7. März 2021

Verdeckte Operation  -  Marathon am Stuttgarter Neckarufer 2021

Ich will und ich werde heute 42,195 Kilometer weit laufen, auf der Strecke des Neckarufer Marathons, die ich seit 2019 und aus dem Vorjahr gut kenne. Eine erste Runde, der halbe Marathon, liegt schon hinter mir. Die Sonne scheint. Zunächst für etwa anderthalb Stunden aus wolkenlosem Himmel, seitdem von dicht an dicht gestaffelten Schäfchenwolken überwiegend am wärmenden "Geschäft" gehindert. Eine Radiomoderatorin orakelte bei der Herfahrt von Wetter, das noch eine Spur von Winter vermitteln werde. Ich bin entschieden anderer Meinung: 1°C Kälte als ich um 9:45 loslief und jetzt, gut zwei Stunden später, nicht spürbar mehr - für mich fühlt sich das komplett nach Winter an. Seit Tagen verfluche ich die Kälte. Über Nacht friert's knackig durch und tagsüber leidet die Quecksilbersäule unter Schwindsucht. Dennoch bin ich mit den Bedingungen heute Morgen zufrieden, fühle mich "lufttechnisch" geradezu verwöhnt. Überall entlang des Uferweges steigen Rauch und Dampf aus Schornsteinen senkrecht in den Himmel: Windstille (!!) im Neckartal.

Zwei identische Hälften summieren sich zum ganzen Neckarufer Marathon. Jede Halbmarathonrunde besteht aus zwei Schleifen: Stromaufwärts sammelt man zum Auftakt 10 Uferkilometer, passiert dann erneut den Start-/Zielbereich, um anschließend flussabwärts weitere 11 Kilometer asphaltierten Weges, überwiegend am Flussufer abzulaufen. Gerade eben, nach dem ersten Umlauf, trank ich aus meiner im Start-/Zielbereich deponierten Flasche und warf mir ein Gel ein. Gel werde ich heute sparsam einsetzen. Ich trachte nach einer energetischen "Tiefentladung", um meine Reichweite mit Blick auf künftige, derzeit noch fragliche Ultraziele zu verbessern. Stand heute reicht meine "Power" höchstens für einen Marathon. Weil ich seit Monaten "orientierungslos" in der Gegend herum jogge. Zwar häufig laufe, doch eines ganz sicher nicht praktiziere: Sinnvolles Training. Mehr oder weniger ständig im selben mickrigen Tempo, Distanz zehn Kilometer, völlig ambitionslos. Nur einmal in der Woche überwinde ich mich zu einem langen Lauf. Ich würde lügen, wenn ich behauptete dabei mit Spaß unterwegs zu sein. Nein, im Grunde kein einziges Mal. Weil ich ein Weichei bin, das winterliche Witterung verabscheut. Immer häufiger liest man von Menschen, die im falschen Körper zur Welt kamen, so genannte Transgender. Hast du schon mal von einem gehört, der ins falsche Klima geboren wurde? Das bin ich, ein "Transklimat".

Folge des läuferischen Schlendrians: Noch nie seit meinem ersten Marathon 2002 war ich zu dieser Jahreszeit so mies trainiert. Weitere Folge: Ich bin zu fett. Nicht Abscheu beim Leser dieses Berichts soll die krasse Wortwahl zeugen, vielmehr mich mahnen und erinnern. Damit Völlerei und Faulheit nun endlich angedeuteter Askese und mehr Bewegung weichen. Ich empfinde mich nicht als Opfer der Pandemie, das möchte ich an dieser Stelle mit ehrlichem Nachdruck feststellen. Ich bin Opfer meiner Schwächen, gegen die ich mich viel zu lange nicht zur Wehr setzte. Wie dem auch sei: Heute prügele ich mich durch einen Marathon.

Nun endlich gilt es den Schleier über meiner Anwesenheit in Stuttgart zu lüften, zwei Autostunden von meinem Wohnort in Bayern entfernt. Ich bin laufverrückt. Im Winter nicht grenzenlos, wie eben erläutert, im Großen und Ganzen aber durchaus. Laufverrückte leiden jedoch unter selektiver Unzurechnungsfähigkeit, nicht unter kompletter Geistesverwirrung. Es fiele mir nicht im Traum ein mein Auto "mal eben so" gen Stuttgart zu steuern, um dort unerkannt und solo den Neckar mit Schritten marathonweit zu vermessen. Wegen des tiefen CO2-Fußabdruckes solchen Handelns, der Verschwendung von vier Stunden Lebenszeit, die ich im Auto verbringe und meiner grundsätzlichen Aversion gegen "heimlich" absolvierte Marathons. Bei langen Läufen zu Hause vermag ich mich allenfalls für 30 Kilometer plus x zu motivieren. Also warum Stuttgart, warum heute, warum am Neckar? - Die Sache ist die: Ich bin Teil einer verdeckten Operation! Der Wettkampf mit Namen 7. Neckarufer Marathon 2021 durfte nicht stattfinden. Doch findet sich im Schreiben, mit dem das Stuttgarter Amt für öffentliche Ordnung die Laufveranstaltung untersagt, ein ebenso konspirativer wie richtungsweisender Satz: "Allerdings können sich ja, sofern die Regelungen eingehalten werden, unabhängig voneinander Läufer auf den Weg machen."

Das nenne ich echte Bürgernähe, wenn zwar von Amts wegen der Haupteingang zugeschlagen, mit gleicher Post aber der Weg zur Hintertür gewiesen wird. Und Veranstalter Michael Weber traute sich, machte aus der Not der Ablehnung flugs eine Tugend. Sagte den Wettkampf ab, tat jedoch zugleich Kund am nämlichen Tage zwischen acht und zehn Uhr morgens vor Ort zu sein, um die Zeit all jener zu nehmen, die trotzdem laufen wollen. Eine Einlaufliste werde es wohl nicht geben, doch versprach er jedem Solo-Marathonläufer eine Urkunde. Und wer wolle, könne sich auch für zwei Euro eine Medaille mitnehmen. Mehr nicht: Keine Verpflegung, kein gemeinsamer Start, kein anschließendes Miteinander, auch keine Streckenmarkierung. Überhaupt kein Miteinander, denn in dieser Hinsicht lassen die geltenden Lockdown-Regeln kein Schlupfloch offen.

Dieses "Mehr nicht" offeriert allerdings genau das, worauf es mir letztlich ankommt: objektive Zeitnahme und Nachweis der Teilnahme. Das "Mehr nicht" genügt auch der Zählordnung des 100 Marathon Clubs, dessen Mitgliedern der Lauf gutgeschrieben werden kann. Zusätzliche Kriterien dafür: öffentliche Ausschreibung und mindestens drei Teilnehmer. Und nun Tacheles: Mehr als dieses "Mehr nicht" braucht Udo meist nicht mehr. Udo, der ohnehin nie für die bei Wettkämpfen ausgefochtenen vorderen Plätze infrage kommt. Allenfalls in seiner Altersklasse, deren "Bestückung" jedoch nicht nur von der Leistung, sondern auch von diversen Zufällen abhängt. Udo möchte auch gar nicht wettkämpfen, sondern einfach nur laufen, beflügelt von der Tatsache dies "unter Aufsicht" zu tun. All dies, das verbliebene "Mehr nicht" und Udos Grundhaltung in Sachen Wettkampf, bestimmt diese verdeckte Operation, seinen Neckarufer Marathon 2021. Offiziell abgesagt, "offiziös" dennoch durchgeführt, auf Lockdown-konforme, vom Ordnungsamt wegweisend gutgeheißene Weise.

Vorbei die Leichtigkeit des Beginns. Vergangenheit meine von Erleichterung begleitete Feststellung, dass es eben doch einen gewaltigen Unterschied macht, ob ich solo daheim umherstreife oder mich dem "Zeitdiktat einer fremden Stoppuhr" unterwerfe. Ein Unterschied, der sich in ausgeruhten Beinen manifestierte, die sich dem Wunsch zu laufen nicht - wie seit Wochen üblich - zäh widersetzten. Müheloses anfängliches Traben, federleichte Beine, bei Kilometerzeiten knapp über sechs Minuten. Kenne ich so schon lange nicht mehr, selbst auf den ersten Kilometern einer Trainingseinheit nicht. Dermaßen überraschend und Freude schürend, dass ich mich zu voraussehbar suizidaler Absicht verstieg: Dieses Tempo durchhalten bis zum Schluss! Da nicht klappen wird, was mangels Training nicht klappen kann, modifizierte ich alsbald die Taktik: Mal sehen wie weit ich in dem Tempo komme! - Nicht mehr sehr weit, worauf ich jetzt, bei Kilometer 23, im Schatten des rechter Hand aufragenden Abhangs trabend, Wetten abschließen würde. Vor ein, zwei Minuten spürte ich den nur wenige Schritte dauernden Übergang von "geht so" auf "geht gerade noch so". Beschreiben lässt sich das nur schlecht: Nun vollführe ich weniger stabile, von lauernder Schwäche begleitete Schritte, dazu verstärktes Zwicken und Zwacken in allen bewegten Fasern.

Mein Blick dringt immer wieder durch spärlichen Baum- und Buschbewuchs, schweift dahinter übers Wasser. Flüsse fließen. Eigentlich. Der Neckar scheint sich diesem Prinzip zu widersetzen, er steht. Zumindest täuscht er das im milden, flach einfallenden Licht des sonnigen Morgens vor. Schuld daran ist nicht der Fluss, sondern wie an so vielem Unnatürlichen auf dieser Welt der Mensch. Der baute zahlreiche Stauwehre mit eingelassenen Schleusenkammern, um Schiffen das Befahren zu erleichtern. Schiffe, von denen ich - das sei hier schon abschließend festgestellt - in etwa fünf Stunden meines Verweilens am Fluss nicht eines zu sehen bekomme. Gibt's so was wie einen Schiffs-Lockdown?

Schon kurz hinterm Startbereich folgt der Uferweg auf mehreren Kilometern dem schmalen Saum zwischen Fluss und jäh ansteigendem Hang. Wo der endet und was dort oben liegt, ist von hier unten nicht einsehbar. Unterbrochen wird die natürliche Einfassung des Flussbetts nur dort, wo das schmale Weidachtal einmündet. Ein etwas bizarrer Ort. Einerseits wurde hier die kanalartige Einfassung des Neckars durchbrochen, eine Renaturierung des Flusses zumindest punktuell in die Wege geleitet. Wieso man die Absicht der Wiederherstellung des einstigen Uferzustands just an derselben Stelle mit einem Koloss von Kunstwerk, der so genannten Landungsbrücke Fellbach, konterkarieren musste, erschließt sich mir nicht. Stählerne Gigantomanie, die in meinen Augen eine der Krankheiten des beginnenden dritten Jahrtausends ins Riesenhafte projiziert: Einfach am Ufer verweilen und schauen ist nicht genug. Unerlässlich der klotzige Steg, von dessen einem Sprungbrett nicht unähnlichen, erhöhten Ende erhabene Blicke übers Wasser streichen. Natur allein genügt nicht, ein "Highlight" muss es sein! Wann endlich ist Schluss mit grobem Unfug von dieser Sorte?

Ein paar hundert Meter danach - oder war's davor? - hielt ein Graffiti Sprayer weiteren Wildwuchs der Moderne im Bild fest. Doch diese Ansicht lässt mich wenigstens schmunzeln: Auf einer Seite des Betonsockels verbreitet ein Smiley gute Laune. Ums Eck verewigte er sprayend, woran spätestens nach dem nächsten Generationswechsel niemand mehr zweifeln wird: "alles is so monoton ohne smartphone"

Noch etwa 800 Meter bis zur nächsten Staustufe, über die ich zum Gegenufer gelangen werde. Gegenwärtig trabe ich am Rand eines Gewerbegebietes der Stadt Remseck am Neckar. Vor einem Betriebsgebäude bleiben meine Augen an einem bunt beschrifteten Lastwagen der Firma Pfiffikus haften. Neben dem griffig-pfiffigen Firmennamen gibt die Fahrzeugaufschrift auch Auskunft zur angebotenen Dienstleistung. Bis vorhin, anlässlich des ersten Umlaufs, war mir nicht einmal das Wort geläufig, geschweige denn die sich dahinter verbergende Geschäftsidee: Lohnverpackung! Also ein Dienstleister, der für deren Hersteller oder Händler Waren vielfältigster Art verpackt und wohl auch versendet. Was ich immer sage: Laufen bildet! Kurz danach, vor versperrtem Zugang am Neckarkai, als hätte ich heute einen Kurs in selten gebrauchten Wörtern der deutschen Sprache belegt, gewährt ein Schild nur Schifffahrtstreibenden Durchgang. - Schon die drei zuletzt erwähnten "vokabularen Petitessen" lohnten frühes Aufstehen und weite Anfahrt.

Rüber und drüben in Gegenrichtung am Ufer zurück. Ein in riesigen Lettern gehaltener Schriftzug auf einer Schallschutzwand macht Werbung für die Zwei-Flüsse-Stadt Remseck (stückweit flussabwärts, hinter meinem Rücken, mündet die Rems in den Neckar). Unterhaltung bieten auf den folgenden Kilometern lediglich Wasservögel - im Nassen dümpelnd oder auf dem Trockenen mümmelnd - und Stuttgarter Infrastrukur. An einem "Lokschuppen" für Straßenbahnen trabe ich vorbei und wenig später an einer gewaltigen, sich über fast anderthalb Uferkilometer erstreckenden Kläranlage. Genau genommen stammen diese Details meiner Wahrnehmung aus Umlauf eins, der ohnehin vorhandene Ortskenntnis auffrischte. In diesen Minuten, unterwegs auf den Marathonkilometern 27 bis 29, bekomme ich von alldem nicht mehr viel mit. Ich bin müde, starre überwiegend auf einen Punkt unweit vor meinen Füßen und versuche mich irgendwie bei Laune zu halten. Das gelingt nicht zuletzt durch beständiges Setzen von nicht allzu weit entfernten Zwischenzielen. Seit dem Uferwechsel habe ich eine Fußgängerbrücke im Sinn, die mir alsbald wieder erlauben wird über Wasser zu gehen ... noch ungefähr ein Kilometer bis dorthin, dann ein weiterer bis zum nächsten Trinkstopp im Zielbereich ... Durch das Abarbeiten solcher Wegschnipsel habe ich mir nun immerhin schon 29 Kilometer erkämpft, ohne dass sie mir sprichwörtlich lang geworden wären.

Zwischen Fußgängerbrücke und Start-/Zielbereich decken sich Hin- und Rückweg. Einmal mehr, nun schon zum vierten Mal, achte ich bewusst darauf, wer mir da so entgegen joggt, läuft oder gar rennt. Bei dieser oder jenem bin ich sicher, dass auch sie oder er "unter Aufsicht aber ohne Wettbewerb" das Neckarufer joggend erkundet. Doch bilden sie und er und ich - bilden "wir" - als diffuse, ohne Startnummern laufende Gruppe eher die Minderheit. Vorhin im Startbereich brachte es ein mir unbekannter "konspirativer Mit-Marathoni" auf den Punkt: "Inmitten der vielen sonstigen Jogger gehen wir Marathonläufer heute unter!" Sicher beruhigend für Veranstalter Michael, der sich im Vorfeld besorgt zeigte, dass wir als "Gruppe" oder gar "Veranstaltung" auffällig werden könnten. Als jährlich bittstellender Veranstalter kannst du vieles brauchen, Ärger mit Behörden gehört ganz sicher nicht dazu.

Ich stehe im Start-/Zielbereich, schlucke das zweite Gel, spüle es mit Wasser aus meiner Trinkflasche runter. Fühle mich zerschlagen und ausgelaugt. Alles in mir schreit nach Erholung. 31 Kilometer gelaufen, unzweifelhaft "habe ich fertig", jetzt schon. Weiter war ich seit meinem Traumlauf auf griechischer Erde, Anfang November, nicht mehr unterwegs gewesen. Und nach den wenigen langen Läufen seither war ich ausnahmslos am Ende. Ich mache mir folglich keine Illusionen darüber, in welchen Zustand mich die verbleibenden 11 Kilometer versetzen werden. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass ich sie komplett laufend überstehen werde. Notfalls wird aus Laufen eben Traben. Und wenn ich auch dafür zu schwach sein sollte, dann bleibt noch Tippeln.

Ich mache mich auf den Weg, gehe ein paar schnelle Schritte, falle in verhaltenen Trab - der alte Gaul läuft sich wieder frei. Nach ein-, zweihundert Meter hat sich das der kurzen Pause geschuldete "Eckige" meiner Bewegungen abgeschliffen. Es geht. Ich bahne mir einen Weg durch Massen von Spaziergängern und Radlern, die vor allem auf diesem Streckenteil zwischen Neckarufer und benachbartem Max-Eyth-See unterwegs sind. Naherholungsgebiet. Mehr, unfassbar viel mehr Leute als letztes oder vorletztes Jahr an diesem Ort und zu dieser Stunde. Corona nervt und wie! Einen Kilometer Park am See gilt es abzumessen, darin enthalten auch eine ultrakurze "Schikane" mit Wendemarke. Anders als sonst macht kein Pylon auf den Umkehrpunkt aufmerksam. Trotzdem ist die Marke nicht zu übersehen. Michael hat sie ebenso erneuert, wie er (entgegen seiner Ankündigung) verschwörerisch-dezente Markierungsstriche in gelber Sprühkreide überall dort hinterließ, wo die Strecke ihre Richtung ändert.

Das anspruchsvollste Hindernis mit etwa 10 Meter Höhendifferenz baut sich vor mir auf, eine weitere Fußgängerbrücke. Ich setze kurze Schrittchen, umkurve steil aufwärts zwei Gruppen von Fußgängern, vermutlich Familien. Vor Jahresfrist war ich auf der Brücke - von einzelnen Läufern abgesehen - allein, heute birst sie fast vor Menschen. Zwei jüngere Frauen betrachten die im Geländer hängenden Schlösser. Schlösser in allen Farben mit Herzen drauf, Namen, Daten. Eine gewaltige Ansammlung von Hoffnung auf dauerhafte Zweisamkeit, für die ich jetzt keine Augen mehr habe. 21,1 Kilometer zuvor verhielt ich kurz den Schritt, um ein paar Schnappschüsse davon mitzunehmen. Wieder hinab, einen Haken schlagen, zurück ans Ufer. Auch hier, unterhalb eines mit Weinreben bewachsenen Hanges, Spazierende, Radler, Skater, Jogger auf Gegenkurs. Komme an zwei Gasthäusern vorbei, inzwischen für ein bisschen Umsatz auf To-Go-Basis geöffnet. Menschen mit Gesichtsmasken am Eingang. Die einen bestellen und nehmen mit, die anderen tragen herbei. Gasthäuser, deren Gastlichkeit nicht mehr ohne rüden Anstrich auskommt. Statt freundlichem Willkommen überall laminierte, in barschem Ton gehaltene Anweisungen: "Weiterlaufen!" - Im Ernst: Alle paar Meter so ein Schild, beidseits des Weges, sogar entlang des vormaligen Parkplatzes, seiner Bestimmung nun vermittels absperrendem Trassenband enthoben. Weiterlaufen! Das ist ein bisschen gruselig. Kenne ich so nicht. Immerhin gelten dieselben Regeln auch bei mir zu Hause und da geht das doch auch alles ohne Schild gewordene "Watschn": Weiterlaufen! - Weiterlaufen! - Weiterlaufen! ... Doch ja, das klingt ein bisschen wie "verpiss dich!"

Ich laufe den ersten Bogen einer weit gezogenen S-Kurve des Neckars aus. Drehe binnen zweier Kilometer von Laufrichtung Süd auf Ost. Ein schmaler Damm trennt den Neckar hier von der Stadt. 33 Kilometer gelaufen, noch neun. Einstellig. Heute bin ich zum 282. Mal marathonweit oder länger unterwegs. Und noch immer nutze ich mental dieselben, Mut und Durchhaltewillen stimulierenden Mittel. 'Einstellig!' denken und anhängen: 'Was sind schon neun Kilometer? Bald geschafft!' Und schon lenke ich meine Gedanken auf das nächste Zwischenziel, das Rendezvous mit meiner ausgesetzten Trinkflasche. Noch anderthalb Kilometer bis dahin ...

Mehr Rutschen und Tasten als bewusstes Steigen - mit Umsicht überwinde ich die paar Meter abwärts in der Uferböschung, komme zuletzt doch noch ins Straucheln. Ich greife nach den Ästen des Haselnussbusches, in dem ich die Flasche versteckt habe, fange mich ab. Mit der Flasche in der Hand zurück auf den Weg, weitergehen, dabei trinken und ... noch mal trinken. Nach kurzem Abwägen Verzicht aufs dritte Gel, das ich mir zur Sicherheit in die Jackentasche steckte. Es muss auch so gehen ... besser: laufen. Ich kippe das nicht verbrauchte Wasser aus und klemme mir die abgeplattete Flasche unter den rückwärtigen Hosenbund. Schnellere Geh-, alsbald Tippelschritte. Mehr und mehr verlängert sich die Schrittweite bis mein Fahrgestell endlich, vielleicht eine Minute später, wieder rund läuft.

Drüben am anderen Ufer rückt langsam das Theaterschiff Stuttgart ins Blickfeld. Noch kann ich die Schrift an der Bordwand nicht lesen, erkenne aber klar die Umrisse des großen, zum Musentempel umgebauten Lastkahns. Nur ein paar Meter weiter mein nächstes Zwischenziel, eine Brücke, sie markiert den letzten von vier Umkehrpunkten. Ein denkbar kurzer Countdown 4-3-2-1-Ziel, der mir ungefähr an derselben Stelle auf Runde eins in den Sinn kam, als noch drei Umkehrpunkte abzuhaken waren. Auch davon geht Ansporn aus, der natürlich nicht verfinge, stünden mir nicht noch andere Zwischenziele zur Verfügung ... Über die Brücke und nun zurück, Kurs Zielstrich, noch "lächerliche" fünf Kilometer ...

"Lächerliche fünf Kilometer" - Gegner, die einen beunruhigen muss man kleinreden. Und dann ist noch ein anderer altbewährter Aushalte- und Streckenlängenrelativierungstrick, wenn's schon teuflisch schmerzt im Gebein: Ich stelle mir die letzten fünf Kilometer einer meiner Hausstrecken vor ... 'Nicht mehr weit, nein, wirklich nicht mehr weit!' ... Wenn ich nur nicht schon so erledigt wäre. Ausgebrannt. So was sollte ich nicht denken, nicht vorm geistigen Auge das Bild ausgebrannter Boosterraketen früherer US-Raumfähren provozieren, wie sie qualmend und unaufhaltsam der Erde entgegen stürzen. So fertig bin ich noch nicht, noch habe ich die volle Kontrolle über meinen Lauf!

Besitze ich die wirklich? Der Blick auf die Tempoanzeige meiner Uhr belehrt mich eines Besseren. Längst kann ich das Tempo der ersten Runde nicht mehr halten, dümpele irgendwo bei 6:20 bis 6:30 min/km herum. Soll ich dagegen ankämpfen? Wozu, für wen oder für was, sollte ich das tun? Was ich hier treibe ist Training, nicht weniger aber auch nicht viel mehr. Ich muss jetzt nur noch ankommen. Laufend ankommen, um meiner selbst gesetzten Maxime "Gehen geht nicht" gerecht zu werden. Ich überschlage Restdistanz und dafür notwendige Zeit: Ja, okay, im Moment sieht es sogar so aus als könnte ich insgesamt unter 4:30 Stunden bleiben. Was "optisch" mehr hermacht, mir im hellen Licht der Märzsonne Stuttgarts betrachtet aber eigentlich piepegal sein kann.

Zum zweiten Mal am großen Spielplatz vorbei, der nun, am frühen Nachmittag, den Eindruck eines Wimmelbildes vermittelt. Titel: "Schulhof während großer Pause". Hoppla! Ein Steppke, vielleicht zwei oder drei Jahre alt, rast unweit vor mir über den Spazierweg, verfolgt zwei Spielkameraden, die sich Richtung Wohnviertel davonmachen. Ist der etwa alleine hier? In dem Alter, das kann doch nicht sein!? Ein Elternteil, das dem Ausreißer nachsetzen würde, kann ich nicht erkennen. Bestimmt irgendwo hinter meinem Rücken beruhige ich mich und laufe weiter ... Alles an mir ist inzwischen so steif und arretiert, dazu ermüdet, dass die impulsiv gedanklich eingeleitete Kopf- und Körperdrehung nicht mehr zur Ausführung gelangt. Weiter, immer weiter, noch viereinhalb Kilometer.

Die letzten Häuser des Stadtteils Bad Cannstatt bleiben hinter mir zurück. Linkerhand der Fluss, zur Rechten ein stufiger, in Hängeterrassen angelegter, steiler Weinberg. Ich habe keine Schönheitspreise zu vergeben, doch wenn, dann wäre dieser Teil des Weges mein Favorit. Selbst in dieser Jahreszeit, da die Rebstöcke noch farblos kahl und steif wie Zinnsoldaten in den Himmel ragen. Weiter, noch vier Kilometer. Meist klebt mein Blick auf dem Boden vor mir. Nicht weil ich alarmiert oder aufmerksam sein müsste. Mein Kopf wiegt inzwischen mindestens eine Tonne, neigt sich mehr und mehr Richtung Brust. So bleibe ich auf den stets gleichen Bildausschnitt beschränkt: links außen vom Wasser reflektiertes Licht, ein paar Meter Uferböschung, mal mit, mal ohne Bewuchs, mittig das Trottoir, auf dem ich laufe, rechts davon die Straße. Klar, das ist nicht sonderlich kurzweilig, aber schöne Bilder suche ich längst nicht mehr. Es geht einzig noch darum die letzten, qualvollen Minuten irgendwie zu ertragen. Das innere Wundsein aushalten, der Erschöpfung widerstehen, sich nicht laut jammernd auf den Boden schmeißen ...

Vor etlichen Jahren, fast in einem anderen Leben, war ich Berufssoldat. Angetreten, um Gesellschaft und Verfassung, die so genannte "Freiheitlich Demokratische Grundordnung" (FDGO) zu verteidigen. Selbst wenn ich, was gottlob nie nötig war, dafür Leib und Leben hätte verwenden müssen. Und damit war es mir ernst. Ich war - und bin es noch - durchdrungen von der Idee dem menschenverachtend Totalitären von außen und dem hirnrissig Rassistischen im Innern die Stirn zu bieten. Ich will Weltoffenheit, Menschlichkeit, verantwortungsvoll (!) gelebte, ansonsten uneingeschränkte Freiheit für jedermann. Diese Haltung basiert auf der Überzeugung, dass ebendiese, zugegeben fehlerhafte FDGO von allen möglichen politischen Systemen das bestmögliche, menschlichste Auskommen ermöglicht. Was vor allem an diesem Staatskonstrukt stimmt sind die Säulen. Etwa die Garantie der Menschenrechte, Gewaltenteilung, beschränkte Macht, so was. Auch Parteien sind wichtig, weil sie das politische Hauptinstrument bilden, um Volkes Willen zu kanalisieren. Zur Stellung der Parteien in unserem Gemeinwesen lohnt ein Blick ins Grundgesetz, auf die fünf Absätze von Artikel 21!

Jetzt ist es passiert, jetzt hat ihm die Tortur das Hirn vernebelt! Mitten im Laufbericht sein politisches Glaubensbekenntnis!?? Pardon, aber ich musste das loswerden, meine unauflösliche Verankerung im "System" verdeutlichen. Denn in diesem Augenblick wiederholt sich inneres Ringen zwischen schlechtem Gewissen und schadenfroher Zufriedenheit. In Höhe eines Laternenpfahls, links unterhalb, im Gestrüpp eines Gehölzes, liegen die Überreste zweier Wahlplakate. - Ach ja, das noch: Am nächsten Sonntag wählt Baden-Württemberg ein neues Länderparlament. - Die heruntergerissenen Werbebanner der Partei signalisieren mit blauer Farbe Systemtreue. Der Gesinnung eines großen Teils ihrer Mitglieder und führender Mandatsträger entsprechend müssten sie jedoch in beschämenden Brauntönen gehalten sein. Skandalös und bloßstellend, was manche dieser Leute schreiben oder sagen. Niemals können und niemals dürfen sie eine Alternative für Deutschland werden ...

Ein paar Schritte weiter bereits fällt die kurze "emotionale Aufwallung" in sich zusammen, verblasst, gerät in Vergessenheit. Beim ersten Umlauf war das noch anders, da beschäftigte mich zunächst die Frage, gegen welchen Paragraphen das Beschädigen oder Entfernen von Wahlplakaten eigentlich verstößt*. Bis ich dann mir selbst und der insgeheimen Freude über diesen Frevel nicht länger ausweichen konnte. Nach kurzem Sinnen erteilte ich mir Absolution, wie folgt formuliert: Ich missbillige die Tat, den ungesetzlichen Angriff auf die Meinungsfreiheit, doch nicht meine Zufriedenheit. Denn Gedanken (und Gefühle) sind frei!

*) Je nach Ausführung der Beseitigung von Wahlplakaten kann es sich um Sachbeschädigung oder Diebstahl handeln. Auf der Seite anwalt.org steht Genaueres.

Auf die mit Weinstöcken gespickten Hängeterrassen folgen Bootshaus und Gaststätte des Stuttgart-Cannstatter-Ruderclubs. In den Vorjahren konnte ich hier sonntäglichen Trainingsbetrieb beobachten, wie Boote zum Steg getragen und zu Wasser gelassen wurden. Wie überhaupt mehrfach Zweier, Vierer, Achter eifrig pullend den Fluss befuhren. In diesem Jahr knebelt der Lockdown auch diesen Zweig des Sports. Einzige Ausnahme war ein mit Stechpaddel bewehrter Einer-Kanadier, den ich vor Stundenfrist in Höhe des Zieles ausmachte. Corona nervt gewaltig!

Noch zwei Kilometer - fast angekommen. Aber eben nur fast und so trotte ich entkräftet und in Gedanken "faselnd" dem Schlussstrich entgegen. Mit "faseln" bezeichne ich das Phänomen vielfach durch mein Bewusstsein irrlichternder, sinnloser Gedankenfragmente. Eine Art endloses Stöhnen in Form stummer, ohne jede Veranlassung und Zusammenhang auftauchender Worte oder Wortkombinationen. Gerade so als wollte mein Geist sich mit "Irgendwas-Denken-ganz-egal-was" dem stetig hässlicher werdenden Gefühl körperlicher Bedrängnis erwehren oder mich davon ablenken. Was nicht gelingt, schon eine ganze Weile nicht mehr gelingt.

Unter der letzten Brücke hindurch, danach rechts ab. Hier beginnt die Parkanlage um den Max-Eyth-See. In unbedeutender Steigung über dunkelrote Platten aufwärts. Schon diese paar Millimeter Höhendifferenz pro Laufschritt treiben meine Herzfrequenz in die Höhe. Kurz vorm Finale nehme ich noch einmal Tempo raus. Muss einen Rest von Kontrolle behalten, um den Myriaden von Fußgängern auszuweichen, denen ich hier begegne. Unfassbar viele Menschen flohen vor der Corona-Tristesse aus ihren Behausungen hierher ins Freie. Slalom ist angesagt, um den gebotenen Sicherheitsabstand einzuhalten. Kinderwägen werden geschoben, Drei- und sonstige Mehrräder von Kindeskraft vorwärts bewegt. Zu allem Überfluss pflügt mir nun noch ein Streifenwagen der örtlichen Polizei entgegen. Ärgerlich ist nicht dessen Auftauchen; ärgerlich ist, dass es Gruppen von Hirnverbrannten gibt, die so eine Patrouille nötig machen!

Im Brei unguter körperlicher Empfindungen vermag sich jedoch kein Ärger in Szene zu setzen. Zumal eine Wahrnehmung immer stärker wurde, inzwischen alles überstrahlt: Freude es wieder einmal geschafft zu haben! Ich bin völlig ausgelaugt aber ich laufe noch. Und das nicht mal übermäßig langsam. Tatsächlich wird es mir gelingen unter 4:30 zu finishen. Einerlei zwar, aber doch: Hurra! In ausufernden Bögen umkurve ich Passanten, arbeite die letzten 500 Meter ab. Noch einmal vorbei an den zu Imbissen verkommenen Gaststätten, die auf dieser Seite des Sees allerlei "To-Go" offerieren. Schalen mit Pommes-rot-weiß werden davon getragen. Überall am Seeufer lagern, ruhen, rasten, picknicken Menschen. Ich tippele vorbei, überwinde die letzten Meter, setze endlich meinen Fuß hinter den weißen Start-/Zielstrich und beende die verdeckte Operation. Nach 4:29:29 Stunden ist mein erster Marathon des Pandemie-Jahres 2021 Geschichte.

 

Fazit zur "Nicht-Veranstaltung" am Neckarufer in Stuttgart

Schon in der Bibel werden Menschen erwähnt, "die Guten Willens sind" (Lukas 2,14). An diesem ersten Märzsonntag 2021 begegneten mir auch welche am Neckarufer. Vor allem natürlich der verhinderte Veranstalter Michael Weber, der seinen Neckarufer Marathon nicht wie gewohnt durchführen durfte. Aber auch (einschließlich mir) 67 Unentwegte, die sich den flugs aus der Zählordnung des 100 Marathon Clubs gestampften, Lockdown-konformen Regeln einer "Ersatzhandlung" unterwarfen. Wie sich zeigte ist es möglich eine Marathonveranstaltung erfolgreich ohne die verbotenen Kriterien üblicher Veranstaltungen - Versammlung und Versorgung - durchzuführen. Michael Weber wagte das Experiment, schrieb die individuelle Startzeitnahme zwischen 8 und 10 Uhr morgens aus, versprach darüber hinaus jedem "Teilnehmer" eine Urkunde. Alles kontaktfrei.

Tatsächlich war das Experiment infolge umsichtigen Handelns aller Beteiligten von solchem Erfolg gekrönt, dass Michael Weber schlussendlich doch eine Teilnehmerliste mit Laufzeiten ins Netz stellte. Warum auch nicht? An dem, was war und wie es war kann niemand Anstoß nehmen.

Was es nicht war, beschrieb ich oben. Unter anderem kein Wettkampf. Dieses Element hätte Chancen- also auch Zeitgleichheit des Starts und die Möglichkeit miteinander zu ringen vorausgesetzt. Doch offensichtlich gibt es viele wie mich, die nicht mehr als das Lauferlebnis suchen und das "Laufen unter Aufsicht", um ihre Sammlung von Marathon und länger erweitern zu können.

Fazit: Danke Michael Weber für den Mut dieses Experimentes. Und gerne immer wieder!

 

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