21. September 2019

Wasser, Wald und gute Laune  -  Drei-Talsperren-Marathon Eibenstock 2019

„Hohe Berge gibt’s hier nicht, dafür geht’s ständig rauf und runter!“ - behauptet er, trabt unterdessen zügig in moderater Steigung neben mir her. Mit „hier“ meint er das Erzgebirge. Genauer: den westlichen Rand des Erzgebirges, um weithin unbekannte Orte wie Eibenstock, Schönheide oder Sosa. Widerspruch wird er in dieser Hinsicht keinen hören. Den gibt das Streckenprofil nicht her. Dreihundert Höhenmeter überwindet die anspruchsvollste Steigung, ebenjene, die wir gerade „mit Füßen treten“. Für die lässt sich der Waldweg gemächliche fünf Kilometer Zeit. Das erklärt sowohl die Wortwahl „moderat“, als auch unser „zügiges“ Tempo. Erklärt überdies, wieso ich nicht nur zuzuhören, sondern minutenlang munter drauflos zu plaudern vermag. Erklärt jedoch nicht, wie ein ausgewiesener Schweiger meines Formats einem epileptisch anmutenden Anfall von Redseligkeit anheim fallen kann.

---

Lauftage, an denen alles passt, bilden die Ausnahme. Und je älter ein Läufer, umso rarer werden sie - will mir scheinen, auch wenn mein Selbstversuch „laufend altern“ (hoffentlich) noch nicht die Endphase erreicht hat. Irgendein „Weh“ belästigt Bewegungsapparate mit „bewegter orthopädischer Vergangenheit“ so gut wie immer. Und nicht selten hadert ein „greises Läuferhirn“ mit unbequemen Randbedingungen. Was die angeht, kann ich heute schon mal nicht meckern. Meine Frau Ines begleitet mich ins Erzgebirge. Ein Umstand, der mir Lauftermine noch immer versüßte. Apropos Versüßen: Mit stürmischem Jubel begrüßt der Morgenmuffel in mir die kommode Startzeit 10 Uhr. Ausschlafen, in Ruhe frühstücken, keine Hetze vorm Start … Und über diesem gedeihlichen Auftakt spannt sich ein intensiv blauer, von keinem Wölkchen getrübter Himmel. Den (für mich) „eisigen“ 6°C Lufttemperatur zum Trotz wage ich die Formulierung „mein Wetter“. Schon jetzt lässt mich die Septembersonne ihre immer noch enorme, wohltuende Kraft spüren. Und mit Armlingen bekleidet werde ich schattige Waldpassagen anfangs ohne „Erfrierungen“ überstehen.

Ungefähr hundert Aktive haben sich auf der Tartanbahn des Stadions in Eibenstock eingefunden. Rekordbeteiligung beim Drei-Talsperren-Marathon, mit der die Veranstalter mehr als zufrieden sind. Gemessen an anderen Marathonläufen ein kleines Teilnehmerfeld. Mitte September, zur besten Marathonzeit des Jahres, sicher Folge von Randlage und Höhenmetern. Wer fährt schon ins abgelegene Erzgebirge, um einen Marathon zu laufen, der ihm darüber hinaus etwa 850 Höhenmeter aufbürdet? - Ich verabschiede mich von Ines und postiere mich im Schwanz der Meute - die mäßige Zielzeit vorhersehend, zugleich fehlendem Ehrgeiz sichtbaren Ausdruck verleihend. Drei Wochen vor dem letzten Ultralauf des Jahres in Italien habe ich lediglich 42 Trainingskilometer im Sinn. Komplett laufend die Runde vollenden. Weder werde ich besondere Eile an den Tag legen, noch auf die Bremse treten, falls es mich wider Erwarten nach mehr Tempo gelüsten sollte.

Zwei Auftaktrunden im Stadion eröffnen den Marathon, dann geht es quer durchs Städtchen Eibenstock. Vorbei an der Kirche, schließlich über knubbeliges Pflaster hinab zum Marktplatz im Talgrund. Unaufgewärmt eine Übung, die meine Patellasehne rechts nicht gutheißt. Ihr Protest hält sich aber in Grenzen und wird erfahrungsgemäß bald wieder verstummen. Eibenstock wirkt wie „frisch herausgeputzt“. Alle Gebäude, ob privat oder öffentlich, hinterlassen optisch einen recht ansprechenden Eindruck. Das fiel mir schon in anderen Gemeinden des Erzgebirges bei der Anreise auf. Graue „DDR-Patina“ an Fassaden und halb verfallene Anwesen, die in anderen Orten Sachsens auch 30 Jahre nach der Wende noch immer zum Straßenbild gehören, bilden hier die Ausnahme. Woran mag das liegen? Fremdenverkehrsbedingt höhere Durchschnittseinkommen? Prallere Etats der Kommunen in touristisch erschlossener Gegend?

Der mit fünf Kilometern und 300 Höhenmetern längste Anstieg beginnt noch in der Stadt. Einer Wohnstraße folgend gewinnen wir den Waldrand. Der von irgendwoher knatternde Rasenmäher steht akustisch stellvertretend für reges samstägliches Treiben diverser Hausbesitzer. Andere kümmern sich um ihren Garten, ihr Auto oder machen Brennholz für den Winter. Schon wenige Schritte hinterm Waldrand: Stille. Stille plus Atemgeräusche und scharrende Füße auf gutem, fein geschottertem Geläuf. Um mich herum drei, vier LäuferInnen, zwischen uns mehr oder weniger große Lücken. Auf den ersten Metern „Berg“ hegte ich die Befürchtung einen langen, zähen Beginn vor mir zu haben. Dieses Empfinden hat sich gottlob rasch in Wohlgefallen aufgelöst. Für meine Verhältnisse, vor allem jene der letzten Wochen, tippele ich recht forsch hinan. Derzeit im Schatten hoher Bäume und ungemein dankbar für die Armlinge.

Bereits vorm Start war ich sicher, nach langer Zeit mal wieder unerkannt einen Marathon laufen zu können. Wegen der Randlage der Veranstaltung und des sehr überschaubaren Teilnehmerfeldes. Nachdem das Feld vorzeiten in seine „Atome“ zerfiel, wird das wohl auch so bleiben - dachte ich vor ein paar Minuten, dabei Schritt um Schritt an Höhe gewinnend. Als mich der in diesem Moment gleichauf trabende Mann fragt, ob ich derjenige sei, „der die Laufberichte schreibt“, muss ich meinen Irrtum einsehen. Es entspinnt sich der schon erwähnte muntere Dialog, für den ich von meiner Seite aus eigentlich nur eine „Rechtfertigung“ finde: Ich bin ungewöhnlich gut gelaunt. Was notgedrungen voraussetzt, dass mir der „Jogg“ Vergnügen bereitet. Eine Tatsache, die zumindest Erwähnung verdient, da ich doch die Geduld meiner verehrten Leserschaft eine Weile mit schwarzmalender Lauflektüre arg strapazierte. In Berichten kristallisierende Düsternis infolge eklatanter Laufunlust, die mich über Wochen gefangen hielt und ziemlich erschreckte. Die bereits vor drei Wochen vom Weidatal Ultra Trail mitgenommene Zuversicht, diese Elendsphase könnte überwunden sein, scheint also heute eine Fortsetzung zu finden.

Rede und Gegenrede also, über mehrere Minuten. Inhaltlich im Grunde nichts, was durch Erwähnung im Laufbericht vorm Vergessen bewahrt werden müsste. Läufer-Smalltalk. Bis mein Nebenmann das Gespräch irgendwann auf das Thema „Spartathlon“ lenkt. Anscheinend beeindruckte ihn mein damaliger Laufbericht. Meine Neugier - mit Betonung auf „Gier“ - entfacht dann sein Satz: „Den Spartathlon lief meine große Schwester auch schon ein paarmal.“ Eine deutsche Frau, die mehrmals erfolgreich beim Spartathlon antrat - schwer vorstellbar, dass ich die Dame nicht kenne. Folgerichtig möchte ich wissen, wie denn die „große Schwester“ heißt. Antje Krause, zur deutschen Spitze im Ultralauf zählend, ist nun wahrlich keine Unbekannte. Nicht einmal für einen wie mich, der überwiegend auf eigene „Leibesübungen“ fokussiert ist und vom Spitzensportgeschehen nur punktuell Notiz nimmt. Ich kenne sie nicht persönlich, obschon wir uns bereits begegnet sind. Begegnet sein müssen, weil es so in den Ergebnislisten steht. Etwa bei der Deutschen Meisterschaft im 24-Stundenlauf, 2015 in Reichenbach. Oder eben anlässlich des Spartathlons 2016. Ich meine mich sogar an eine frühmorgendliche Begebenheit hinter dem Sangaspass zu erinnern, in der Antje Krause die Hauptrolle spielte. Mit mir als verwirrtem Nebendarsteller, der die Szene aus dem Abseits beobachtete. Ich kann mich aber auch irren, immerhin waren Wahrnehmung und Zurechnungsfähigkeit zu diesem Zeitpunkt, nach mehr als 24 Stunden auf müden Beinen, bereits getrübt.

Fünf Kilometer Steigung wecken für gewöhnlich alsbald die Sehnsucht nach dem Zenit. Während der Unterhaltung habe ich keine Zeit daran zu denken. Als das Gespräch schließlich einschläft, weil gesagt ist, was zu sagen war, stelle ich verwundert fest, dass mich der Berg kaum fordert. Beinahe mühelos halte ich das zu Beginn eingeschlagene Tempo, was meinem Gesprächspartner nun nicht mehr gelingt. Der Absicht sprechen und zuhören zu wollen beraubt schaltet er einen Gang zurück. Die gegenwärtige Lockerheit wird nicht marathonweit währen, dessen bin ich sicher. Meine ohnehin schon bärige Stimmung heizt sie trotzdem weiter an.

Erzgebirge - was fördert dein Gedächtnis an Assoziationen zu Tage, wenn du das Wort liest? Ich denke an Weihnachtspyramiden, angetrieben von brennenden Kerzen, Schwibbögen und qualmende Räuchermännchen. Auch an Bergwerke und Wald - sehr viel Wald. Zumindest meine Vorstellung von der Erzgebirgslandschaft musste ich in den letzten Minuten ergänzen. Rund um die Gemeinde Carlsfeld dominieren Wiesen. Weithin wenig mehr als Gras, sowohl auf der Höhe, als auch im Tal rund um die Ortschaft, der ich gerade flotten Schrittes zustrebe. Grasland wofür? - Intensive Beweidung oder Heuschnitt sind nirgendwo erkennbar. Etwa Skipisten im Winter? Dafür sind die Höhenunterschiede eigentlich zu gering. Zudem fehlen Liftanlagen, wie ich sie vorhin in Eibenstock ausmachen konnte.

In Höhe der ersten Häuser geht der Schotterweg in paradiesisch planen Asphalt über, was mir erlaubt mehr Aufmerksamkeit für Dorf und Umgebung abzuzweigen. Auch hier in Carlsfeld wirken alle Anwesen wie aus dem Ei gepellt. Als wäre der vielerorts noch heute nachwirkende, chronische DDR-Baustoffmangel bloße Erfindung „westlich-imperialistischer Propaganda“ gewesen. Die Dorfkirche präsentiert sich gar als wahres Schmuckstück. Ein bisschen erinnert mich das rundlich wirkende Gotteshaus samt mittig aufragendem Turm an die Dresdener Frauenkirche, auch wenn ihr deren barocke Pracht und domgewaltige Dimensionen fehlen.

Vor der Kirche überquere ich die Hauptstraße und halte Ausschau nach Ines. Ihr Support wird sich heute auf Lächeln, Küsschen und die Übergabe unserer Hündin Roxi beschränken. Gels trage ich ausreichend in Hüftgürtel und Gesäßtasche bei mir. Doch so sehr ich mir auch den Hals verrenke, hierhin, dahin, dorthin linse … keine Ines, keine Roxi. Also wähne ich „meine Mädels“ am ersten der drei Stauseen, den ich in ein paar Minuten erreichen müsste.

Bergauf im Dorf, deutlich steiler als vorhin, dafür auf Asphalt. Erstaunlich lockeren Fußes noch immer, vorbei an einer applaudierenden Zuschauerkolonie. In der Vergangenheit eher die Ausnahme: Mit Geste und Wort bedanke ich mich für die Unterstützung. Ein Signal ans Publikum aber auch ein Zeichen für mich: Ich bin einfach gut drauf! Selbstgewissheit der grundsätzlichen Art, nach der es mich über viele Jahre nie verlangte. Derzeit schon. Es tut gut sich immer wieder dem Ende des ätzenden „Lauflustverlustes“ zu versichern. - Weiter hinan im Dorf, zuletzt an einem Gasthaus vorbei, auf den Waldrand zu. Im Wald erwartet mich eine Verpflegungsstelle. Der kühle Morgen kostete kaum Schweiß und Kraft fließt ohne Einschränkung. Dennoch opfere ich mein erstes Gel und trinke reichlich. Beides Akte vorbeugender Vernunft.

Nur ein paar Meter hinter der Tränke zweigt der Weg zum Stausee ab. Ines hier zu finden erwarte ich eigentlich nicht mehr. Fast anderthalb Kilometer steiler Anmarsch von der Dorfmitte bis zum See - kaum vorstellbar, dass sie sich der Hetze von Anfahrt plus Fußmarsch unterzogen hat. Von einem Mitläufer abgesehen, zeigt sich denn auch keine Menschenseele beim Überqueren der Staumauer. Vielleicht war eine Straße, die Ines hätte passieren müssen, gesperrt oder sie hat sich für einen anderen Treffpunkt entschieden!?

Wasser, stahlblau, Lichtreflexe tanzen auf der vom Wind gekräuselten Oberfläche des Sees. Im Gegenlicht dunkelgrün, fast schwarz erscheinender Nadelwald säumt die Ufer bis dicht an die Wasserlinie. Keine Chance diesen Anblick nicht reizvoll zu finden, auch wenn ich zu aufgestautem Wasser ein zwiespältiges Verhältnis entwickelt habe. Mich jeweils frage: Was ist in den Fluten für immer untergegangen? Oder: Wie mag die Landschaft ausgesehen haben, bevor das Wasser kam?

Die Staumauer markiert den südlichsten Punkt der Route. Von hier kann es nicht mehr weit sein bis zur Deutsch-Tschechischen Grenze. Vielleicht noch ein, zwei Kilometer. Wieder zurück in Richtung Carlsfeld, dessen östlichen Ortsrand ich ein paar Minuten später streife. In sanfter Steigung erobere ich die von Wiesen bedeckte Höhe. Blauer Himmel, grüne Vegetation und in idealer Weise den Bildausschnitt belebend ein Läuferpaar - ich fange die stimmige Szene mit ein paar Aufnahmen ein. Und dann sehe ich sie, hundert Meter voraus, Ines und Roxi. Ines hat mich längst erspäht, Roxi wohl auch. Unser Vierbeiner ist aber noch unsicher. Mehr als ihre Augen nutzt sie den Geruchssinn zur Unterscheidung. Und dafür steht der mir entgegen wehende Wind extrem ungünstig. Doch dann erkennt sie mich, zerrt an der Leine und beginnt zu bellen …

Ich habe bekommen, was ich mir wünschte: Lächeln und Küsschen von meiner Frau, Roxi als Weggefährtin. Offen bleibt, ob Ines noch einmal zur Strecke finden wird. Angesichts der hohen Zahl von Straßensperrungen* halte ich das für unwahrscheinlich. Roxi wird mich folglich bis ins Ziel begleiten. Ein gemeinsamer Zieleinlauf mit Roxi - der bereitete mir schon immer große Freude. Ganz im Gegenteil zum Start, bei dem sich unser Vierbeiner gebärdet wie ein tollwütiger Straßenköter. Um dieses Erlebnis kam ich heute gottlob herum.

*) Im Rahmen des Drei-Talsperren-Marathons werden auch Mountain-Bike-Rennen über 30, 50 und 100 Kilometer veranstaltet. Aus diesem Grund wurden rund um Eibenstock viele Straßen, abschnittsweise sogar eine Bundesstraße gesperrt.

30 Kilometer bis ins Ziel - auch im beginnenden 13. Lebensjahr ein „Klacks“ für Roxi. Als wollte sie ihre hündische Fitness demonstrativ zur Schau stellen, ist sie mir ständig voraus, 20, 30 manchmal 50 Meter. Sobald der Sichtkontakt verloren geht, kehrt sie um, rennt ein Stück zurück, bis sie meiner wieder ansichtig wird. Oft holt sie Mitläufer ein, tippelt nicht selten treuherzig neben ihnen her. Die fragen sich natürlich irritiert, zu wem der Hund gehört, was mir wiederum ein Lächeln entlockt. Entspanntes Laufen mit Hund auf der Basis vieler ähnlicher Erfahrungen und der Sicherheit Roxi jederzeit verlässlich abrufen zu können …

Längst hält uns wieder Wald umfangen, Kilometer für Kilometer, in stetem Auf und Ab. Dabei scheint das tatsächliche, dem Profil auf der Internetseite zu widersprechen. Dessen „Dramaturgie“ hinter Carlsfeld lässt sich kurz so beschreiben: Stetes, von Buckeln unterbrochenes Gefälle, darin zwei markante „Hügel“, auf den letzten Kilometern wieder bergauf. Tatsächlich empfinde ich das anders, meine mindestens ebenso lange auf- wie abwärts zu traben. Und wenn im Gefälle, dann bisweilen so steil, dass ich bremsen muss. Eigenartigerweise jedoch nur ich. Die Konkurrenz entfernt sich unterdessen oder holt auf …

Plötzlich verschwindet Roxi seitlich im Wald, um Sekunden später wieder auf die Laufstrecke einzuschwenken. Ein Teich unweit des Weges lockte sie an, zu dem ich dann meinerseits abbiege, ein kühlendes Bad für Roxi im Sinn. Außerdem will ich ihr Gelegenheit zum Trinken geben: „Wasser, Roxi! Wasser!“ Mit nassem Bauch und trinksattem Magen wird Roxi etliche Kilometer durchhalten. An heißen Tagen müssten wir dieses Manöver häufiger wiederholen, heute höchstens noch ein-, zweimal.

Der Wald entlässt uns in ein für mich namenloses Dorf. Ich „klemme“ mir Roxi mit einem der dafür vorgesehenen Kommandos ans Bein. Nebeneinander, auf dem Bürgersteig sicher vor überholenden Autos, joggen wir entlang der Dorfstraße, vorbei an schmucken Anwesen. Auch diese Gemeinde scheint ihre DDR-Vergangenheit weit hinter sich gelassen zu haben. Wir verzweigen in eine ruhige Seitenstraße und finden uns in der nächsten Steigung wieder. Dankbar registriere ich den guten Asphalt unter meinen Füßen, der sich im Wald fortsetzt. Immer weiter fortsetzt, obschon dieses schmale Sträßchen sicher nicht für den öffentlichen Verkehr freigegeben ist …

Wald, dann Wald und schließlich … Wald. Fast eine Viertelstunde in konstant moderatem Anstieg nährt den Verdacht erklommen zu haben, was ich mir vom Profil als ersten „markanten Hügel“ einprägte. Ziemlich genau an der höchsten Stelle vollende ich den ersten Halbmarathon. 2:22 Stunden stehen dafür zu Buche. Auf Schätzungen der Zielzeit ließ ich mich bislang nicht ein. Zu oft, manchmal auch zu krass, lag ich damit auf unbekannter Route schon falsch. Zumal von einem der „härtesten Marathons in Deutschland“ die Rede war. Eine Charakterisierung übrigens, für die ich vorab keinerlei Belege fand. „Nur“ 850 Höhenmeter, etliche Kilometer Straße und keine Trails - worin die „Härte“ bestehen sollte, war mir schleierhaft. Daran hat sich nach absolvierter erster Hälfte nichts geändert. Also lege ich mich fest: Zum Ende hin werden die Beine schwerer werden, das Stadion in Eibenstock sollten wir trotzdem unter fünf Stunden erreichen …

Immer noch im Wald, immer noch im Auf und Ab. „Neue Gesichter“ lerne ich nur selten kennen. Mehrfach überhole ich dieselben MitläuferInnen bergwärts und schaue zu wie sie im Gefälle wieder an mir vorbeiziehen. Da ich jeden Meter trabe, auch aufwärts, gestaltet sich mein Tempo gleichmäßiger. Seit einiger Zeit liefere ich mir eine Art „Zweikampf“ mit einer unstet einher tippelnden Amazone. Die ausgeruht wirkende Frau scheint einerseits Rücksicht auf einen schwächeren, häufig gehenden Begleiter zu nehmen, verharrt überdies häufiger für Fotos. Ihr verdanke ich den „Schmunzelmoment“ dieses Marathons, weil ich stumpf vor mich hin trottend das Kuriosum, kaum zehn Meter neben der Strecke, mutmaßlich übersehen hätte. Übersehen hätte, was sich eigentlich unübersehbar in den blauen Himmel reckt. Eine hölzerne, handgemalte Tafel klärt mich auf: Ich stehe vor einem der seltenen Exemplare des „Bu-Fi-Bu-Baumes“. Sächsischer Humor, plakatives Augenzwinkern, das mich dennoch ernsthaft fragen lässt: Wie brachte es Mutter Natur zuwege zwei Buchen und eine Fichte in stammberührender Umarmung zu solcher Größe aufwachsen zu lassen? Hätten nicht zwei oder doch wenigstens einer der Bäume infolge Nährstoffkonkurrenz verkümmern müssen?

Samstag, früher Nachmittag, warmes, sonniges Frühherbstwanderwetter und gähnende Leere auf einem für Heerscharen automobiler Ausflügler gerüsteten Parkplatz. Offensichtlich das Werk konsequenter Straßensperrungen, deren Auswirkungen mich schon an dieser Stelle staunen lassen. Die schiere Größe der Parkzone spricht darüber hinaus für eine Freizeitattraktion ersten Ranges. Was sollte das anders sein, als der offenbar unweit gelegene Stausee Sosa? - Trassenbänder lenkten zuletzt meinen Schritt. Möglicherweise soll die Einhegung des Laufwegs unzulässiges Abkürzen oder den Verlust der korrekten Route auf dem riesigen Parkareal verhindern. Vielleicht stellt sie aber auch sicher, dass Läufer den kleinen, verloren wirkenden Verpflegungspunkt nicht übersehen, vor dem ich meine Erzgebirgstour nun kurz unterbreche …

Tiefergelegen schimmert der Stausee bereits durch die Bäume. Dreihundert Meter Gefälle später schwenke ich auf die erstaunlich kurze Krone der Staumauer ein. Auch die recht überschaubare Wasserfläche des Trinkwasserspeichers hinterlässt vergleichende Betrachter eher unbeeindruckt. Vermutlich „hat’s die Pfütze in sich“, womit ich ein gewaltiges Volumen meine, abgeleitet aus dem tiefen, von der Staumauer abgeriegelten Taleinschnitt. Wieder erliege ich dem verführerischen Reiz des von grünen Hügeln umgebenen Wassers. Was hat Wasser, bewegt oder still, ob von Mutter Natur oder menschlicher Hand gefasst, an sich, dass man sich angezogen fühlt, unentwegt schauen und genießen möchte?

Mit dem Genuss hat es am Ende der Staumauer abrupt ein Ende. Zumindest für jene steilen, ruppig holprigen zweihundert Meter vorm Erreichen des nächsten Asphaltsträßchens. Das wirkt verkehrsfrei, scheint auch an normalen Tagen dem öffentlichen Autoverkehr entzogen. Trotzdem beordere ich Roxi an meine Seite. Vorsicht, die ich alsbald, nun wieder einer Piste im Wald folgend, aufgebe … 30 Kilometer liegen hinter mir. Die relative „Leichtigkeit läuferischen Seins“, die mich zu Beginn im langen Aufstieg beflügelte, konnte ich mir physisch leider nicht bewahren. Inzwischen muss ich mir Schritte bereits abringen, insbesondere wenn sie mir Höhe eintragen sollen. Mein Kopf hält allerdings mit stabil guter Laune dagegen. Ein bisschen verwunderlich ist das schon, weil mich seit Längerem ein Ziehen aus der Hüfte ins rechte Bein nervt. Kein Schmerz im Sinne von „Aua!“, aber doch störend, ungut, lästig. Überdies ein Gefühl vermittelnd, als hätte ich mein rechtes Bein nicht mehr voll unter Kontrolle. Übrigens Folge einer Trainingseinheit Lauf-ABC, mit der ich mich letztens meinte „beglücken“ zu müssen. Egal, nur noch 12, nein, jetzt 11 Kilometer …

Noch 11 Kilometer. Kleine, gelbe Tafeln am Wegrand, im üblichen Kilometer-Rhythmus aufgestellt, geben Aufschluss. Es hat eine Weile gedauert, bis ich deren „To-Go-Zählweise“ realisierte. Zu Anfang bezog ich die hohen Zahlenwerte auf die zeitgleich stattfindenden Mountainbike-Rennen. Der Waldweg endet vor einer Straße, ich bringe Roxi neben mir in Sicherheit. Das bleibt auch so, nachdem aus meiner Vermutung Gewissheit wird: Der Straßenabschnitt ist für den Autoverkehr gesperrt. Aber es kommt noch „doller“! Keine zwei Minuten später mündet das untergeordnete Sträßchen in die Bundestraße 283, die ein quer stehendes Feuerwehrfahrzeug zur autofreien Zone erklärt. Wie jetzt? Eine ausgewachsene Bundesstraße gesperrt? Für eine Sportveranstaltung? Im automobilhörigen Deutschland? Keine freie Fahrt für freie Bürger? Steht das denn in Einklang mit unveräußerlichen, im Grundgesetz fixierten Menschenrechten? Etwa dem Recht auf freie Entfaltung der SUV-Persönlichkeit oder - noch bedeutender - der Unantastbarkeit der Gasfuß-Menschenwürde?

Lange und zügig auf Asphalt hinab. Ich traue dem Verkehrsfrieden nicht und behalte Roxi neben mir. Plötzliches Motorgeräusch scheint meinen Zweifeln Recht zu geben, doch dann tuckert lediglich ein Erste-Hilfe-Fahrzeug, verhalten und vorsichtig, bergwärts an uns vorbei. Ich genieße den glatten Asphalt unter meinen Füßen und zwei „hurtig“ in anhaltendem Gefälle abgehakte Kilometer. Vor der Ortstafel von Wolfsgrün und einer Straßensperre auf voller Breite biegen wir nach links ab. Die nächste Straße, soweit das Auge reicht. Nach kurzer Zeit erspäht das Auge eine weitere Verpflegungsstelle. Kilometer 34. Nach „Danke“ und „Tschüss“, gerade noch in Rufweite, verharre ich kurz und erkundige mich: „Ist die Straße auch gesperrt?“ Am meisten dürfte sich Roxi über die Bestätigung freuen, weil ich sie endlich wieder ihrer eigenen, von gelegentlichem Schnüffeln unterbrochenen Wege ziehen lasse.

Ein Entschluss, den ich auf der breiten, weithin einsehbaren Straße bald revidiere. Grund sind nicht etwa rollende Gefahren. Davon bleiben wir weitestgehend verschont. Übrigens auch von Mountainbikern, die zu diesem Zeitpunkt scheinbar andere Streckenabschnitte befahren. Anders als bisher „klemme“ ich mir Roxi auch nicht zu ihrem Schutz ans Bein. Ich will verhindern, dass mein Vierbeiner die in diesen Minuten vermehrt überholenden Halbmarathonläufer irritiert oder gar zu Fall bringt. Auf den müde bummelnden Marathoni wirken die keuchenden, aber noch hinlänglich frischen „Kurzstreckler“ wie ein vorbeizischender ICE. Einige von ihnen zollen dem „Bummelzug“ Respekt. Brummen unverständlich Anerkennendes oder belohnen mich mit „Daumen-hoch-Geste“.

Noch sechs Kilometer. Relativ übergangslos und wie erwartet gewinnt die Route wieder an Steigung. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, wird sich diese Orientierung bis ins Ziel überwiegend fortsetzen. Nicht dramatisch. Ich bin zwar müde, der harmlose Steigungswinkel bringt mich jedoch nicht ans Limit. Erst recht nicht auf Asphalt, der uns binnen weniger Minuten zur Staumauer der Talsperre Eibenstock geleitet. Anlässlich der obligatorischen Fotos kommt mir meine privilegierte Stellung in den Sinn. Zahlreiche Straßen wurden für uns geschlossen und üblicherweise verschlossene Tore geöffnet: Wie schon an der Talsperre Sosa hat die Öffentlichkeit auch zu dieser Staumauer normalerweise keinen Zutritt. Nur Läufer und Mountainbiker und ausschließlich heute dürfen die Bauwerke passieren …

Noch gut zwei Kilometer, derzeit auf fein geschottertem, meist sogar flachem Waldweg, irgendwo oberhalb des östlichen Stauseeufers. Den bekomme ich nur noch einmal, westwärts durch eine Waldschneise blickend, zu Gesicht. Vielleicht ergäben sich auch noch andere „Durchblicke“, aber ich achte nun mal zur Sicherheit überwiegend auf den Boden vor meinen Füßen und Roxi. Seit sich der Strom der Halbmarathonis lichtete, darf sie wieder selbstbestimmt tippeln. Doch wie schon vorhin, hat mein guter Wille keinen Bestand. Zwei vorbeihuschende, vermutlich verspätete (oder verfrühte?) Mountainbiker mit Startnummer - also im Wettkampf - belehren mich eines Besseren: „Roxi, zu mir!“ - Wenig begeistert bleibt sie stehen, lässt sich einholen und mit „Roxi rechts!“ an meiner Seite „verankern“.

Der Rest ist rasch erzählt, wenn auch quälend langsam gelaufen: Einmal mehr überqueren wir die gesperrte B283 und kämpfen uns von da an bergauf. Auf dem vielleicht steilsten, auf jeden Fall aber schlechtesten Wegstück des gesamten Wettkampfs. Dergleichen hat - wie jeder erfahrene Marathoni weiß - Methode. Das Läuferschicksal, um im unpersönlich Vagen zu bleiben, platziert unerbittlich schlechtes Geläuf immer ans von Erschöpfung geprägte Ende eines Laufes. Ich nehm’s mit Gleichmut, weil mich die Gemeinheit zwar grenzwertig belastet, aber nicht zur Strecke bringen wird. Seit einiger Zeit drangsaliert mich mein Bewegungsapparat mit Schmerzen, Energiereserven hält er aber noch ausreichend bereit.

Durch ein Waldstück auf eine Wiese, noch ein Kilometer. Ob von eigenem Übermut oder von der voraus tippelnden Roxi ausgelöst, weiß ich nicht zu sagen: Vier Vollblüter galoppieren über die benachbarte Pferdekoppel. Schlagen einen engen Haken, kommen schließlich in einer Ecke ihres Areals wieder zur Ruhe. Weiter im Anstieg und hoch zur Straße mit Roxi am Fuß. Wenige Meter noch bis zum Stadioneingang, dann auf die Tartanbahn. Die letzten dreihundert Meter nutze ich vor allem, um Roxi mit striktem, mehrmals wiederholtem Kommando sicher neben mir zu halten. Ich weiß nicht wie der Wind steht und wo sich „Frauchen“ versteckt hält. Falls deren „Duft“ durch Roxis Nase zieht, soll sie mir nicht aus lauter Wiedersehensfreude davonrennen. Gegengerade, Kurve, Zielgerade … Nach 4:47:12 Stunden laufen Roxi und ich gemeinsam über die Ziellinie.

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Route des Drei-Talsperren-Marathons hat für Liebhaber welliger Waldstrecken und Stauseen viel zu bieten. Alles erschlossen über Asphalt und - von wenigen kurzen Ausnahmen abgesehen - gute Waldwege. Insgesamt ein fordernder, jedoch nicht allzu harter Marathon.

Die Organisation glänzt mit überaus freundlichen Helfern und reibungslosen Abläufen. Letzteres ist umso überraschender, da parallel zum Marathon auch noch ein Halbmarathon, 8 km-Kurzstrecke und drei Mountainbike-Wettkämpfe über 100, 50 und 30 km ausgetragen werden. Note eins mit Sternchen!

Fazit: Sobald möglich ein zweites Mal!

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang