Edlen, immerhin trabe ich durchs Luxusauto-Bundesland BaWü und nun an einer nigelnagelneuen Schmiede von Porsche vorbei ... Eine Weile "schramme" ich noch an der Rutesheimer Peripherie entlang, bis sich die Route entschließt endlich wieder "Land zu gewinnen". Sie verrichtet das bergab und zum wiederholten Mal mit freiem Blick übers tiefer liegende Land, aus dem sich nur wenige Kilometer entfernt der Engelsberg und an dessen Flanke die Stadt Leonberg erheben. Sozusagen ein Blick in den Stuttgarter Vorgarten, den jeder kennt, der je die stauträchtige A8 von Karlsruhe kommend befuhr oder die noch häufiger blockierte A81 aus Richtung Heilbronn.

Lief ich gerade noch hügelab, so kehrt sich nach Abzweig die vertikale Orientierung gleich wieder um. Nach wie vor zwischen Feldern und Wiesen, bald einen Bauerhof mit Pferdestall passierend. Erneuter 90°-Richtungswechsel und zurück nach Rutesheim, beinahe parallel zum steten Rauschen auf der nahen Autobahn A8. Neuerlich touchiere ich den Rutesheimer Stadtrand, werde aber abgewiesen und über die Autobahn geschickt. Von der Brücke schaue ich in Fahrtrichtung Stuttgart ... Unglaublich wie gut sich mir dieses "Panorama" eingeprägt hat: Kilometerlang geht's hier bergab, auf drei Fahrstreifen, eine Rennstrecke par excellence. Doch schon von hier ist die Leuchtschrift der Geschwindigkeitsbegrenzung nicht zu übersehen: Vermutlich 120 km/h wie stets. 120 km/h bis zum Autobahndreieck Leonberg unten im Tal, wo schon die stationären Blitzer lauern! Wie oft fuhr ich in bald 50 Jahren Führerscheinbesitz an diesen automatischen Wegelagerern vorbei ohne finanziellen Schaden zu nehmen? 50 Mal, 100?

Weiter runter, einen Satelliten-Ortsteil von Rutesheim (?) links liegen lassend. Immer weiter hinab, ... wie tief denn noch? Unschön tief, weil ich drei Kilometer vorm Ende dieser Runde alsbald jeden Höhenmeter zurückerobern muss, bis zu meinem unweit der Autobahn geparkten Auto. Im Talgrund scharf rechts ab und einem Bachlauf in markantem Geländeeinschnitt folgen, wie erwartet aufwärts. Ich vergebe einen Schönheitspreis und ernenne den nun folgenden Abschnitt mit Blumenwiesen und plätscherndem Bächlein zum idyllischsten des Tages. Trabend erarbeite ich mir die letzten Höhenmeter von Runde eins und erreiche nach rund 2:20 Stunden durstig und müder als das Ultra-Vorhaben eigentlich erlaubt mein Auto.

In Wasserverbrauch und -vorräten gedacht sieht mein Plan folgendermaßen aus: Von zwei Flaschen im Rucksack (je 0,5 l) blieb eine unangetastet, die andere ist leer. Die Volle plane ich für Runde zwei ein. Jetzt am Auto reichlich trinken, das Nachfüllen beider Flaschen verschiebe ich auf die Pause nach der nächsten Runde. Klingt logisch, oder? - Gedacht getan, mit reichlich Wasser im Bauch breche ich wieder auf. Zeitverbrauch für die Rast: Nicht mal zwei Minuten.

Runde zwei

Zwei Kilometer bis zum Wald ohne jeden Schatten und tendenziell hügelan. "Hügel", von deren Vorhandensein ich zu Beginn der ersten Runde so gut wie nichts spürte. Jetzt reicht ihr Einfluss, um Puls- und Atemfrequenz merklich zu erhöhen. Zwei Kilometer unter praller Sonne, die mir eine Ahnung davon vermitteln, dass mit nur einer gefüllten Flasche aufzubrechen keine meiner besseren Entscheidungen war ... Vom Wald mit etwas kühlerer Witterung versorgt, versiegt einstweilen der schweißige Sturzbach und die schlechten Gedanken rücken ins hintere Glied. Habe auch Wichtigeres zu tun als schwarzzusehen. Will meinen Vorsatz von "vorhin" in die Tat umsetzen und den Mammutbaum ablichten. Richtig: Mammutbäume sind eigentlich in Kalifornien heimisch, an den Hängen der Sierra Nevada. Nach Europa kamen sie im 19. Jahrhundert, um englische Parks zu bereichern. Damals veranlasste auch der König von Württemberg (Wilhelm I.) die Aufzucht von Sämlingen. Im Schatten eines dieser "sprossenden Sämlinge" stehe ich nun, unfähig den Baum in ganzer Länge einzufangen. Meiner Recherche zufolge dürfte der Gigant ziemlich genau 157 Jahre alt sein. In seinem Todesjahr 1864 soll Wilhelm die Aussaat in Auftrag gegeben haben. 157 Jahre - ein lächerliches Alter, zumindest für Mammutbäume, von denen die ältesten in der Sierra Nevada bis zu 3.000 Jahre alt sein sollen ...

Der Wald bleibt zurück und ich mache meine Kamera wieder schussbereit - für die "SOLAWI-Tafel" am Rand des genossenschaftlich bewirtschafteten Feldes. Alsbald der Anstieg gegen die Hügelkuppe vor Perouse, der mir nun weitaus steiler vorkommt als noch vor drei Stunden. Pure Einbildung, eine Art Überredungsversuch des ermatteten Körpers vielleicht an eine Ruhepause zu denken, oder den anstrengenden Unsinn gleich komplett für heute einzustellen. Keine Einbildung ist die inzwischen aufgeheizte Luft. Meine Poren können gar nicht so viel Wasser ausscheiden, wie ich schwitzen möchte. Immer wieder nuckele ich an meiner Trinkflasche, die nach kaum sieben Kilometern der zweiten Runde schon bedenklich schlaff an meiner Brust wabbelt*.

*) Mein Trinkgürtel ist mit flexiblen Flaschen, so genannten "Soft Flasks" ausgerüstet.

Zum zweiten Mal durch Perouse, das noch immer ziemlich menschenleer wirkt. Sonntag eben. Was nicht heißt, dass sich die Menschen Lockdown-konform in ihre Behausungen verkrochen hätten. Mir kommt es eher so vor, als versammelte sich die Hälfte der Bevölkerung von Rutesheim und um Rutesheim herum im Freizeitpark. Um die "Kraxl-Hütte" breitet sich unterdessen ein wahres "Wimmelbild" aus. Angesichts dieses Menschenauflaufs von "Überfüllung" zu sprechen wäre nicht verkehrt. Vor allem, wenn man die noch immer geltende Kontaktsperre bedenkt. Schlange vorm To-Go-Schalter, Autos vom und zum Parkplatz unterwegs, die mit nicht motorisierten Zeitgenossen um Durchfahrt ringen, Familien auf Fahrrädern oder zu Fuß mit Kinderwägen, Menschen über Menschen. Zwischendrin ich, ausweichend, Bögen laufend, Haken schlagend ... Aus der Schneise zum Kletterwald schlurft mir ein erschöpfter Vater mit Sohnemann entgegen, beide noch mit angeschnalltem Klettergurt und Seilzeug, den Helm am langen Arm. Hinterm Klettergarten ebbt der Besucherstrom rasch ab, hundert Meter weiter fühle ich mich schon wieder "einsam" - Wie bereits erläutert: Einsamkeit in ihrer relativen Form.

Im zweiten Waldabschnitt kämpfe ich mich voran. Zum Kampf gerät, was die Strecke fordert, weil ...

Nur die Tatsache bisher jeden Lauf und darin alle Krisen erfolgreich durchgestanden zu haben lässt mich eine Spur Optimismus wahren. Auch wenn ich es mir jetzt, am Ende des Waldes, zugleich der heftigsten Steigung, bei Kilometer 35 nicht vorstellen kann: Irgendwie werde ich die verbleibenden 28 Kilometer auch noch packen!

Ich nuckele kurz an der Flasche - oft werde ich das nicht mehr tun können ... noch sieben Kilometer bis zum Auto. In der Senke vor Rutesheim kommt mir eine unverwechselbare Gestalt entgegen: Klaus, heute gleichfalls im Feld des RuR unterwegs. Die sengende Sonne hat Klaus nicht die Richtungssinne verwirrt. Schon einmal hatte ich den von Kleidung und Ausrüstung unterstützen Eindruck, dass mir ein zur Veranstaltung gehörendes Läuferpaar entgegen kam. Offensichtlich darf man die Runde auch andersrum laufen. Klaus und ich begrüßen uns wie alte Bekannte, zu denen wir nach diversen Begegnungen an Laufstrecken in den letzten Jahren, mehrfach auch schon im laufenden Jahr, nach und nach reiften.

Drei, vier Kilometer vorm Auto sauge ich den letzten Tropfen Wasser aus den soften Flaschen. Ich kann mich nicht erinnern je solchen Durst gelitten zu haben. Wie denn auch? Normalerweise fangen dich Verpflegungsstellen in erträglichen Abständen auf. Dazwischen hilft der mitgeführte Vorrat, den ich bis heute nie wirklich aufbrauchen musste. Im Grunde kann ich an nichts anderes mehr denken als an Wasser - meinen Vorrat im Auto, der bei 50 bis 60°C im Wageninneren inzwischen mehr als körperwarm sein dürfte. Über die Autobahn, runter ins "Loch", anschließend durch die Enge zum tagesschönsten der Landschaftbilder, prächtige Blumenwiesen. Die "vorhin" noch liebliche, vom Bach geteilte Aue hat inzwischen ihre Anziehungskraft eingebüßt. Von Durst gemartert tippele ich in Steinwurfweite und parallel zum Bach hügelan. Schon von weitem fallen die beiden mir auf: Frau mit kleiner Tochter, am kleinen Wasserfall die Hände kühlend. Kurz vor Erreichen der Stelle, geben sie ihre Position auf und damit gibt's für mich kein Halten mehr. Ich wetze meinerseits zum Bach, turne um einen Baum herum, vollführe drei, vier fahrig unsichere Schritte an der Uferböschung, jederzeit in Gefahr abzurutschen, stütze mich ab und schöpfe mit der freien Hand Wasser, Wasser, Wasser ... über Kopf, Nacken, Gesicht; lasse auch die Arme vom kühlen Nass umspülen. Nur der Gedanke an mein allenfalls fünf Minuten entferntes Wasserdepot verhindert, dass ich die Beherrschung verliere und die Brühe saufe wie ein verdurstendes Kamel. - Hinweis: Zu diesem Zeitpunkt habe ich die Kläranlage, ein paar hundert Meter weiter, am Oberlauf des Baches, so gar nicht auf dem Schirm ...

Wie kann etwas inständig Ersehntes, obendrein Lebenerhaltendes so beschissen schmecken? Warmes, nein: heißes Wasser rinnt mit den ersten Schlucken die Kehle runter. Fühlt sich toxisch an, als müsste ich fürchten, meine Eingeweide könnten Schaden nehmen. Ich möchte die Brühe ausspucken, am besten den Magen zur prompten Leerung nach außen stülpen ... Dann fließt vom Grund der Flasche kühler temperiertes Wasser in den Mund. Nicht gut, aber besser. Eine Flasche leer und gleich die nächste. Ich trinke wie besinnungslos. Sie kehrt erst zurück - die Besinnung - da sich die Magendecke schon bedenklich zu wölben beginnt. Denken setzt wieder ein: Schon lange vor diesem Stopp war - Achtung Wortspiel: - sonnenklar, dass ich die letzte Runde nicht mal mit zwei vollen Rucksackflaschen, ein Liter, überleben würde. Darum quetsche ich eine weitere, flache Trinkflasche in eines der vorderen Rucksackfächer. Damit addiert sich mein Wasservorrat auf etwa 1,5 Liter. Werde ich damit hinkommen? Lieber Geld einstecken, um an der Kraxl-Alm-Kitsch-Hütte ein Getränk zu erstehen? Die Aussicht unter FFP2-Maske schwer atmend in einer Warteschlange zu stehen, verschwitzt und müffelnd, begafft von ... von ... na irgendwelchen Leuten eben, hat etwas extrem Abstoßendes. Nö, lieber Durst leiden als inmitten von Sonntagsausflüglern den Rest verbliebener Würde einzubüßen ...

Runde drei

Nagende Zweifel ließen sich schon auf den letzten Kilometern vorm Auto nicht mehr unterdrücken. Da ich nun verweile und trinke, geht mein schwarzmalendes Selbst einen Schritt weiter und formuliert mit Wucht: Wäre es nicht besser jetzt und hier aus freien Stücken die Tortur zu beenden? Der Marathon ist mir sicher, würde auch beurkundet werden. Steht so im Reglement für Ultras, die nach Runde zwei den Lauf beenden. Natürlich wehrt sich alles in mir dagegen. Doch einmal entzündet glimmt die Lunte weiter - auch noch als ich sage und schreibe 11 Minuten später zum finalen Umlauf aufbreche. Innerlich zerrissen falle ich in erste Tippelschritte, gehe mit mir ins Gericht. Einmal mehr scheint meine Sturheit zu obsiegen. Mit sprühender Zündschnur trabe ich Richtung Autobahnbrücke, wende mich dahinter dem jetzt wie eine senkrechte Felswand aufragenden Asphaltbuckel zu ... erste Schritte hinan, dann erreicht der Zündfunke die Ladung: Nein, keine Explosion, lediglich ein Rohrkrepierer. Immerhin ist die Verpuffung heftig genug, um mich auf der Schräge verharren und die widerliche, die böse Idee "Aufhören?" ein letztes Mal abwehren zu lassen.

Ich widersetze mich der Vernunft, gehorche dem Diktat des Ehrgeizes, trabe wieder an. So lange physische und Willenskraft reichen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, kann ich nicht anders. Konnte ich bisher nie, werde ich auch künftig nie können ... Also weiter! Weiter, weil es geht, weil ich noch nicht am Ende bin! - Ich finde einen Rhythmus, mehr tippelnd als raumgreifend, begrenze Schrittlänge und -frequenz bewusst. Sch... auf die Zeit! Nur Ankommen ist wichtig. Im Westen ziehen Wolkenschleier auf. Vielleicht ... ? - Ach, wie sehr sehnte ich in grauen, kalten Monaten Wärme und Sonnenlicht herbei. So, so, so sehr!? Und nun krieche ich hier schlappschwänzig voran und hoffe auf ein bisschen himmlische Bedeckung. Lange Minuten später die ersten Meter im Wald. Wie erwartet verschafft das keine Linderung mehr. Zu hoch steht die Sonne, zu löchrig präsentiert sich der Schirm unvollendet ausgetriebener Blätter. Zum zweiten Mal begegne ich Klaus, zum zweiten Mal stöhnen wir uns entgegen, stellen zeitgleich redend den eigenen Erfolg infrage. So weiß ich nicht, was er sagte, wohl aber, was er ausdrücken wollte.

Lauferfolg? Der ist relativ. Selbstverständlich zweifele ich nicht im Mindesten daran diese Runde irgendwie regelkonform und damit zählbar zu Ende zu bringen. Das ist nicht der Punkt. Sieg oder Niederlage stecken im "irgendwie". Sollte ich irgendwann gehen müssen, hügelaufwärts keine Tippelschritte mehr zustande bringen, dann wäre der "Tatbestand" der Niederlage für mich bereits vorm Finish erfüllt. Ansonsten gilt es abzuwarten, in welcher Verfassung ich zur Heimfahrt in den Fahrersitz sinken werde. Wie auch immer - fest steht schon jetzt: Glänzen wird die Finishermedaille nicht!

Nach und nach werfe ich die mitgebrachten Gels ein. Vier Stück, die ich nur im Notfall nutzen wollte. Das erste schon ein paar Kilometer vor Ende von Runde zwei. Spontan erklärte ich "Notstand eingetreten" und forderte mich auf: Gel schlucken! Gel, damit die Not sich nicht zum Elend ausweitet. Am Auto die zweite Ration, hinterm Wald, in Höhe SOLAWI-Feld die dritte. Immerhin trabe ich noch, auch aufwärts, von inzwischen mehrfachen G-Kräften gegen den Boden gepresst. Oben angekommen passiere ich das Blütenmeer mehrerer Apfelbäume. Ein bisschen Rosarot an Ästen plus Aussicht bis hinter Perouse flaches oder abschüssiges Terrain vor mir zu haben, setzt ein Quäntchen Zuversicht frei. Vermutlich verstärkt von ein paar Zuckermolekülen, die sogleich im muskulären Feuer verbrennen. Angefacht auch von jenem Läuferpaar, das ich verdächtigte zum Tross zu gehören und mir nun ein zweites Mal begegnet. "Dritte Runde?" werde ich gefragt und mit Allerweltsformel, aber ehrlicher Wertschätzung in der Stimme belohnt. Tut gut. Hilft. Ein paar Meter weit ...

Auch jede dieser Ansichten um mich her letztmalig sehen zu "müssen" hilft. Ebenso jeder Schluck aus meinem Wasservorrat. Das Nass aus der Extraflasche versiegt in den Straßen von Perouse. Ich verstaue das Gefäß in einer hinteren Rucksacktasche - ab jetzt mehr Freiheit für meinen linken Arm. Ein paar Schlucke Wasser vermögen hartnäckigem Durst nicht zu wehren. Rasch trocknen die benetzten Lippen, dann beginnt der Mundraum zu verkleben. Und doch verbiete ich mir zu trinken, muss noch 13 Kilometer, vermutlich endlose eindreiviertel Stunden, mit nur einem Liter Wasser überstehen!

Rampe hinter Perouse, Radweg, Autobahnbrücke und einmal mehr der kurze Ausflug ins Alpine: Menschen über Menschen zwischen Freitzeitattraktionen und überfüllten Parkplätzen, Lärm allerorten. In Höhe Kraxl-Kitsch-Gasthaus, abgelenkt und dadurch unachtsam, entwischt mir ein Gedankenbild: Eiskaltes, Prickelndes, Wohlschmeckendes, Unerschöpfliches in einem riesigen Glas und ich setze es an meine Lippen ... Das Trugbild niederzuringen kostet Willenskraft, die ich doch anderweitig dringend bräuchte: Schritt um Schritt voran, so schnell es geht das quirlige Leben des Freizeitparks hinter mir lassen.

Durst ist ein Quälgeist, den auszublenden mir immer seltener gelingt. Leistungshemmend dehydriert bin ich vermutlich dennoch nicht. In dem Fall wären die Poren kaum noch in der Lage meine Haut weiterhin zu "fluten". Die wachsende, manchmal nur noch schwer zu ertragende Schwäche muss andere Ursachen haben. Darüber in erhitztem Schädel neuerlich zu brüten ergäbe keinen Sinn. Mögliche Einflüsse zählte ich bereits vor Stunden auf, und Gewissheit - so sehr ich sie mir wünschen würde - werde ich nicht erhalten. Auch andere Symptome beträchtlichen "Ausgelaugtseins" nehmen zu. Vor allem dieses nervige Zwicken im Unterbauch. Zunächst ging ich und gehe mangels anderer Erklärungen auch weiterhin von Verdauungsbeschwerden aus. Möglicherweise verschärft von "besinnungslosem Wassersaufen" beim ersten Boxenstopp am Auto. Immer wieder massiere ich mit den Fingerspitzen tief in meine Eingeweide, versuche den Schmerz in der Bewegung "wegzudrücken". Was mir bisweilen gelingt, dem fortwährenden Aufflackern der Beschwerden jedoch nicht abhilft.*

*) Tags drauf werde ich im Bereich der unteren Bauchmuskulatur Beschwerden nach Art eines Muskelkaters verspüren. Nachdem mein Sportarzt einst die Frage bejahte, ob man sich auch Bauchmuskeln zerren könne, gehe ich davon aus, dass dort auch eine von Überanstrengung provozierte Erscheinung wie Muskelkater möglich ist. Ich schließe nicht aus, dass das "Grimmen im Unterleib" beim Laufen eine Art Bauchmuskelkrampf gewesen sein könnte. Hervorgerufen durch Überanstrengung und schlechte Elektrolytwerte (Wasser- und Salzmangel).

Keine Ahnung wie es mir gelingt, das im dritten Anlauf "Hochgebirgs-Charakter" aufweisende Auf und Ab im zweiten Wald komplett tippelnd zu bewältigen. Schatten spenden die Bäume ringsumher so gut wie keinen mehr. Das mag verzerrter Wahrnehmung der Realität geschuldet sein, beschwören würde ich es trotzdem. Durst, Bauchgrimmen, abgrundtiefe Erschöpfung - mächtige Feinde, die meinen Willen da und dort beugen, auch mal an steiler Stelle ein kurzes Verweilen erzwingen, mich aber nicht brechen. Schlussendlich lasse ich "Waldgebiet zwei" und damit die verheerendste aller Steigungen hinter mir.

Mein Kopf betätigt sich als Verwalter: Rationiert das restliche Wasser. Mit aller Strenge gegen mich selbst, als läge gar noch ein Stück Wüste zwischen mir und Auto. Bilder aus einschlägigen Filmen irrlichtern durchs Gemüt; von Menschen, halb wahnsinnig vor Durst, die ihrem Vertrocknen entgegen dämmern ... Mein Kopf verwaltet auch verbleibende Steigungen, listet sie nach Art einer Checkliste auf und bewertet den jeweiligen Anspruchsgrad. Sich verselbständigendes, vegetatives, völlig dem Ziel "Ankommen" unterworfenes Denken: Wer eine Checkliste hat, kann sie abarbeiten und aus jedem Setzen eines Häkchens ein bisschen Motivation und Zuversicht gewinnen ... noch sieben Kilometer.

Meine Umgebung nehme ich kaum noch wahr. Längst sank der Kopf auf die Brust, war zu schwer ihn weiter erhoben zu tragen. Blick starr voraus, ein paar Meter vor den Füßen den Weg fixierend. In den Unterschenkel zuckt es dann und wann. Da lauern Krämpfe, die - positiv denken! - mich jedoch erst auf der Heimfahrt martern werden. Ich vertraue der Eigenart meiner Muskulatur nie unter Belastung zu krampfen. Das hebt sie sich für die Zeit danach bei eintretender Entspannung auf. Schleierwolken verdecken mittlerweile die Sonne, Linderung empfinde ich dadurch nicht. Weiß aber im logisch denkenden Teil meines Geistes, um wie viel härter es wäre die finalen Kilometer unter sengender Sonne zu laufen.

Das Seltsame an der Sache: Obschon von Durst gefoltert und todmüde einher schlurfend, stellt sich kein Gefühl von Hitze ein. Auch vorhin nicht, als die Sonne noch ungefiltert vom Himmel brannte. Mir ist angenehm warm, nicht heiß. Und aller Hinfälligkeit zum Trotz genieße ich Wärme und Licht. Ein letztes Mal durchquere ich die schattenfreie Senke vor Rutesheim, ein letztes Mal das Gewerbegebiet. Vor jeder zu überquerenden Straße hofft der Jammerlappen in mir auf Verkehr, der ihm eine sekundenlange Pause gönnte. Wenn nur das Wiederanlaufen nicht wäre, das sich zum qualvollen Prozess entwickelt: "Lauf los!" Was sonst unbewusst geschieht, setzt inzwischen einen gedachten Befehl voraus; den umzusetzen erste langsame, dann schnellere Gehschritte erfordert, bis es mir endlich wieder gelingt tippelnd voranzukommen.

Ein letztes Mal Rutesheim peripher, bald wieder hinaus und hinunter. Vor gemähter Wiese hat ein Bauer mit zwei Gehilfen schweres Geschütz aufgefahren. Großes Treckergespann, parallel dazu ein für diesen Zweck überdimensionierter Ernter, der bereits gehäufelten Grasschnitt über die Bordwand des Anhängers bläst. Im Schritttempo bewegt sich das Duo vorwärts ..., mir entgegen ..., an mir vorbei ... In Lauerstellung die Ablösung, ein weiterer Koloss von Zugmaschine, dahinter ein Ladewagen, wie er mir gewaltiger nie unter die Augen kam ...

An sich völlig belanglose optische Randnotizen, die mich jedoch meine schlimme Verfassung für ein, zwei Minuten vergessen lassen. Eine kurze Spanne, die mich der Erlösung von allem Übel immerhin ein paar hundert Meter näher bringt ... Vorletzter Anstieg, parallel zum Rauschen der Autobahn. Alle paar Meter hebe ich den Kopf, wie um mich der Tatsache zu versichern, dass das Ende der verdammten Rampe tatsächlich näher rückt. Schritt um Schritt. Sobald mein Kopf in seine Ruhelage auf der Brust zurückfällt, rücken dicke, weiße, von ausgeschwitzten Mineralien gezogene Ränder auf Klamotten und Rucksack ins Blickfeld. Sehen kann ich die nur auf trockenen Plünnen! Und trocknen konnten sie nur, weil ich weniger schwitze. Was wiederum bedeutet schlechter hydriert zu sein als ich glaubte. Eine Kausalkette, die mir erst viel später auf der Heimfahrt in den Sinn kommen wird.

Abwärts, über die Autobahn, runter in die Schlucht. Ich befühle die schlaffe Rucksackflasche und schätze: Reicht allenfalls noch für zwei Trinkstopps.* Mit denen ich knausere: Abwärts kein Tropfen! Du wirst warten bis es final aufwärts geht! Noch zwei Kilometer: In der Enge, neben dem Bach halte ich zum vorletzten Mal an, sauge und drücke, schlucke zweimal. Verwehre mir den Rest. Vollziehe das Wiederanlaufritual, ringe um jeden Schritt. Die hübsche, von Blumen bunt gesprenkelte Aue nimmt mich auf ... Mein Gott, wie unberührt mich jetzt diese Bilder lassen. Einzig noch von Belang: Der Rest Wasser in der Softflasche und der Schlusskilometer hoch zum Auto. Letzter Stillstand, letzte Schlucke. Und dann reiße ich mich ein letztes Mal zusammen: Los jetzt! Du wirst traben bis das Auto erreicht ist! Keinesfalls noch mal stehen bleiben!

*) Längst bringe ich nicht mehr genug Willenskraft auf in der Bewegung zu trinken.

Vorbei am kleinen Wasserfall, dessen Rauschen mich magisch aber nicht stark genug anzieht: Lauf weiter, du hast es gleich geschafft! Die Autobahnbrücke wird sichtbar, wächst, wächst weiter, ... langsam, sehr langsam. Drunter durch, die letzten zweihundert Meter ... bin müde, so müde ... und: Durst! Nie im Leben litt ich solchen Durst ... zehn Schritte noch zum Parkplatz, dann endlich stehe ich hinter meinem Auto und stoppe die Uhr: Bei 7:50:39 Stunden bleibt die Anzeige stehen.

Ich entriegele die Autotüren, öffne alle, einschließlich der Heckklappe. Heiße Luft schlägt mir entgegen. Lustlos greife ich zu einer Flasche meines Wasservorrats, trinke zwei, drei Schlucke. Heißes Wasser, wie auf dem Herd erhitzt. Die Salzpastillen kommen mir in den Sinn. Ich nehme zwei in den Mund und zerbeiße sie. Salzgeschmack im Mund halte ich für eine gute Idee. Aber nein, kombiniert mit Durst: Absolut ätzend! Ich setze die Flasche an die Lippen, trinke, spüle den Mund aus, trinke, spüle, trinke ... Von der ersten leisen Wahrnehmung aufkeimenden Unwohlseins, bis zur eruptiven Entleerung meines Magens, vergehen keine 10 Sekunden. Ich kenne diese Form spontaner Übelkeit. Sie überfiel mich auch früher schon, wenn ich mich völlig verausgabt hatte ...

 

Fazit zur Veranstaltung

Die "RuR", die "Runde um Rutesheim", darf sich mit dem Prädikat "abwechslungsreich" schmücken. Das gilt für den Wechsel von Wald und Feld, fürs Auf und Ab im Gelände (ca. 300 Höhenmeter pro Runde), als auch hinsichtlich diverser Aus- und Fernblicke.

"RuR" wurde von Norbert und Birgit Fender, Mitgliedern des 100 Marathon Clubs, als Marathonserie ins Leben gerufen. In der Pandemie-Situation passten sie zunächst den Austragungsmodus an. Einzelstarts im großzügigen Zeitfenster ersetzen den gemeinsamen Aufbruch des Feldes. Als Nachweis eines regelkonform absolvierten Laufes dient die eigene GPS-Aufzeichnung. Es besteht kein Zweifel, dass solches Regelwerk soziale Kontakte, das Sich-Kennenlernen und dessen Vertiefung, nicht zulässt. Letztlich eine Verarmung sportlichen Laufens, weil Miteinander und Wettstreit fehlen. Trotzdem ist diese Form eine Veranstaltung umzusetzen in Zeiten mit untersagter Gruppenbildung ohne Alternative. Denn es gäbe nur die eine andere: Überhaupt keine Wertungsläufe!

Vielen Dank an die Veranstalter, die virtuelles, zeitversetztes Kräftemessen möglich machen. Vielen Dank für die "RuR"!

Fazit: Man wird mich noch öfter auf der Runde um Rutesheim antreffen!

 

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