13. Juni 2020

Einhundertmal Ultra  -  4. Fischland-Darß-Zingst-Ultramarathon (4. FDZU)

Beschwingtes Traben morgens zwischen vier und fünf. Aller Bedenken enthoben, voller Selbstvertrauen, wie im Wissen des sicheren Sieges. Als hätte ich die wachsende Beklemmung der letzten Tage nur geträumt. Feiner, nicht allzu dichter Nebel liegt über der Boddenlandschaft, netzt mein Gesicht. Die Dämmerung des anbrechenden Tages zeichnet Entferntes schemenhaft weich. Hält die Frage offen: wirklich oder eingebildet? Die Farben der Blumen bleiben flau. Blumen, dicht an dicht in kniehoch stehenden Getreidefeldern. Mohn vor allem. Vorstellungskraft malt ein leuchtend buntes Bild, lobpreist in höchsten Tönen: traumhaft schön!

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Um Viertel vor drei Uhr morgens aufstehen, schlaftrunken als Läufer verkleiden, 30 km mit dem Auto zum Boddenstadion Ribnitz-Damgarten gurken und sich dort rechtzeitig um 4:04 Uhr zum Start einfinden ist meine Sache eigentlich nicht. Nicht mal die einzelne Tat und schon gar nicht als lästiges Gesamtpaket. In ähnlicher Situation erlebte ich mich meist übellaunig, zumindest aber hochgradig spaßbefreit. Und der Wunsch zu laufen war unter solchen Umständen wahrhaft nicht meiner. Das ist anders heute. Ganz anders. Allein Lampenfieber hält Freude und Tatendrang noch im Zaum. Geist also hellwach, die physische Selbstwahrnehmung allerdings folgt altbekannten Mustern: Keine Spur versammelter, praller Ausdauer, die auf „Entfesselung“ warten würde und ein erfolgreiches Finish nach ultralanger Runde in Aussicht stellt.

Startzeit 4:04 Uhr war kein Schreibfehler. Das Virus hat vieles verändert, für eine Weile wenigstens. Um das Ansteckungsrisiko in eng beieinander stehender Gruppe auszuschließen, starten wir mit einminütigem Versatz. Zu meiner Beruhigung darf ich schon als Fünfter von 26 Einzelstartern, ein paar Run-and-Bike-Teams und wenigen Staffeln die lange Reise antreten. Ob ich das Zeitpolster des frühen Beginns brauchen werde, hängt von meiner Tagesform ab. Läuft es wie erhofft, werde ich die Drehbrücke deutlich vor „Ultimo“ erreichen*. Ab 9:45 Uhr und für eine Viertelstunde haben am Flaschenhals des Boddens bei Kilometer 46 die Landratten Pause, dann genießt Vorfahrt, was schwimmt.

*) Alte Meiningenbrücke über den Meiningenstrom.

Selbst in diesem kleinen Teilnehmerfeld hoch im Norden Deutschlands treffe ich Bekannte. Zum Beispiel Michael Brandt, vielfacher Spartathlon-Finisher aus Berlin, den ich vom Olympian Race in Griechenland kenne. Es ist schon seltsam mit manchen Ultramenschen: Du hast Monate, manchmal Jahre keinen Kontakt und trotzdem lebt Vertrautheit im Nu wieder auf. Eine kuriose Form der „Beziehung“, die ich nur vom Ultralaufen her kenne. Zum Teil liegt es sicher daran, dass Ultras mehrheitlich miteinander laufen und nicht gegeneinander. Dass sie einander wahrnehmen und nicht nebeneinander her leben ... äh ... laufen. Hallo Soziologen, wie wär’s: Reichlich Stoff für eine Dissertation.

Nacheinander gehen die ersten Läufer mit Beifall auf die Strecke. Den produzieren andere Teilnehmer, Offizielle und höchstens eine Handvoll Begleiter. Zuschauer sind gemäß Corona-Sonderregelung nicht zugelassen. Ein Paragraph, den man sich gewiss hätte sparen können - wer steht schon vor vier Uhr morgens auf, um ein paar Läufern mit fragwürdiger geistiger Gesundheit beim Start zuzusehen? Vorstartrituale, immer gleich, aber wichtig: Gegenseitige gute Wünsche, ernst gemeint, weil dir die anderen nicht gleichgültig sind. Zuletzt schließt meine Frau Ines mich in die Arme, gibt mir Kraft mit auf den Weg. Ich betrete die Aschenbahn - eine, die diesen Namen noch verdient - und reihe mich hinter unbekanntem Vordermann samt Radbegleitung ein. Henry, Boss des OrgaTeams, nimmt die Zeit, hebt den Arm ... und ab für den Mann vor mir. Aufmunternd lebendig (wie geht sowas früh um vier?) und unter Nennung des Namens kommentiert ein Moderator die Szene ...

Nun ist die Reihe an mir. Kurz vor der Startlinie, symbolisiert durch flackernde Feuerschalen beidseits der Bahn, nehme ich Aufstellung und darf mir anhören, welche außerordentliche Bedeutung der 4. FDZU für mich hat ... mein 100. Ultralauf! Geplant war das nicht. Der Covid-19-bedingten Lücke in meinem Saisonaufbau fielen unter anderen zwei Ultramarathons zum Opfer. Wahrlich kein Grund zur Freude, doch immerhin schenkt mir diese schicksalhafte Wendung den Fischland-Darß-Zingst-Ultra als Jubiläumslauf. Feiern auf über hundert Kilometern, begleitet von - mutmaßlich - nicht enden wollenden Naturschönheiten.

Auch Stolz ist meine Sache nicht. Ich bin nicht „stolz“ darauf bereits 99-mal weiter als Marathon gelaufen zu sein und damit eine Leistung vollbracht zu haben, die vielleicht 999.999 von einer Million Menschen nie vergönnt sein wird. Stolz ist ein Gefühl, das ich begreife aber ablehne. Was ich tue, ist Ausdruck meiner Fähigkeiten und meines Willens. Beides ererbt, also genetisch codiert, residierend in diesem Körper. Dass ich bin, wie ich bin, konnte ich mir nicht aussuchen. Der Mensch formt sich nicht selbst, er wird durch Veranlagung und Umgebung der, der er ist. Udo-sein ist keine Leistung, vielmehr (oft) ein unverdientes Geschenk (manchmal auch eine Last ...) - daher verweigere ich mich der Empfindung von Stolz. Lange Vorrede, ...

... der zum Trotz mir nun doch die Brust bis fast zum Bersten schwillt. Was bläht sind jedoch andere Emotionen: Dank an Unbekannt für so viele köstliche Kilometer; von idyllisch über herrlich bis qualvoll und entsetzlich war alles dabei. Freude auch darüber, dass in wenigen Sekunden der Weg zum hundertsten Ultralauf frei sein wird. Und natürlich eruptiv aufwallende Motivation, die unbedingt jetzt in Vorwärtsbewegung umgesetzt werden will. Henry gibt mir das Zeichen und ich setze mich in Bewegung, von Beifall und guten Wünschen zum Hundertsten begleitet.

Nur ein paar hundert Schritte braucht es, um meine frühmorgendliche Hormonsituation auf Normalmaß einzupegeln. Nun also wieder Raum für achtsames, planvolles Denken und Handeln. Unabdingbar, um den Hundertsten erfolgreich in meinem Sinne zu realisieren. Fraglich ist dabei nicht ob, sondern nur wann und wie ich die Ziellinie erreichen werde. Scharfe Konturen besitzt das „Wie“ der Zielerreichung: Alles laufen, nicht gehen! Zum Wann habe ich nur schwammige Vorstellungen: irgend-„Wann“, denke mal zwischen 15 und 16 Stunden Laufzeit. Die gewichtigsten Unbekannten in meiner Gleichung sind x und y ... x: Wie gut bin ich drauf? Anders als sonst, vermag ich meinen Ausdauervorrat nur sehr ungenau zu taxieren. y: Mit welchen Härten wird mich die Strecke prüfen? Einigen Bammel habe ich vor den Kilometern am Sandstrand ...

Leichte, beschwingte Beine! Erste ebenso erfreuliche, wie zur Vorsicht mahnende körperliche Wahrnehmung. Deshalb schrillen die Alarmsirenen, als ich bereits kurz hinterm Stadion bis auf Rufweite zum Vordermann auflaufe: Habe ich mich von ungewohntem Überschwang zu überzogenem Tempo hinreißen lassen? - Knapp unter 6:30 min/km meldet die Uhr. Nicht unbotmäßig schnell, jedoch zu flott für das, was vor mir liegt. Also fordere ich mich auf: Lauf langsamer! Es nur zu denken sollte mich bremsen. Und tatsächlich bleibt der Abstand zum Vordermann erst einmal konstant ...

Beschwingtes Traben morgens zwischen vier und fünf. Aller Bedenken enthoben, voller Selbstvertrauen, wie im Wissen des sicheren Sieges. Als hätte ich die wachsende Beklemmung der letzten Tage nur geträumt. Zu wissen, dass ich es kann, machte die Aufgabe nicht kleiner. Nun spüre ich mich, bin unterwegs, sehe mich vorankommen, Stück für Stück. Auf asphaltierter Radstrecke fällt es mir leicht. Das gibt Sicherheit. Wieder und wieder überprüfe ich mein Tempo. Vertrauen ist gut, Kontrolle besser, heißt es. Weiß wenig über die Verlässlichkeit meines Laufgefühls zu nachtschlafender Zeit. Wie es scheint arbeitet der Tempomat zuverlässig, lese ich doch jedes Mal Zwischenzeiten um die 6:40 min/km ab.

All engines running ... Liftoff! We have a liftoff! - Nach und nach verlieren Fragen zur Befindlichkeit und Wettkampftaktisches an Gewicht. Alles läuft stabil, ich wende mich vollends der Außenwelt zu. Feiner, nicht allzu dichter Nebel liegt über der Boddenlandschaft, netzt mein Gesicht. Die Dämmerung des anbrechenden Tages zeichnet Entferntes schemenhaft weich. Hält die Frage offen: wirklich oder eingebildet? Die Farben der Blumen bleiben flau. Blumen, dicht an dicht in kniehoch stehenden Getreidefeldern. Mohn vor allem. Vorstellungskraft malt ein leuchtend buntes Bild, lobpreist in höchsten Tönen: traumhaft schön!

Vordermann (läuft) und Vorderfrau (radelt) sind fast eingeholt. Mehrfach habe ich mich von der eigenen, einem Uhrwerk gleichenden Laufkonstanz überzeugt. Mit ein paar schnelleren Schritten ziehe ich vorbei, um nicht zu behindern. Sie zu mir: „Jetzt hast du uns!“ Darauf ich zu ihr: „Das wird sich wohl noch häufiger ändern in den nächsten Stunden. Erst am Ende wird man sehen, wer da wen hat!“ Eigentlich geht es mir nur um den flotten Spruch. Woher sollte ich auch wissen, wie sehr mein Wort sich zwischendurch und auf spaßige Weise zum Ende hin bewahrheiten wird?

Radweg neben der Straße. Um die gegen fünf Uhr morgens vorbeifahrenden Autos zu zählen, reichen die Finger einer Hand. Und eines gehört auch noch uns. Darin sitzt Ines und winkt mir zu. Wie sie wohl die ersten Stunden dieses langen Tages verbringen wird? Gleich mir weiß sie verfrühtem Aufstehen nichts abzugewinnen. Mir zuliebe verzichtete sie auf Schlaf, wird mich da und dort an der Strecke versorgen. Danke Ines.

Überholvorgänge: Schritte hinter meinem Rücken nähern sich rasch, alsbald rauscht ein Trio - zweimal weiblich, einmal männlich - im Eilzugtempo vorbei. „Habt ihr heute noch mehr vor?“ schicke ich den Dreien halb scherzend, halb achtungsvoll hinterher. Mit welchem Unterton auch immer, ein Indiz mit mehr Beweiskraft für meine ungewohnt gute Stimmung in aller Herrgottsfrühe wirst du kaum finden. Das Trio ließ die Frage offen, ob ich es mit schnellen Ultras oder Staffelläufern zu tun hatte. Der nächste Raser beantwortet sie zweifelsfrei. Mehr als Halbmarathon-weit kann er diese Pace unmöglich durchstehen. Vorbeizischend bleibt ihm gerade genug Zeit mir zum 100. Ultra zu gratulieren. Gleichermaßen erfreut wie artig bedanke ich mich, wende jedoch ein: „Erst muss ich das Ziel erreichen!“ - Glückwünsche zum Hundertsten werde ich noch einige Male bekommen und sie jedes Mal mit dem noch ausstehenden Finish relativieren (an dem ich keine Sekunde zweifle). Vermutlich will ich die über mein Laufschicksal wachenden Mächte nicht in Versuchung führen. Deren Wohlwollen und Sanftmut werde ich heute noch brauchen ...

Wieder Schritte von hinten. Diesmal dauert es länger, bis der Mann zu mir aufschließt und grüßt. Ich mustere ihn einmal, zweimal und bin sicher: „Dich kenne ich!“ Fieberhaft durchsuche ich mein Gedächtnis, es kann nicht übermäßig lange her sein. Beinahe gleichzeitig finden wir die Lösung: Wir lernten uns anlässlich der vier Etappen der Balaton-Umrundung im März 2019 kennen. Bald zieht er davon und spätestens in diesen Sekunden hätte ich mich erinnert: Wie damals klappern auch jetzt die Salztabletten in seinem Rucksack.

Radweg und Straße trennen sich, rahmen Teile eines Weilers ein, zwei, drei, vier ... mehrere Gebäude. Von irgendwo her zieht mir der typische, würzig-saure Geruch aus Kuhställen durch die Nase. Ganz in der Nähe singt jemand. Lauthals. Krakeelt Text, Rhythmus und simple Melodie eines Diskohits. Einstimmige a cappella Privatdisko kurz vor fünf Uhr morgens? Ein von nächtlichem Streifzug Heimkehrender? Wohl eher nicht, Amüsier- und Tanzschuppen dürften auch in Meck-Pomm noch geschlossen sein. Also eher ein (für seine Nachbarn) eklig gut gelaunter, einigermaßen rücksichtsloser Frühaufsteher!?

Frühe Fotoversuche misslingen allesamt. Ausreichend Licht für meine Augen zum sicheren Setzen der Schritte, aber zu wenig für die kleine Digicam. Auch mit Blitz und stehend gelingt mir ein allenfalls erträgliches Bild von Mohn am Streckenrand. Bildverfälschend auch feine, vom Nebel geformte Tröpfchen, die sich auf der Linse abgesetzt haben. Die Straße durchschneidet einen größeren Ort (Saal), etwa neun Kilometer liegen hinter mir. Minuten später laufe ich auf den ersten Verpflegungspunkt zu. Einen von fünfzehn, deren „Ausgestaltung“ sich unter spätem Sperrfeuer des zuständigen Gesundheitsamtes radikal änderte ...

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Freitagnachmittag gegen 16 Uhr, hinterer Parkplatzbereich eines Supermarktes in Ribnitz-Damgarten

Die letzte E-Mail des Veranstalters erreichte mich zwei Tage vor der Anreise. Das Wesentliche darin: Das örtliche Gesundheitsamt erlaubt die Durchführung der Veranstaltung, untersagt dem Ausrichter jedoch die Läufer an der Strecke zu verpflegen. Ersatzweise wird man auf Dropbags umstellen, die sich die Teilnehmer beim Abholen der Startnummer selbst zusammenstellen können. Neben Getränken und Verpflegung wird auch Material zur Verpackung und Kennzeichnung bereitstehen. Ort des Geschehens: Ein Supermarkt im Startort Ribnitz-Damgarten. Mir ist sofort klar, dass die übervorsichtige* Weisung des Gesundheitsamtes die schon sicher geglaubte Durchführung des FDZU noch einmal auf Messers Schneide bugsierte. Es braucht schon viel Liebe zum Laufsport, das über Wochen sorgsam geplante Verpflegungskonzept auf die Schnelle komplett umzubauen.

*) Selbstverständlich stimme ich grundsätzlich allen Maßnahmen zu, die der Vermeidung unnötiger Ansteckungsrisiken bei Helfern und Läufern dienen. Das Beispiel des Barnim Doppels - Bundesland Brandenburg (30./31.5.) - hat jedoch gezeigt, dass dieses Ziel auch durch ausschließliches Darreichen von Verpflegung erreicht werden kann. Getränke wurden eingeschenkt (u.a. war das Mitführen eines eigenen Bechers Pflicht) und Nahrung nur verpackt abgegeben (z.B. Energieriegel).

Der E-Mail waren keine Einzelheiten zur Verpackungsprozedur zu entnehmen, so dass ich mit Improvisation und Ungereimtheiten rechne. Als Ines und ich uns am nämlichen Supermarkt einfinden, funktioniert jedoch alles wie am Schnürchen. Mit der Startnummer erhalten wir vorgedruckte Zettel, darauf Startnummer und jeweiliger Verpflegungspunkt. Zum Verpacken der auf Biertischen bereitstehenden Getränke (in Halbliter-Kunststoffflaschen) und Verpflegung liegen Tragetaschen aus Papier bereit. Per Tacker wird das gepackte Dropbag verschlossen, zugleich der Zettel mit der „407/1, 2, 3, ...“ angeheftet. Fertige Tüten stelle ich in bereit stehende Kisten.

Unsicherheiten ergeben sich aus der erst jetzt bekannten Zahl der Verpflegungspunkte (VP) wie auch deren Distanz zueinander. Mit welchen Mengen soll ich meine Tüten bestücken? Auf die Schnelle ist diese Frage nur höchst ungenau zu beantworten. Die schwer einzuschätzende norddeutsche Witterung - Wind, Sonne und um die 20°C sind vorhergesagt - tut ein Übriges. Ich gehe auf Nummer sicher und packe zwei Flaschen Wasser in jede Tüte. Mutmaßlich zu viel, doch ich beruhige mein Verschwendung verabscheuendes Gewissen mit dem Gedanken, dass ungeöffnete Flaschen sicher nicht weggeworfen werden.

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Sekunden reihen sich zu Minuten, die Zeit tröpfelt gemütlich dahin, vergeht weitgehend ereignislos. Vom absichtslosen „Dauerduell“ mit ihm (läuft) und ihr (versorgt per Rad) kann ich berichten. Infolge unser beider Bedürfnisse zum Ver- und Entsorgen wechselt die Führung mehrmals. In Sichtweite dahinter laufend versuche ich mich erneut als Fotoreporter und scheitere einmal mehr. Immer noch zu dunkel. Schuld ist der Nebel. Jetzt als Hochnebel, in Bodennähe streift der Blick inzwischen unbehindert in die Ferne. Der beim gestrigen Briefing in Aussicht gestellte Sonnenaufgang fällt definitiv aus. Und offen gestanden vermag ich mir nicht vorzustellen, dass die Sonne sich heute überhaupt zeigen wird. Morgens um Viertel vor sechs, mit dem Gros des Tages noch vor sich, ein allzu pessimistischer Gedanke, den ich gleich wieder verwerfe. Vom Saaler Bodden bekamen wir bisher so gut wie nichts zu sehen. Kurz einen kleinen Hafen für Sportboote, hin und wieder ausgedehnte Areale von Schilf, nichts sonst. Die Umgebung weiß auch so zu gefallen. Unverständlich eigentlich, da nichts Außergewöhnliches in platter Landschaft die Blicke anzieht. Weiß nicht, was es ist, kann’s drum auch nicht beschreiben. Jedenfalls reagiere ich darauf mit stiller Freude und Zufriedenheit - das kleine Läuferglück.

Nach gut 16 Kilometern nähere ich mich dem nächsten Weiler. Es wirkt als duckten sich die Häuser scheu zwischen Wiesen und Feldern, um so lange wie möglich verborgen zu bleiben. Es wünscht ihnen Gelingen, wer wie ich en passant zur Kenntnis nehmen muss, was geschieht, wenn Kapital und Streben nach demselben einander treffen. Eine Verkaufstafel preist nigelnagelneue, zugegeben bildhübsche Ferienhäuser an*. Zusammengefasst in einer abgeschlossenen Siedlung, die im gewachsenen Dorf wie ein Fremdkörper wirkt und es wohl auf ewig bleiben wird. Sommerfrischler werden sich kaum in die Dorfgemeinschaft integrieren. Ganz sicher Arbeitsbeschaffung für örtliche Handwerker, doch darüber hinaus: In welcher Weise profitiert die betroffene Gemeinde davon? Für mich der Ausverkauf von Heimat an betuchte (West-) Bürger. Da lobe ich mir dieses Michaelsdorf, das ich nun betrete: Alles gewachsen nichts aufgepfropft. Hübsche Vorgärten säumen die Straße und unerwartet halte ich auf ein paar kleine, reetgedeckte, mutmaßlich historische Katen zu. Idyllischer sicher nicht mal in Bilderbüchern zu finden. Ich büße Zeit für Fotos ein, um wenigstens diese Häuschen verwacklungsfrei einzufangen ...

*) Gesehen in Fuhlendorf, Ortsteil Bodstedt (allerdings noch nicht zu diesem Zeitpunkt).

Fünfzig Meter weiter trabe ich auf OrgaBoss Henry zu, der den zweiten Verpflegungspunkt betreut. „Wenn ihr noch mehr hübsche Häuser an der Strecke aufstellt, komme ich nicht voran!“ rufe ich ihm gutgelaunt zu und bleibe erst vor Ines stehen, die mich ein paar Meter weiter erwartet. Kurzer Erfahrungsaustausch, ein paar Gelpäckchen für meinen Rucksack, Streicheleinheiten für unsere Hündin Roxi und ein Küsschen, dann kehre ich in den Wettkampf zurück.

Hinter Michaelsdorf hat sich die Laufrichtung von Nordost auf Süd-Südost geändert. Ich merke das am Wind, der mir nun nicht mehr entgegen pustet. Sofort kehrt sich mein Temperaturempfinden um: Statt gelegentlichem Frösteln in auffrischender Brise lässt nun Wärme erste Schweißtropfen perlen. Armlinge und Halstuch bleiben dennoch, wo sie sind, vorsichtshalber, Süd-Südost wird keinen Bestand haben. Wald nimmt mich auf, erst zum zweiten Mal in mehr als zwei Stunden Laufzeit. Beim ersten Mal war es zu früh, nun halte ich Ausschau nach Deckung. Doch beidseits der Straße fehlt es an Unterholz. Das ändert sich als ich Minuten später auf einen Waldweg abbiege und tiefer in den Forst vordringe ...

Wieder zurück im Wettkampf und von mehreren Mitläufern überholt, wie der Blick voraus auf bunte Rücken beweist. Das hätte mich vor einiger Zeit vielleicht noch zu schnellerer Gangart ermuntert. Inzwischen habe ich mit meinen altersbedingt reduzierten physischen Möglichkeiten Frieden geschlossen. Zudem: Ehrgeiz zeugt allenfalls phasenweise Befriedigung, Muße dafür anhaltenden Spaß und Zufriedenheit.

Wieder scharf links abbiegen, weiter auf dem Radweg am Straßenrand, ein Weilchen noch im Wald, dann auf die nächste Ortschaft zu. Der Entschluss aufs Entblößen von Armen und Hals zu verzichten erweist sich als goldrichtig. Der gelegentlich auffrischende, ansonsten nicht allzu starke Ost-Nordost-Wind nimmt mich nun wieder frontal aufs Korn. Fuhlendorf steht auf der Ortstafel. Auf mich wirkt die fast vier Kilometer lange Ansiedlung bisweilen aufgelockert platzierter Häuser wie ein überlanges Straßendorf. Dass ich irgendwann den Ortsteil Bodstedt betrete, bleibt mir verborgen. Unübersehbar dagegen der dritte Verpflegungspunkt (ca. Kilometer 23) vor dem ich mit einem gut hörbaren „So viel Zeit muss sein!“ kurz für einen Schnappschuss verharre, bevor man mir mein Dropbag 407/3 überreicht. Wieder breche ich nur eine von zwei Flaschen an. Selbst die zu gut zwei Dritteln zu leeren ist im kühlen Morgen eigentlich des Guten zu viel. Ein Großteil des Wassers werde ich demnächst wieder entsorgen. Doch hier stehe ich und kann nicht anders, „saufe wie eine Kuh“. Verschwendung gleich welcher Ressourcen war mir erziehungsbedingt schon immer ein Graus. Über die Jahrzehnte habe ich viele Elemente der „elterlichen, psychischen Grundkonditionierung“ neu bewertet und manche verworfen. Doch sparsam mit Wertvollem umzugehen war damals richtig und gilt mir heute erst recht als Gebot der Stunde.

Ein herzliches Dankeschön an die beiden Helfer, dann wende ich mich zum Gehen. Kaum in Trab gefallen bietet sich mir wieder ein Blick zum Wasser, zum Becken des kleinen Bodstedter Hafens. Zu meiner Freude berührt die Strecke seinen Kai, Grund und inzwischen auch Licht genug den Anblick fotografisch festzuhalten. Böse Überraschung! Die Digicam widersetzt sich meiner tausendfach eingeübten Einhandbedienung. Erwacht zum Leben, gibt jedoch alarmierende Piepser von sich, fährt das Objektiv gleich wieder in Ruhestellung und erschreckt mich mit dreizeiliger Meldung: „Objektivfehler / Wird automatisch ausgeschaltet / neu einschalten“. Ich folge der Anweisung, dem Einschaltvorgang folgt jedoch wiederholt die Fehlermeldung. Im Stehen entferne ich kurz den Akku, eine Vorgehensweise, mit der ich den Computer in dem kleinen Technikwunder noch immer zur Mitarbeit überreden konnte. Anscheinend auch dieses Mal ... Fotos vom Hafen und weiter. Die Kamera nach einem Foto auszuschalten ist jahrelang praktizierter Automatismus, um Akkuladung zu sparen. Als ich noch Aufnahmen vom Ausblick über den Bodden sammeln möchte, stellt sich die Kamera tot. Ich entferne den Akku, sogar die Speicherkarte, arretiere beides wieder, die Kamera bleibt stumm. Ich überlege: „Objektivfehler“ ... also ein mechanisches Problem. Hektisch bewege ich den Ring der Zoomverstellung hin und her: Keine Reaktion. Ich probiere es mit Erschütterung, klopfe die Kamera vorsichtig auf den Rand eines Schaltkastens. Die Kamera ist und bleibt tot.

Was nun? Reizvolle Eindrücke jederzeit im Bild festzuhalten zu können gehört für mich zum Laufen dazu. Seit Jahren schon. Anfangs im Grunde nur, um Laufberichte zu bebildern. Welche Alternativen habe ich? Das mehr als zehn Jahre alte Handy, im Rucksack für Notrufe vorgehalten, ist jedenfalls keine. Dessen vorsintflutliche Kamera ist schwer zu bedienen, von der mangelhaften Qualität der Bilder ganz zu schweigen. Einzige Lösung: Ines hat ihr und mein Smartphone im Gepäck. Eines davon werde ich beim nächsten Rendezvous übernehmen. Auch keine Ideallösung. Die Digicam war unempfindlich und klein, ich hielt sie ständig und blitzschnell einsatzbereit in der Hand, mit einer Schlaufe ums Handgelenk gesichert. Das Smartphone werde ich mit Tüte vor Feuchtigkeit geschützt im Rucksack verwahren und zu jedem Einsatz rauskramen müssen. Außerdem muss ich ausnahmslos stehenbleiben, um es sicher bedienen zu können. Mist! Ganz großer Mist!

Kilometer 25: Ich bin unterwegs nach „Gutglück“. So stand es auf dem Wegweiser. Sollte ich mich angesichts der Kameramisere jetzt verhöhnt fühlen? Nein, keinesfalls, mein Körpergefühl spricht dagegen und mein Kopf nimmt’s als weiteren Wink des Schicksals. Mein 100. Ultralauf wird gelingen. Mental bin ich so blendend drauf, dass ich jede auf Ultradistanz gebotene „Denkhygiene“ vernachlässige und sogar rückwärts rechne: 115 km Gesamtstrecke minus 25 ist gleich 90. Noch 90 Kilometer. Das ist noch weit, sehr weit. Mit kritischer Tagesform gestraft vermiede ich Rückwärtszählen bis mindestens zur Hälfte der Distanz ... Verheißungsvoll der Name, eher reizlos die Ansiedlung selbst - gemeint ist Gutglück. Durch und voran bis der Weg in einer Landstraße aufgeht. Auf parallelem Radweg unabsehbar weit geradeaus, vermutlich Richtung Barth. Ab und zu überprüfe ich meine Position auf dem Monitor der Uhr. Auch jetzt decken sich Pfeil und Track. Zusätzliche Sicherheit, wirklich erforderlich wäre das Navi nicht. Gut sichtbare Pfeile auf dem Boden geben die Richtung vor, zusätzlich gesprühte Ausrufezeichen signalisieren einen Abzweig.

In Barth werde ich Ines treffen, irgendwann, irgendwo dort. Genauer geht’s nicht, weil um und durch Barth eine mehr als zehn Kilometer lange Schleife gelaufen wird. Aus demselben Grund werde ich in längstens anderthalb Stunden auf diesem Radweg in entgegengesetzter Richtung unterwegs sein. Und genau an dieser Stelle, gegenüber, auf einem Radweg im Wald abtauchen. Beredte Pfeile geben Auskunft und der Kontrollblick zum Track liefert die Bestätigung. Einen Steinwurf weit vor den ersten Häusern erschließt sich mir die Herkunft des Namens der Kleinstadt Barth: ich überquere die Barthe. Selbst im Zwielicht unter nach wie vor geschlossener Hochnebeldecke hat das Flüsschen mit grünen Ufern und vereinzelt an Stegen vertäut liegenden Booten seine Reize. Schmerzlich wird mir die leere rechte Hand bewusst, keine Möglichkeit die Idylle am Wasser zerpixelt im Kameraspeicher heimzutragen ...

Kurz hinter der Stadtgrenze erwartet mich Dropbag 407/4 mit zwei weiteren Flaschen Wasser. Auch 407/5 liegt hier bereit, weil sich die Schleife um und durch Barth an dieser Stelle schließt. Notieren meiner Startnummer, Trinken bis sich die Bauchdecke wölbt. Jenseits der Straße durch ein Wohngebiet setzt sich die Route fort ... ... ... und entlässt mich Minuten später wieder in bäuerlich geprägte Landschaft vor der Stadt. Einen Kilometer geradeaus auf und neben Geschichte: Unter meinen Füßen Beton aus sozialistischer Ära. Wie in der finanzklammen DDR üblich von miserabler Qualität, darum heute rissig, löchrig und infolge von Verwerfungen massenhaft Kanten bildend. Also aufpassen! Auch an einer Gedenkstätte komme ich vorbei. Sie erinnert - so viel ist trotz aller Flüchtigkeit erkennbar - an Verbrechen der Nazizeit. Hier draußen vor der Stadt? Lager von Zwangsarbeitern lagen in der Regel fernab bürgerlicher Siedlungen*. Dafür gibt es auch in Bayern, wo ich herkomme, zahlreiche Beispiele.

*) In der Nähe von Barth waren ab 1943 mehrere tausend KZ-Häftlinge interniert, die als billige Arbeitskräfte im 12-Stunden-Zweischichtdienst für die Heinkelflugzeugwerke arbeiten mussten.

Mangels ausreichend betriebener Streckenkunde überrascht mich der weitere Weg. Übergangslos schlüpfe ich in dichten Wald. Der offensichtlich von Wanderern und Radlern stark frequentierte und entsprechend feste Pfad führt zwar über zahlreiche Bodenwellen ist jedoch ohne merkliche Tempoeinbuße gut zu belaufen. Das ändert sich abrupt am Waldrand, wo ich auf der Deichkrone weiterlaufe - mit nun ständiger Fernsicht über Schilf zum Bodden hin. Es folgen die mit Abstand grausamsten Kilometer der Route; nicht mal drei real, gefühlt eher zehn ... Ausgesprochen schmale, mit Kullersteinen bestreute und Löchern gespickte Fahrspuren verlieren sich in der Ferne. In der Rinne finden die Sohlen kaum Platz, im Gras ist der Kraftverlust zu hoch. Also beiße ich die Zähne zusammen und martere meine Füße auf holprigem Geläuf. Im Dunst der Ferne mache ich so etwas wie eine Skyline aus, mit einem Kirchturm als höchste Erhebung. Vermutlich Barth und der Damm bringt mich hin. Leider wollen Turm und Stadt partout nicht wachsen, als schöben unbekannte Mächte die Stadt beständig vor mir her ...

Ich überhole einen Mitläufer, der zeitweise geht. Nach nur 35 Kilometern gebricht es ihm sicher nicht an Kraft. Vielleicht schont er sich, womöglich nervt ihn die Holperspur ebenso wie mich. Und bestimmt treibt ihn nicht gnadenlose Selbstverpflichtung voran: Kein Meter gehen, alles laufen! - Das Ende der Tortur ist absehbar. Inzwischen erkenne ich Einzelheiten von Hafen und Stadt. Schade: Die Sonne macht sich zwar immer noch rar, dennoch hätte ich die reizvollen Ausblicke über den Bodden gerne im Bild festgehalten. Geschafft! Ein Feldweg löst den Damm ab und alsbald spüre ich wieder Asphalt unter den Sohlen. An Lauffreude und Zuversicht konnte das gemeine Wegstück übrigens nur reiben, wie sich jetzt zeigt aber nicht den kleinsten Kratzer hinterlassen.

Turm und Kirchenschiff überragen die Zeile kleiner, bunter Häuschen um eine beträchtliche Spanne. Die Häuserzeile bleibt zurück, der Kirchturm begleitet meinen Jogg durch Barth. Ein Läufer kommt mir entgegen. Obschon man den verzweigenden Track auf der Uhr kaum anders interpretieren kann, rufe ich ihm hinterher: „Bist du auf dem Rückweg?“ Keine Reaktion, der Angesprochene scheint unerreichbar in sich selbst versunken. Ein zufälliger Passant mit Streckenkenntnis antwortet an seiner Stelle: „Ja, ist er, hat die Runde hinter sich!“ - Also anscheinend eine kleine Schleife an großer Schleife. Am Ende dieses Gedankens, hundert Meter voraus, warten Ines und unsere Hündin Roxi. Großes Hallo gefolgt von der Hiobsbotschaft „Kamera defekt!“ Ines schickt mich erst einmal weiter. Stückweit voran, dann Schwenk zum Boddenhafen, am Kai zurück und schon stehe ich wieder vor meiner Frau. Sie versorgt mich mit weiteren Gels. Improvisieren ist Trumpf: Ich übernehme eines der Handys und stecke es in eine der wasserdichten Tüten, die wir für Roxis Hinterlassenschaften immer parat halten. Schlussendlich versenke ich das „Päckchen“ in einer Rucksacktasche.

Barth und Barthe, liegen hinter mir, ich folge dem schon vom Hinweg bekannten Radweg. Nur Minuten nachdem ich mich von Ines verabschiedete streifte ich Armlinge und Halstuch ab. Nach kurzer Zeit, mit dem Wind nun im Rücken, drohte Überhitzung. Gefühlt stieg die Temperatur sprunghaft an. Früh um halb neun und bei noch immer geschlossener Wolkendecke pure Einbildung. Halb neun ... noch immer fällt es mir schwer an die gestrige Prognose von Sonne und blauem Himmel Hoffnung zu verschwenden. Ende der Schleife: Ich überquere die Straße und tauche mit dem Radweg im Wald ab.

Ab hier halte ich direkt auf die engste Stelle der wie Seen aneinander gereihten Boddengewässer zu, wo Sportboote in schmaler Rinne (Meiningenstrom) vom Barther in den Bodstedter Bodden einfahren können. Jedoch nur viermal am Tag, wenn die schon zitierte Drehbrücke jeweils für eine Viertelstunde den Landverkehr unterbricht. Das nächste Mal um 9:45 Uhr. Ich schaue auf die Uhr: 8:45 Uhr und höchstens noch fünf Kilometer bis zur Brücke. 5 x 7 = 35 min grob gerechnet, also bin ich spätestens gegen 9:20 Uhr vor Ort und damit lange vor der Zeit. Dass das gelingen würde, hatte ich erwartet. Lockerheit und anhaltende Mühelosigkeit, mit der ich weiterhin - nach inzwischen Marathondistanz - Schritt auf Schritt folgen lasse, dagegen nicht. Und so vollführt mein Optimismus regelrechte Bocksprünge. - Ein Passant kommt mir applaudierend entgegen: „Toll! Weiter so!“ Weiß er, um was es geht? Kennt er den Bewerb oder hat von einem der schnelleren Läufer das Woher-Wohin-Wie-Weit erfahren?

Die Anfeuerung beflügelt mich zusätzlich, eine Weile jedenfalls. Es liegt in meiner Natur, dass Zuspruch nur verfängt, wenn ich mich ohnehin gut und allem gewachsen fühle. In fortgeschrittener Erschöpfung krauchend bleiben Beifall oder Ansporn wirkungslos. Nicht mal eine Dankesgeste vermag ich mir dann abzuringen, anders hier und jetzt. Über mehrere Minuten verkürze ich den Abstand zu einem grün bedressten Rücken. Irgendwann erkenne ich Claudia, die Ines und ich vor zwei Wochen beim Barnim Doppel kennen lernten. Claudia startete ein paar Minuten nach mir und muss vorbeigelaufen sein, als ich mich diskret für einige Minuten im Wald verbarg. Es ist lange her, vor der Schleife um Barth, mithin etwa 15 Kilometer, dass ich letztmalig mein Tempo überprüfte. Wieso ich es ausgerechnet jetzt wiederhole, wüsste ich nicht zu sagen. Instinkt vielleicht? Oder eine leise Warnung, die vom schnellen Näherrücken des grünen Rückens ausgeht ... 6:21 min/km rechnet meine Uhr für den angebrochenen Kilometer hoch. Freude und Erschrecken ringen ums Läuferherz und erst der Schiedsrichter „Vernunft“ schickt die Freude auf die Strafbank. Tempo sträflich überzogen! Noch gut 80 Kilometer, die ich nie und nimmer in diesem Stil vollenden kann, auch mit überwiegend zu erwartendem Rückenwind nicht. Ich mäßige meine Schritte, wonach sich die Distanz zu Claudia immerhin nicht weiter verringert ...

Etwa einen Kilometer weiter verordne ich mir den nächsten Tempocheck: 6:30 min/km. Langsamer aber nicht langsam genug! Fortan zwinge ich mich Claudias „magnetische“ Rückenansicht weitgehend zu ignorieren, will den „Sogeffekt“ eliminieren. Richte die Augen zu Boden oder seitwärts in Richtung Bodstedter Bodden. Von dem ist hinter ausgedehnten Feuchtwiesen ein schmaler Streifen mehr zu erahnen als zu sehen. Ich nestele das Handy aus dem Rucksack, bleibe kurz stehen und mache ein paar Aufnahmen - in Laufrichtung mit Claudia als Model und über das Grasland hinweg zum Wasser hin. Weiter und Check: Wieder 6:30 min/km. Es ist wie verhext, der innere Tempomat scheint sich meinem Willen nicht beugen zu wollen. Ich laufe beschwingt in bester Stimmung und günstig stehender Wind schiebt mich zusätzlich voran ...

Eine Verpflegungstelle? Hier, nach 45 Kilometern? Dropbags gibt es hier keine, dafür Wasser in Bechern, ausgeschenkt von einer Dame mit Schutzhandschuhen und Atemmaske. Was für Zeiten und was für ein Aufwand für so wenige Läufer. Hut ziehen und Knie beugen vor den Menschen, die unseren Lauf trotz aller Einschränkungen möglich machen, ist zu wenig. Selbst wenn man unterstellt, dass ihnen die Betreuung ähnliche Freude bereitet wie uns das Laufen. Meine Dankbarkeit wächst ...

Ziemlich genau nach 46 Kilometern und 5:20 Stunden Laufzeit stehe ich erst vor, dann auf der Meiningenbrücke*. Stehen im Wortsinne, um Drehbrücke und Boddenstrom per Handy zu dokumentieren. Ich warte sogar ein Weilchen bis der Läufer, den ich vor kurzem überholte, heran ist, um den Ort „mit Läuferleben zu füllen“. Die Brücke markiert nicht nur den Wechsel von einer Boddenseite zur anderen, also den Ort, an dem ich die Halbinsel Zingst betrete. Was sich seit ein paar Minuten ankündigt, vollzieht sich genau hier binnen Sekunden und endgültig: Die Sonne bricht durch! Endlich! denke ich und: mein Wetter. Was fehlt nun noch zu Udos Läuferglück? Richtig: Rein gar nichts mehr!

*) Alte Meiningenbrücke über den Meiningenstrom zwischen Barther und Bodstedter Bodden.

Unweit einer Straßengabelung kreuzt der Radweg die Fahrbahn. Der zur Mitte des Vormittags hin auf Kolonnenstärke angeschwollene Strom der Fahrzeuge wählt überwiegend den anderen Abzweig. Damit wir Läufer trotzdem gefahrlos und mit „Vorfahrt“ kreuzen können, sichert Veranstalter Henry den Übergang. Für mich stoppt er in entschlossener Manier eines Verkehrspolizisten ein Auto. In zwei Richtungen dankend und lächelnd setze ich über. Grob überschlagen wird Henry an dieser Stelle anderthalb Stunden vom Führenden bis zum Schlusslicht ausharren müssen. Was für ein Aufwand!

Ich entere einen Deich und biege in nahezu rechtem Winkel ab - Richtung Bodden. Die Deichkrone bleibt mir von diesem Moment an für mehr als fünf Kilometer erhalten. Eine als Radweg feinst asphaltierte Deichkrone, wo die Füße ihren Weg alleine finden und der Blick ständig nach Osten über ein schmales Band aus Wiesen und Schilf hinweg nach dem Bodden greift. Dank des leicht erhöhten Standorts halte ich nun stete Blickverbindung zum Wasser. Sattsehen an reizvoller Landschaft und platter Weite scheint einstweilen unmöglich. Erst recht jetzt, da die Sonne die Boddenlandschaft in lebhafte Farben taucht. Als wollte man mir auch noch den letzten Wunsch von den Augen ablesen, stellte die Gemeindeverwaltung von Zingst Abfallkörbe in regelmäßigen Abständen auf, in die ich bequem meine leeren Geltüten* entsorge. Perfekt!

*) Vorläufige Planung: Erstmals bei Kilometer 10, dann jeweils nach 5 Kilometern ein Gel einverleiben.

Ich genieße das unbeschwerte Laufen auf dem Deich, nur einmal von einem Dropbag-Stop am Hafen von Zingst unterbrochen. Natürlich spüre ich die inzwischen gesammelten 50 Kilometer in den Beinen. Jedoch nicht so, als näherte ich mich allmählich dem Punkt, ab dem ich meinen Schritt mäßigen müsste. Schon lange, so auch jetzt und hoffentlich noch für einige Zeit, bin ich vollkommen eins mit dem, was ich tue. Unbelästigt von Fragen, die um Antwort nachsuchen. Auch keine Beschwerden - wirklich nicht mal der kleinste Pieps! -, die mich nerven würden. Ich glaube man nennt Glück, was mir widerfährt und ich empfinde. Es zu dokumentieren ist mir wichtig. Wichtig für mich selbst. Weil es mit den Jahren immer seltener in dieser Vollendung geschah. Zuletzt beim Barnim Doppel vor zwei Wochen, vor allem am zweiten Tag. Davor monatelang so gut wie gar nicht. Nur Training, läuferischer Alltag, meist begleitet von irgendwelchen Beschwerden und der Frage: Kann ich noch Ultra? Nicht irgendwie Ultra, nicht irgendwie ein Ziel erreichen. Vielmehr lange Strecken überwiegend unbedrängt und laufend zurücklegen. Was ich vor zwei Wochen erlebte und sich heute - ausgerechnet im 100. Ultralauf - wiederholt, beseitigt nagende Selbstzweifel: Yes I (still) can!

Keine Ahnung wie oft schon die Führung wechselte: Er (laufend) und Sie (radelnd) überholen mich auf dem Deich. Diesmal, während ich in Richtung grandiose Wasserlandschaft fotografierend am Wegrand verweile. „Soll ich ein Foto von dir machen?“ Ich lehne ihr Angebot mit einem Lächeln ab: „Nein danke! Meine Frau ist an der Strecke und schießt mehrfach Fotos von mir!“ Ich schere mit einigem Abstand hinter den beiden ein und halte Tuchfühlung. Abstand: Schrumpfend. Schließlich neben ihm trabend entdecke ich, was mir bisher entging: Zehenschuhe und damit kaum mehr als nichts an seinen Füßen. Darüber hinaus seinen extremen Vorfußlauf. Bei jedem seiner Schritte hält die Ferse fingerbreit Distanz zum Boden. „Läufst du die ganze Strecke in Zehenschuhen?“ Welche Regung mich fragen lässt, kann ich nicht sagen. Vielleicht Neid seinen elegant tänzelnden Laufstil nicht selbst zu beherrschen ... Dazu passt jedenfalls mein „Das möchte ich auch können! Aber, um das noch zu lernen bin ich dann doch schon zu alt!“ als er die Frage bejaht. Zu alt und leider auch nicht mit dem erforderlichen geringen Gewicht eines drahtigen, mittelgroßen Läufers gesegnet.

Bereits ein paar Schritte in Front und noch immer beeindruckt stelle ich mir vor, wie er in ein paar Stunden am Ostseestrand durch den Sand „pflügen“ wird. Ich lasse mich zurückfallen, um unser beider Vor- und Nachteile auf den bevorstehenden Sandkilometern zu diskutieren. Rasch erzielen wir Einigkeit: Hinsichtlich des Schuhwerks liegt der Nachteil eher auf seiner Seite. Mein Laufschuhrand ist höher als derjenige der Zehenschuhe, also wird weniger Sand in die Schuhe schwappen. Seine Vorfußbetonung wird ihm dagegen Vorteile bringen: Meine Fersen werden sich bei jedem Schritt „eingraben“ und zu erhöhtem Kraftaufwand beim Abdrücken der Füße führen ...

Kilometer 54: Der Deich ist Vergangenheit, auf schmalem Sträßchen weiter zwischen Wiesen. Stückweit voraus, offensichtlich vor einem Hof, steht ein Pferdegespann, setzt sich jedoch in Bewegung bevor ich heran bin. Ein paar Leute stehen am Stallausgang, den ich am vertrauten Geruch als Pferdestall erkenne. Menschen in Reithosen - wie gewohnt mehrheitlich weiblichen Geschlechts - beseitigen letzte Zweifel. Die Kutsche ist weg, also gilt ihre Aufmerksamkeit nun mir. Ich bin sicher nicht der erste bunt und merkwürdig Gekleidete, den sie heute sehen, anscheinend aber der erste, den sie fragen können. Also bleibe ich kurz stehen und stille den Wissensdurst. Lass mich dir glaubhaft versichern anlässlich solcher Begegnungen nicht nach Bewunderung oder ähnlich Nutzlosem zu trachten. Was mir jedoch jedes Mal gewaltiges Vergnügen bereitet, sind in Staunen, oft in Ungläubigkeit verharrende Gesichtszüge: „115 km!??? Ach Gott, unvorstellbar!“

Im nahen Wald wird Asphalt zu Beton. Genauer gesagt zu Betonschwellen „made in GDR“. Wie überall, wo diese oder ähnliche Schwellen seinerzeit verlegt wurden, gammeln sie vor sich hin, sind vielfach verrutscht oder unvorhersehbar abgesackt. Massenhaft Stolperfallen, die mir die schweißfeuchten Nackenhaare aufstellen. Hundert Meter vor mir rumpelt das Pferdegespann über den Weg, dahinter zwei Mitläufer ohne Möglichkeit zu überholen. Das ändert sich erst hinter einer Wegbiegung, ab der Radfahrer parallel zur Holperstraße eine Pfadspur anlegten. Auf diesem Abschnitt ziehe auch ich an der Kutsche vorbei - nicht ohne das Schicksal der arg durchgeschüttelten Passagiere fotografisch zu würdigen.

Parallel zum Waldrand verläuft der Deich - oder ist es umgekehrt? Diesmal ein ziemliches Bollwerk von Deich, der Land und Leute vor Sturmfluten der Ostsee schützen soll. Einstweilen gibt es von hier oben wenig zu sehen: Links Wald, rechts ein Waldstreifen und Radler auf der wieder fein asphaltierten Deichkrone. Die Ostsee bleibt einstweilen hinter Bäumen verborgen. Nur in Höhe der Strandübergänge, die alle paar hundert Meter eine Schneise in den Waldstreifen schlagen, gelingt über die Sanddüne hinweg ein Blick zum Meer. In kurzen Abständen schaue ich aufs Zählwerk meiner Uhr und mache endlich einen Haken hinter der halben Strecke: 57,5 Kilometer! Halbe Strecke, doch unzweifelhaft nicht Halbzeit. Irgendwann werde ich das Tempo reduzieren müssen, außerdem warten noch die Sandstrand-Kilometer mit ungewisser Anstrengung auf mich. 6:45 Stunden vergingen bis jetzt, mal zwei, macht 13:30 Stunden. Also rechne ich grob mit einer Endzeit von deutlich über 14 und hoffentlich noch unter 15 Stunden ...

Egal welche Reststrecke jeweils noch vor mir liegt, von der Hälfte geht immer ein Schub Motivation aus; den es diesmal gar nicht gebraucht hätte. Am nächsten Strandübergang erwartet mich mein Fanduo. Die eine freudestrahlend und mit Küsschen, die andere schwanzwedelnd und mit wildem Gebell. Schon jetzt gelingt es mir nicht mehr die Pause kurz zu halten. Noch mangelt es nicht an Kraft und Konzentration. Die Freude meine Frau nach zweieinhalb Laufstunden wiederzusehen erhöht die Schwerkraft spontan.

Weiter auf dem Damm, weiter im Strom der Fußgänger (einige) und Radler (viele). Unendlich weit schnurgeradeaus. So wirkt es auf mich, auch wenn dieser Eindruck die topografische Realität etwas verfälscht. Je näher die Zingster Strandpromenade rückt, umso mehr Menschen bevölkern die Dammkrone. Ab und zu kurve ich im Slalom um haltende Radfahrer oder schlendernde Passanten. 13. Juni, noch haben die Sommerferien nirgendwo begonnen - wo um alles in der Welt kommen die vielen Menschen her?* Vor lauter Achtsamkeit Kollisionen zu vermeiden hätte ich den Verpflegungspunkt vor der Seebrücke Zingst eventuell übersehen. Doch man sieht mich kommen und winkt mich vorsorglich heran. Ein örtlicher Wirt schenkt hier aus - so habe ich das verstanden. Der darf, was das Gesundheitsamt dem Veranstalter verbietet. Cola für den Magen, Wasser für meine Trinkflaschen, das nötige Dankeschön fürs Team an der Tränke.

*) Unsere Tendenz frühe Urlaubermassen als Covid-19-Phänomen einzustufen bewahrheitet sich ein paar Tage später anlässlich eines Gespräches mit einem örtlichen Wirt. Es geschehe zum ersten Mal, dass bereits in der Vorsaison Touristen wie Heuschreckenschwärme an der Ostseeküste einfallen. Offenkundig mangels Möglichkeit zu Auslandsreisen oder die Risiken und nicht abschätzbaren Umstände des grenzüberschreitenden Tourismus scheuend.

Ein paar Meter weiter, unmittelbar vorm Zugang zur Seebrücke, bleibe ich noch einmal stehen. Ein Bild über die Seebrücke hinaus aufs Meer habe ich im Sinn. Angesichts der Menschenmassen, die meiner Linse das Sichtfeld verstellen, bloße Wunschvorstellung. Also halte ich einfach drauf und erbeute als Entschädigung ein paar Aufnahmen mit Honky Tonk Hugo anstelle der Ostsee. Auf seinem Fahrradanhänger (!) hinter Bass und Snare Drum hockend gibt er Country and Western Songs zum Besten. Hugos Bodyguard (schwarzer Zwergschnauzer) bewacht den zur Animation von Spendenfreude weit aufgeklappten Gitarrenkoffer. Offensichtlich ein über die Jahre perfekt durchorganisierter Auftritt des Paares ...

Deich, Deich und noch mehr Deich. Radler, Radler und noch mehr Radler, bisweilen ist auch jemand zu Fuß unterwegs. Ich schätze das Verhältnis Fußvolk zu Pedalisten auf etwa 1:10. Sobald die Zingster Promenade hinter mir liegt, wächst es sprunghaft auf „1“ zu unendlich. Und „1“, das bin ich! In den kommenden Tagen unseres Urlaubes werden wir uns noch mehrfach als vom Aussterben bedrohte Spezies begreifen - zumindest hier an der Ostsee. Werden uns über nicht enden wollende Kolonnen von Drahteseln wundern und unser Fußgängerdasein als nicht mehr zeitgemäß und schon gar nicht zukunftsfähig begreifen. Woran das liegt? Irgendwann wird Ines aussprechen, worüber nachzudenken ich keine Lust hatte: Seit Erfindung des E-Bikes schrecken Faulheit und mangelnde Beinkraft niemanden mehr von der Nutzung eines Zweirades ab ...

Ein Radler kommt längsseits. Während er das Wort an mich richtet, ermittelt mein taxierender Seitenblick Indizien: Rad ohne E-Unterstützung, drahtig schlanke Person männlichen Geschlechts. Ob sich die Sachverhalte gegenseitig bedingen, darüber könnte ich nur spekulieren. Immerhin begreife ich unseren kurzen Wortwechsel als Austausch unter „Gleichen“ und lasse meiner Auskunftsfreude die Zügel schießen. Wettkampf? Von wo nach wo? Wie weit? Et cetera ... Es fragten schon mehrere, aber er ist der erste, der mich auf einem Drahtesel ein Stück weit begleitet.

Was mir auffällt und gefällt: Man achtet aufeinander, weicht sich sorgsam aus. Selbst im dichtesten Gewühl vor der Seebrücke war das so. Hätte ich, die weit verbreitete Egomanie bundesdeutscher Verkehrsteilnehmer gleich welcher Art bedenkend, so nicht erwartet. Zu gefährlichen Situationen kommt es trotz bisweilen flott vorbei preschender Radler nie. Heilsame Wirkung des Covid-19-Schocks, der die Menschen Rücksicht lehrte? - Am ehesten nervt noch die Mama mit ihren beiden Sprösslingen. Alle drei mit Sattel unter dem Hintern. Und während sich die Buben kindgemäß rücksichtslose Wettfahrten liefern, gilt ihre einzige Sorge dem Umstand, sie könne die Zwerge aus den Augen verlieren. Meine Sorge ist eher, dass die mehrmals dicht vor mir einscherenden Lümmel meinem hundersten Ultrasieg ein jähes Ende bereiten könnten ...

Immer noch Deich, schon lange neben der Verbindungsstraße zwischen Zingst und Prerow auf dem Darß. Dann, nach langen zehn mit Rückenwind jedoch ziemlich ermüdungsfrei überbrückten Kilometern, ändert sich das Bild. Wo sich der dem Bodden zufließende Prerowstrom* der Ostsee auf Dünenabstand nähert, geht der Deich in die Düne über. Mit Matten befestigter Sand unter den Schuhen bereitet mir ebenso wenig Probleme wie ein paar in natürlichem Auf und Ab zu nehmende Hügelchen. Einfach eine nette Abwechslung, die zudem bald auf dem nächsten Deich endet.

*) Beim Prerowstrom handelt es sich um eine ehemalige Strömungsrinne zwischen Bodden und Ostsee (Länge ca. 10 km), die anlässlich einer Sturmflut 1872 versandete. In der Zeit danach wurde die Verbindung künstlich weiter zugeschüttet. Seitdem sind die Boddengewässer hinter der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst nur noch über einen schmalen Durchlass zwischen Ostzipfel Zingst und der Insel Hiddensee mit der Ostsee verbunden.

Kurz vorm Ortsrand von Prerow, den Deich schon im Rücken, überhole ich einen gehenden „Kontrahenten“. Gehpause nach „nur“ 68 Kilometern? Für meinen „Geschmack“ ein bisschen zu früh. Aber warum nicht, ihm bleiben noch 11 von 19 Stunden. Selbst komplett gehend, mit weniger als 5 km/h, wären die verbleibenden 47 Kilometer zu schaffen ... Dreihundert Meter weiter reiße ich mein nächstes Dropbag auf und trinke erstmals mit Durst. Zwar hat die Lufttemperatur jetzt, gegen „High Noon“, die 20°C-Marke noch nicht geknackt. Mit Rückenwind jogge ich allerdings seit anderthalb Stunden ohne kühlende Brise. Nicht falsch verstehen: Ich mag es so. Das entgegne ich auch meinem „Kontrahenten“, als der aufstöhnend Zustimmung erwartet: „Warum ist das bloß schon wieder so heiß?“ So wenig wie ich sein Temperaturgefühl verstehe, begreift er meins, als ich Ultraläufe in Griechenland zitiere. Von den Zeugen unserer Uneinigkeit - die beiden Damen am VP und zwei Sanitäterinnen* - möchte ich nicht als Aufschneider scheiden, drum schiebe ich noch ein paar erklärende Sätze hinterher.

*) Herzlichen Dank an das Sanitätsteam vom DRK: Acht Frauen und Männer mit vier Fahrzeugen, darunter auch ein Jeep und ein Quad patrouillierten beständig entlang des Feldes, von vier Uhr morgens bis in die Abendstunden!

Wende mich vom VP ab, gehe ein paar Schritte und merke, dass mir das Antraben nun schon schwerer fällt. Rote Ampel vorm Hafen in Prerow. Innerlich widerstrebend warte ich die Grünphase ab. Die Beine sind damit vollkommen einverstanden und der Kopf hat auf der 100 Meilenrunde um Berlin solcher Art Geduld erlernt. Ich nutze die Minute, um mein Handy rauszukramen und den Hafen am Prerowstrom im Bild festzuhalten. Eine Wohnstraße später schon bleibt Prerow zurück. Zwischen Viehweiden mit hüfthoch stehendem Gras kämpfe ich mich voran - südostwärts und damit erst mal wieder gegen den Wind anrennend. Ich bin jedoch ehrlich genug mir die Wahrheit einzugestehen: Gegen den Wind stemmte ich mich am Morgen zuweilen auch. Dass ich es jetzt als ziemlich mühsam empfinde, liegt am Grad inzwischen eingetretener Ermüdung. Ungefähr in diesen Minuten ahne ich den demnächst fälligen Einbruch. Noch nicht auf den nächsten Kilometern aber dann ...

Der Blick schweift über die Wiesen, verfängt sich gen Westen im Darßwald, einem Teil des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft. Östlich des Radwegs (Hurra! Feiner Asphalt!) verliert sich grasend eine Kuhherde auf riesigem Areal. Witzig anzusehen, doch zu weit entfernt, um davon mit der Handykamera ein beeindruckendes Bild zu schießen: Im schmalen Prerowstrom schwimmend erwecken die weißen Aufbauten eines Ausflugsdampfers den Anschein eine Schneise ins Grüne zu „pflügen“. Sinnlos der Fototermin, doch kommt meinen müden Knochen die Stehpause gelegen ...

Nach mehreren Richtungskorrekturen - erst gen Süden, dann Süd-Südwest, schlussendlich Südwest - habe ich den Wind endlich wieder im Rücken. Unterdessen wurde mir bewusst auf der Strecke des Darß Marathons unterwegs zu sein, für den ich im April 2016 angemeldet war, den ich jedoch wegen einer Augenerkrankung nicht antreten durfte. Mehr als zwei Wochen absolutes Laufverbot. Seinerzeit ein herber Rückschlag in der Langfristvorbereitung auf den Spartathlon. Stattdessen betreute ich meine Frau Ines, die unter anderem hier und drüben im Darßwald mit 1:50:50 Stunden ihre Halbmarathonbestzeit aufstellte - und dennoch mit langem Gesicht durchs Marathontor lief. Grund: Eine Woche zuvor im Spreewald (richtig: auch da durfte ich nur zuschauen) war sie nur 10 Sekunden langsamer und hatte sich vorgenommen auf dem Darß die 1:49:xx zu schaffen. Das wäre ihr auch gelungen, hätte ein bis heute ungeklärter Fehler sie nicht im irrigen Glauben gelassen, das Ziel sicher unter der Marke zu erreichen.

Die ersten Häuser von Wieck auf dem Darß. Vor einer arg gestutzten Weide bleibe ich wie angewurzelt stehen, will ein Beispiel lokalen Humors im Bild einfangen. Die dunkle Höhlung des offenbar kranken Baumes befeuerte die kreative Ader eines Anwohners: Über dem Loch zwei Scheiben als Augen, darunter ein roter „Lappen“ - so streckt der Baum jedem Passanten die Zunge raus ...

Weiter durch Wieck, das sich wie jeder der Orte auf der Halbinsel infolge lockerer Bebauung weit ins Land hinein gefressen hat. Egal ob Wieck, Zingst, Prerow, demnächst Born oder später Ahrenshoop auf Fischland - alle Ansiedlungen mit vergleichsweise wenigen Bewohnern ziehen sich über mehrere Kilometer hin. Zersiedelung, der nach meiner Beobachtung anlässlich zahlreicher Besuche nirgendwo auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Einhalt geboten wurde. Da mutet es wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass nirgendwo in Deutschland so viel ursprüngliche Natur bewahrt werden konnte, wie in den neuen Bundesländern. Weder ein Verdienst der DDR, noch von deren Einwohnern. Der kapitalistische Westen war schlicht erfolgreicher im Ausbeuten von Ressourcen und der damit einher gehenden Vernichtung von Natur als der sozialistische Osten.

In Wieck wie überall an der Ostseeküste brummt seit Jahren der Tourismus. Kaum ein älteres Haus, das nicht bestmöglich renoviert und von üppig blühenden Gärten umgeben wäre. Mal links, mal rechts die Erfolge der Hobbygärtner mit Blicken würdigend komme ich voran. Um schließlich unvermittelt vorm Tisch eines Verpflegungspunktes zu stehen. Wieder ein Wirt (oder so?), der darf, was dem Veranstalter verwehrt bleibt: Getränke ausschenken und Snacks anbieten. Ich erbitte mir eine Flasche Malzbier und lasse mir bei einem Schwätzchen viel Zeit sie zu leeren. Gut gelaunt parlieren, selbst bei schon deutlich spürbarer Abnutzung meiner Ausdauer? Das ist irgendwie neu, zumindest ungewöhnlich für mich. Es fällt mir erst im Nachhinein auf, Tage später, als mich Ines darauf anspricht. Sie hätte mich schon lange nicht mehr so dauer-fröhlich erlebt, trotz wachsender Erschöpfung.

Von Wieck nach Born über ein besonders reizvolles Stück des Radweges. Lange Zeit auf einer Art Damm am Schilfgürtel entlang mit Sicht zum Bodden. Nicht asphaltiert aber fein und betonhart geschottert. Auch dieser Abschnitt ist Teil des Darß Marathons und neuerlich „gedenke“ ich dem Pech meiner Frau, die sich hier, einen Kilometer vorm Ziel, schon auf ihre Bestzeit freute ... Nach unausweichlichem Fotostopp - „Boddenblick über Schilf mit Schwan“ - trabe ich auf dem recht schmalen Weg wieder an. Ich halte mich kooperativ rechts, um den zahlreichen Radlern auszuweichen. Ausgerechnet auf diesem idyllischen Stück FDZU widerfährt mir die einzig hässliche Begegnung des Tages. Ein E-Biker donnert mit Karacho auf mich zu, was ich jedoch, auf das Wegstück vor meinen Füßen konzentriert, nicht bemerke. Ein falscher Schritt zur Seite und ich landete im tiefer liegenden Unwägbaren ... Plötzlich huscht ein Schatten heran und ... ist auch schon vorbei, verfehlt mich dabei nur um Haaresbreite. Hinter meinem Rücken und rasend schnell leiser werdend entlässt der rücksichtslose Mensch - nur Verlierer bremsen! - eine wahre Schimpftirade. Ich verstehe nicht, was er von mir hält, dafür weiß ich, welches trump-würdige* Prädikat ich ihm nach abklingendem Schreck verleihe*.

*) Man kann also den Namen Trump und das Wort Würde tatsächlich in einem Atemzug nennen. Nach der Vielzahl trump-scher Lügen und sonstigen Verfehlungen hätte ich das nicht für möglich gehalten.

Die ersten Häuser von Born auf dem Darß. Hier bezogen wir vor vier Jahren Quartier und hier haben wir uns auch für diesen Urlaub in einer Ferienwohnung niedergelassen. Noch etwa einen Kilometer bis zu meinem „privaten VP“*, die FeWo liegt direkt an der Strecke. Ein Kunststück, das Kamerad Zufall zum letzten Mal 2018 beim Tuscanny Crossing (Toskana, 102 km, 3.200 Hm) hinbekommen hat. Seinerzeit erreichte ich unser Quartier kurz nach einer Flussdurchquerung und konnte mir vorm Zimmer trockene Strümpfe anziehen ... Auch heute habe ich mir Wechselkleidung bereitgelegt, für den Fall eines überstandenen Gewitters. Unnötig, wie sich zeigt, weil unser Auto in der Einfahrt steht. Ines nutzt die Annehmlichkeiten unserer Terrasse zum Lesen und Sonnenbaden. Also nur trinken und Gel, reden und lachen und nach fünf Minuten weiter ...

*) Nach der Vereinbarkeit eines „Privat-VP“ wie auch der Betreuung per Auto mit den (ungeschriebenen) Wettkampfregeln habe ich mich vorab erkundigt.

Born, so lang es sich auch unweit des Boddens hinziehen mag, gilt mir als das hübscheste der Halbinsel-Dörfer. Das liegt nicht nur an den vielen historischen, 1a-restaurierten, in der Mehrzahl reetgedeckten und bildschönen Katen, die man entlang des Laufweges zu sehen bekommt. Die Gemeindeverwaltung gab sich sichtlich Mühe alle unschönen Ecken auszumerzen und das verwöhnte Urlauberauge auf reizvolle An- und Aussichten zu lenken. Nicht nur in Höhe des Hafens gelingt immer mal wieder ein Ausblick zum Bodden hin ... Ich genieße, was sich mir an optischen Reizen bietet, auch wenn ich merke wie müde ich nun nach 81, bald 82 Kilometern schon bin. Den Blick zur Uhr unterdrücke ich, was sollte er anderes zu Tage fördern als ich ohnehin spüre: Ich bin langsamer geworden.

Im Ortskern von Born halte ich Ausschau nach der Windmühle. Dass es sie hier irgendwo gibt, weiß ich von unserem Besuch vor vier Jahren. Heute bleibt sie mir allerdings verborgen. Dafür schenkt mir die Route kurz darauf das mit Abstand prächtigste Haus des Tages. Reetgedeckt, mit gelb-grün gestrichenen Fensterläden und in gleicher Farbe gehaltenen Malereien an der Eingangstür. Mit alter, schattenwerfenden Eiche im gepflegten Vorgarten ein zum Niederknien schönes Anwesen. Also Handy raus und ... knips! Und falls Elektronik oder ihr Bediener versagt haben sollten ... nochmal knips! Aus der Tiefe seines Gartens kommentiert der von mir unbemerkte Eigentümer des baulichen Kleinods meine freche Indiskretion: „So viel Zeit muss sein!“

Ihm widerfuhr solcher „Bildfriedensbruch“ sicher schon zu Hauf. Begangen von Touris, in deren Fotobüchern vom Darß-Urlaub die wunderschöne Kate einen Ehrenplatz behaupten dürfte. Entsprechend routiniert kontert er mein Kompliment zum bildhübschen Wohnsitz. Wir kommen ins Gespräch, zu dem mich nicht zuletzt meine müden Beine ermuntern. Meine Startnummer verrät ihm meinen Vornamen und ich, welches Vorhaben sich hinter „FDZU“ verbirgt. Wie sich herausstellt bin ich an einen geraten, der schmerzhaft gut einzuschätzen weiß, was ich mir für heute auflud. Früher selbst Marathonläufer habe er sein Hobby infolge „kaputter Knochen“ aufgeben müssen. Abschließend wünscht er mir alles Gute, das er - eingedenk eigenen Verletzungspechs - auf alle noch ausstehenden Läufe meines Lebens ausdehnt ...

Hinter Born verläuft der Radweg mitten durch den Campingplatz. Auch hier überfallen mich Erinnerungen. Diesmal neun Jahre her, als wir mit gemietetem Wohnmobil hier Station auf unserem Ostseetrip machten. Zwischen zwei Marathons übrigens, dem auf Usedom (unbedingt laufen!) und einem in der dänischen Stadt Odense (nix Besonderes). Hinterm Campingplatz das nächste Déjà-vu: Meine Jogging-Strecke aus jenen Tagen, ein Radweg ständig in Ufernähe zum Bodden. Aus leicht erhöhter Position von betonhartem Damm streift der Blick übers Wasser, verliert sich in der Ferne des gegenüberliegenden Ufers. Irgendwo dort drüben tippelte ich vor Stunden vorbei, im trüben Licht eines nebelfeuchten Morgens.

Mit Rückenwind unter praller Sonne heizt sich mein Körper auf. Entsprechend oft labe ich mich an meinen Trinkflaschen. Trotzdem überwältigt mich auf dem etwa dreiviertelstundenlangen Wegstück, von Born nach Ahrenshoop und bar jeglichen Schattens, ein heftiges Gefühl von Schlappheit. Es ist ja nicht so, dass ich immun wäre gegen Sonne und Wärme, auch wenn ich dieses Laufwetter jedem anderen vorziehe. Meiner Freude tut das keinen Abbruch und ernsthafte Bedenken kommen gleichfalls nicht auf. Ein wenig Stirnrunzeln vielleicht, wie es mir wohl nachher ergehen wird. Nachher im Sand, am Strand, immer noch schlapp, unterm selben Brennglas, mit dann erhöhtem Kraftaufwand. Ein weiteres Fragezeichen setzt das schon seit etwa einer Stunde im Westen, also in Laufrichtung voraus, auszumachende Gewitter. Wollte mich vorhin vergewissern, fragte den Borner Eingeborenen vor seinem hübschen Häuschen, ob mit einem Unwetter zu rechnen sei. Der hielt sich bedeckt: Das könne man nie genau sagen ... kann vorbeiziehen, genauso gut aber ...

Ich schlappe weiter auf dem Radwegdamm dahin, erfreue mich an tanzenden Lichtreflexen auf grüntrüber Boddenflut oder brettflacher Polderlandschaft, wenn ich rechts des Weges zum Darßwald hinüberschaue. Schwer lastet Schwäche auf jeder Körperfaser. Doch das ficht mich nicht an. Es ist nur schwer, tut aber nicht weh. Ein Zustand, den ich kenne, und - ja, sicher ist es so - den ich irgendwie auch genieße. Oder warum sonst sollte ich ihn immer wieder vorsätzlich herbeiführen? Mehrfach hebe ich den Kopf, studiere die milchig-trübe Gewitterfront voraus. Sie scheint nordwestwärts aufs Meer hinauszuziehen.

Ahrenshoop rückt näher, auch wenn ich es hinterm Berg nicht auszumachen vermag. Der „Berg“ ist nicht mehr als eine Erhebung, keine 20 Meter überm Meer, besteht vermutlich aus Sand, leistet sich aber einen Wald auf seinem Rücken. Die zwischenzeitlich dünne Kette von Radfahrern verdichtet sich wieder und wenig später nehme ich mein nächstes Dropbag in Besitz. Der VP logiert auf dem Parkplatz am Hafen von Ahrenshoop (genauer: Ortsteil Althagen). Das Wort „Hafen“ gilt es zu relativieren, sonst klingt dir das Wort zu „dickschiffig“ im Ohr. Was da an (wenigen) Stegen und Kais vertäut liegt, sind keine Ozeanriesen, sondern Sportboote; die meisten nicht einmal seetüchtig und nur zum Schippern auf dem Bodden geeignet. Auch Zeesenboote* legen hier an, übernehmen Passagiere, die sich zur Erbauung vom Skipper über den Bodden segeln lassen.

*) Bei Zeesenbooten handelt es sich um etwa 10 Meter lange Segelboote mit meist zwei Masten, die früher zum Gütertransport oder der Fischerei auf geschützten, flachen Ostseegewässern wie Haff oder Bodden verwendet wurden. Typischerweise sind die Segel in mattem Weinrot gehalten, der Rumpf besteht aus Holz. Heute dienen Zeesenboote meist touristischen Zwecken.

Der schmale, immer noch betonharte, also bestens zu belaufende Radweg streift den Ortsrand von Ahrenshoop, am unteren Rand einer Erhebung. Alle Häuser - reetgedeckt und in Bestzustand - wurden erhöht errichtet, mit vermutlich herrlichem Blick über den Bodden. Die Gärten ziehen sich bis zum Radweg herunter. Gartentürchen gewähren Zutritt zum Weg und - wohl der wahre Grund sie einzubauen - zu Boddenzugängen, die als Schneisen ins Schilf gemäht wurden. Vor einer der Gartentüren steht ein Stuhl, darauf eine Kiste. Eine Frau wendet sich gerade ab, schlüpft zurück in ihren Garten. Dann bin ich heran und lese en passant, was auf einem Pappschild steht: „Holundergelee € 5,50“*. Spontan und mit Blick auf den hellgelben Inhalt der Einmachgläser setze ich einen gedanklichen Reiter: Mit Ines wiederkommen! Meine Frau mag eigentlich alles, was man aus Holunder gewinnen kann ...

*) An den Preis des Gelees habe ich keine sichere Erinnerung. Und leider bot die Kiste nur noch selbstgestrickte Socken feil (Lockdown-Homework?), als Ines und ich Tage später den „Laden“ aufsuchten.

Kilometer 90, dann 91: Im Ahrenshooper Ortsteil Niehagen wendet sich die Route von der Boddenseite ab. Zunächst der ansteigenden Wohnstraße folgend, dann den Ort hinter mir lassend, geht es auf meist schattiger Allee schnurgeradeaus auf den Strand der Ostsee zu. Ich suche mich vor dem, was kommt, zu wappnen, sehe mich vorm geistigen Auge schon durch tiefen Sand stapfen. Hätte ich in meinem Gedächtnis gekramt, wäre die Überraschung ausgeblieben: Erstmal kein Sandstrand, stattdessen Steilküste! Zwischen Ahrenshoop und Wustrow trug schwere See über die Jahrtausende Land ab. Beinahe zehn Meter in die Tiefe fällt, wer sich auf der Abbruchkante zu weit vorwagt. Ich suche mir für meine Fotos einen sicheren Standplatz und lebe den Augenblick: Die glitzernde See, das Rauschen der Wellen, scheinbar endlose Weite ...

Lange Reihen von Buhnen reichen in regelmäßigen Abständen ins Meer hinaus. Unter anderem ihnen verdanken die Halbinsulaner, dass das Meer sein besitzergreifendes Werk an der Steilküste nicht fortsetzen kann. Buhnen sind jedoch nicht die einzige Maßnahme der Fischländer Gemeinden, um ihren Strand - die eigentliche Grundlage hiesigen Wohlstands - zu sichern. Da gibt es noch etwas, das ich bald mit eigenen Augen sehen werde - leider ... Einstweilen trabe ich an der Steilküste entlang und freue mich wie ein Schneekönig, dass die auf Sand zu laufende Spanne immer kürzer wird. Acht Kilometer hatte ich nach oberflächlichem Streckenstudium befürchtet. Die Seebrücke von ... das kann nur Wustrow sein ... rückt immer näher und noch immer finde ich die gewohnten Pfeile hier oben auf dem Radweg. Den Track ignoriere ich, der Strand und der Pfad hier oben liegen zu dicht beisammen. Ohnehin frage ich mich, wie oder woran ich wohl den Beginn der Strandpassage erkennen soll. Ein Pfeil, der Richtung Strand weist? Und dann am Ende: Steckt da ein Schild im Sand, das mich wieder auf festen Boden schickt?

Grübeln und Schauen wird in Höhe der Seebrücke abrupt unterbrochen. Genau genommen bin ich schon ein paar Schritte daran vorbei, als man mir hinterher ruft: „Halt! Hierher zu uns!“ Den Verpflegungsposten am Eingang der Seebrücke habe ich komplett übersehen. Saumselig vor mich hin träumend, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehend. In diesem Fall: Die Helfer am VP inmitten etlicher Strandurlauber. Nach dem gewohnten VP-Dreikampf, Trinken, Flaschenfüllen, Danksagung, mache ich Anstalten meinen Weg auf dem Deich fortzusetzen. Wieder reißt mich die Stimme aus meinen Gedanken: „Nein, nicht da! Zur Seebrücke und dann runter an den Strand ...!“

Die ersten Schritte auf feuchtem, erstaunlich festem Sand nahe der Wasserlinie wecken Hoffnung. Ich sinke kaum ein und mache Fahrt ... Das war gestern, irgendwo weiter nördlich, beim Austesten der bestmöglichen „Strandläufertaktik“ ganz anders. Klar war: Nahe am Wasser laufen, wo der Sand feucht und meist tragfähig ist, so nahe wie möglich an den beständig nach meinen Füßen leckenden Wellen. Auch auf die Gefahr nasser Füße hin. Auf den ersten hundert Metern - warum auch immer - finde ich einen breiten, feuchten und unverständlich festen Sandstreifen vor. Als der schmäler wird, geht es immer noch gut voran, jetzt mit den unablässig auslaufenden Wellen im Augenwinkel. Weniger weit als befürchtet und mit weniger Mühe als gestern - ich frohlocke. Bin offenbar nicht alt und schon gar nicht weise genug, um auch nur zu ahnen wie voreilig das ist ...

Minuten später trabe ich auf die rostroten, halbmeterdicken Rohre eines Spülfeldes zu. Henry warnte uns beim gestrigen Briefing den Bereich zu betreten. Wir sollen entlang der Rohre zum Deich und hinter dem Spülfeld zum Strand zurückkehren. Warum das Aufspülen hunderttausender Kubikmeter Sand zum Ausgleich der natürlichen Verluste gefährlich sein soll, davon habe ich nur eine vage Vorstellung. Ist auch egal: Ich halte mich an Wettkampfregeln. Meistens jedenfalls. Unschlüssig bleibe ich kurz stehen, peile die Lage hinterm Rostroten. Dort „spült nix“, wie auch: Die Rohre sind halb im Sand versunken. Zudem liegen in der Tabuzone einige Sonnenanbeter auf ihren Decken. Strandläufer schlendern am Wasser entlang, bücken sich nach ... keine Ahnung nach was. Szenen vollendeter Harmlosigkeit. Also jogge ich weiter, erst verunsichert, dann entspannt, schließlich entschlossen. Alles sieht aus und fühlt sich an wie vor dem Spülfeld (Ist das überhaupt ein aktives Spülfeld?).

Ich komme nur ein paar hundert Meter weit, bis sich die nächste Rohrleitung vor mir aufbaut, deutlich beeindruckender - oder soll ich sagen bedrohlicher? Ich wende ich mich deichwärts, wate Sekunden später durch trocken rieselnden Sand. Komme kaum vorwärts, versuche trotzdem so etwas wie „Laufen“ beizubehalten. Ich will laufen, ich kann laufen, ich muss laufen. Basta! Das muss so lächerlich aussehen, wie ich da strandaufwärts wackele, unendlich bemüht, eine Art groteske Zeitlupe aufführend, heftig schnaufend, schwitzend, binnen Sekunden entkräftet. Kurze Atempause im 30 Grad steilen Sand, dann weiter ... zum ersten Mal fluche ich heute. Unhörbar, immerhin sind unschuldige Urlauber in der Nähe, womöglich mit Kleinkindern im Schlepptau. Verwünschungen halfen noch immer, Kraftausdrücke in hohlen Gedankengängen widerhallend helfen auch heute.

Oben und festen Boden unter den Füßen. Ich tippele vorwärts, erhole mich zusehends, erreiche nach ein paar Minuten den nächsten Strandzugang. Ein Pfeil zeigt unmissverständlich aufs offene Meer hinaus. Ebenso unmissverständlich verwehrt mir ein Bagger den Weiterweg. Abgestellt, um abzusperren. Also geradeaus weiter, irgendwann wird das doofe Spülfeld zu Ende sein (hoffentlich nicht so bald, echot es in mir, hier oben läuft es sich so unbeschwert ...). Der nächste Strandübergang naht und wieder befiehlt mich ein Pfeil in Richtung der See. Diesmal leiste ich der Anweisung Folge, das Spülfeld endet weiter hinten ... Wieder tiefer, lockerer Sand, 30 Meter weit, bis ich endlich die feuchte Uferzone erreiche. Sandstrand ist nicht gleich Sandstrand. Das lerne ich von hier an, weil sich die gestrige Lektion wiederholt. Vorbei die Festigkeit des Untergrundes am anfänglichen Strandabschnitt. Immer wieder sacken die Fersen ab, mal tiefer, mal weniger tief. Halb mit Absicht, halb dem Zwang des Bodenlosen gehorchend reduziere ich mein Lauftempo. Suche eine Art Ideallinie, so dicht wie trockenen Fußes möglich am Wasser. Es geht. Langsam, aber es geht ...

Wäre ich doch ein Chamäleon ... dann richtete ich mein linkes Auge auf den Sand und hütete mich mit dem unabhängig beweglichen rechten vor den frechen Übergriffen der heute sehr unruhigen Ostsee. Irgendwo da draußen scheinen sich heftige Winde auszutoben. Vielleicht infolge des Gewitters, das sich tatsächlich immer weiter gen Nordwesten entfernte. Die Ursachen der Schufterei sind mit „Laufen in weichem Sand“ nur unzulänglich beschrieben. Dazu kommt, dass die „Ideallinie“ das bogenförmige Umlaufen kleiner und kleinster von den Wellen ausgespülter Buchten erfordert. Aus hundert werden so leicht ... ach, was weiß ich, wie viele Meter. Die Spur eines Vorausläufers, die sich mit meiner selten deckt, enthüllt dessen abweichende Taktik: Stur geradeaus. Wer von uns beiden hat das bessere Ende für sich? Sein Weg ist kürzer, dafür ist meiner fester. Seine Füße sind unter Garantie noch trocken, meine inzwischen nass. Zu träge zuweilen meine Reaktion, um Poseidons Schergen rechtzeitig per Sidestep zu entwischen.

Diese Steps - zur Seite über aufkragenden Sand oder vorwärts wie ein Springpferd über Buhnen - tragen gleichfalls zur schleichenden Entkräftung bei. Poseidon hat sich einiges einfallen lassen, will sich an den müde im Sand mahlenden Füßen des Einfaltspinsels Udo erfreuen. Wäre der bei Sinnen, er schritte gemütlich aus, bräche wenigstens unter diesen Umständen sein Gelübde: Alles laufen, niemals gehen.

Irgendwie komme ich voran, unterdrücke krampfhaft den vermutlich niederschmetternden Blick zum Kilometerzählwerk der Uhr. Ich arrangiere mich mit dem was ist, wie es ist. Der Sand zögert meinen Erfolg hinaus, brechen wird er mich nicht. Wieder spült eine Welle über meine Füße. Auch schon egal. Die verbleibenden nicht mal 20 Kilometer werde ich auch in feuchter Fußbekleidung überstehen. Vorm Strand am VP hatte ich mir ein Gel eingeworfen, zu Beginn der Strandpassage dann noch eins. Gemäß meiner erprobten Methode: Viel hilft viel. Ich greife in die Rucksacktasche und fördere ein weiteres Gelpäckchen zu Tage. Und rein damit. Dass mir von der Gel-Druckbetankung nicht schlecht wird, ergaben diverse „Testreihen“ - ultralange Ultraläufe, bei denen ich jeweils dem Energietod nahe zum Gel-Junkie wurde.

Mein Lauf gerät zu einer endlosen Folge nur halbwegs kontrollierter Bewegungen, plumpen Tanzschritten nicht unähnlich: vorwärts - vorwärts - Sidestep - Schluss - vorwärts - vorwärts - Sidestep ... und wieder: vorwärts ... Unablässig wiederholte Muster, mit bizarren Rhythmuswechseln, als gälte es so unterschiedliche Tänze wie Foxtrott, Walzer und Rumba zu verschmelzen. Bis auf eine kommen alle Bewegungsvarianten vor: rückwärts bleibt verboten!

Zwei Kilometer Sand, bald drei ... anfangs noch halbwegs bei Kräften, schlurfe und wackele ich unterdessen bedenklich. Bestimmt sieht es für Ines so aus, die mich schon eine Weile vor unserer Begegnung entdeckt. Ich dagegen habe nur Augen für den Sand unter meinen Füßen und die lauernde Übergriffigkeit der Wellen. Ganz zuletzt dann ein Blick voraus in das wie immer strahlende, jetzt mehr als nur willkommene Konterfei meiner Frau. Ich lasse mir endlos Zeit. Drei frische Gelrationen zu verstauen nimmt keine 20 Sekunden in Anspruch. Mein Jammern und Stöhnen dagegen Minuten. Mental bin ich gut drauf, körperlich angezählt. Und Ines baut mich auf. Das hatte sie schon immer drauf. Einfach so. Nichts Aufgesetztes, Teil ihres Wesens und ihrer natürlichen Ausstrahlung. Nach fünf Minuten der Abschied. - Eine Trennung für wenige Kilometer, vier, höchstens fünf. Drei davon auf Sand, also wird es dauern. In Dierhagen wird sie unmittelbar an der Strecke parken, damit ich bei Bedarf Strümpfe und Schuhe wechseln kann. Derzeit sieht es nicht danach aus, doch wer weiß, was Poseidon noch im Schilde führt ...

Ich pflüge durch weitere drei Kilometer Sand. Alles bereits Geschilderte wiederholt sich. Again and again and again ... Die von Ines erfahrene Aufladung hält eine Weile, dann entweicht zusehends Luft aus dem Ballon ... Einerlei. Ganz ehrlich: Total egal! Wäre ich nicht so erschöpft, zweigte ich sogar Muskelkraft für ein Dauerlächeln ab. Es geht mir so verdammt gut! Müde zu sein zählt nicht. Müde zu sein ist normal, wenn du schon länger als einen halben Tag lang joggst. Was zählt ist weiterhin unermüdlich einen Fuß vor den anderen setzen zu können und dabei nicht den Anflug eines Schmerzes zu verspüren. Unglaublich aber wahr: Nach endlosen Wintermonaten mit Kniebeschwerden und x anderen Misslichkeiten renne ich nun schon fast 100 Kilometer durch MeckPomm und bin absolut beschwerdefrei. Yes I can and yes I love it!

In den letzten Minuten habe ich den Track kaum mehr aus den Augen gelassen, dazu auf feuchtem Sand beständig nach Fußabdrücken meiner Vorgänger Ausschau gehalten: Um Himmels Willen nicht das Ende der Strandpassage verpassen! Irgendwann - endlich! - knickt der Track quer zum Strand ab. Ich spähe voraus und entdecke am Strandübergang ein Pappschild: „Läufer“. Irrtum ausgeschlossen: Ich hab’s geschafft. Wühle mich mit versiegenden Kräften durch knöcheltiefen Sand vorwärts-aufwärts und stehe bald auf der Deichkrone, schwer atmend und kurz innehaltend.

Der Ortsteil Dierhagen-Strand empfängt mich. Nicht gerade mit einem roten Teppich, aber der wäre mir jetzt ohnehin zu weich nach all dem Sand. Kein Nachgeben, kein Federn mehr unter den Füßen. Asphalt, Beton, Steinplatten. Herrlich! Noch ein paar Schritte nach inzwischen 100 GPS-gemessenen Kilometern, dann stehe ich vorm nächsten Verpflegungspunkt. Name und 100 km-Ankunftszeit* werden für eine gesonderte Rangliste notiert. Irgendwann unterwegs kam mir der Gedanke, dass ich hinter meinen 100. Ultralauf schon an dieser Stelle einen Haken setzen darf. Auch müde über den Sand stolpernd dachte ich daran. Doch diese Zwischenwertung betrachte ich lediglich als eine Art Unfallversicherung. Stößt mir auf der Reststrecke etwas zu, dann mache ich vom 100 km-Versicherungsschein Gebrauch.

*) Die 100 km-Strecke wurde geltenden Regeln entsprechend vermessen.

Seit Jahren begleite ich mein Älterwerden mit Selbstreflexion, in immer kürzer werdenden Abständen. Unter anderem, weil es sich teils unvorhersehbar und sehr persönlich vollzieht. Das gilt natürlich auch für alle Aspekte meiner Laufleidenschaft. Manche Verhaltensweisen scheinen wie in Stein gemeißelt, auf ewig unabänderlich. Wie etwa das Bemühen jeden Meter zu laufen, koste es, was es wolle. Doch manches, dem ich noch vor kurzem Bedeutung beimaß, spielt nun kaum mehr eine Rolle. Statt wie früher nötige Pausen/Aufenthalte geradezu zwanghaft kurzzuhalten, lasse ich mir nun oft alle Zeit der Welt. Nippe in aller Seelenruhe an meiner Cola* und „philosophiere“ ein bisschen übers Laufen. Ausgelöst von der Bemerkung eines der blutjungen Burschen hinterm Tisch: Er könne sich nicht vorstellen so weit zu laufen. Das wühlt natürlich Lauf-Sedimente auf und all meine ausschließlich negativen Langlauferlebnisse als junger Erwachsener verdichten sich zu einer kurze Ansprache: „In eurem Alter konnte ich mir das auch nicht vorstellen! Da rannte ich sportbegeistert hinter allem her was rollt. 5000 m auf der Bahn, die ich als Soldat laufen musste, schienen mir endlos. Zwölfeinhalb Runden blanker Horror. Eine Strecke, die ich heute oft schon brauche, um richtig warm zu werden ...“ Dem Dozieren einmal verfallen, lasse ich weitere Weisheiten folgen, breite hier jedoch den Mantel leicht beschämten Schweigens darüber.

Vielleicht bewirkt Älterwerden bei mir „Quartalsgeschwätzigkeit“. So wie Quartalssäufer unter den Alkoholikern nur hin und wieder die Kontrolle verlieren und sich voll laufen lassen, kann ich heute mein Mundwerk nicht im Zaum halten. Nie zuvor verwickelte ich Helfer an Verpflegungspunkten in üppige Gespräche oder belästigte sie mit langen Reden. Vielleicht liegt es aber auch nur an meiner wahnsinnig guten Stimmung wegen 100 mal Ultra ...

Ich wetze auf Dierhagen-Dorf zu, zuletzt neben stark befahrener Landstraße. Die Fußgängerampel hält mich noch ein paar Sekunden von Ines fern, die von drüben Breitseiten aus der Kamera abfeuert. Grün und rüber und gleich das nächste Päuschen, diesmal nicht allzu lange, denn zu tun gibt es nichts. Gel steckt noch ausreichend in meinen Taschen und Schuhwechsel ist nicht erforderlich. Erstaunlicherweise habe ich das Strandläuferabenteuer schadlos überstanden. Kein Sand in den Schuhen und die Restfeuchte der Strümpfe spüre ich kaum. Leichten Herzens trenne ich mich von Ines - nun ist es nicht mehr weit, noch 14 Kilometer.

Am Ortsrand von Dierhagen schwenke ich auf den Boddenradweg ein. Vorhin noch das unablässige Rauschen der Wellen, scheinbar endlos die See, nun wieder Stille am Boddenufer und der Blick über Schilf hinweg zum brackigen Binnengewässer. Noch am Ostseestrand kam mir die Sonne abhanden. Schleierwolken zunächst, die sich zur undurchlässigen Decke verdichteten. Hinterm Bodden, dort, wo das Ziel auf mich wartet, hat sich der Himmel dunkelblau drohend verfärbt. Kein Grund zur Sorge. Die paar Kilometer jogge ich notfalls auch im Platzregen. Dierhagen bleibt zurück, auf brauchbarem Geläuf eines Feldweges komme ich überraschend gut voran. Keine Empfindung weitgehender Erschöpfung mehr, die mich noch vor einer Viertelstunde fest im Griff hatte. Das widerfuhr mir auch früher schon, allerdings nicht oft. Gründe? Sonne weg, wieder fester Untergrund, nicht mehr weit zu laufen - doch wozu spekulieren. Es ist wie es ist und es macht mich froh.

Der Sanitätsjeep brummt mir entgegen, hält am Wegrand, um mich und eine überholende Radlerin staubfrei passieren zu lassen. Zwei Augenpaare mustern mich aufmerksam durch die Windschutzscheibe. Ich gebe Zeichen: Daumen hoch! und lächele die beiden Sanis an. Hab keinen Spiegel, bin aber sicher gelächelt zu haben, so gut wie ich drauf bin. Weiter am Bodden entlang, vorbei an einer Pferdekoppel. Stute mit Fohlen und das gleich zweimal. Ich sehe die Szene mit Ines’ Augen, stelle mir ihre Begeisterung vor, sähe sie, was ich sehe. Wie sich die beiden Fohlen gegenseitig necken, stupsen, miteinander spielen, dann wieder voneinander ablassen, sich zu ihrer Mutter gesellen. Ich kann nicht anders, als eine Minute zu investieren, um ein Bild für Ines einzufangen.

Dändorf. Über die Dorfstraße voran, einen müden, gehenden Krieger verfolgend. Just in Höhe einer Gastwirtschaft überhole ich den Mann. Vom rauchenden Holzkohlegrill ziehen uns verlockende Düfte durch die Nase. „Psychofolter!“ Irgendwas in der Art in mehrere (!) Sätze verpackt (what’s wrong with Udo?) gebe ich ihm mit auf seinen Weg. Dändorf hinter mir, Straße voraus. Mündet in ebenjene vielbefahrene Hauptstraße, die ich vor Dierhagen-Dorf per Ampel überquerte. Auf dem Radweg daran entlang, noch acht Kilometer. Schritt an Schritt zu reihen fällt mir tatsächlich wieder leichter, als noch vor Stundenfrist. Alles asphaltiert, beste Laufbedingungen, daran liegt es sicher auch. Noch sieben Kilometer. Wo die „verbraten“ werden sollen, ist mir allerdings schleierhaft. Mit dem Auto, auf kürzester Strecke, wären es allenfalls drei bis vier. Der hässliche Weg vor Barth kommt mir kurz in den Sinn! Bitte, bitte jetzt keinen grausam rumpligen Wald- oder Feldweg mehr. Oh, ihr Götter im Olymp, die ihr mir in Sparta und Olympia den Kranz des Siegers aufsetztet, lasst diesen bittren Kelch an mir vorübergehen ...

Ich mache mir grundlos Sorgen. Auf Umwegen zwar, jedoch auf stets festem Geläuf geht’s voran. Jetzt am Rand eines offenbar von der Welt vergessenen Nebensträßchens. Der einzige Verkehr bin ich. Und so hat die Besatzung des letzten Verpflegungspunktes mich schon lange vor Ankunft im Visier. Mehrstimmiger lauter Jubel und Beifall schallen mir entgegen. Trinken, noch ein Gel, sicher das Letzte. Und Zeit lassen, reden, Späße machen. Kurze Unterbrechung, weil das Team nun wieder in Jubel ausbrechen muss, der nächste Läufer naht: Er (laufend) und Sie (radelnd). Der Mann in den Zehenschuhen und die Frau, die mir in der Morgendämmerung beim Überholen zuraunte: „Jetzt hast du uns!“ Wir begrüßen uns wie alte Bekannte, freuen uns beide über diese Begegnung kurz vorm Ziel. Das gilt für mich und gilt für Sie (radelnd), weil nur Sie (kurz nicht mehr radelnd) am VP verweilt. Er (laufend) rauscht - jedes weniger Bewegung ausdrückende Verb wäre untertrieben - grüßend an der Versammlung vorbei. Ich schaue ihm hinterher und bin verblüfft: Da hat sich einer noch einen fetten Sack Körner für die Schlussoffensive aufgehoben!

Sie (radelnd) bricht auf, wenig später auch ich. Spontan poppt da ein Gedanke auf, ebenso naheliegend wie lächerlich. Er (laufend) startete heute Morgen genau eine Minute vor mir. Wenn es mir gelänge nicht später als 59 Sekunden nach ihm ins Ziel zu laufen, dann läge ich im Klassement vor ihm. Also spute ich mich und trabe so flott hinter Ihm (laufend) her wie zuletzt vor Stunden. Was mich natürlich ans Limit und meinem „Kontrahenten“ offensichtlich kein Jota näher bringt. Also noch schneller? Dieser Frage folgt der Moment, da ich die Ernte von 100 Ultraläufen einfahre: Lass es sein! Alles, was du je glaubtest dir beweisen zu müssen, hast du dir längst bewiesen! Hundertfach! Genieße die letzten Kilometer, den Hundertsten läufst du nur einmal in deinem Leben!

110 Kilometer: Mehr Frieden und weniger Ehrgeiz war nie in mir. Und zu allem Überfluss nun auch noch Ines. Tatsächlich beschenkt sie mich noch vorm Ziel mit einem weiteren Lächeln. Danke! Kurz nur die Pause: Wir sehen uns im Ziel! - Noch ein Stück am Bodden entlang, meist mit Sicht zum Wasser. Während sich der Himmel immer weiter verfinstert, wird es in mir immer heller. 111, 112 ... und weiter. Es ist nun wieder hart und wird immer härter. Das zwischenzeitlich neu auflodernde Feuer erlischt. Ich kann förmlich spüren, wie dem inneren Kraftwerk nach und nach der Brennstoff ausgeht. Also sollte ich stöhnen, bleibe jedoch still; sollte jammern, bin hingegen frohgemut. Sollte wie gewohnt (lautlos) fluchen, lobe aber den Tag und alles, womit er mich beschenkte.

Die letzten Meter, voraus an der Straße erkenne ich schon die (geschlossene) Boddentherme, das Covid-19-bedingt etwas vorgezogene Ziel. 113 Kilometer gesteht mir mein GPS inzwischen zu, also werde ich wohl noch eine Schleife laufen müssen. Vorbei an einer Baumgruppe, Blick nach rechts. Erkenne einen Weg zum Parkplatz der Therme und den Zielbogen, der das Ende dieses Weges überspannt. Dort wartet man schon auf meinen Zieleinlauf. Ich stocke kurz, blicke zur Uhr. Der Track zeigt weiter geradeaus. Ach so, alles klar: Wahrscheinlich noch um den Parkplatz rum und dann aus der Gegenrichtung ins Ziel! Ich trabe geradeaus weiter ... ein, zwei Sekunden später holt mich vielstimmiges, alarmierendes Rufen ein. Gekürzte Fassung: „Hierher!“ Also doch sofort zum Parkplatz und durchs Ziel. Noch schöner! Die letzten 20 Schritte, zuletzt die Arme hoch und dann entlasse ich einen von explodierendem Glücksgefühl beseelten Jubelschrei in den abendlichen Himmel. Er verkündet: Einhundert mal Ultra.

Laufzeit 115 km: 14:34:00 Stunden

Zwischenzeit 100 km: 12:45:35 Stunden

 


 

Fazit zur Veranstaltung

Es war lange ungewiss, ob der FDZU in diesem Jahr würde stattfinden können. Gewiss war und ist dagegen, dass Henry Fidikke und sein Team mit nie erlahmendem Einsatz und großer Leidenschaft das Kunststück fertig brachten die von der Pandemiesituation auferlegten Einschränkungen mit den Notwendigkeiten überlangen Ultralaufens zu versöhnen. Danke dafür!

Mein Dank gilt auch den Helfern, die lange ausharrten, um uns zu versorgen und nicht zuletzt dem Sanitätsteam. Es ist ihnen, unablässig auf und ab patrouillierend, tatsächlich gelungen das weit auseinander gezogene Feld abzusichern. Und das von morgens vier Uhr bis in den späten Abend.

Die Strecke des Fischland-Darß-Zingst-Ultramarathons fasst die Schönheiten der Bodden- und Ostseelandschaft auf weiter Runde zusammen. Mit Sicherheit einzigartig und in der Summe absolut spektakulär.

Fazit: Wer so weit laufen kann, sollte an die Ostsee fahren und unbedingt den FDZU laufen!

 

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