22. August 2020

Fliegen für den Teufel   oder:

Die Rache des Baumes  -  Oberlausitztrail 2020

Mein Kfz-Kennzeichen beginnt mit einem "A" für Augsburg. Ungefähr ein halbes Tausend Fahrkilometer trennt meinen Wohnort von der Oberlausitz. Auf dem Parkplatz in Gaußig, Start und Ziel des Oberlausitztrails (OLT), etwa 10 Kilometer westlich von Bautzen, entdecke ich noch mehr Weitgereiste: "E" für Essen, mehrere "B" aus Berlin, "AC" meldet einen Aachener, "KS" gleich Kassel und andere mehr. Unter diesen "Ultraschlachtenbummlern" nehme ich eine gewisse "Sonderstellung" ein. Meine Frau Ines stammt aus der Gegend, weswegen mir die Lausitz seit 30 Jahren vertraut ist. Und den Heimvorteil "Schwiegermutter" ausspielend dauerte meine Anfahrt vorhin nur eine gute halbe Stunde.

Was die vielen Wessis im entlegenen Läuferosten angeht, liefert die von Covid-19 bis zur Schwindsucht ausgedünnte Liste der Marathon- und Ultraveranstaltungen die Erklärung auf dem Silbertablett. Auch mein Hiersein ist - Gelegenheit zu einem Familienbesuch hin oder her - letztlich dem Fehlen heimatnaher Ultraläufe geschuldet. Geballte "kausale Evidenz", die mich nach alternativer Rechtfertigung für eine weite Anreise - etwa einen für Spezialisten attraktiven, da schwierigen Trail - gar nicht erst suchen lässt. Das Parkplatzgespräch einer mir unbekannten Läufergruppe scheint meine Auffassung zu bestätigen: Da schildert einer den gescheiterten Versuch eine Bekannte zum OLT zu überreden. Die Straßenläuferin habe jedoch trotz Corona-bedingt fehlender Alternativen verzichtet, weil sie keine Trail- und Höhenmetererfahrung vorzuweisen habe.

Da geht es ihr ein bisschen wie mir: Als ausgesprochener Straßenläufer mag ich keine Ultratrails, schon gar nicht, wenn sie mit beachtlichen 1.450* Höhenmetern auf 48 Kilometern angereichert sind. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Schlimmstenfalls subsummiere ich die kommenden Stunden unter der Rubrik "Inübunghaltung". Mit Blick auf meine Laufabsichten im späteren Jahr kann ich es mir zu diesem Zeitpunkt einfach nicht leisten Reichweite und Bergtauglichkeit schleifen zu lassen. Außerdem bilde ich mir ein die Landschaft der Oberlausitz zu kennen. Wirklich knochenharte Trails und grenzwertig fordernde Anstiege über eine Streckenlänge von 48 Kilometern verwies ich ins Reich läuferischer Fantasie. Von zwei entscheidenden Fehlern der erste, der den anderen nach sich zieht: Ich pokere und entscheide mich für meine am besten eingelaufenen, Trittsicherheit auch auf Feld- und Waldwegen gewährenden Straßenschuhe.

*) Der barometrische, bisher verlässlich genaue Höhenmesser meiner Suunto-GPS-Uhr meldet im Ziel 1.830 Höhenmeter! In Auf- und Abstieg lediglich um 4 Meter differierend.

Zwei Umstände halten sich hinsichtlich meiner Be- und Entlastung die Waage: Ich besitze Trailerfahrung und mehrmals musste ich erleben, dass nicht wirklich Trail drin war, wo das Etikett Trail draufklebte. Der "Elmtrail" in Niedersachen über 72 km zum Beispiel ist nichts anderes als ein reizvoller, ausgedehnter Landschaftslauf auf überwiegend Feld- und Waldwegen. Trotzdem hängt die meine Naivität und Ignoranz tragende Waagschale um einiges tiefer. Musste ich nicht schon etliche Male in Trainingsläufen anlässlich von Familienbesuchen feststellen, dass fussfreundliche Feld- und Waldwege in der Oberlausitz seltener sind als asphaltierte Straßen? Dass man auf gut Glück abbiegend, mit großer Wahrscheinlichkeit entweder in einer Sackgasse endet oder Pfade beschreitet, die Straßenläufer als Terroranschlag auf die Fußgesundheit begreifen? Mit anderen Worten: Ich hätte wissen können, nein: müssen, was da auf mich zukommt.

Zumindest hinsichtlich des Laufwetters bestand kein Zweifel, worauf ich mich einlasse. Die Wetter-App drohte exakt für den Start um 9 Uhr mit Blitz und Donner. Schon Tage vorher stand die Prognose "Durchzug einer Kaltfront" für diesen Samstag unverrückbar fest. Was nicht heißt, dass es kalt werden würde. Nach tags zuvor 36 Grad Hitze über flimmernder Flur fürchtete ich allerdings Gewitterstürme überstehen zu müssen. Jetzt, kurz vor neun, scheint es, als wolle der Himmel das App-Orakel unbedingt einlösen: Eine formlose, dunkelblaue Walze rückt aus Richtung Nordwesten heran. Auf zwei wichtige Utensilien wollte ich aus diesem Grund in meinem Laufrucksack nicht verzichten: Auf die ultradünne Laufjacke, vor allem aber die Schildkappe, um als Brillenträger nicht nach ein paar Regenminuten schon blind wie ein Maulwurf durch die Lausitz zu stolpern.

Covid-19 beeinflusste das Abholen der Startnummer. Ich hatte mein Gesicht zu verhüllen und Einbahn-Gehwege einzuhalten. Zum - eigentlich vermeidbaren - Massenstart kommt es dann aber doch, weil gut hundert Ultras sich gewohntem Herdentrieb folgend zusammenrotten. In dieser Hinsicht kommt mir die Tatsache zupass als reichlich trail- und berguntauglicher, zudem älterer Läufer in diesem Bewerb ohnehin nichts reißen zu können: Das Startkommando ereilt mich im deutlichen Abseits hinter dem Teilnehmerfeld. Keine fünf Minuten später liegt das schmucke Gaußig - klein, aber so weit ich sehen konnte oho - hinter mir. Zu meiner Beruhigung weicht noch in diesen Anfangsminuten das elende Gefühl in bleischwerem Körper unterwegs zu sein. Auf dem moderat ansteigenden ersten Waldweg komme ich nach und nach in die Gänge. Rasch verjüngt sich der vor mir her drängende Läuferschwarm ...

#####  Ende des im gewohnten Stil gehaltenen Laufberichts  #####

Wie gewohnt zu berichten, setzte voraus Schauplätze, Abschnitte, Orte mehr oder weniger vollständig, vor allem zeitlich folgerichtig zu erinnern. Doch genau das lässt der Kurs nicht zu, denn: "70 Prozent der Strecke verlaufen im Wald." Das ist nicht meine Einschätzung, sondern Aussage des Sprechers anlässlich einer Kurzeinweisung vorm Start. Dazwischen joggt man zwischen und über landwirtschaftliche Nutzflächen, anfangs Felder, später Weideland. Wie sollte ich unter diesen Gegebenheiten Stellen benennen, an denen mich dieses oder jenes Gefühl beherrschte? Die Bäume sind auch in der Oberlausitz nicht nummeriert. Obendrein entwickeln sich Empfindungen oft tendenziell und über längere Zeit. Ich werde also munter drauflos schreiben und etwaige zeitliche Brüche in meinen Erinnerungen ignorieren. Durch Auswerten der unterwegs geschossenen Fotos und des aufgezeichneten Tracks ist es möglich, einige meiner Erlebnisse mit Zeit- und Kilometerangaben zu versehen.

#####  Schilderung meines Erlebnis-Sammelsuriums  #####

Der Anfang gestaltet sich erträglich. Sowohl hinsichtlich der Streckenbedingungen, als auch Im Bezug auf die Witterung. Gut belaufbar die Wege, wenig Fußschredderndes, und der fürs Wetter zuständige Laufheilige hält uns trocken von oben. Einstweilen. Was mir allerdings wenig nutzt, weil ich schon nach wenigen Schritten im eigenen Saft schwimme und unablässig Schweiß von der Stirn wische. Unter geschlossener Wolkendecke steht die Luft, etwa 24°C warm und mit Feuchtigkeit gesättigt. Schon am frühen Morgen herrschte eine Schwüle, die anlässlich der geringsten Bewegung Schweißflecken verursachte.

Wenn ich den Wald an der Strecke einmal beschreibe, dann behält das für jeden der vielen von Bäumen gesäumten Kilometer Gültigkeit. Ich komme durch Laubwald, Nadelwald und auch Areale mit gemischtem Bestand. Vorwiegend älterer Forst, wenig Schonungen, dafür häufig Flächen auf denen aktuell Holz eingeschlagen wird. Für Läufer relevant, weil in diesen Zonen schwere Maschinen die ohnehin oft miserablen Wege gänzlich ruinierten. Je nach Wetter findet man dort trockene Mondlandschaften oder Matschsuhlen vor. Trotzdem: Wen Wald begeistert, der ist in diesem Teil der Lausitz am rechten Fleck. Das richtet sich an Kurzbesucher, die die Südostecke Deutschlands vorwiegend als nicht sonderlich waldreichen, dafür landwirtschaftlich intensiv genutzten oder gar vom Bergbau ruinierten Landstrich in Erinnerung behielten.

Vom Auftakt und den Schlusskilometern abgesehen entbehrt der Kurs flacher Passagen, kennt nur zwei Orientierungen, rauf oder runter. Im veröffentlichten Streckenprofil zeichnen sich markante Zacken ab, die man - erst einmal unterwegs - nur ausnahmsweise zuordnen kann.* Den Schlussanstieg nehme ich von diesem Empfinden aus. Er wird sich mir unauslöschlich einprägen. Im Übrigen verliere ich im steten Wechsel des Auf und Ab alsbald jede Orientierung. Binsenweisheit: Für eine Gesamtlänge von 48 Kilometern muss ein Streckenplaner in einer Landschaft, der hohe Berge fehlen, zig An- und Abstiege aneinander stückeln ...

*) Auf der Startnummer ist das Streckenprofil ohne Kilometerangaben abgebildet. Daran mochte sich der eine oder andere orientieren. Mir musste dies misslingen, weil ich den Seitentausch, der durchs "Hochklappen" der am Startband befestigten Startnummer entsteht, nicht berücksichtigte. Irgendwann stellte ich meine nutzlosen, verwirrenden Versuche ein. McMurphys Gesetz: Was immer auch schiefgehen kann, es wird schiefgehen!

Konfrontierte ich nun den Leser ohne Ortskenntnis "unvorbereitet" mit jenen Abschnitten des Geläufs, die mir in der Hauptsache im Gedächtnis blieben, entstünde mit hoher Wahrscheinlichkeit ein verfälschender Eindruck. Selbstverständlich erleichtern viele Kilometer leicht zu belaufender Wege das Vorwärtskommen. "Leicht zu belaufen" im Sinne von "technisch unschwierig", "leicht" auch im Sinne von "wenig Energieaufwand". Wo beides zusammentrifft, fühlt sich ein Straßenläufer wie ich am wohlsten. Zur Kategorie "leicht" zähle ich aber auch Graspisten, über die einen der OLT häufiger schickt. Schätzen möchte ich deren Anteil nicht. Die vermehrte Anstrengung auf nachgiebigem, federndem Untergrund verleitete mich garantiert zu Übertreibungen.

Ziemlich genau 50 Minuten nach dem Start beginnt es zu tröpfeln. Einstweilen gut auszuhalten und ich bin nicht einmal unzufrieden mit dem Wettergeschehen. Schließlich war nicht die Frage ob, sondern nur wann die körpereigenen Säfte mit äußerer Nässe verdünnt werden würden. Außerdem vernehme ich trotz vielfach konzentrierten Lauschens nicht das leiseste Donnergrollen, dem meine Hauptsorge galt. Also nestele ich die Schildkappe aus der hinteren Rucksacktasche heraus, setze sie auf und füge mich in mein feuchter werdendes Schicksal.

Wie gesagt: Gut auszuhalten, zumal der himmlische Gärtner die Brause gar nicht richtig auf- und nach wenigen Minuten schon wieder zudreht. Ein Spielchen, das er bei wachsender Schauerdauer nun stundenlang mit uns spielt. Nervig daran eigentlich nur das wiederholte Verstauen der Kappe im Hosenbund. Die Hut-ab-Hut-auf-Manöver tragen meinem Bedürfnis Rechnung nach Möglichkeit ohne sicht- und Zugluft verwehrende Kopfbedeckung zu laufen. Das hat mit jenen Gründen zu tun, die mich dazu verleiten mir Ausdauerexzesse wie diesen überhaupt anzutun: Ich will Laufspaß genießen! Und der ist unter einem doofen Deckel mit Krempe nun mal merklich eingeschränkt. Rückblickend bewertet hätte ich das nervtötende Hantieren mit der Kappe allerdings gerne fortgesetzt. Nach gut drei Stunden setzt heftiger Landregen ein, der mich bis zum Zieleinlauf beträufelt. Wobei der Regen an sich kaum stört. Nass bin ich ohnehin und mit dem gelegentlichen Anlaufen der Brille komme ich auch klar. Nur leider verwandelt der ergiebige Guss diverse Passagen des Geläufs in hanebüchene Rutschbahnen ...

Ein erster, ernsthafter, noch trockener Aufstieg, nach gerade mal 20 Minuten spricht eine Warnung aus: Der zunächst harmlose Waldweg verliert sich in einen steilen, von Vegetation überwucherten, mit Löchern und Rinnen durchzogenen Pfad. Ausreichend weise oder erfahrene unter den gut hundert Läufern empfangen und respektieren diese Warnung. Udo gehört nicht dazu. Waren doch nur paar hundert Meter denkt der bei sich, wird schon nicht so schlimm werden. Und tatsächlich scheint ihm der Weiterweg recht zu geben. Ein ausgesprochen gutes (eben darum seltenes) Exemplar der Spezies Feldweg folgt, mit hübschem, die reizvolle Oberlausitzer Landschaft erfassendem Rundblick. Es folgen ein Fußbehaglichkeit gewährendes Stück Straße und ein eher harmloser Buckel im Forst. Dann wieder am Feldrain entlang tippeln, auch erträglich. Erst kurz vorm nächsten Ort (der, in dem es erstmals zu regnen beginnt) prüft böse steiles und ruppiges Gefälle die Festigkeit der Bänder, die das Knöcherne im Fuß zusammenhalten. Um diesen Weg zu "pflastern", suchten hiesige Altvordere einst die ungeeignetsten Steine zusammen, die sie finden konnten. Schauerlich.

Weitere ohne merkliche Abnutzung zu bewältigende Anstiege folgen. Wenn es anfängt wirklich hart zu werden, lässt die Steigung nach, folgen wieder ein paar Meter zum Verschnaufen. Fragte man mich jetzt, wäre ich bester Dinge und, was den Streckendesigner angeht, voll des Lobes. Schließlich kommt zum ersten Mal, was kommen muss, kommt es knüppeldick. Sowohl besagte Knüppel in Holzausführung, landläufig als Wurzeln bezeichnet, als auch steil hinan zwischen Steinen. Genauer: ein Irrweg im Steinhaufen. Ich wuchte mich hindurch, kämpfe mich hinan. Noch reichen Puste und Power mein sportliches Credo einzuhalten: Alles laufen, niemals gehen! Es tut noch nicht ausreichend weh, um bereits jetzt Zweifel an der Realisierbarkeit dieser an mich selbst gerichteten Grundforderung aufkommen zu lassen.

Gemeine Felsbrocken: Weil sie zwar Energie in rauen Mengen verschlingen, zugleich aber den Wanderpfad malerisch einrahmen. Der ganze Berg scheint aus einem riesigen Haufen großer Steine zu bestehen. "Blockmeer" werde ich irgendwann später als Begriff dafür auf einer Tafel lesen. Ich schwanke - und das nicht zum letzten Mal - zwischen lautlosem Fluchen und landschaftlichem Entzücken. Rauf, immer weiter rauf. Das Schöne kaschiert das Anstrengende - hab ja auch erst 14 Kilometer zu diesem Zeitpunkt auf dem Zähler. Ein letzter steilerer Aufschwung zwischen Findlingen, dann laufe ich einem offiziellen Fotografen vor die Linse ... und stehe auf dem Gipfel des Valtenbergs, vor einer Baude* mit steinernen Turm. Gemäß nachträglicher Recherche: Der Valtenberg bildet mit 587 Metern Seehöhe die höchste Erhebung des Lausitzer Berglands.

*) Der Ausdruck "Baude" steht im hiesigen Sprachschatz für eine (Berg-) Hütte.

'Geht doch. War gar nicht so schwer!' So oder so ähnlich optimistisch denke ich noch sehr lange, wenn ich wieder eine der häufigen, auszehrenden Passagen über Stock, Stein und Gras hinter mich gebracht habe. Was daran liegt, dass die anfängliche "Schwere" in den Beinen von der Empfindung stetig fließender Energie abgelöst wurde. Eine Stelle oder jenen Kilometer zu bezeichnen, wo schließlich das 'Geht doch!' in lautloses Fluchen umschlägt, vermag ich nicht zu nennen. Den Stimmungs-Knockout bekomme ich gar nicht mal bewusst mit. Ein schleichender Prozess, zu dem ab Stunde vier der einsetzende starke Regen das Seine beiträgt. Irgendwann habe ich einfach keine Lust mehr. Und in den Stunden danach eskaliert "keine Lust mehr" Schritt für Schritt zu purer Verärgerung. Verärgert worüber? - Schwer zu sagen. Vor allem natürlich über meine Dummheit diese Laufaufgabe unterschätzt zu haben und mit den falschen Schuhen aufgebrochen zu sein. Verärgert auch über das doofe Wetter - also ganz allgemein: mein Läuferschicksal. Zum falschen Zeitpunkt in falscher Ausrüstung am falschen Ort. Doch, ja, ich bin sicher: Mein Groll entzündet sich an der wachsenden Erkenntnis hier nicht hinzugehören. Auch wenn ich es in keinem Augenblick konkret so formuliere. Aber es stimmt: Ich gehöre hier nicht hin. Sonnenschein und griffigere Schuhe an den Füßen übertünchten diese Tatsache allenfalls notdürftig.

Groll, den ich natürlich niemanden spüren lasse. An den Verpflegungsstellen (bei 8, 18, 28, 35 und 40 Kilometern) bedanke ich mich stets artig und mit einem Lächeln für den Dienst am Läufer. Als es später in Strömen regnet auch fürs Ausharren unter miserablen Bedingungen. Die Temperatur fällt zwar nicht dramatisch, doch bergab im Gegenwind friere sogar ich einmal in einer flott gelaufenen Asphaltpassage. Verpflegung gibt es übrigens reichlich, fast alles, was des Ultraläufers Gaumen begehrt. Einzig das am dritten Verpflegungspunkt wie angekündigt vorrätige Bier erweist sich als "ungenießbar", da nicht alkoholfrei. Also bleibe ich bei Cola und Wasser. Meine "Energieversorgung" sichere ich mit acht mitgeführten und ab Kilometer 18 nach und nach verzehrten Gels. An den VP gönne ich mir jeweils abschließend ein paar Käsewürfel, um die beißende Süße von Gel und Cola zu beseitigen.

Das mit den "70 Prozent Wald" ziehe ich rückblickend ebenso in Zweifel wie die gemäß Messung meines Barometers geschönte Angabe der Höhenmeter. Lange Passagen schicken mich durch Dörfer, über Feldwege, Wiesen, einmal auch Brachland. Zumindest gefühlt in der Summe weit mehr als jene 14,5 km, die rein rechnerisch 30 Prozent der Gesamtstrecke ausmachen. Gestern wäre ich schutzlos der Sonne bei 36°C ausgeliefert gewesen, heute fehlte der Windschutz, wenn er denn heftig wehte, der Wind. Tut er aber nicht, weswegen ich einzig die stumpfe Farblosigkeit der Landschaft bedauere. Unter dunklen Regenwolken vermag die Oberlausitz ihren Charme, der mich oft auf Trainingsläufen begeisterte, kaum zu entfalten. Vielleicht sollte ich mir den Oberlausitztrail bei gutem Wetter noch einmal geben!? Das steht in klarem Widerspruch zu meiner oben geäußerten Überzeugung fehl am Platze zu sein. Aber in der Sonne bei trockenem Geläuf, dazu die richtigen Schuhe an den Füßen, wissend was mich erwartet, den "Heimvorteil" der nahebei wohnenden Familie genießend - vielleicht bliebe mir dann die Lauffreude doch bis zum Finish erhalten.

Heute nicht, heute regiert Verdruss. Gegen zehn vor eins, schieße ich das vorerst letzte Foto. Wenig später verstaue ich die Kamera regensicher in einem Plastikbeutel. Ich krame sie nur noch zweimal hervor, im Schlussanstieg (vielleicht dort auch nur, um ein paar Sekunden stehen bleiben zu können) und kurz vorm Ziel für ein Selfie. Udo ohne Kamera in der Hand, stumpf vor sich hin trabend? Dass er seine DokuPflichten über Stunden ignoriert, spricht Bände. Doch welchen Teil der Tristesse sollte er auch der Nachwelt überliefern? Üble, glitschige, grob schrundige Wege? Oder nasse Dämmerung unter Bäumen? Regenvorhänge vielleicht, die sich wie transparente Gardinen vor die Landschaft legen und den farbarmen Impressionen auch noch die Sehschärfe nehmen?

Der letzte Berg ist der härteste. Das ist schon im Grundsatz so. Nach gut fünf Stunden bei zeitweise üblen Bodenverhältnissen und ständiger Berg- und Talfahrt ist man mental und physisch ausgelaugt. Der letzte Berg ist heute aber nicht nur der härteste, sondern auch der mit Abstand steilste. Und diese Steilheit gilt es auf vielfach blanker, vom Regen rutschiger Erde zu überwinden. Immer wieder rutsche ich weg. Vielfach weiß ich mir nicht anders zu helfen, als feste, weit auseinander liegende Trittsteine zu nutzen. Was mir natürlich nach wenigen Schritten den Atem nimmt. Gehend könnte ich diese 150 (!) Höhenmeter vielleicht in einem Stück überwinden. Aber ich WILL nicht gehen! Also steppe ich aufwärts und bleibe mehrfach kurz stehen, um Kraft für die nächste Etappe zu sammeln. Immer und immer wieder huscht der Satz durch mein Oberstübchen: 'Du brichst mich nicht, du Sch ... berg!' Ein Mantra, das ich jedem Nachahmer in ähnlicher Situation ans Herz legen möchte. Es mobilisiert Kräfte und bringt mich schlussendlich und binnen einer Viertelstunde auf den Gipfel des Picho. Zum zweiten Mal, vorhin war ich schon einmal hier in der Nähe. Aus anderer Richtung kommend und in eine andere Richtung wieder absteigend.

Sollte sich der erste Abstieg vom Picho harmlos gebärdet haben, woran ich mich nicht erinnere, der zweite handelt dem grob zuwider. Auf steilem, oft erdblankem Pfad begleitet mich ständige Angst auszurutschen und die Kontrolle zu verlieren. Dann fände ich mein Heil nur noch indem ich mich fallen ließe, um Schlimmeres zu vermeiden. Also taste ich mich Schritt für Schritt hinab, versuche matschige oder unsichere Tritte zu vermeiden, was mir jedoch nicht immer gelingt. Ein ums andere Mal kann ich mein Wegrutschen gerade noch abfangen. Hier rauf, das war nur anstrengend. Hier wieder runter, das ist gefährlich. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung mündet der Pfad nach etwa vierhundert Metern in das zum Gipfel führende Asphaltsträßchen. Damit habe ich den mit Abstand risikoreichsten Abschnitt der Strecke unfallfrei überstanden. Auf andere Art soll es mich dann aber doch noch erwischen ...

Begegnungen mit anderen Läufern sind selten - von zwei, für mein "Tagesglück" symptomatischen möchte ich erzählen. Zunächst von einem Laufdoppel, Damen mittleren Alters, mit dem ich mir von Beginn an - zumindest zeitweise - ein unbeabsichtigtes "Wettrennen" liefere. Bergan - sie gehen, ich tippele - ziehe ich an den beiden vorbei. Bergab oder in schwach profiliertem Gelände holen sie wieder auf, ziehen vorbei, enteilen nicht selten. Dass sie mir überhaupt auffallen, liegt am ständigen Geschnatter des Duos. Schnattern und Lachen, Lachen und Schnattern. Würde ich auch gerne können. Doch mangels Puste wären Gespräche keine Option. Umso weniger, je mehr Zeit ins Land und Strecke in die Beine geht. Nicht, dass die beiden mich stören würden. Ich erwähne ihr Gebaren nur, weil über Stunden praktiziertes Schnattern die anhaltende Frische der Amazonen dokumentiert. Wer am Limit läuft, dessen Mund öffnet sich nur noch zum Atmen! - Und dann stehen sie gleich mir am vorletzten Versorgungspunkt und jammern über ein mentales Tief. Dass die Lust fehle, nach endlos langem Regen. Ein paar Schauer, das ginge ja in Ordnung. Aber so lange? Das mit der fehlenden Lust kann ich nachvollziehen. Mir kam sie gleichfalls abhanden, schon vor Stunden. Das restliche Lamento entgeht mir, ich breche auf ... Ein paar Minuten später schließen sie wieder zu mir auf, natürlich schnatternd und lachend. Klingt so fehlende Lauflust? Alsbald überholen sie mich in einem Affenzahn, als hätte sie nicht Speis und Trank am Verpflegungspunkt, sondern ein mythischer Jungbrunnen erquickt.

Zum zweiten berichtswerten Kontakt kommt es etwa fünf Kilometer vorm Finish, als ich mich, wie schon mehrfach davor, am Streckenrand auf noch einigermaßen trittsicherem Boden abwärts quäle. Vorsichtig tippelnd, sehr, sehr langsam, jedem Tritt misstrauend. Von hinten nähert sich ein Läufer. Korrekt beschuht, leichter als ich und offensichtlich mit mehr Wagemut ausgestattet. Drei Eigenschaften, die mir ein Seitenblick bestätigt, als er an mir vorbeischliddert. Ich mosere irgendwas von "Schlammsuhle" vor mich hin, vermutlich um mein schneckengleiches Abwärtstasten, das mich enorm wurmt, irgendwie zu entschuldigen. Der Morast geht ihm gleichermaßen auf den Keks, wenn ich seinem Bekunden Glauben schenken darf. Ein paar hundert Meter weiter hält er gar inne, um seine Treter notdürftig vom Matsch zu befreien. Infolgedessen gehe ich wieder in Führung und behalte sie einstweilen, dem Waldrand folgend, auf nun brauchbarem Geläuf. Brauchbar ist nur leider nicht von Dauer. Rechts ab in den Wald und weiter talwärts, nun eine Art Hohlweg passierend. Um ein plastisches Bild in den Köpfen meiner Leser zu skizzieren: Zu einem Weg verfestigte sich die in voller Breite mit Schlamm verfüllte Rinne allenfalls nach langer Trockenheit. Jetzt stehe ich in jedem Wortsinne im Regen und damit hilflos vor knöcheltiefem Morast. Was tun? Keine zwei Schritte in starkem Gefälle und ich verlöre unter Garantie den Halt. Kurz entschlossen steige ich auf die seitliche, etwa einen halben Meter hohe Begrenzung des Hohlweges. Dort tippele ich vorsichtig abwärts. Was nur möglich ist, weil Fällarbeiten das Terrain rechts von mir in einen wüst aussehenden Kahlschlag verwandelten. Taste mich weiter abwärts, allem ausweichend oder es übersteigend, was mich zu Fall bringen könnte. Wurzeln, Löcher, stachelbewehrte Ranken ... noch zehn Meter, dann winkt fester Boden eines Querweges. Noch eine Ranke, auf die ich vermutlich mit dem Fuß trete, auf den genauen Hergang achte ich nicht. Die Ranke ist jedoch keine Ranke, sie gibt sich als blatt- und eigenartigerweise auch astfreies Bäumchen zu erkennen. Wahrscheinlich fiel sein grüner Stolz rücksichtslosen Waldarbeiten, folglich menschlichem Frevel zum Opfer. Nun ergreift der junge Baum die Gelegenheit sich an einem dieser Menschen zu rächen: Schnellt unter meinem Fuß hervor und trifft mich an delikater Stelle zwischen den Beinen ...

Unter Garantie kennt jeder Mann diesen unbeschreiblichen Schmerz, dem nur spontanes Erstarren, Aushalten und tiefes Atmen beikommt. Der sich noch etliche Sekunden nach dem Malheur anfühlt, als besäße er die Potenz zu töten, um dann gaaaanz sachte nachzulassen. Mit auf die Oberschenkel gestützten Händen verharre ich und atme, atme, atme, ... stöhne vielleicht auch. "Hast du dir was getan?" fragt der vorbei flutschende andere. "Hab von einem Ast einen Hieb auf die Zwölf gekriegt!" presse ich heraus. "Nur Schmerz, vergeht wieder!" lässt er sich ein und schliddert letzte Meter im Morast hinab. Derweil geht es wieder, den Restschmerz kann ich auch in Bewegung überwinden. Taste mich also die letzten paar Meter abwärts, springe schließlich auf den festen Untergrund des Querweges. Wo ist mein Mitläufer abgeblieben? Er wählte von zwei möglichen, mit Pylonen abgeteilten Richtungen die falsche. Folgt Markierungsbändern, die offenbar für zwei kürzere, nach uns gestartete Bewerbe dort hängen. "Du bist falsch!" schreie ich ihm hinterher, was er zunächst nicht einsehen will: "Kann nicht sein ... die Bänder!" Kehrt trotzdem um und lässt sich von einem Fingerzeig auf den für die Ultras am Baum angeschlagenen Pfeil von der Gegenrichtung überzeugen.

Eine Weile traben wir stumm hintereinander her. Was sollten wir noch reden? Begebenheiten, davon eine zu meinem schmerzhaften Nachteil, eine letztlich zu seinem Vorteil, verknüpften unser Los für ein paar Minuten. Nun kämpft wieder jeder für sich. Noch dreieinhalb Kilometer. Leicht abwärts, bisweilen auch flach und ich werde schneller. Die Schritte des Mitläufers hinter mir werden leiser. Warum werde ich schneller? Ich stelle mir die Frage ganz bewusst. Vor drei Wochen, in der Steiermark, nach 1.800 Höhenmetern und auf eigentlich müden Beinen, geschah dasselbe: Kurz vorm Ziel wuchsen mir Flügel. Wieder bleibt als wahrscheinliche Erklärung fehlendes Talent. Diesmal nicht nur am Berg, sondern eben auch auf technisch herausfordernden Trailpfaden. Auf nun wieder brauchbarem, beinahe flachem Terrain zeigt sich, dass ich noch über Ausdauerreserven verfüge. Typisch für einen Straßenläufer, der sich in die "Wildnis" wagt.

Ein bisschen Fluchen mag ich zum Schluss auch nicht unterdrücken. Noch zwei Kilometer und einmal mehr jagt mich der liebe Streckenplaner über verkrautete, an tieferen Punkten mit groben Steinen vorm Verschlammen bewahrte Pisten. Mit Kraftausdrücken mache ich mir Luft, setze meine Stelzen aber weiterhin hochkonzentriert auf. Jetzt nicht noch umknicken oder stürzen! Mein Tempo behalte ich fast durchgehend und ohne Schwierigkeiten bei. Klar tun mir nach sechseinhalb Stunden Tortur die Knochen weh. Doch einigermaßen flach dahin joggen, das ginge sicher noch länger.

47 Kilometer. Wenn sich die Ansage der Helferin am letzen Verpflegungspunkt bewahrheitet, noch gut ein Kilometer. Was mir der undurchdringlich scheinende, offenkundig unbekannte Wald ringsumher ausreden will. Egal, ich behalte mein Tempo bei ... Erst 500 Meter vor dem Ziel erkenne ich die Umgebung wieder. Renne am ersten Haus vorbei, bald an der Kirche mit Blick zum nahen Schloss Gaußig. Die letzten hundert Meter auf dem Trottoir der Hauptstraße, schließlich ums Eck vor die Sporthalle und mit Applaus über die Ziellinie - 6:26:49 Stunden sind seit dem Start vergangen.

Der Dauerregen "schwächelte" in der letzten halben Laufstunde und wird wohl bald aufhören. Wie immer bin ich im Ziel von Zufriedenheit erfüllt, es wieder einmal geschafft zu haben. Mehr aber auch nicht heute. Zu mies die Umstände, zu mies mein Ergebnis. Enttäuschung fühle ich keine, auch wenn ich mir von diesem Lauf in der Oberlausitz sportlich und vom Erlebniswert her mehr versprochen hatte. Während ich im Vorraum der Zielverpflegung zuspreche, werden in der Sporthalle die Sieger der kürzeren Bewerbe geehrt. Noch mehr als unterwegs übermannt mich das Gefühl hier nicht her zu gehören. Traillaufen war noch nie mein Ding, früher ebenso wenig wie heute. Ohne weitere Verzögerung tausche ich am Auto die klatschnassen gegen trockene Klamotten und fahre davon. Auf dem Rückweg, bei lauter Rockmusik, auch wenn mir nicht klar ist von woher, sickert dann doch noch ins Gemüt, was mir solche Strapazen Mal um Mal erstrebenswert erscheinen lässt: Ultraläuferglück!

 


 

Fazit zur Veranstaltung

Trailspezialisten finden auf der Strecke des Oberlausitztrails reichlich Herausforderungen. Darüber hinaus einen Kurs, der - gutes Wetter vorausgesetzt - reizvolle Blicke ins Lausitzer Land, zuweilen auch prächtige Panoramen zu bieten hat.

Vermeide meinen Fehler! Unterschätze die Strecke keinesfalls! Trailschuhe stellen auch bei trockenem Wetter die bessere Alternative dar. Die offiziell genannten 1.450 Höhenmeter enttarnte mein barometrischer und zuverlässiger Höhenmesser als Schönfärberei. Seiner Messung nach waren 1.830 Meter in Auf- und Abstieg zu überwinden. Regen vor oder während des Laufs weicht den Untergrund an verschiedenen Stellen auf. Dann ist vor allem abwärts Vorsicht geboten.

Die OrgaTruppe des Oberlausitztrails hatte nach meiner Beobachtung alle Abläufe gut im Griff. Die Verpflegung unterwegs und im Ziel ließ kaum Wünsche offen. Die Streckenmarkierungen waren in kurzen Abständen und zweifelsfrei ausgebracht. Auf Schleifen, wo entgegen kommende Läufer Irritationen auslösen konnten, sorgten Streckenposten für Klarheit.

Fazit: Ein Eldorado für Trailläufer und sehr empfehlenswert!

 

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