Marathonserie am Frauenkopf in Stuttgart

Marathon eins,  Dienstag 13. April

Marathon zwei,   Mittwoch 19. Mai

Marathon drei,   Mittwoch 8. Juni

Marathon vier,   Mittwoch 1. Dezember

 

Fazit zur Veranstaltung  


13. April 2021

Sinne und Körperkraft schärfend  -  Frauenkopf Marathon

Einem Freund, der sich lapidar mit "Sonst alles klar?" erkundigte, drahtete ich via WhatsApp: "Ja, schon irgendwie und auch wieder nicht, vor dem Marathon morgen in Stuttgart habe ich Schiss. Fast 1.000 Höhenmeter ..." Mit "Schiss" umschreibe ich starke Bedenken, Furcht, eine mildere Form von Angst. Zu Letzterer heißt es bei Wikipedia:

Angst ist ein Grundgefühl, das sich in als bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert. Auslöser können dabei erwartete Bedrohungen, etwa der körperlichen Unversehrtheit, der Selbstachtung oder des Selbstbildes sein. [...]

Evolutionsgeschichtlich hat die Angst eine wichtige Funktion als ein die Sinne schärfender und Körperkraft aktivierender Schutz- und Überlebensmechanismus, der [...] ein angemessenes Verhalten [...] einleitet.

Zuweilen beklage ich, dass wir Menschen uns als zivilisierte Spezies unserer natürlichen Wurzeln bereits zu weit entäußerten. Als Weichei, das vor winterlichen Wetterkapriolen gerne an die häusliche Heizung flieht, sitze ich durchaus mit in diesem Boot. Dafür scheinen aber meine Urinstinkte noch voll intakt. Auf der Fahrt nach Stuttgart zum Frauenkopf Marathon beherrscht mich "unlustbetonte Erregung". Weil ich die vielen anstehenden (tatsächlich etwa 44) Kilometer in gewisser Weise als "Bedrohung meiner körperlichen Unversehrtheit" empfinde. Und wenn nicht die lange Strecke, dann die dabei zu überwindenden knapp tausend (!) Höhenmeter.

Wenn das in die Hose geht, wird Udos läuferische "Selbstachtung", das "Selbstbild" seiner momentanen, körperlichen Verfassung einen weiteren Knacks bekommen. Und das, nachdem er sich einen knochenharten Trainingsblock (106 Wochenkilometer) zumutete, dem zwei komplette Ruhetage folgten. Nach Udos Ermessen sollte er die bevorstehende Aufgabe mindestens in befriedigender Weise lösen können. Was als "befriedigend" durchgeht, muss naturgemäß offen bleiben. Finale Zufriedenheit hängt von Verlauf und Erleben ab ...

Dass mein Unbehagen seine "evolutionsgeschichtlich wichtige Funktion" erfüllt, steht außer Frage. Mehrfach "schärfte ich meine Sinne", schwor mich auf einen betont zurückhaltenden Beginn ein. Und in meinen Adern kreist der fehlenden Wettkampfsituation zum Trotz genügend Adrenalin, um vorhandene "Körperkraft zu aktivieren". Ein "Schutzmechanismus", der mich vorm physischen wie mentalen Inferno bewahren soll - anders als noch im Schlussdrittel des Naabtal Ultras vor zwei Wochen.

Und nun bin ich hier: Mitten in Stuttgart, stehe auf einem Waldparkplatz am Frauenkopf. "Mitten in der Großstadt" und "Waldparkplatz" in einem Satz zu vereinen scheint widersprüchlich. Für Stuttgart geht das durchaus zusammen. Die Stadt zerfällt in zahlreiche Ansiedlungen, die sich in markante Täler ducken oder über bewaldete Hänge angrenzender Hügel erstrecken. Zwischen den Ortsteilen immer wieder ausgedehnte Forstareale, wie dieses hier am Frauenkopf. Und auf der Herfahrt, vom Auto aus, auf den letzten Kilometern in grüner Au, tatsächlich schon innerhalb der Stadtgrenze und in Sichtweite zu Ansiedlungen, erblickte ich zwei Graureiher bei der Futtersuche. Muße dafür hatte ich, weil die Geschwindigkeitsbeschränkung, 60 km/h auf übersichtlicher, freier Strecke - Begründung: "Luftreinhaltung" - meine Konzentration nur teilweise forderte.

Einen Marathon könnte man in Stuttgart durchaus auch als ländlich geprägte Punkt-zu-Punkt-Strecke veranstalten. Dass und wie das geht, erlebte ich 2017 beim RunMob Rössleweg, einem Ultralauf, der Stuttgart überwiegend in Wald und Feld auf 57 Kilometern umrundet. Das heutige Vorhaben, zumal in pandemischen Zeiten, erlaubt jedoch keine singuläre Rund- oder Start-Ziel-Strecke, schon der nötigen Selbstversorgung wegen. Die übrigen Rahmenbedingungen lauten wie folgt:

Klaus Neumann, Mitglied beim 100 Marathon Club (100 MC), richtet die Laufserie "Frauenkopf" in loser Folge aus. Die üblichen Bedingungen mit gemeinsamem Start, Zeitnahme, usw. werde ich heute nicht erleben. Tatsächlich wurde ich erst durch Pandemie-bedingte, umtriebige Fahndung nach offiziellen Laufmöglichkeiten in relativer Heimatnähe auf diesen Lauf aufmerksam. Man findet ihn nicht in üblichen Marathonkalendern, wie übrigens viele der von rührigen Mitgliedern des 100 MC ausgerichteten Veranstaltungen. Ich fahre hin und stelle mir die drei "A" vor: Ankommen, Aussteigen, Alleinsein - zumal dienstags. Tatsächlich erwarten mich: Ankommen, Aussteigen und Alleinsein. Weit und breit keine "Frauenkopf-Marathon-Läuferseele". Gassigeher, Spaziergänger, Radler - die schon, aber keine Frauenkopf-Läufer. Gut so! Beste Voraussetzungen, um mein nach angemahnter Kontaktreduzierung waches Gewissen zu beruhigen.

Zunächst schalte ich meine GPS-Uhr ein und aktiviere den Track der Strecke. Möchte 99 Prozent gefühlte Sicherheit am richtigen Ort zu sein in 100 Prozent gemessene umwandeln. Passt! Dann schnappe ich mir eine Trinkflasche, um sie irgendwo am Streckenrand hinter einem Baum zu verstecken. Start und Ziel werden von einer Schranke markiert, die die Zufahrt in den Wald abriegelt. Die achtmal zu absolvierende Runde beginnt stückweit dahinter. Wo genau, werde ich gleich sehen. Den Track auf der Uhr abgehend überholt mich ein männliches Laufduo. Meine Frage ist eigentlich überflüssig: "Lauft ihr auch den Frauenkopf Marathon?" Außer dem erwarteten "Ja!" erhalte ich gleich noch eine Einweisung in die ausgebrachten Markierungen: Rosa Sprühkreidepfeile wechseln sich mit kleinen, auf festen Flächen aufgeklebten ab. Da und dort wird rosa Flatterband von wegnahen Zweigen aus wegweisen. Ich bedanke mich für die Erklärung und deponiere meine Trinkflasche hinter einem Stoß aufgeschichteter, bemooster Baumstämme (Totholz?).

Zurück am Auto schließe ich meine Startvorbereitungen ab und schon geht's los. Zum ersten Mal in meinem Läuferleben starte ich mutterseelenalleine zu einem Marathon. Kein Offizieller und auch kein anderer Läufer in Sichtweite, überwacht allein von meiner GPS-Uhr. Letzteres ist aus meiner Sicht nicht unkritisch, womit ich nicht auf mögliche Betrügereien anspiele. Als potenzieller Finisher unter "ferner liefen" interessiert mich nicht die Bohne, ob sich jemand seinen Eintrag in der Einlaufliste erschleicht. Bedeutung hat für mich einzig mein eigener Lauf und - wenn anwesend - natürlich auch der von Freunden und Bekannten. Platzierungen interessieren mich schon lange nicht mehr. Und falls doch, dann nur, um im Vergleich mit anderen meine Leistung besser einzustufen zu können. Möglicher Betrug, von wem, an wem auch immer, ist mir nicht nur heute weitgehend einerlei. Mein Argwohn richtet sich gegen mich selbst und die Gefahr versehentlicher Fehlbedienungen der Zeugin am Handgelenk. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich den Stopp-Knopf erwischte, obwohl ich nur in eine andere Darstellung wechseln wollte. Also nehme ich mir vor mich auf absolut notwendige Bedienvorgänge zu beschränken und dabei jeweils hochkonzentriert vorzugehen!

Den ersten Umlauf beginne ich mit der Track-Darstellung auf dem "Zifferblatt", die ich mindestens bis Runde zwei nicht ändern werde. Sehr verhaltener "Aufgalopp", vorbei am Holzstoß mit meiner Flasche, auf festem, breitem, trockenem, zunächst minimal abschüssigem, weitgehend planem Waldweg. Wie immer lösen sich alle Bedenken mit den ersten Schritten in nichts auf. Trotzdem ermahne ich mich noch einmal: Defensiv laufen, Tempo niedrig halten, Energie sparen! So war es geplant und nun setze ich es genauso um.

Ein Kilometer fast schnurgeradeaus im Hochwald, in der Mehrzahl aus Laubbäumen, vermutlich Buchen bestehend, die ihre noch kahlen Kronen in den weiß-blauen Stuttgarter Himmel recken. Einige junge Bäume konnten bodennah und im Windschutz der Großen bereits frisches Grün austreiben. Außer auf der Uhr trage ich ein Bild des Rundkurses im fotografischen Gedächtnis bei mir, bin folglich nicht überrascht alsbald eine weite Rechtskurve auszulaufen. Rechts rum und leicht bergan, hinter einer rasch erstürmten Kuppe kurzzeitig bergab. Eine weitere Schranke setzt dem Waldweg ein vorläufiges Ende. Der Weg entlässt mich auf eine Wohnstraße im Stadtteil Stuttgart-Frauenkopf, auf deren Trottoir ich weiteres Terrain gewinne. Wieder bergan setze ich kleine, derzeit noch beschwingte Schritte. Wäre sie nicht achtmal zu überwinden und wüsste ich nicht, dass sie mir mit jedem Mal steiler vorkommen wird, ich käme nicht umhin diese Steigung als "nicht der Rede wert" zu qualifizieren. Zumal die Straße schon 200 Meter weiter flacher wird.

Ohnehin achte ich mehr darauf Hindernissen auszuweichen, die mich mehrmals vom Bürgersteig auf die Fahrbahn zwingen. Handwerker etwa, die gerade ihren Kastenwagen entladen oder eine Baustelle mit Kran, die Trottoir und Parkstreifen in ganzer Breite blockiert. Vorbei an einer Bushaltestelle zu einer an Passanten armen Tageszeit: Ca. 13 Uhr, früher Nachmittag. - Von der Pandemie weiß ich wenig Gutes zu berichten. Das mehrere Stunden breite Startfenster des Frauenkopf Marathons gehört definitiv dazu. Ich durfte ausschlafen, in Ruhe frühstücken und ohne Termindruck herfahren. - Weiter dem Bürgersteig folgend, auf einen Kreisverkehr zu, in dessen Höhe ich nach etwa 800 Metern Asphalt rechts abbiege. Kurz darauf folge ich einer 90°-Rechtskurve in eine weitere Wohnstraße, weiter sanft hinan.

Zuletzt, nach 300 Metern, ein paar fordernde Schritte steiler bergauf, dann verlasse ich das Wohngebiet und laufe am Waldrand weiter. Genau genommen im Waldrand, auf einem Pfad für Fußgänger. Weist der Pfad nun Steigung auf oder nicht? Auf noch ausgeruhten Beinen bin ich fast geneigt, die minimale Neigung zu leugnen. Brauche ich aber nicht, denn nach nicht mal einer Minute verschluckt mich der Forst zur Gänze und spätestens ab hier sind unzweifelhaft wieder Höhenmeter zu überwinden. Wenige aber nur, nichts, was mich mit Blick auf bevorstehende sieben Wiederholungen beunruhigen müsste. Begegnungen: Mann mit zwei Hunden, ein paar Meter weiter, Frau, ebenfalls mit vierbeiniger Doppeleskorte.

Wie es scheint bin ich "on top of the hill" angekommen. Der jetzt flache Pfad weiß davon zu berichten, aber auch ein durch die Bäume bereits erkennbarer, hoch aufragender Fernmeldeturm. Errichtet man Antennentürme nicht immer am höchsten Punkt einer Erhebung? - Im großzügigen Halbkreis umrunde ich das von einem Zaun umgebene Turmareal. Eine Schar Kinder tobt mir entgegen. Die beiden betreuenden (Tages-?) Mütter verschaffen mir zwar mit Worten eine Gasse, zur Sicherheit nehme ich jedoch Tempo raus, tippele achtsam vorbei. Halbkreis Ende, ich betrete die asphaltierte Zufahrtsstraße der Funkanlage und gebe rasch Höhe auf. Bevor sich meine Beine an die ungewohnte Bremslast gewöhnen können, ist die Schussfahrt auch schon wieder zu Ende. Pfeil auf dem Boden und Pfeil auf meiner Uhr weisen übereinstimmend im spitzen Winkel nach rechts und aufwärts.

Ich bleibe im Wald, habe wieder fest geschotterten Boden unter den Füßen und erobere ein paar Höhenmeter zurück. Wieder keine Steigung, die sich in der vorletzten oder letzten Runde zur Eiger Nordwand auftürmen wird. Knapp tausend Höhenmeter auf Marathonlänge hört sich durchaus beeindruckend an. Auf acht Runden und einzelne Abschnitte umgelegt, scheinen jedoch keine Furcht einflößenden Anstiege den Weg zu verlegen!? ‚Abwarten! Wer weiß, was da noch kommt?' mahnt der innere Bedenkenträger, während ich auf brettharter, leicht abschüssiger Piste gemächlich, Ressourcen schonend einher trabe. Etwa einen Kilometer vor Rundenschluss kann aber nicht mehr viel kommen. Kaum zu Ende gedacht, schicken mich Track und Wegweisung nach rechts in einen schmalen Trampelpfad und aufwärts. Auf rauerem Geläuf in bislang forderndster Steigung zwinge ich mich zu kürzeren Schritten. Doch auch dieser, wenige hundert Meter lange Abschnitt treibt mir keine Sorgenfalten auf die Stirn. Auch ihn werde ich weitere siebenmal laufend bewältigen. Fest steht aber nun, dass ich gut daran tat recht defensiv zu beginnen.

"!Links" - Der Hinweis samt vorangestelltem Ausrufezeichen steht mit ellbogengroßen Lettern rosa auf metallischem Grund. Bitter nötig für jeden, der die Strecke nicht kennt, dem auch kein Track auf der Uhr den eher unscheinbaren Abzweig zeigt. "Logischer" wäre die Richtung beizubehalten, verführerisch geradeaus ... Nun denn: scharf links und noch schärfer bergab. Fragte man sich bisweilen, ob in Gegenrichtung zu joggen nicht die "hübschere" Variante wäre, die verbleibenden bald 300 Meter, granatensteil hinab, zerstreuen jeden Zweifel. Meine Knie verfluchen diesen Abschnitt schon jetzt ... Noch sind es nur die Knie, mit jeder Runde werden andere Körperteile einstimmen, sich zum unisono lärmenden Chor vereinen. Steil hinab fühlt sich zwar hässlich an, in umgekehrter Richtung, bergauf, wäre diese Rampe allerdings keine achtmal laufend zu bezwingen.

Unten und Ende von Runde eins, weiter mit Runde zwei, noch ein paar Schritte zur Trinkflasche hinterm Baumstammversteck. Widerwillig, ausschließlich der Vernunft gehorchend, trinke ich ein paar Schlucke. Vorhin, auf dem Trottoir der Wohnstraße, in Sonne badend, perlten ein paar Schweißtropfen. Zwischen Bäumen in meist eisigem Luftzug machten die Poren jedoch rasch wieder dicht. Ob das nochmal was wird mit dem Frühling dieses Jahr? Ich tippe eher auf ein Umkippen des Wetters binnen weniger Tage von kaltem Spätwinter auf heißen Frühsommer - irgendwann aber nicht so bald.

Trotz Kälte erfreue ich mich heute einer stabil guten Laune. Dass mir auf Runde eins keine Stimmungskiller in Form herber Anstiege oder schlechtem Geläuf auflauerten tut ein Übriges. Lange Gerade im Wald, Schlussrechtskurve mit etwas Steigung und hinab auf die lange Gerade durchs Wohngebiet. Hindernissen ausweichen und auf die Bushaltestelle "Eselweg" zu. Wie vorhin im ersten Umlauf kann ich mich eines Schmunzelns nicht erwehren. Wird nicht zwangs-"läufig" zum Esel, wer sich vorgenommen hat diesen Schriftzug volle achtmal binnen weniger Stunden zu lesen?

Wohnstraße hin, abbiegen am Kreisverkehr, zweite Wohnstraße her. Drei ältere Anwesen rechter Hand werden umgebaut oder renoviert. Auch hier Baufahrzeuge und Handwerker, vor denen ich auf die Fahrbahn ausweiche. Einer ist gerade auf der Ladefläche eines Kleinlastwagens beschäftigt. Ich jogge vorbei, dann holt mich seine Stimme ein: "Wie viel hast du schon, wie weit musst du noch?" Als "Wettkämpfer" erkannt und mit Interesse an meinem/unserem Tun bedacht zu werden, hatte ich mangels Startnummer und nur wenigen, über den Tag verteilten Startern nicht gerechnet. Erst etwa acht Kilometer geschafft, weitere 36 liegen vor mir, gebe ich wahrheitsgemäß zu Protokoll und handele mir dafür ein "Alles Gute und viel Spaß!" ein. Vermutlich bin ich an diesem Tage nicht der Erste, der an ihm vorbeischnauft. Und irgendwem wird seine Neugier entlockt haben, was wir hier treiben.

Am Ende der Wohnstraße, noch im finalen Steilstück, gewährt der Rundkurs über die Dächer der darunter liegenden Anwesen hinweg Fernsicht. Höhenzüge und Täler unter blauem, mit weißen Wattebäuschen dekoriertem Himmel. Durchaus reizvoll. Solche Bilder sind immer geeignet mir die nächsten Schritte zu erleichtern. Schritte, die mir gegenwärtig noch immer keine Mühe machen. Offenbar war meine Trainingstaktik - hartes "Kilometerschrubben" gefolgt von zwei Ruhetagen - nicht so verkehrt. Zurück in den Wald, am Fernmeldespargel vorbei, die Zufahrtsstraße hinab und wieder auf die letzten, etwa anderthalb Kilometer. Schmaler Trail aufwärts, stückweit voraus eine Läuferin. Im steilen Schlussabhang überhole ich sie und frage frohgemut: "Läufst du auch den Frauenkopf Marathon?" Da ich es ausspreche schrecke ich schon ein wenig vor dem plump vertraulichen "du" zurück. Träfe ich irgendwo in weiter Flur auf eine Läuferin, ich wahrte auch sprachlich Distanz. In derselben Richtung laufend und dem Anschein nach bin ich jedoch sicher, dass meine Frage mit einem "Ja!" beantwortet werden wird. Als es zu meiner Beruhigung geschieht, füge ich meiner Rede ein mehr erleichtertes als frohgemutes "Na, dann bin ich ja wenigstens nicht alleine hier unterwegs!" hinzu. Ein im Grunde sinnentleerter Spruch, weil ich schon vorm Start auf zwei Läufer traf.

Runde 3 beginnt mit neuerlichem Trinken aus meiner Flasche im Totholz-Versteck. Inzwischen bin ich sicher, dass die aufgeschichteten Baumstämme nicht "vergessen", sondern von der Forstverwaltung zur Förderung der Bio-Diversität von Insekten und Vögeln bewusst hier deponiert wurden. Mehrfach seitlich der Wege liegen gelassene und vor sich hin modernde Baumreste bestärkten mich in dieser Annahme. Und zumindest Piepmätzen gewährt dieser Wald zu Hauf Unterschlupf, wovon das vielstimmige Konzert mancherorts Zeugnis ablegt. Auch Spechten hörte ich schon bei der Arbeit zu und erschreckte vor ein paar Minuten ein auf brusthohem Zweig zwischengelandetes Rotkehlchen.

Zum dritten Mal im Wohngebiet und das in persönlichem Tagesallzeithoch. Meine Stimmung entwickelt sich wie zuletzt der DAX. Der wird irgendwann, aus unvorhersehbaren Gründen, für die Kommentatoren nachträglich (!) immer eine absolut schlüssige Erklärung finden, abstürzen. Meine Laune hoffentlich nicht. Wieder vorbei am Kleinlastwagen, auf dem nun zwei Handwerker zugange sind. Vorbei und neuerlich per Zuruf von derselben Stimme aufgehalten: "Letzte Runde, oder?" - Entweder erkennt er mich nicht oder hat meine Angabe vor Rundenfrist wieder vergessen. "Nein, erst Runde drei und acht sind zu laufen!" Die Reaktion fällt zweistimmig aus. Der eine wiederholt sein "Viel Spaß noch!", während der andere ein Aufstöhnen hören lässt: "Oh je!" - Ich bedanke mich und trabe wieder an, das "Oh-je!" überdenkend. Äußerung eines "lauf-fernen" Zeitgenossen? Habe ich nicht häufiger erlebt, dass Nichtläufer auf Distanzen wie Marathon oder Ultra mit einem subjektiven "unmöglich" reagierten?

Runde vier: Am Beginn der Wohnstraße überhole ich einen gehenden Mitläufer, der meinen Gruß nur noch mit schwacher Stimme erwidert. So abgehalftert wie er wirkt, hoffe ich für ihn es möge seine letzte Runde sein. Vorbei und voran, rein in Wohnstraße zwei. Der Kleinlastwagen ist verschwunden und mit ihm die beiden Handwerker - mutmaßlich Dachdecker, wenn mich der Blick auf das mit Biberschwänzen frisch eingedeckte Dach nicht trügt. Nunmehr fehlende Ansprache ist aber nicht ursächlich für mein Frösteln. Das geht vom Himmel aus, an dem sich eine gigantische, fett-dunkle Wolke vor die Sonne schob. Und von meiner Leichtfertigkeit, die mich vorzeiten die Handschuhe in den Jackentaschen versenken ließ. Als einzige Gegenmaßnahme schließe ich die Jacke wieder bis zum Halsausschnitt. Die Handschuhe rauszukramen bin ich einfach zu faul. Wird sich wohl bald wieder verziehen das doofe Gewölk!

Halbe Strecke und zum ersten Mal seit 2:32 Stunden blicke ich mit Interesse auf meine Uhr. Der erste Impuls enthält Enttäuschung: Ich werde den Marathon also nicht unter fünf Stunden finishen können. Nachdenken relativiert allerdings diese Empfindung, verdünnt den Frust binnen Sekunden bis unter die Wahrnehmungsgrenze. Der "Marathon" hat Überlänge. Gesetzt den Fall ich bliebe knapp über fünf Stunden, entspräche das auf Marathonlänge bezogen immer noch einer Zeit mit einer "4" an erster Stelle. Außerdem sind fast tausend Höhenmeter kein Pappenstiel, dafür dürfte ich im Vergleich zu einem Marathon "flach" noch einmal etliche Minuten in Abzug bringen. So gesehen sollte ich mich eher wundern für die erste Hälfte nur zweieinhalb Stunden plus zwei Minuten verbraucht zu haben!

Guten Mutes, obschon barbarisch an den Händen frierend, beginne ich Runde fünf. Würde mich jemand fragen, wieso ich es stoisch hinnehme an den Händen zu frieren, obwohl doch wärmende Fleecehandschuhe auf ihren Einsatz warten, was würde ich dem antworten? - Ist es Faulheit, ist es Trotz oder beides? Oder einfach nur die Hoffnung auf alsbald wieder wärmenden Sonnenschein?

Vielleicht bin ich auch zu sehr mit den rasch wachsenden Beschwerden im Bereich der Gesäßmuskulatur beschäftigt. Oder genauer gesagt mit der Einordnung derselben. Da ich muskulär nach nun 25 Kilometern noch keine Ermüdung spüre, muss das stete Auf und Ab als Erklärung herhalten. Vorteil: Ich darf weiter hoffen energetisch heute weitgehend ungeschoren davonzukommen. Klingt nicht bedeutungsvoll, wäre mir aber ungemein wichtig nach zwei Nackenschlägen im Naabtal und im Schwarzwald, wo ich mir im jeweiligen Schlussdrittel wie der letzte Laufzombie vorkam.

Runde 6: Nicht mehr frisch aber auch nicht wirklich müde. Es zieht vernehmlich im Gebein, scheint sich aber auf erträglichem Niveau zu stabilisieren. Längst gibt die Sonne wieder minutenlange Gastspiele, vermag meine tiefgefrorenen Hände dennoch nicht aufzutauen. Irgendwann habe ich genug und streife die Handschuhe wieder über. Was für ein tolles Gefühl! Warum erst jetzt? Frage ich mich selbst. Einer der Momente, da ich mir selbst einen Vogel zeige (was ich gegenüber Mitmenschen tunlichst unterlasse, obschon die Anlässe diese Geste einzusetzen sich dieser Tage, Wochen, Monate häufen).

Runde 7: Alle Anstiege haben an Steilheit zugelegt. Die Beine ermüden zusehends, was ich meinen Stelzen jedoch nach mehr als 34 Kilometern zugestehe. Es bleibt noch genug "Power", um nachher auch die achte Runde mit Anstand zu überstehen. So viel wage ich Kraft meiner vielen Erfahrung mit Marathonstrecken und meinem Körper vorherzusagen. Jeder abgehakte Abschnitt vergrößert inzwischen meinen Vorrat an Optimismus. Ganz bewusst rede ich mit mir: Zum vorletzten mal dies, zum vorletzten mal jenes ... oder: jetzt nur noch einmal hier rauf oder hier abbiegen ... Kleine mentale Tricks, die mir niemand beibrachte, von denen ich auch nirgendwo las, die sich über die Jahre von selbst einstellten. Nicht jedes Mantra lässt sich universell anwenden. Das gerade genutzte setzt eine gewisse Anzahl von Umläufen voraus.

Wieder in den Wohnstraßen. Keine ärmliche Gegend übrigens. Wer hier wohnt, wohnt einigermaßen privilegiert, im Grünen und gut mit Frischluft versorgt, obwohl die City nur ein paar Bushaltestellen weit entfernt ist. Grundstücks- und Mietpreise im Stadtteil Stuttgart-Frauenkopf taxiere ich lieber nicht. Die hüben wie drüben parkenden Karossen unterstreichen die finanzielle Potenz der Anwohner. In der Mehrzahl ziert sie ein Stern, doch auch Exemplare anderer Nobelmarken fehlen nicht, ebenso wenig wie 6-Zylinder-Limousinen oder die beliebten SUV in Möbelwagengröße. Bei den Menschen hier handelt es sich übrigens um dieselben Leute, die vor wenigen Wochen den grünen BaWü-Landesvater wiederwählten. Der neue Trend: Grün wählen und die dicke Hose anbehalten. Und damit mir keiner mangelnden Sinn für Umweltschutz und Nachhaltigkeit nachsagen kann, kaufe ich mir gleich einen neuen Boliden. Einen dessen "End-E" auf dem Kfz-Kennzeichen meine reine Gesinnung bezeugt. Eine erstaunlich hohe Quote solcher Fahrzeuge steht hier am Straßenrand, allesamt Edelkarossen, sündhaft teuer. Wie kann das sein? Ganz einfach meint der Neider in mir: Mit entsprechender finanzieller Potenz gesegnet ist dir egal, dass du für das "E" zig tausend Euro zusätzlich überweisen musst. Und Schwaben sind sparsame Zeitgenossen: Wenn schon "E", dann jetzt, so lange es noch einen fetten Bonus vom Staat dafür gibt (Den gibt's doch noch, oder?).

Schlussrunde: Gefühlt wurde ich nicht langsamer, zumindest nicht erheblich. Den Blick zur Uhr vermeide ich trotzdem. Das wird dann wohl mein erster Marathon werden, bei dem ich sparsame zweimal auf die Uhr schaute: Zur Hälfte und beim Finish ... Bei jedem Buckel spüre ich in mich rein: Ja, ist anstrengend, aber nicht die Hölle, die ich mir mit mehr Tempo hätte bereiten können. Und das, obwohl ich heute auf Gel komplett verzichtete. Nur Wasser, keine Kalorien. Zwei Gelpäckchen in meinen Taschen dienten als Notfallreserve. Aber Not fühlt sich anders an. Meine Gräten sprechen von "es reicht jetzt eigentlich", beschimpfen mich aber nicht. Zu keinem Zeitpunkt spüre ich ein Limit. Was auch bedeutet, dass ich ein bisschen mehr von mir hätte fordern können. Doch, wozu hätte ich das tun sollen? Der Lauf ist nicht mehr als ein Schritt auf meinem Weg zu einer besseren Form in diesem verflixten Pandemiejahr 2021. Und ich brauche ihn überdies zur Bestätigung, dass es ein echter Schritt voran war. Um diese Gewissheit hätte ich mich betrogen, zielte ich mit etwas mehr Tempo auf sinnlose Minder-Minuten.

Ich verabschiede mich von der Strecke. Wo ich vorhin "zum vorletzten Mal" dachte, lasse ich jetzt das "vor" weg. Es geht mir gut, auch wenn mein Bewegungsapparat schmerzhafte Signale versendet. Darf er! Dafür erspart er mit das demütigende Gefühl völliger Erschöpfung wie zuletzt im Naabtal. Bevor die Neugier mich umbringt, schiele ich dann doch mal auf die Uhr und finde mein Laufgefühl bestätigt. Ein paar Minuten mehr als für Hälfte eins werde ich brauchen, das liegt im Rahmen. Letzter Anstieg auf trailigem Pfad. Ganz bewusst mehr Tempo jetzt, um mir zu beweisen, dass das noch geht. Schnellere Atmung, dickere Waden und Oberschenkel, aber kein Einbruch. Und dann der Schluss: Mit jaulenden Gelenken steil bergab, diesmal nicht scharf rechts, sondern nach links zur Schranke vorm Parkplatz. Nach 5:08:51 Stunden stoppe ich meine Uhr.

 


 

 

zurück zum Anfang

19. Mai 2021

Spiel im Spiel  -  Frauenkopf Marathon, Lauf zwei

Hinweis: Eine genauere Darstellung der 5,5 km langen Runde am Frauenkopf und zum Regelwerk der Marathonserie in Zeiten der Pandemie findest du im ersten Laufbericht vom 13. April.

Keine Minute auf der Laufuhr und es beginnt zu tröpfeln. Der Himmel bricht sein vorhin bei der Herfahrt gegebenes Versprechen mein Laufvorhaben bis auf weiteres nicht zu stören. Während mein Kopf noch verharmlosende Formeln wie "Ein bisschen Tröpfeln macht noch keinen Regen" oder "Nur eine einzelne fette Wolke am Himmel, der Spuk ist gleich vorbei" produziert, verstärkt sich das tropfnasse Bombardement. Resignierend greife ich schließlich zur Schildkappe, die ich mir sicherheitshalber in den Hosenbund steckte. Eine rituelle Handlung, von der ich hoffte sie bewirke das Ausbleiben von Regen - wie so oft, wenn ich die Kappe vorsorglich dabei hatte.

Geht's hässlicher? Es geht: Der spärlich feuchte Schleier wird übergangslos zum Graupelschauer. Feiner Graupel, nichts Furchterregendes. Und während ich noch relativiere "Graupel ist besser als Regen, der perlt an mir ab!" hallt ein gewaltiger Donnerschlag durch den Wald am Frauenkopf, in den ich mittlerweile eintauchte. Fortan ist's Essig mit Hoffen, mit Verharmlosen und Relativieren, es beginnt ergiebig zu regnen.

Die Enttäuschung ist rasch verwunden, da nicht wirklich vorhanden. Der Realist in mir wusste: Nicht, ob ich heute nass werden würde war angesichts seit Wochen wechselhafter Witterung die Frage, lediglich wann. Grollender Donner und Udo zwischen Buchen unterwegs: Besteht Gefahr für Leib und Leben? - Ein flüchtiger und törichter Gedanke. Einer für ängstliche Gemüter. Nur exponiert im Gebirge unterwegs ginge mir jetzt der - pardon - "Arsch auf Grundeis". Aber mitten im Stuttgarter Stadtwald, anlässlich eines aus vier Donnerschlägen bestehenden Mini-Gewitterchens, ist die Wahrscheinlichkeit höher vom Wolf gefressen als vom Blitz erschlagen zu werden.

Der Fernmeldeturm auf dem Frauenkopfgipfel kommt in Sicht. Wie es aussieht, werde ich auf dieser ersten von acht Runden kein attraktives Turmfoto schießen können. Und richtig: Die mit Antennen gespickte Spitze des Betonspargels bohrt ein Loch ins einheitlich graue Gewölk. Im Halbkreis um den Zaun der Funkanlage herum, anschließend auf der asphaltierten Zufahrt bergab. Ein paar hundert Meter, dann im spitzen Winkel nach rechts und wieder aufwärts. Meine Armlinge sind bereits durchweicht, die dünne Schicht aus Unterhemd und Trikot wird dem Regen auch nicht mehr lange standhalten. Nässe an sich stört mich nicht. Nur beginne ich schon jetzt auszukühlen, was sich zuerst an den Händen bemerkbar macht.

Keine Panik, nach längstens drei Kilometern winkt ein Rendezvous mit meinem an der Straße geparkten Auto. Dort kann ich mich bei Bedarf mit Wärmendem versorgen, von Mütze, über Handschuhe, trockenem Oberteil und langer Hose, bis hin zur Regenjacke. Drei von etwa 5,5 Kilometern der Auftaktrunde bleiben noch, um den tatsächlichen "Materialbedarf" abzuschätzen. Vom breiten, inzwischen abschüssigen Waldweg biege ich nach rechts aufwärts auf einen schmalen Pfad ab. Vor Nässe triefende Zweige hängen in den Laufweg. Ich versuche ihnen so gut es geht auszuweichen, um nicht noch mehr Wasser abzubekommen. Nirgendwo wird die grüne Verwandlung des Waldes offenkundiger, als auf dieser kurzen, hügelan führenden "Trailpassage". Vor fünf Wochen, Anfang April, dämmerte der Frauenkopf noch im Spätwinter dahin. Graubraun zwischen kahlen Bäumen war die vorherrschende Farbe. Und nun begleitet ein frisches, dichtes Blattkleid - auf dem Pfad hier sogar hautnah - jeden meiner Schritte.

Fünf Wochen wollte ich eigentlich nicht warten, um eine Attacke gegen meine damalige, sehr bescheidene Laufzeit zu "reiten". Den vor zwei Wochen fest eingeplanten Start musste ich jedoch kurzfristig absagen. Grund: Mein Immunsystem war mit der zwei Tage zuvor erhaltenen Corona-Erstimpfung beschäftigt und der übrige Körper mit Nebenwirkungen. Ich fühlte mich nicht wirklich krank aber in ziemlicher "Unordnung", drastisch unwohl.

Es folgt der grässlichste Abschnitt der Runde, steil abschüssig etwa 300 Meter hinab. Derzeit, in noch frischem Muskelkorsett, gut auszuhalten. Trotzdem schrillen die Alarmglocken, denn heute ist die Schussfahrt nass und möglicherweise schlüpfrig. Zum Glück weist der Weg - ungefähr mittig - eine fast blanke, griffige Schotterspur auf. Ob von Regenwasser freigespült oder Fahrradreifen blank gescheuert, vermag ich nicht einzuschätzen.

Alles geht gut, doch im unteren Teil des Hanges bimmelt ein weiteres Alarmglöckchen: Den Abstecher zur Schranke nicht verpassen! Hintergrund: In normalen, nicht-Covid-19-verseuchten Zeiten mit gemeinsamem Startzeremoniell, beginnt der Wettkampf an der Schranke hinterm Wandererparkplatz und endet auch dort. Derzeit genießen die Teilnehmer jedoch hinsichtlich Startzeitpunkt und -ort volle künstlerische Freiheit. Mit Kunst hab' ich's nicht so, dafür mit Taktik: Also parkte ich mein Auto am Streckenrand, in einer von zwei Wohnstraßen im Stuttgarter Stadteil Frauenkopf. Ich absolviere die etwa 50 Extrameter zur Schranke und wieder zurück und voilà: Wegepflicht erfüllt.

50 Meter fordernd bergan, dann nach links auf die lange Waldgerade. Alsbald vorbei an jenen Totholzstämmen, hinter denen ich seinerzeit meine Trinkflasche verbarg. Das Frühjahr ist zwar noch immer nass und kalt, dennoch würde nur eine Flasche heute kaum reichen. Der Regen wurde unterdessen schwächer. Vielleicht lässt sich zusätzliches "Vermummen" - noch zwei Kilometer bis zum Auto - schlussendlich vermeiden. Der Gedanke am 19. Mai Mütze und Handschuhe überstreifen zu müssen hat schon was bizarr Abstoßendes.

Unfein platschen die Schuhsohlen übers gottlob ziemlich feste Geläuf des Spazierweges. Ich will gar nicht wissen, ob und wie Dauerregen den Wegen zusetzen und mir die Wadenregion einsauen würde. Doch dazu wird es nicht kommen. Jedenfalls noch nicht, verbliebenes Getröpfel fällt nicht länger vom Himmel, es perlt von Blättern.

500 Meter Straße gen Westen, dann abbiegen und weitere 300 Meter in die entgegengesetzte Richtung. Dabei sind einige Höhenmeter zu überwinden, vor allem zu Beginn der Straßenpassage, beim Richtungswechsel und zum Ende hin, bevor man wieder im Waldrand abtaucht. Naturgemäß spüre ich zu diesem frühen Zeitpunkt wenig von der Steigung, bin aber sicher, dass sich das schon etwa zur Hälfte der Distanz ändern wird. Jetzt auf dem Bürgersteig, kurz vor Ende der ersten Runde meinem Auto zustrebend, fühle ich mich mindestens in "Normalform", eher besser drauf. Dennoch wage ich noch keine Prognose wie mir der Marathon heute "vom Fuß gehen" wird.

Nach Trinkstopp und ein paar Schritten "back on the road" werde ich überholt: Hoch aufgeschossener Man im weißen Trikot. Ein halbes Déjà-vu: Derselbe Mann wie vor drei Wochen, nur die Strecke ist eine andere. Sein Gesicht ist mir von mehrmaligen Begegnungen geläufig und meiner Altersklasse zuzurechnen. Kenne zwar seinen Namen nicht, anerkenne jedoch seine läuferische Überlegenheit. Zumindest auf der Marathonstrecke, wie das auf noch längeren Kanten wäre, gälte es herauszufinden. Kurzes gegenseitiges Runden-Up-Dating, dann zieht er davon, gemächlich zwar, aber unaufhaltsam. Warum ist das so? Endlich mal eine Frage rund um "Laufleistungen", die ich schlüssig beantworten kann: Weil in meinem Training Anteile zur Steigerung der Grundschnelligkeit - Tempoarbeit! - kaum vorkommen. Sie sind mir erstens lästig und zweitens kaum noch zu erbringen, seit ich wieder Marathons und kurze Ultras pflücke wie Kinder Gänseblümchen.

Da und dort schieße ich ein paar Fotos, um den vorhandenen Frauenkopf-Bildfundus zu ergänzen. Nach der nächsten Runde werde ich die Kamera im Auto deponieren: Marscherleichterung. Zurück im Wald, genauer gesagt im Waldrand, 200 fast flache Meter, dann wieder Steigung. Nächstes Ziel: Fernmeldeturm. Die Runden gehen mir bislang flotter vom Fuß als vor fünf Wochen, daran zweifle ich inzwischen nicht mehr. Voraus, noch vor Erreichen des Turms, bleibt der Blick an zwei Rücken hängen - schwarz und weiß. Der Mann im weißen Trikot überholte mich vor ein paar Minuten. Offenbar zog ihn der Schwarzgekleidete in ein Gespräch. Rasch verkürze ich die Distanz und jogge fröhlich grüßend an den beiden vorbei ... "Der Udo!" ruft der Schwarze mir hinterher, um dann noch ein überaus wärmendes Kompliment zu meinen Laufberichten nachzulegen. Anscheinend habe ich gerade einen treuen Leser meiner Berichte überholt. Hocherfreut bedanke ich mich mit Wort und Geste, ohne allerdings mein Tempo zu mäßigen.

In aller Regel trage ich mein Herz nicht auf der Zunge. Erst recht nicht, wenn ich laufe. Soll heißen: Laufen und Reden gehen für mich nicht zusammen. Das liegt in meinem Naturell begründet, letztlich aber auch am Maß der Beanspruchung, dem ich mich bei jedem Lauf unterziehe. Und zwar von Beginn an. Um Schnappatmung bei Zwiegesprächen zu vermeiden, müsste ich mein Tempo drastisch reduzieren. Das widerspricht jedoch den sportlichen Belangen, die unterwegs für mich stets in den Vordergrund rücken. Deshalb wirke ich auf viele vermutlich verschlossen, unzugänglich, abweisend. Um diesem Eindruck vorzubeugen befleißige ich mich ausgesuchter Freundlichkeit, wenn mir Mitläufer begegnen - zumal wenn sie so rar sind wie heute. Allerdings - das wird sich noch zeigen - scheint der Redebedarf bei Einzelnen so übermächtig, dass ein lächelnd überbrachter Gruß nicht reicht.

Das Lob des schwarz Gekleideten, den ich nur dem Gesicht aber nicht dem Namen nach kenne, reduziert für ein paar Minuten die Schwerkraft in der Frauenkopf-Region. Insbesondere den schmalen, durchaus fordernd ansteigenden Pfad bewältige ich mit unerwarteter Leichtigkeit. Okay, das Mentale hilft, aber möglich ist flottes Laufen nur auf guter physischer Grundlage. Für den Skeptiker in mir stelle ich deshalb noch einmal offiziell fest: Offenkundig habe ich heute einen meiner besseren Tage erwischt! Sause die Schussfahrt hinab, lasse es dabei jedoch an Achtsamkeit nicht fehlen. Lange Gerade, gut ein Kilometer, an deren Ende in die Rechtskurve und minimal hinan. Nun noch ein paar hundert Meter Wohnstraße - unter inzwischen wieder weiß-blauem Himmel! - und einen Haken hinter Runde zwei setzen.

Den Trinkstopp am Auto erledige ich binnen einer halben Minute. Beim Aufbruch ein erwartungsvoller Blick zur Uhr: 1:11:xx Stunden für zwei von acht Runden. Hochgerechnet scheint eine Endzeit unter 4:50 Stunden nicht ausgeschlossen. Ich fasse diesen Gedanken tatsächlich mit ebendieser Vorsicht und Zurückhaltung: Nicht ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen immerhin auch, dass ich meine Kräfte von Anfang an überschätzte und man mir zum Ende hin das Licht ausknipst ...

Dennoch verleiht die Aussicht auf eine gute Zeit meinem Trab weiteren Schwung. Ich arbeite die zweite Wohnstraße ab, zuletzt etwa 30 Meter fordernd steil. Dann hat der Wald mich wieder, Atmung und Blutpumpe beruhigen sich rasch. Die einzelnen Abschnitte einer Runde kommen mir heute kürzer vor als beim ersten Mal. Das liegt sicher nicht an den paar Sekunden, die auf den Kilometer gerechnet damals mehr aufzuwenden waren. Vermutlich hat es mit seither erarbeitetem Ausdauermehrwert zu tun und aktuell verbessertem Körpergefühl. Stoisch Schritt an Schritt zu reihen fällt mir heute viel leichter. Es versteht sich von selbst, dass diese "Leichtigkeit" auch im Oberstübchen Spuren hinterlässt. Körper und Geist lassen sich nicht trennen. Nicht nur aber auch deshalb entbiete ich Klaus Neumann geradezu fröhlich einen Gruß, als ich ihn in Höhe Funkturm überhole.

Klaus Neumann kennen vermutlich die meisten in der "Szene". Fungiert er doch nicht nur hier und heute als Ausrichter der Frauenkopf Marathonserie. Weit mehr als tausendmal Marathon hat er inzwischen auf dem Kerbholz. Für die meisten von uns eine utopische Zahl, sogar für mich, der ich nicht gerade selten 42,195 Kilometer oder länger unterwegs bin. Auch die deutschen Teilnehmer am Comrades Ultramarathon in Südafrika kennen Klaus. Als deutscher Comrades Botschafter betreut er seine Landsleute alljährlich dort. Nur eben letztes und in diesem Jahr nicht, aus bekanntem Grund.

Ich bringe die Runde beschwingt und ohne Anzeichen von Ermüdung zu Ende. Erfreulich nicht nur mein Innenleben: Petrus scheint gewillt für seinen donnergrollend nassen Ausrutscher zu Beginn Wiedergutmachung zu leisten: Blau am Himmel überwiegt inzwischen, Weiß zieht sich zurück. Lange Sonnenscheinphasen, die endlich auch das Quecksilber dazu bewegen sich zu strecken. In Runde vier, fünf und sechs ändert sich nichts an meiner Zufriedenheit mit den äußeren Umständen und mir selbst. Gelegentliche Blicke zur Uhr bestätigen, was ich ohnehin schon weiß: Zeitkonstant absolviere ich Umlauf für Umlauf. Selbstverständlich spüre ich die Abnutzung in meinem "Fahrwerk". Vor allem aufwärts wird die Beanspruchung von Mal zu Mal heftiger. Allerdings nicht in einem Maß, dass ich neben physischer auch übermäßig Willenskraft einsetzten müsste. Ganz normale Abnutzung, alles im grünen Bereich.

Zwei weitere Läufer überhole ich irgendwann, beide zu diesem Zeitpunkt gleichfalls im Dialog. Wiederum mit Nachdruck freundlich grüßend und völlig selbstverständlich ziehe ich vorbei. Für mich normal, immerhin bin ich Teil einer Laufveranstaltung. Nicht im Wettbewerb aber vergleichendem Kräftemessen hingegeben. Nein, nicht mit anderen Teilnehmern messe ich mich. Ich vergleiche die aktuelle Leistung mit der erwarteten und der in vergleichbarer Situation zuvor. Mein Ehrgeiz entzündet sich am Wunsch nach Verbesserung. Nicht mal als Selbstzweck, was an sich schon reichen würde. Mehr Ausdauer werde ich bald auf längeren, härteren Strecken brauchen.

In Runde sieben geschieht nichts Unerwartetes, sie fügt sich harmonisch in den bisherigen "Rennverlauf" ein. Laufen wurde unterdessen richtig anstrengend, bleibt aber ein Prozess, der mich kräftemäßig zu keinem Zeitpunkt in die Nähe meines Limits bringt. Atem- und Herzfrequenz schnellen nun anlässlich kurzer, steiler Passagen empor, beruhigen sich aber immer noch vergleichsweise rasch. Alles im Griff, jederzeit. So fest im Griff, dass ich mir nun schon fast auf die Minute ausrechnen kann, wann mein Finger den Stoppknopf an der Uhr drücken wird.

Umlauf Nummer sieben ist aus "botanischem Grund" besonders. Deshalb habe ich auch die Digicam wieder dabei. Schon anfangs, bei noch miserablen Lichtverhältnissen, entdeckte ich am Rand des schmalen Waldpfades "außergewöhnliche" Gräser. Wobei ich nicht sicher bin, ob es sich bei diesen Pflanzen wirklich um Gräser handelt. Gras mit so breiten Blättern und vergleichsweise riesigen, doldenförmigen Blütenständen nahm ich bisher nie bewusst wahr. Da mir die Pflanze nur am Rand des Trails ins Auge fiel, vermute ich, dass sie sich nicht auf natürlichem Wege hier ausgesät und verbreitet hat. Andererseits: Wer sollte ein Interesse daran haben mitten im Stadtwald einen unbedeutenden Pfad mit Ziergräsern zu verschönern? - Ich handele wie immer, wenn mir laufend Unerklärliches unter die Augen kommt: Ich halte es im Bild fest.

Letzte Runde, ein Abschied auf Raten und im Bewusstsein eines zeitlich womöglich nicht allzu fernen Wiedersehens. Zum letzten Mal die Wohnstraßen, den Pfad im Waldrand, den Anlauf hoch zum Turm. Anstrengend aber immer unterhalb meines Limits. Durchaus forscher könnte ich die Schlussrunde hinter mich bringen, finde aber keinen Grund, der mir solche Selbstgeißelung nahelegen würde. Ein Zeitziel etwa? Um die 4:45 Stunden werden zu Buche stehen. Ob drüber oder drunter ist ungewiss und mir drei Kilometer vorm Ziel auch reichlich gleichgültig. Was ich wollte, werde ich bekommen und zwar eindeutiger als erhofft: Schneller sein als bei meinem ersten Frauenkopf Marathon.

Tschüß Pfad mit seltsamen Gräsern. Auf Wiedersehen steiler Abhang, wenngleich ich besonders dir keine Träne nachweine. Jeder Schritt im heftig Abschüssigen zeitigt in Gelenken und Lendenwirbeln lautes Maulen. Kurz vor Ende der Schussfahrt nähere ich mich Klaus' grellgelber Rückenansicht. Zum Überrunden kommt es nicht mehr, weil er zum Finish in Höhe Schranke und Wandererparklatz hin ausschert. "Tschüß Klaus! Mach's gut!" rufe ich ihm zu und empfange eine Antwort per Handzeichen. Zum letzten Mal für heute die lange, mehr oder weniger flache Gerade im Wald. Noch etwa zwei Kilometer. Kein Ziel, das ich nicht schon so gut wie verwirklicht hätte - Tempo also beliebig. Schneller ergibt keinen Sinn, langsamer auch nicht. Das Finale strengt an, fordert aber keinen grenzwertigen Einsatz wie schon manches Mal in diesem Jahr. Erhobenen Hauptes - und das meine ich im körperlichen wie im sprichwörtlichen Sinne - trabe ich die letzten tausend Meter runter.

Erst beim Einbiegen aufs Trottoir der Wohnstraße, vielleicht 400 Meter vorm Auto, beißt Ehrgeiz mir doch noch in die Waden. Aber nicht als zähnefletschende Bestie, wie sie mich schon so oft zum Ende hin anfiel. Eher als kleiner kläffender Köter, der sich drauf versteift mich noch unter 4:46 Stunden zum Auto hin zu verbellen. Kein Witz: Kurz vor Schluss "Sub4:46Stunden" als erstrebenswertes Ziel. Klingt lächerlich, ist jedoch lediglich ein zwar bedeutungsloses, aber unterhaltsames Spiel im Spiel. Denn alle Lauferei, leidenschaftlich ausgeübt von uns dilettantischen, nicht professionellen Langstrecklern, ist vermutlich nur dies eine: Ein Spiel.*

*) Hast du schon mal versucht die scheinbar einfache Frage zu beantworten "Warum laufe ich?"? Dir werden mehrere Gründe einfallen, die aber näher betrachtet nur eine Schale ums eigentliche Geheimnis bilden. Warum läufst du, warum wir, warum überhaupt irgendein Mensch lange Strecken? Wer solches Erwägen spannend findet, dem empfehle ich die Lektüre des Büchleins "Der Läufer und der Wolf" von Mark Rowlands.

Mein Spiel wird in wenigen Sekunden zu Ende sein. Mittlerweile geht es nicht nur darum gegen den Zeiger der Uhr zu gewinnen, sondern auch einen bereits einmal überholten Mitläufer ein zweites Mal abzufangen, bevor ich die Hand aufs Autodach lege. Vielleicht noch hundert Meter und ich gerate in Bedrängnis, weil just in diesem Augenblick die letzten 30 Sekunden von 4:46 Stunden anbrechen. Ich erhöhe den Spieleinsatz, gebe nun alles und setze zum Spurt an ... rücke Vordermann und Auto näher ... immer näher ... um dann doch das Vergebliche meiner Mühe einsehen zu müssen ... Ein paar Meter vorm Auto springt die Uhr auf 4:46:00, im selben Moment überhole ich den Mitläufer ...

Den scheint mein Gebaren - aus welchem Grund auch immer - zu brüskieren: "Du redest wohl nicht gerne!?" schickt er mir hinterher. Statt dem Vorwurf Raum zu geben schlage ich am Autodach an wie weiland Klein-Udo beim Versteckspiel und rufe: "Fertig!" - Prompt fühlt sich der Überholte nicht mehr ignoriert, verwickelt mich in ein kurzes Zwiegespräch. Jetzt gerne, denn nach 4:46:05 Stunden ist die Laufarbeit getan. Und damit ist Zeit für soziale Kontakte.

 


 

 

zurück zum Anfang

8. Juni 2021

Ziel- aber nicht zwecklos  -  Frauenkopf Marathon, Lauf drei

Dieselbe Strecke, identische Modalitäten: Am Frauenkopf in Stuttgart, ungefähr fünfeinhalb Kilometer je Runde, acht Wiederholungen, insgesamt 44 Kilometer. Mithin ein weiterer Zählkandidat für meine Marathonsammlung. Damit ist neben Reichweitenkonservierung der Zweck meines Hierseins bereits hinreichend beschrieben. Allgemeine Absichten wie Spaßhaben oder Gesundheitsförderung spielen in meinen Überlegungen eigentlich nie eine Rolle. Zumal solche grundlegenden Motive auch mit weit weniger Aufwand und Streckenlänge zu verwirklichen wären. Eine konkrete Zielvorstellung verbinde ich mit meinem heutigen Auftritt jedochkeine. Mit anderen Worten: Laufzeit beliebig. Entscheidend wie immer: ankommen, alles laufen, gehen "verboten".

In Anbetracht der schieren Anspruchslosigkeit des heutigen Vorhabens und der für mich bereits dritten Auflage des Frauenkopf Marathons bleibt meine "Erregungskurve" flach. Zur Premiere regierte Unsicherheit, wie mir fast 900 Höhenmeter bekommen würden, wollte schlicht "laufend ankommen". Beim zweiten Mal ging es darum die Debütlaufzeit eindeutig zu unterbieten. In beiden Fällen erreichte ich mein Ziel. Heute hab ich keins. Um die Leistung vom letzten Mal (4:46:05 h) zu toppen, fehlt mir der Antrieb, mehr noch die Form. Und wenn nicht mit einer noch kürzeren Laufzeit, womit sollte ich mich alternativ ködern? - Wer eine Idee hat - bin bestimmt nicht zum letzten Mal hier -, möge damit nicht hinterm Berg halten. Um keinen falschen Zungenschlag rein zu bringen: Ich bin gerne hier, allein schon der Gelegenheit wegen einen Marathon "sozialverträglich" wochentags zu laufen; nahezu "unbemerkt absent", niemandem fehlend, nicht mal dem im Home Office friedlich zu Frauchens Füßen schlummernden Hund.

Gegen 9:30 Uhr schnüre ich die Laufschuhe zu - bei geöffneter Heckklappe hinterm Auto, das wieder als Verpflegungs- und Ausrüstungsdepot fungieren wird. Wobei ich an Verpflegung lediglich auf Wasser, außerdem Wasser und zusätzlich Wasser zugreifen werde. Ausrüstung hoffe ich keine zu brauchen. Sollte es jedoch regnen oder gar ein Gewitter aufziehen, mit dem die Wetter-App drohte, dann wäre ich vorbereitet. Derzeit tut sich da oben gar nichts. Alles konturlos grau, Wolkenuntergrenze bei ... keine Ahnung wie tief. Vielleicht lässt sich das nachher auf dem "Gipfel" des Frauenkopfs, wo die Spitze des Fernmeldeturms den Stuttgarter Himmel kitzelt, genauer abschätzen.

Pandemisch bedingte Individualität: Der eigentliche Ort des Starts befindet sich in der Nordflanke des Frauenkopfs, an der Schranke gleich hinter dem Wandererparkplatz. Ich parke auf der Südseite, am Rand einer zum Stuttgarter Stadtteil Frauenkopf gehörenden Straße. Vorteil: Hier komme ich in jeder Runde zum Trinken vorbei. Den Wandererparkplatz müsste ich jedes Mal auf kleinem Umweg anlaufen oder meine Flaschen irgendwo am Streckenrand verstecken.

Startbereit blicke ich die Straße rauf und runter. Zwei Läufer nähern sich gehend, scheinen schon länger unterwegs zu sein. Sie ziehen mich in ein Gespräch mit bemerkenswertem Ergebnis: Der mir fremde Klaus-Peter hat heute Geburtstag. Als es sein mir vom Sehen bekannter Begleiter erwähnt, erinnere ich mich: Ein Marathon der Serie "Frauenkopf" war mit Widmung "Geburtstagsmarathon Klaus-Peter" ausgeschrieben. Exakt das steht auch auf der Kehrseite der Medaille, die mir das Geburtstagskind hier und jetzt "pränatal" überreicht. Ansehen und Umhängen werde ich mir die Auszeichnung jedoch erst "postnatal", wenn das dritte meiner Frauenkopf-Kinder das Licht der Welt erblickt haben wird - in etwa fünf Stunden "from now on", da ich meine GPS-Aufzeichnung starte und endlich aufbreche ...

Der GPS-Aufzeichnung kommt Beweiskraft zu: Wie gehabt werde ich den Track dem Veranstalter Klaus Neumann als Leistungsnachweis zusenden. "Was wäre wenn?" verursacht mir ein leichtes Schaudern, wie jedes Mal, wenn ich mich von dem kleinen Computer an meinem Handgelenk abhängig mache. Sollte das Ding den Geist aufgeben, ich einen Bedienfehler fabrizieren oder die Aufzeichnung des Tracks verlorengehen, wäre es Essig mit dem geplanten 295. Marathon. Mir bliebe nur noch die Trainingswirkung. Was ich sicher leichter verwinden könnte, als die in diesem Fall nicht nur ziel- sondern auch weitgehend zweckfrei verschwendeten Ressourcen Zeit (An-/Abfahrt) und Geld.

Nun also laufe ich, ohne allerdings darauf zu achten wie ich laufe. Zeit einerlei, also auch Tempo beliebig. Drauflos joggen, Schritt um Schritt, Abschnitt für Abschnitt, Runde um Runde und irgendwann werde ich fertig sein. Zwischen "Los!" und "Stopp!" möchte sich's mein beanspruchter Organismus natürlich so kommod wie möglich einrichten. Dementsprechend zurückhaltend steuert er die Beine. Ich bleibe beschäftigungsloser Beobachter. Was die Umgebung angeht, wird das Beobachten ohne erwähnenswerten Befund bleiben. Wie zuletzt werden mir lediglich Fußgänger, davon die meisten Gassigeher, vereinzelt Radfahrer und ein paar Veranstaltungs-fremde Jogger begegnen. In dieser Auftaktrunde setze ich mich erstmal auf die Fährte von Geburtstagskind samt Begleiter. Ein paar hundert Meter Straße, dann am Waldrand weiter, alsbald im Wald, alles in unausgesetzter, moderater Steigung. Als der Fernmeldturm am höchsten Punkt in Sicht kommt, nach knapp anderthalb Kilometern, bin ich noch nicht wirklich eingelaufen. Mein Blick hangelt sich am Turmbauwerk himmelwärts. Noch verschwimmt seine mit Antennen gespickte Spitze im Dunst tiefhängender Wolken.

Der Frauenkopf scheint mich nicht sonderlich zu mögen, empfängt mich auch anlässlich meines dritten Besuches mit mittelprächtigem Wetter. Vor drei Wochen begrüßte mich donnernder Applaus eines Gewitters samt zugehörigem Schauer und zum Debüt Mitte April war's einfach nur kalt, der Winter noch nicht vorbei. Die letzten Tage ging auch über Stuttgart einiges an Regen nieder. Davon legen meine Sohlen mit "Schmatzgeräuschen" Zeugnis ab, wo dichtes Blattwerk die Sonne von ihrer Arbeit abhält.

Turmzufahrt: Asphalt und bergab.* Fühlt sich "echt nicht berauschend" an. Verschiedene Bauteile meines orthopädischen Räderwerks fügen sich nur widerwillig. Rasch verkürze ich den Abstand zum gehenden Geburtstags-Duo. Nach dem Abbiegen, zu Beginn eines kurzen Anstieges, schließe ich zu den beiden auf. Mein Ruf laufend unterwegs kurz angebunden zu sein, scheint mir mittlerweile vorauszueilen. Vermutlich sprechen auch meine Laufberichte in dieser Hinsicht eine unmissverständliche Sprache. Anders lässt sich die einleitende Ansprache - "Dürfen wir dich kurz aufhalten?" - wohl kaum deuten. "Heute schon!" entgegne ich ohne nachzudenken und passe mich der Gangart der beiden an. Dem sich entspinnenden Gespräch widme ich zunächst nur ein Teil meiner Aufmerksamkeit ... Zu sehr erstaunt mich die eigene, spontane Einlassung: "Heute schon!" - offenbart ein Maß an Teilnahmslosigkeit, an fehlendem Antrieb, das mir anlässlich offizieller Läufe bis dato fremd war, das ich bis eben auch brüsk von mir gewiesen hätte ...

*) Eine genauere Darstellung der 5,5 km langen Runde am Frauenkopf und zum Regelwerk der Marathonserie in Zeiten der Pandemie findest du im ersten Laufbericht vom 13. April.

Inhaltlich konfrontiert mich das Gespräch mit Artikeln zu meiner Läuferperson, ursprünglich meist in Zeitungen veröffentlicht, aber auch im Internet verfügbar gemacht. Texte, mit denen ich selbst nicht immer glücklich war. Hauptsächlich verkürzter Darstellungen wegen, die beim flüchtigen oder vorschnell schlussfolgernden Leser irrige Vorstellungen hinterlassen. Bestätigt wird mir das hier und jetzt, anlässlich eines vor bald neun Jahren zu meinem 100. Marathon verfassten Berichts. Der erweckte bei Unbedarften den Eindruck mit dem Hundertsten "quasi automatisch" die Mitgliedschaft im 100 Marathon Club zu erwerben. Ein Artikel, der - wie ich jetzt höre - wirkliche Mitglieder besagter Vereinigung sogar Recherchen zu meiner Person anstellen ließ. Richtig ist: Ich war und bin nicht Mitglied des 100 Marathon Clubs, sah dazu bis vor kurzem auch keine Veranlassung. Datenzeile in fremdgeführter Statistik zu sein, reizte mich nie, tut das bis heute nicht.

Zeitungsartikel online verfügbar zu machen, reißt sie manchmal aus dem Kontext des Verbreitungsgebietes der gedruckten Ausgabe und führt zu Missverständnissen. So steht zum Beispiel in einem Bericht über mich geschrieben: " ... der Schwabe mit den meisten Marathons ... " Ich will jetzt mal dahingestellt lassen, ob ich im Verbreitungsgebiet der betreffenden Zeitung, im bayerischen Regierungsbezirk "Schwaben", tatsächlich der Mann mit den "meisten Marathons" bin. Doch exakt in dieser Weise will das Etikett "Schwabe" in dieser Zeile verstanden werden. Ethnisch bin ich erst recht kein Schwabe, auch kein bayrischer. Meine Wiege stand im Saarland, was auch der Verfasser besagten Textes weiß. Lasset es mich mit Worten der Bibel ausdrücken: "Bin ich etwa der Hüter meines Bruders?" - Nein, bin ich nicht und deshalb auch nicht Herr dessen, was über mich geschrieben steht.

In einem komme ich dem Wortführer allerdings inhaltlich entgegen: Seit einiger Zeit trage ich mich nun doch mit dem Gedanken einer Mitgliedschaft beim 100 Marathon Club. Schuld daran - wie sollte es anders sein - ist wieder mal Corona. Zu Beginn des Jahres leerten sich die Veranstaltungskalender, so gut wie alle Marathons und Ultras wurden abgesagt. Nur eben jene nicht, die rührige Leute des 100 MC, vorwiegend für ihre Mitglieder veranstalten. Läufe, die deshalb oft nur auf der Seite des 100 MC verzeichnet stehen. Auf diese Seite surfte ich in meiner Not, die sich mit dem Totalausfall offiziellen Laufens nicht zufrieden geben wollte. Die Veranstalter dieser Läufe - am Neckarufer in Stuttgart, hier am Frauenkopf, in Rutesheim und anderenorts - passten die Durchführungsregeln an die jeweils gültige Covid-19-Verordnung an. Damit geht vieles verloren, was den Reiz von Marathon- und Ultraläufen ausmacht, doch der Kern bleibt erhalten: An einem bestimmten Tag laufe ich eine vorgegebene, mindestens 42,195 km lange Strecke, weise die erbrachte Leistung elektronisch nach und finde mich schlussendlich in einer Einlaufliste wieder. Ein schmuckloses Gebäude auf drei Säulen, für mich und viele andere jedoch Antrieb genug.

Wieso bewältigen den geistigen Spagat notwendiger Regeländerungen (fast) ausschließlich an den 100 MC angelehnte Veranstalter? - Muss man nicht verstehen. In der Konsequenz führte es dazu, dass die Mehrzahl meiner 14 Wettkämpfe in diesem Jahr (den heutigen vorsorglich mitgezählt) den Leuten des 100 MC zugute zu halten ist. Und welche Anstrengungen unternahmen andere sportliche Verbindungen, denen ich angehöre, zum Beispiel DLV und DUV, in dieser Zeit, um mich in Wettkämpfen zu halten? Richtig: keine, allerorten beschränkte man sich aufs Wehklagen in Sachen SARS-CoV-2. Aus diesem Grund gehe ich mit dem Gedanken schwanger dem 100 Marathon Club im hohen Alter von demnächst dreihundert Marathons doch noch beizutreten.

Die sportliche Geschichte aktueller Mühen ist rasch erzählt: Schon in dieser Auftaktrunde merke ich, dass der heutige nicht zu jenen Tagen zählen wird, an dem ich läuferische "Großtaten" vollbringen könnte. Ich fühle mich irgendwie ausgebrannt. Wofür es wieder einmal keine Erklärung gibt, außer der, methodisch unzulänglich trainiert zu haben. Der innere Widerstand erhöht sich auf den Runden zwei bis vier trotzdem nicht wesentlich. Nach halber Strecke zurück am Auto, gönne ich der Uhr erstmals einen Blick: 2:38 Stunden sind um. Mal zwei ergibt ... ein erster Impuls meint: Rechenfehler. Ist aber keiner. Wenn es bei diesem Tempo bleibt, und ich wüsste wirklich nicht, was mich zu schnellerem Schritt animieren könnte, dann wird am Ende eine bemitleidenswert schlechte Leistung zu Buche stehen ...

Eine Weile hält sich das Gefühl ein bisschen flotter unterwegs zu sein. Womöglich beschleunigt vorweggenommene Scham meine Schritte, bis ich wieder in gehabten Trott zurückfalle. Natürlich beschäftigt mich die Frage, wo oder wodurch ich so viel Zeit einbüßte. Das Geh-Intermezzo an der Seite von Geburtstagskind und Begleiter zu Beginn kostete mich kaum mehr als zwei Minuten. Zugegeben: Mit konkretem Ziel vor Augen hätte ich mich mehr an die Kandare genommen. Aber kann unambitioniert zu laufen - grob gerechnet - etwa eine Viertelstunde auf den vier ersten Runden ausmachen? Oder schlägt doch eher die "Unfrische" durch, die ich von Beginn an beklagte? Vielleicht ja auch eine Abwärtsspirale gegenseitiger Beeinflussung: Kein Ziel, folglich auch kein Antrieb. Wo kein Antrieb, da keine physische Aufbruchsstimmung, stattdessen müde Beine. Und sich ausgelutscht zu fühlen knabbert womöglich an der Motivation ...

Umlauf fünf und sechs erlebe ich in vergleichsweise gut erträglichen Umständen. Am ehesten spüre ich die "Vergänglichkeit allen Seins" bergab, vor allem in der etwa 250 Meter langen, heftig abschüssigen Passage vorm Wandererparkplatz. Die von jedem Schritt ausgehenden Stöße fahren mir durch Mark und Bein. Unangenehm. Da laufe ich schon lieber bergauf, auch wenn das mehr anstrengt. In meiner Runde sieben überhole ich Veranstalter Klaus Neumann. Der gibt sich heute reichlich "zerknittert", kämpft gegen die Nachwehen seines Marathons vom Sonntag an gleicher Stelle. Mein Argument, dass ein Ruhetag zur Regeneration halt nicht ausreicht, will er nicht gelten lassen: "Früher war gar kein Tag dazwischen!"

Früher! - Der Finger in einer nur zögerlich verheilenden Wunde: Früher war ich nahe dran einen Marathon unter drei Stunden zu laufen und hätte die acht Schleifen hier am Frauenkopf "locker vom Hocker" unter vier Stunden abgehakt. Früher waren wir jünger, stärker, schneller. Was mich angeht, so arbeite ich mit Hochdruck daran mit diesem "Früher" meinen Frieden zu machen. Was soll es denn bringen dem "Früher" nachzutrauern? Wichtiger erscheint mir, wenn einem das persönliche Schicksal erlaubt in fortgeschrittenem Alter noch immer Marathon und weiter laufen zu dürfen. Und das sogar in kurzen Abständen, mehrfach, vielleicht vielfach im Jahr. Und: Was wird in zehn, in zwanzig Jahren sein? Ich wünsche mir inständig dann immer noch über schwere Beine auf der Marathonstrecke klagen zu dürfen! Denn so lange ich auf so exorbitant hohem Ausdauerniveau im Alter jammere, wird meine Welt körperlich in Ordnung sein!

Insgesamt tausche ich unterwegs mit sechs Mitstreitern, darunter eine Frau und fünf Männer, Grüße aus. Mehr geschieht nicht an diesem Tag. Was natürlich auch bedeutet, bis zum Schluss keine bösen Überraschungen zu erleben. Vor allem nicht von Petrus feucht gemaßregelt zu werden. Der Himmel hält sich bis zur Hälfte der vorletzten Runde bedeckt, reißt dann zögerlich auf. Die Schlussrunde erlebe ich überwiegend im Sonnenlicht von oben und innerlich im Schatten meiner selbst. Alle Anzeichen, an denen ich für gewöhnlich weitgehende Erschöpfung festmachen kann, setzen im vorletzten Umlauf ein und mir in der Abschlussrunde erheblich zu. Schmerzende Beine, versiegende Kräfte und "Zipperlein", für die ich keinen Namen kenne. Zwicken da und dort im Gebein, das ich jeweils mühsam umschreiben müsste. Auf der Schlussrunde bin ich einfach nur froh, dass die Quälerei in wenigen Minuten ein Ende haben wird. Der Gedanke mildert zwar nicht den Schmerz, erleichtert mir aber den Weg ... Zuletzt aufs Auto zu, wissend, dass an 5:20 Stunden nicht mehr viel fehlen wird, letzte Meter und ... Schluss. Was für eine Flasche du bist, Udo! - schimpft die Uhr, unterstreicht ihren Vorwuf mit angezeigten 5:20:00 Stunden.

 


 

 

zurück zum Anfang

1. Dezember 2021

Es gibt so Tage ...  -  Frauenkopf Marathon, Lauf vier

Es gibt so Tage, da wachst du morgens schon mit ungutem Gefühl auf. Schüler und Studenten kennen das vor Klausuren, so sie es an Lernfleiß fehlen ließen. Vor jeder Aufgabe, bei der man sich der eigenen Fähigkeiten nicht sicher sein kann, mangelt es an Selbstvertrauen. Das geht tiefer als Lampenfieber, wie es den Mimen noch vorm hundertsten Auftritt packt, obwohl er seinen Text davor neunundneunzig Mal ohne Texthänger abspulte. Wenn alles klappt, dann werde ich heute meine 302. Marathonvorstellung geben. Der bisher 301 "Auftritte" wegen, die ich ohne "Texthänger", ohne Abbruch und Niederlage, erfolgreich beendete, komme ich gar nicht erst auf die Idee das flaue Gefühl in der Magengrube mit "Lampenfieber" zu verwechseln.

Vor gut zwei Wochen glückte mein Marathon-Comeback im Naabtal unerwartet bravourös. Trotzdem stecke ich heute voller Selbstzweifel. Das Comeback ging über eine brettflache Bühne, wohingegen mich heute, am Frauenkopf in Stuttgart, im steten Auf und Ab insgesamt 800 Höhenmeter fordern werden. Höhenmeter, die sich durch siebenfache Wiederholung eines ungefähr sechs Kilometer langen Rundkurses aufsummieren werden. Anlässlich bisher dreier Teilnahmen am Frauenkopf Marathon in diesem Jahr (zuletzt Anfang Juni) kam ich mit den Verhältnissen gut zurecht, was meine Bedenken allerdings kaum mildert. Damals war ich deutlich besser vorbereitet als heute! Kopfzerbrechen bereitet mir überdies die seither vorgenommene Streckenänderung mit teilweiser Umkehr der Laufrichtung und einigen neuen Abschnitten. Der Löwenanteil der Höhenmeter verteilt sich jetzt auf zwei Anstiege, deren Beschaffenheit ich nicht kenne. Wie bekämpft man von Furcht unterlegte Skepsis? - Man denkt möglichst wenig an das Bevorstehende, und wenn doch, dann in positiven Formeln: Wird so schlimm schon nicht werden! Oder schlicht: Ich schaffe das!

Gut zwei Drittel eines Umlaufes schicken mich durch Buchenwälder im südlichen Stuttgarter Grüngürtel, der diese Bezeichnung Anfang Dezember naturgemäß nicht mehr verdient. Grün wird's hier frühestens wieder Ende April, derzeit gibt welkes Braunrot von Buchenlaub den (Farb-) Ton an. Hauptsächlich zu meinen Füßen, dazu Restbelaubung, die sich verzweifelt an überwiegend kahle Äste klammert. Das verbleibende Streckendrittel traben die Beine im Stadtteil Frauenkopf runter. Etwa 1,5 Kilometer weit durch Wohnstraßen, im Zickzack zweimalig scharfer Richtungsumkehr. Vormals kämpfte man sich im Nobelwohnviertel "Frauenkopf" bergauf, jetzt joggt man in wechselndem Gefälle stetig bergab.

Unverändert blieb das Regelwerk des Frauenkopf Marathons: Individuelle Startzeit, Beginn und Ende an beliebigem Punkt der Strecke, Nachweis der erbrachten Leistung durch Übersenden des GPS-Protokolls an den Veranstalter Klaus Neumann. Vorgaben, die meinen Bedürfnissen sehr entgegenkommen. Erlauben sie mir doch in aller Ruhe aufzustehen, herzufahren und mich in Höhe meines in der Wohnsiedlung geparkten Autos zu versorgen. Unmittelbar am Streckenrand nach jeder Runde, also in 6 km-Intervallen. Gegen 10:15 Uhr sind letzte Vorbereitungen und mein Auto abgeschlossen, ich breche auf ...

Zum Auftakt ein paar hundert Meter leicht abwärts, wechselweise auf Trottoir oder Straßenbelag, ideal zum Einlaufen. Ideal auch, um die unschönen ersten Minuten zu überstehen, in denen Blutdruck und Herzfrequenz bei mir noch die unterirdischen Werte eines Untoten aufweisen. Am Ende der Straße wende ich mich nach links, passiere den Waldrand und eine rote Schranke, die den eigentlichen Beginn der Frauenkopfrunde markiert. Ein erster harmloser Buckel verlegt mir den Weg, gefolgt von einer leicht abschüssigen Linkskurve. Abschüssiges geht nach wenigen Schritten in minimal ansteigendes Terrain über und die Kurve alsbald in die längste Gerade des Kurses. Etwa tausend Meter geradeaus, zunächst unmerklich, zuletzt durchaus relevant ansteigend. Vormals lief man hier in Gegenrichtung, beschwingt in leichtem Gefälle.

Schon auf dieser eher harmlosen Rampe strengt mich das Laufen an. Bin ich noch nicht eingelaufen oder bremst die leichte Steigung? Es fühlt sich jedenfalls nicht so an, als verfügten meine Beine heute über genug "Schmalz" für 42 Kilometer. Gegen Ende der Gerade, nach nicht mal zwei Kilometern, wird die Steigung etwas fordernder. Das macht es mir unmöglich meine Tagesform abzuschätzen. Hoffnung und Zweifel halten sich weiterhin die Waage. Nach rechts abbiegen, kurz bergab, dann nach links und ... boaah! ... wirklich steil bergauf. Höchstens hundert Meter, die meinen Puls jedoch in selten erreichte Höhen katapultieren. Ich kenne diesen "bösen Tritt", dreimal zuvor - gegenläufig unterwegs - mühte ich mich hier meine Schussfahrt zu bremsen. Zum Glück biege ich rasch wieder links ab und vollende nach höchstens weiteren 100 Metern, genau dort, wo ich die lange Gerade verließ, ein kleines Dreieck.

Nach rechts und aufwärts jetzt, in das erste mir unbekannte Wegstück, nicht mehr als ein Trampelpfad. Unter vielfach fingerdick geschichtetem Herbstlaub verbergen sich reichlich Gelegenheiten die aufrechte spontan mit einer tief fliegenden Haltung zu vertauschen. Nur ausreichend Konzentration verhindert in matschigen Kuhlen wegzurutschen, über knorrige Wurzeln zu stolpern oder an den Kanten gut getarnter Steine einzufädeln. Ultrakurze Blicke voraus verheißen nichts Gutes: Die anfänglich erträgliche Steigung wird stetig fordernder. Auf den letzten vielleicht hundert Metern bekommen die Beine richtig Arbeit. Wäre ich vernünftiger, als ich es bin, nicht bis zum Sanktnimmerleinstag meinem "Gelübde" - Alles Laufen, nicht gehen! - verpflichtet, ich wanderte nun gemütlich, mit meiner Kraft haushaltend hinan. So aber tippele ich mehr schlecht als recht voran, arbeite mich empor und unke in düsterer Vorahnung: Wer weiß, ob ich einen so verschwenderischen Krafteinsatz noch sechsmal zu wiederholen vermag?

Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich endlich auf den oberen Hauptweg in Richtung Funkturm einbiege. Ab hier sind Wegführung und Laufrichtung für einige Zeit identisch mit der früheren Version der Strecke. Weiter aufwärts, wenngleich moderat, so dass meine Vitalwerte auf verträglichere Werte zurückfallen. Ein Läufer kommt mir entgegen. Beinahe gleichzeitig weiten sich zwei Augenpaare: "Läufst du auch hier?" - Freudige Überraschung zeitigt die wohl dämlichste aller Grußformeln. Liefe er nicht hier, könnte ich ihn wohl kaum in voller Läuferlebensgröße erblicken! Der Freude folgt minimales Erschrecken, das mich die nächste Torheit in 4°Celsius feuchtkalte Dezemberluft entsenden lässt: "Aber die Laufrichtung geht doch anders 'rum!?" - Dass ich mich auf jenem kurzen Teil der Runde befinde, die zweimal, gegenläufig zu passieren ist, hatte ich außer Acht gelassen. Ramin stellt zu Beginn unserer mehrminütigen Konversation den Sachverhalt richtig. Ramin!, der - so drückte ich es mal in einem Laufbericht aus - aus unerfindlichen Gründen einen Narren an mir gefressen hat. Ein leistungsstarker Läufer, der sich im November 2017 dazu herabließ, mich auf einer Wettkampfrunde um Stuttgart, 57 km auf dem Rössle-Wanderweg, zu begleiten.

Wir liefen uns in der Vergangenheit mehrmals auf oder am Rande von Laufstrecken über den Weg, hatten auch abseits davon Kontakt. Pandemiebedingt liegt die letzte Begegnung allerdings weit zurück. Wie weit wüsste ich nicht einmal zu sagen. Sind wir uns in diesem Jahr schon einmal begegnet? Wohl eher nicht ... Im Stau unerzählten Geschehens zöge sich unser Dialog sicher endlos hin, muss aber nach Austausch der wichtigsten Neuigkeiten unterbrochen werden. Mir wird kalt, außerdem läuft die Zeit ... Ramin wird irgendwann zu mir auflaufen, Gelegenheit für weiteren Gedankenaustausch.

Alsbald erreiche ich den höchsten Punkt, den Scheitel des Frauenkopfes, und trabe am wuchtig ins Dezembergrau des Himmels aufragenden Fernmeldeturm vorbei. Reflexartig hebt sich mein Arm für ein Foto, obschon mein Fundus bereits mehrere, ungleich attraktivere Schnappschüsse des mit Antennen gespickten Betonspargels enthält: inmitten sommerlichen Grüns und vor blauem Himmel. Im Halbkreis umkurve ich das für die Öffentlichkeit gesperrte Turmareal. Ein wenig Höhe aufgebend zunächst, die ich anschließend wieder zurück erobere. Eine kurze, ganz und gar harmlose Bodenwelle, die schon im ersten Umlauf eine (deutliche) Wahrnehmung von Anstrengung provoziert. Das verheißt nichts Gutes. Längst eingelaufen liegt der Schluss nahe: Was die Ausdauer betrifft, keiner meiner besseren Tage!

Hinab auf dem Asphalt der Turmzufahrt, unten wieder Neuland. Links- statt bisher rechtsrum, kurz auf schmalem Bürgersteig entlang der Straße zum Stadtteil Frauenkopf. Wo das Trottoir endet, beginnt ein Pfad im Wald. Ich tippele parallel zur Straße dahin, konzentriere mich einzig auf unterm Laubteppich vermutete Stolperfallen. Der Pfad erweist sich als harmlos, zwingt mich lediglich in Höhe einiger rutschiger Passagen an den trittsicheren Rand. Nach 400 Metern mündet der Trail in einen von der nahen Straße abzweigenden, breiten Waldweg. Ich wende mich dem sofort an Höhe gewinnenden Weg zu, ignoriere die jenseitige Fortsetzung des Trampelpfads. Erfreulich fester, hindernisfreier Boden erleichtert den Anstieg, nimmt allerdings rasch an Steigung zu; zwingt mich zuletzt für ein, zwei Minuten zu kurzen, von höherfrequenten, tiefen Atemzügen begleiteten Tippelschritten.

Körperliche Erlösung bringt der Hauptweg, auf dem ich vorhin in Gegenrichtung Ramin begegnete. Leichtes Gefälle beschleunigt meine Schritte und bringt mich nach kurzer Zeit zurück ins Wohngebiet. An dessen oberen, dem Wald zugewandten Rand, nun schon wieder auf Asphalt, erhole ich mich weiter. Zunächst schenke ich der in spitzem Winkel einmündenden Straße keine Beachtung, halte geradeaus Kurs und fahnde nach der Wende. Laut Streckenbeschreibung soll sie sich in Höhe eines Anwesens mit "Figuren" befinden. Nach nicht mal 50 Metern finde ich beides: Die Wende als Farbpunkt mitten auf der Straße, ein halbkreisförmiger Pfeil symbolisiert die zu vollführende Umkehr. Die "Figuren" entpuppen sich als Mischung dauerhaft und temporär aufgestellter Plastiken. Die "temporären" hüllen sich in rote Anzüge, tragen Zipfelmützen derselben Farbe und auf dem Rücken einen prall gefüllten Sack. Weiße, lange Bärte verhüllen unbewegliche Gesichter, verschleiern Identitäten erfolgreicher als aktuell zur menschlichen Grundausstattung gehörende FFP2-Masken.

Umkehr also und alsbald im markanten Gefälle der zunächst ignorierten Straße durchs Wohngebiet. Freier Blick zum Stuttgarter Fernsehturm, der einen etwa zwei Kilometer entfernten Nachbarhügel um mehr als 200 Meter überragt und seit 60 Jahren dem Wettergeschehen trotzt. Einst der erste seiner Gattung, erbaut nach einem weltweit zigfach kopierten und weiterentwickelten Konzept. Die Straße, durch die ich laufe, taufe ich Stichtag heute auf einen neuen Namen: "Straße der Bauarbeiten". Dachdecker und andere Gewerke finde ich heute zum vierten Mal vor. Noch immer stehen rot-weiße Warnbaken und Absperrungen am Straßenrand. Diesmal wird das vorletzte Wohnhaus am unteren Straßenende mit so genannten Biberschwänzen - also teuer und aufwändig - neu eingedeckt. Der Dachdecker Fleiß werde ich in den nächsten vier, fünf Stunden besichtigen können. Auf dem angrenzenden Eckgrundstück, um das ich joggend eine 180°-Wende vollführe, glotzten mich vormals die runtergelassenen Rollläden eines Leerstandes an. Heute klafft dort ein riesiges, rechteckiges Loch im Erdreich. Am Grund der höllentiefen Baugrube rumort ein Bagger. Parallel dazu scheint ein Trupp Bauarbeiter damit beschäftigt die talseitig etwa fünf bis sieben Meter hohe Wand zu befestigen. Offenbar sollen die Grubenwände vor dem eigentlichen Baubeginn abgestüzt und massiv befestigt werden, um ein späteres Abrutschen des Hanges auszuschließen. Mehr als das gedankliche Szenario eines vom Berg verschütteten Hauses beschäftigt mich allerdings eine andere Frage: Wie um alles in der Welt, will man den tonnenschweren Bagger je wieder aus der Tiefe bergen?

Letzte Meter am Rand der Hauptstraße des Stadtteils Frauenkopf, dann stehe ich vor meinem Auto. Ein Gel muss rein, von Wasser aus einer meiner Trinkflaschen runtergespült. Schon nach den ersten sechs Kilometern hege ich nicht mehr den leisesten Zweifel bei jeder Verpflegungspause eine Gelration zu brauchen. 48 Minuten nach dem Start mache ich mich neuerlich auf den Weg. Was anfangen mit dieser Zeitmessung? Ich beschließe sie zu ignorieren und schaffe es tatsächlich keine fragwürdige Hochrechnung anzustellen. 48 Minuten - ein Muster ohne Wert. Ich hätte die mit Ramin verplauderten Minuten abzuziehen, müsste zudem die mit jeder Runde wachsende Ermüdung in Ansatz bringen. Offen gestanden verspüre ich nicht die mindeste Lust meine Hirnwindungen zu diesem Zweck zu verbiegen. Das Ergebnis gestaltete sich höchstwahrscheinlich "unschön", außerdem hatte ich mir vorgenommen die Aufgabe "Frauenkopf" in aller Beschaulichkeit zu erledigen, mich keinesfalls von der tickenden Uhr versklaven zu lassen. Eigentlich ärgerlich dieser Blick zur Uhr, eingeübter Reflex aus (leistungs-) besseren Zeiten.

Runde zwei widme ich der Komplettierung der Fotostrecke, die ich heute aus Stuttgart mit heim nehmen möchte. Beim nächsten Trinkstopp werde ich die Kamera im Auto deponieren. Anders als erwartet ist mir vergönnt die mehr oder weniger tristen Bilder "Spätherbstliche Wege im Laubwald" mit Teilnehmern des heutigen Laufes ( insgesamt 11, darunter auch eine Frau) zu beleben. Ein leuchtend Gelbgrüner "zischt" zu Beginn des ersten Brachialanstieges an mir vorbei. Erst bremsen ihn rutschiger Boden und Stolperfallen, alsbald die wachsende Steigung. Begünstigt meine Fotosession, so habe ich ausreichend Zeit den Hurtigen zwischen Buchen mit Restbelaubung bergauf voraus abzulichten ... Auch Ramin, nunmehr an der Seite eines mir fremden Begleiters, rennt mir vor die Linse. Erneut auf Gegenkurs und witzigerweise an derselben Stelle, an der wir uns vor Stundenfrist begegneten.

Obschon mit Fotografieren beschäftigt, entgeht mir nicht wie sehr mir die Anstiege im Verlauf dieser zweiten Runde bereits zusetzen. Um es zu bekräftigen: Ich verwende die Vokabel "zusetzen" nicht, weil mir keine bessere einfiele! Nach erst 12 Kilometern und in Summe kaum mehr als 200 Höhenmetern vermag ich ernsthafte Bedenken nicht mehr "beiseite zu murmeln"; auch nicht mit meinem Standard-Mantra: Du hast es ausnahmslos immer geschafft, du schaffst es auch diesmal! - 42 Kilometer werde ich "irgendwie" überwinden, keine Frage. Aber "irgendwie" entspricht nun mal nicht dem Anspruch an mich selbst. Ich will bis zuletzt laufen und nicht gezwungen sein mit Pudding in den Beinen gehend durch die Schlussrunden zu stolpern.

Runde drei liefert keine neuen Erkenntnisse meine Erfolgsaussichten betreffend, erhärtet allerdings den Verdacht heute nur teilweise abrufen zu können, was ich mir nach der Zwangspause bereits wieder "erarbeitet" hatte. Auch "Jammern im Gebein", wenn ich bergab trabe, untermauert die Diagnose "schlechte Tagesform". Mal zwickt es rechts unten, dann wieder links hinten und inzwischen stetig im "Kreuz". Nicht wirklich schmerzhaft das Ganze, Intensität vielleicht "1 von 10", trotzdem unangenehm, lästig, nervig.

Zu Beginn von Runde drei, kurz nach dem "Trinkgelage" am Auto, wandert mir der Schöpfer des Frauenkopf Marathons entgegen, Klaus Neumann. Sonst eifriger Teilnehmer am eigenen Wettbewerb, zwingt ihn heute die frische Boosterimpfung sicherheitshalber zu pausieren. Applaudierend begrüßt er mich. Applaus von einem der wenigen Läufer, für die mehr als 1.000 Marathon- und Ultraläufe zu Buche stehen*.

*) Für neun deutsche Läufer (davon drei Frauen) weist die Statistik des 100 Marathon Clubs mehr als 1.000 Läufe aus (Stand 30.06.21). Möglicherweise hat sich die ruhmreiche Schar der "Tausend-Ender" unterdessen um einen Läufer vermehrt, dem im Juni bereits 986 Marathons bescheinigt wurden.

Runde drei, vier und fünf - ich spüre unaufhaltsam wachsende Ermüdung. Jeder Buckel wehrt sich nach Kräften dagegen von mir erobert zu werden. Der kurze und steilste, jene hundsgemeinen hundert Meter eines gleichschenkligen Dreiecks, ist gottlob jedes Mal überwunden, wenn mir ernsthaft die Puste auszugehen droht. Es folgen siebzig, achtzig Meter zur Erholung leicht abwärts getrudelte Meter, bevor ich bergwärts auf den holprig-matschigen Trail abbiege. Sodann: Aufwärts, aufwärtser, am aufwärtsesten ... Anlässlich der vierten Erstürmung dieser Schräge, die weit weniger anstrengend aussieht, als sie sich in den Beinen anspürt, ringe ich bereits mit dem brennenden Wunsch stehend zu verschnaufen. Noch einmal gelingt es mir dem Drängen meines Körpers zu widerstehen, angetrieben von Stimmen, die ich hinter meinem Rücken höre.

Ramin und Trabant verfolgen mich, rücken mir aber einstweilen nicht weiter auf die Pelle. Vermutlich ziehen sie es von Vernunft geleitet vor im herb steilen Schlussstück des Hanges zu gehen. Warum nur bringe ich das nicht über mich, obschon ich es bei anderen frei von Dünkel gutheiße, zudem von der kraftsparenden Effizienz der Taktik überzeugt bin? Wieder einmal mit mir selbst und der zum Anspruch erhobenen Forderung "Alles laufen!" zu hadern fruchtet nicht. Weder bisher, noch heute, vermutlich auch künftig nicht. So lange es mir irgendwie gelingt, werde ich tippelnd hinan stolpern. Ich kenne den Grund für mein halsstarriges Gebaren, aber nicht seinen Ursprung. Klar ist: Gehenmüssen macht mir schlechte Laune und entwertet ein Finish. Auf diese Weise erfolgreich zu sein hinterließ einen "schalen Geschmack", auch wenn die Wegbeschaffenheit gar nichts anderes als zu gehen zuließ. Rätselhaft dagegen: Welche meiner Synapsen sind auf derart selbstquälerische Art verknüpft und wie könnte es mir gelingen den Knoten zu durchtrennen?

Kurz vorm Fernmeldeturm holt mich das munter plaudernde Duo ein. Zu viel mehr als der zwischenzeitlich erreichten Rundenzahl brauche ich Ramin nicht Rede und Antwort stehen. Ich gönne Ramin seinen redefreudigen Mitläufer und mir die rasch wieder einkehrende Einsamkeit. Mir fehlt, worüber die beiden offensichtlich im Überfluss verfügen: Leichtfüßigkeit. Und deshalb bin ich dankbar, in kein von meiner Seite kurzatmig zu führendes Gespräch verwickelt zu werden. Wenn ich schon leiden muss, dann leide ich am liebsten mutterseelenallein. Das war schon immer so. Dem einen hilft Ablenkung und Zuspruch, mir am besten völlige Selbstfokussierung ...

Müsste ich Umlauf Nummer fünf ein Prädikat verpassen, dann das einer "Hoffnungsrunde". Hoffnung es doch komplett laufend zu schaffen und andauerndes Anfachen dieser Hoffnung mit positivem Denken wie "Bald setze ich einen Haken hinter der Fünf und dann bin ich bereits in der vorletzten Runde!". Oder: "Nach dieser Runde sind schon mehr als 30 Kilometer geschafft, den Rest packe ich dann auch noch!" - Dazwischen kämpfe ich und halte aus. Ertrage schwere Beine, das im Anstieg bis zum Hals schlagende Herz und in Abschnitten mit Gefälle lästiges Zwicken im Kreuz.

Ein paar Tage später, dieser Marathon ist schon Geschichte, zappe ich im abendlichen Fernsehprogramm auf eine Wiederholung von Bülent Ceylans Comedy-Programm "Lassmalache". Aufgeführt von einem waschechten, wenn er will auch in der Mundart sicheren Mannheimer, der gerne mit seiner türkischen Gen-Hälfte kokettiert. Der Programmtitel sagt es: Es geht ums Lachen und Ceylan liefert Lachanleitungen für alle Lebenslagen. Unversehens spitze ich meine Läuferohren als er vom Joggen redet. 30 Sekunden Lachen sollen genauso gesund sein wie 3 Minuten joggen, hätten angeblich Forscher herausgefunden. Dann wörtlich: "Mach des mal: Wenn'n Jogger hier vorbeikommt ..." doziert er in süffisantem Tonfall " ... einfach mal auslachen!" Ich ziehe die grundsätzlich gesündere Lebensweise häufig lachender Menschen gar nicht in Zweifel. Weiß aber eins ganz sicher: Verstiege sich einer der raren zufälligen Zaungäste entlang meiner Route am Frauenkopf zu einem beherzten, auf mein Tun gerichteten Lachen, sein gesundes Leben fände ein abruptes Ende ...

Gibt's denn gar nichts Positives zu vermelden? - Doch, schon, immerhin laufe ich noch und bin wild entschlossen diese Schlacht am Dezember-kalten Berg zu gewinnen. Außerdem bleibt es zumindest von oben weitgehend trocken. Zweimal setzte ich vorsorglich die Schildkappe auf, als es zu tröpfeln begann. Doch schon nach ein paar Minuten konnte ich das lästige, mein Gesichtsfeld einschränkende Accessoire wieder im Hosenbund verstauen.

Runde sechs, mehr als 30 Kilometer auf der Uhr: Vor Irrtümern war ich nie gefeit, aber stets bemüht mir nichts vorzumachen. Darum lasse ich den Gedanken zu, der mental weniger sattelfesten Läufern den Knockout bescheren könnte: Ich bin fix und fertig, eigentlich reicht es für heute! Solchen Klartext darf ich ungestraft denken, weil Aufhören als Konsequenz ohnehin nicht in Frage kommt. Abbrechen? Geht gar nicht! Mutlosigkeit bleibt als Folge auch deshalb aus, weil ich mich der vielen Orte und Stunden erinnere, die ich ähnlich "ausgelutscht" erlebte und letztlich doch erfolgreich überstand. Ich hab's immer gepackt, also packe ich es auch heute!

Vermutlich sieht man mir nicht einmal an, wie es um mich steht. Zumal meine sekundenlangen Stehpausen in langen Anstiegen fremden Augen verborgen bleiben. "Jetzt nur noch einmal hier rauf!" oder "Zum vorletzten Mal hier vorbei!" - beides Mantren, die mir schon halfen die Qual der Anstrengung auszuhalten. Heute warte ich weitgehend vergebens auf energetisch aufbauende Echos gedanklicher Beschwörungformeln. Anscheinend helfen Gebetsmühlen nur dem, der noch über genügend Reste von Ausdauer verfügt, um seinen Kampfeswillen neu anzufachen.

Schließlich ist Runde sechs vorbei und meine Sichtweise richtet sich aufs nahe Finale: Diesen Sieg kann mir niemand mehr nehmen! Über 36 Kilometer auf der Uhr und das "dreckige, letzte, halbe Dutzend" werde ich mir nun auch noch holen. Was noch vor mir liegt, teile ich gedanklich nicht in Kilometer, sondern in Abschnitte ein. Abschnitte, hinter die ich nun nach und nach den abschließenden Haken setze. Um Kraft für die Anstiege zu sparen, setze ich auch dort kurze Tippelschritte, wo längere gerade noch möglich wären. Nicht, dass es mich in den längeren Aufwärtspassagen doch noch aus den Pantinen haut. Irgendwie geht es, langsam komme ich voran, muss aber noch mehr als eine Dreiviertelstunde aushalten. Pure Folter, die nur für unaufmerksame Beobachter Ähnlichkeit mit dem Volkssport "Joggen" haben kann.

Tage später werde ich in der Süddeutschen Zeitung ein Essay lesen. Es thematisiert die menschliche Neigung von möglichen Handlungsalternativen diejenige zu wählen, die mit großen Mühen verbunden ist. Werde mich fragen, ob stimmen kann, was Psychologen meinen herausgefunden zu haben; dass unter Mühe und Anstrengung Erreichtes dem eigenen Leben Sinn verleiht und deshalb regelmäßig den Vorzug genießt. Eine durchaus nahe liegende Schlussfolgerung, wenn man zum Beispiel bedenkt, wie viel Kraft Eltern in Kinder investieren, die sie nicht zwingend in die Welt setzen müssten. Und gilt nicht Nachwuchs vielen als eigentliches Lebensziel? Um etwas von sich selbst weiterzugeben. Ein paar Gene vielleicht? Oder mittels Erziehung einen Hauch der eigenen Seele? Ob aber die Selbstquälerei eines Marathonlaufes (m-) einem Leben Sinn verleihen kann?

Spätere Reflexion, hier am Frauenkopf fehlt mir für solche Gedanken schlicht die Kraft. Die letzte Runde ist nicht mehr als halbwegs kontrolliertes Stolpern. Selbst kurz vor Schluss, bergab und auf Asphalt, schreit alles nach Aufhören. Stattdessen noch einmal hinab, blind für alles um mich her. Noch 500 Meter, höchstens. Nichts sehen, nichts denken, um zwei Ecken und aufs Auto zu. Zuletzt die Erlösung. Nach 5:35:10 Stunden stoppe ich meine Uhr. Selbst wenn ich ein paar verplauderte Minuten und jene zum Verpflegen am Auto in Abzug bringe, bleibt eine Zeit von weit über fünf Stunden. Für einen Marathon. Beleg für die schwierige Strecke, Beleg aber auch für meine bescheidene Ausdauer und Tagesform.

Resümee: Fünf Runden waren eigentlich genug, die sechste Quälerei, die siebte und letzte hatte was von Hölle auf Erden. Dennoch bin ich zufrieden und bereue nicht am Frauenkopf angetreten zu sein. Ein Marathon mit Höhenmetern war der logische, nächste Schritt in die richtige Richtung.

 


zurück zum Anfang

Fazit zur Veranstaltung

Je prekärer die Situation, umso weiter schraubt der Läufer seinen Anspruch an Veranstaltungen zurück. Bei hoher Covid-Inzidenz und strengem Hygieneregime gibt er sich mit abgemessener Strecke und einem Soloauftritt zufrieden. Und dankenswerter Weise finden sich Veranstalter mit genug Fantasie und Verantwortungsbewusstsein, die ein der Situation angepasstes Reglement ersinnen. Herzlichen Dank an Klaus Neumann, der seinen Lauf entsprechend "um-arrangierte".

Acht Runden mit je 120 Höhenmetern* können lang werden, auch wenn sie meistenteils von Natur und ein paar interessanten Beobachtungen geprägt sind. Die Routenführung erleichtert das Durchhalten, weil nur mäßige bis moderate Anstiege zu bewältigen sind.

*) Neue Strecke: Sieben Runden mit insgesamt ca. 800 Höhenmetern!

Fazit: Gerne wieder.

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang