Sonntag, 22. Juli 2018

Eigentlich  -  Königsschlösser Romantik Marathon 2018

Eigentlich liebäugele ich mit einer Schlusszeit von knapp unter vier Stunden. Wie wohl jeder Marathoni, der für diese Leistung mutmaßlich ausreichend Körner in den Beinen hat. Dem „eigentlich“ ist geschuldet, dass es beim Liebäugeln bleibt. Dass ich ohne Zielvorgabe Richtung Hopfensee renne und die Anzeigen meiner Uhr ignoriere. Tempochecks wären ohnehin überflüssig: Nach mittlerweile drei Kilometern hat sich der 4-Stunden-Pacer stückweit abgesetzt, ist aber noch in Sichtweite. Also werde ich im Schnitt etwa 5:45 Minuten für jeden der Auftaktkilometer gebraucht haben. Hab die Beine machen lassen. Wollte sehen, welchen Takt sie vorgeben. Was sie solchermaßen sich selbst überlassen aufs Geläuf trommeln, verursacht mir allerdings ein Stirnrunzeln. Weil sich’s verdammt anstrengend anfühlt. Und so diskutiere ich ein Weilchen mit mir selbst, ob mein Fahrgestell aus hartem Wochentraining heraus, kaum erholt, eine Chance hat, den „Jogg“ mit diesem Energieeinsatz durchzuziehen …

Noch ein „eigentlich“: Der Füssener Kurs gehört zum landschaftlich Schönsten, was Deutschland an Marathonstrecken zu bieten hat. Beinahe sekündlich reiht er Ansichten von Schlössern, Seen und Bergen aneinander und das auf nahezu flacher Route! Weil es wieder mal nur um Trainingskilometer geht, wollte ich dieses Streckenjuwel eigentlich genießen. Petrus machte mir einen Strich durch diese Rechnung, schickte massenhaft Wolken und droht mit ergiebigen Schauern. Ein Panorama mag noch so atemberaubend sein, ohne Sonne kommt keine Begeisterung auf. Dazu bin ich zu sehr Sonnenkind und - ich geb’s zu - vom diesjährigen Wetter und bereits Erlebtem verwöhnt.

Innerlich hin und her gerissen renne ich deshalb durch einen grauen Morgen im Allgäu. Weiß nicht so recht, worauf ich bei diesem Marathon den Fokus legen soll. Er wird mir einen weiteren Eintrag in meiner bereits langen Liste einbringen, darüber hinaus die Beine schulen. Und sonst? Noch ist das Wetter erträglich: Bei etwa 16°C konnte ich auf Armlinge verzichten ohne zu frieren. Außerdem regnet es nicht. Um das klarzustellen: Wenn sich die Sonne ohnehin rar macht, ist mir Regen eigentlich piepegal. Nass bin ich sowieso, ob von Regen oder Schweiß spielt keine Rolle. Wenn ich dennoch inständig lange trockene Phasen erflehe, dann um das verhasste Basecap nicht aufsetzen zu müssen. Ohne Basecap wäre ich als Brillenträger nach dem ersten Schauer blind.

„Lustvolles Marathon-Sightseeing“ ist witterungsbedingt ausgeschlossen, folglich brauche ich nicht gemütlich dahinschlurfen. Und unter vier Stunden zu finishen - wenn es denn gelänge - würde mich energetisch und orthopädisch dermaßen beuteln, dass ich in den nächsten Trainingstagen kein Land mehr sähe. Genau das kann ich mir am wenigsten leisten … Weder schnell, noch langsam - was also anfangen mit diesem Marathon? - Unterdessen haben wir den Radweg neben der Verbindungsstraße „Füssen-Hopfensee“ verlassen und folgen einem Kiesweg zwischen Wiesen. Ziellos und deshalb unentschlossen lasse ich meine Beine gewähren. Ein „Fahrplan“ wird sich ergeben … und wenn nicht: Auch gut.

Die Runde um den Hopfensee steht an, wofür wir die - in grober Näherung - kreisrunde Wasserfläche zunächst südseitig im Waldrand umlaufen. Südseitig, mit Blick auf ein Sumpfgebiet, einen mehrere hundert Meter breiten Schilfgürtel. Die Wasserfläche ist von hier aus nur zu ahnen. Ich kenne die Gegend ziemlich gut. Ja, auch von zwei früheren Teilnahmen am Marathon, besser jedoch von Tagesausflügen. Immerhin wohne ich nur eine Fahrstunde von hier entfernt. Auf die unangenehme Buckelpiste der nun folgenden anderthalb Waldkilometer bin ich somit vorbereitet. Buckelpisten sind nicht nur beim Skifahren tückisch. Das kurzfrequente Auf und Ab raubt einem auf eigentlich flachem Terrain mehr Kraft als man glaubt.

Als der Wald endet, setze ich dankbar meine Füße erst auf Asphalt, später auf fest und fein geschotterte Abschnitte des Seerundweges. Gestern und wohl auch in der Nacht schüttete es hierzulande wie aus Kannen. Trotzdem weist der Weg weniger Pfützen auf als befürchtet. Der Hopfensee liegt in einer flachen Wanne, ist nach Norden, Westen und Osten von nicht allzu hohen Allgäuer Hügeln umgeben. Erstaunlicherweise öffnet sich die Mulde ausgerechnet nach Süden, zu den schroff aufragenden Allgäuer Berggipfeln hin. Panorama und Lage machen den Reiz dieses Moorsees aus. Ein Reiz der massenhaft Touristen und Tagesgäste anlockt - natürlich noch nicht zu dieser frühen Stunde, kurz nach acht.

Start war um 7:30 Uhr. Für mich eine ziemliche Zumutung. Obschon quasi „ums Eck“ wohnend, musste ich um 5:15 Uhr aus den Federn. Hartes Brot für Morgenmuffel. Entsprechend lustlos fuhr ich her, entsprechend lustlos rannte ich los. Nicht weiter tragisch, dergleichen kenne ich schon. Wäre nicht das erste Mal, dass ich einen Halbmarathon investiere, um stimmungsmäßig auf Touren zu kommen. Scheint sich heute, da meine Freundin „Sonne“ mich schmählich im Stich lässt, ähnlich zu entwickeln. Deshalb und weil mir das ständige Gebalze und Gegacker hinter meinem Rücken entsetzlich auf den Senkel geht. Zwei Herren der Schöpfung haben eine Marathondame in ihre Mitte genommen: Zwei Gockel und eine Henne. Mit allerlei humorigen Bemerkungen halten sie die Dame im Zustand dauernden Kicherns. Ganz und gar mein Problem. Weiß ich. Besser auszuhalten ist es deswegen nicht.

Am Westufer des Hopfensees: Ein Tropfen klatscht auf mein Brillenglas und lenkt den Blick gen Himmel. Über mir erkenne ich keine Veränderung im zerrissenen Grau, wohl aber gen Osten. Dort senkt sich gerade ein dichter Regenvorhang übers Land. Zieht das hierher? Eigentlich dominiert derzeit eine Westwetterlage. Andererseits wirken auch lokale Einflüsse am Witterungsgeschehen mit, so dicht vor den Bergen ohnehin. Ein paar Minuten weiter, zum Nordufer hin einschwenkend, komme ich dann nicht mehr umhin das doofe Basecap aufzusetzen. Im selben Moment weiß ich wieder, warum ich das Ding verabscheue: Es schneidet mein Gesichtsfeld nach oben hin komplett ab, nimmt mir den Himmel. Beraubt mich überdies eines Teils sommerlicher „Körperfreiheit“, die ich im kalten Halbjahr, dick vermummt, schmerzlich vermisse.

Kilometer 10: Die Ortschaft Hopfen am See mit zahlreichen Pensionen, Hotels, Gaststätten und Cafes säumt Nord- und Ostufer des Sees. An der Seepromenade nehme ich die Parade der üblichen, touristischen Infrastruktur ab: Parkähnliche Anlagen, Spazierwege, Stege, die in den See vorstoßen, Badeanstalten und -ufer, zuletzt den unvermeidlichen Campingplatz. Zur Uferpromenade haben sich ein paar Frühaufsteher und Gassigeher verlaufen, von denen einige nicht mit Beifall sparen.

Der Kreis um den See ist längst geschlossen, wir arbeiten die Buckelpiste im Waldrand ein zweites Mal ab. Nach kurzweiligen anderthalb Wiederholungskilometern, auf denen ich diesmal so etwas wie eine Ideallinie suche (und nicht finde), wendet sich die Kette der Läufer vom sumpfigen Schilfgürtel des Hopfensees ab. Strebt südwärts auf die Berge zu, bis sie nach wenigen Minuten einen neuerlichen Schwenk in östliche Richtung vollzieht, der uns zur Verbindungsstraße „Füssen-Hopfensee“ zurückbringen wird. Die befürchtete Flut von oben hat sich nicht über uns ergossen. Ein paar Minuten Sprühregen, das war’s einstweilen. Ich klemme die Schildkappe wieder unter den Hosenbund und hoffe sie dort vergessen zu können*. Nach zuvor reichlich Regen und über nassen Wiesen ist die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt. Schweiß verdampft nicht mehr, er rinnt. Trotz des kühlen Wetters wische ich im Minutentakt über Stirn und Schläfen.

*) Ganz wird mir das nicht gelingen. Ein weiteres Mal, wieder nur für Minuten, wird es später tröpfeln. Insgesamt jedoch kein Niederschlag, der die Bezeichnung Regen verdient hätte.

Anders als der Himmel hat sich meine Stimmung inzwischen merklich aufgehellt. Das hat auch mit stabilem Belastungsempfinden zu tun. Nicht, dass mir das eingeschlagene Tempo leicht fiele. Inzwischen fühlt es sich jedoch an, als wäre es für längere Zeit ohne Einbruch durchzuhalten. Noch wichtiger ist mir, dass die Schrittfrequenz keine negativen „orthopädischen Echos“ provoziert. Vorhin zwickten kurz und nacheinander Achillessehne und Wade. Inzwischen herrschen wieder Friede und Eintracht im Fahrgestell. Erstaunlich eigentlich, bedenkt man das Pensum der letzten zwei Wochen. Wieder einmal bewahrheitet sich: Je mehr und härter ich trainiere, umso weniger belästigen mich meine Körperbaustellen. Klingt eigentlich gut, hat aber einen Haken: Irgendwann nach harten Monaten muss jeder Ultra regenerieren. Und in dieser Phase präsentierte mein Körper mir noch jedes Mal die Rechnung …

Zurück in den Außenbezirken von Füssen. THW, Feuerwehr und andere Helfer regeln wo nötig den Verkehr, bringen uns an dieser Stelle sicher über die Bundesstraße 16 und damit auf den Weg zum Festspielhaus am Forggensee. Das Theater wurde im Jahr 2000 eröffnet und hat schon mehrere Pleiten hinter sich. Ursprünglich zur ausschließlichen Aufführung des König-Ludwig-Musicals erbaut, musste das Projekt nach wenigen Jahren die erste Insolvenz hinnehmen. Weit abseits von Großstädten folgten die Zuschauerzahlen nicht den Prognosen. Im letzten Jahr lavierte der Insolvenzverwalter das Festspielhaus bereits zum dritten Mal aus der Krise. Vielleicht gelingt dem Haus im vierten Anlauf und mit neuem Konzept der Sprung ans rettende Ufer.

Apropos Ufer: Während man noch durch die Parkanlage neben dem Festspielhaus joggt, genießt man eigentlich bereits die schöne Aussicht zum Forggensee. Wo eigentlich meterhoch Wasser stehen sollte, fällt heute der Blick auf Kiesbänke. Kiesbänke, die schon vor Monaten trockengefallen sein müssen, da bereits Pionierpflanzen gedeihen. Der Anblick des „verschwundenen Sees“ ist zunächst weniger ungewohnt, als es klingt. Beim Forggensee* handelt es sich um einen vom Lech gespeisten Stausee, der alljährlich übern Winter abgelassen wird. Übern Winter, aber eigentlich nicht im Hochsommer, wo er Wassersportlern Spaß und der Tourismusbranche Profit bringen soll. Überrascht und rätselnd lasse ich meinen Blick schweifen: Tatsächlich, weit und breit kein Wasser. Nur sehr weit „draußen“ scheint eine „Pfütze“ übriggeblieben zu sein. Ein paar Meter voraus wartet ein uniformierter Doppelposten des Roten Kreuzes auf „Kundschaft“ - die hoffentlich nicht kommt. Im Vorbeilaufen frage ich, warum dem See das Wasser fehlt. Es stellt sich heraus, dass Reparaturarbeiten am Staudamm die wasserlose Saison erzwangen.

*) Der Forggensee ist mit 15,2 km2 der fünftgrößte See Bayerns und flächenmäßig der größte deutsche Stausee.

Wieder in Sichtweite des Füssener Schlosses, das auf einem Felsrücken thronend den Standort der Altstadt markiert, schickt uns eine Spitzkehre zum alten Lechkraftwerk. Während ich das Lechufer auf einem Steg vor der Staumauer wechsele, fällt mein Blick in die vom Fluss gegrabene Schlucht, auf glasklar und blaugrün abfließendes Wasser. Dass man den Lech an dieser Stelle tatsächlich als Fluss wahrnimmt, ist dem defekten Staudamm mehrere Kilometer nördlich von hier geschuldet. Am Gegenufer lässt sich abschätzen wie hoch das Wasser des Forggensees normalerweise - pardon: eigentlich - steht …

Ein, zwei Minuten nach der Lechquerung trabe ich auf ein Marathontor samt (unbemannter) Zeitmessung zu. Eigentlich markiert dieser Aufbau die Halbmarathondistanz. Tatsächlich fehlen in Höhe der Messschleife aber noch ein paar hundert Meter. Dass mein GPS sich nicht irrt, bestätigt die aufgestellte „21“, die ich wenig später passiere. Irrtum oder Absicht? Was für einen Sinn ergibt bitteschön eine vorgezogene „Halbmarathon“-messung? - „Kontrolle!“ denke ich eilfertig und lasse es damit bewenden. Der Unsinn dieser Idee ist jedoch rasch zu entlarven: Der bisherige, kontrollfreie Streckenverlauf gab mehrere Stellen her, an denen Betrüger mit Ortskenntnis ohne großes Risiko abkürzen könnten und an weiteren solcher Orte werde ich noch vorbeilaufen … Wie dem auch sei: Hundert Meter hinter der Tafel mit der „21“ lese ich meine Zwischenzeit ab: 2:01:30 Stunden.

Anderthalb Minuten Rückstand auf die Durchgangszeit für Sub4Stunden - gleichmäßiges Tempo vorausgesetzt. Klingt eigentlich nach wenig, gilt mir aber als unaufholbar. Zwischenzeitlich spüre ich durchaus, wie mich das auf so langer Distanz ungewohnt hohe Tempo rannimmt. Möglicherweise breche ich irgendwann ein, vielleicht auch nicht. Anderthalb Minuten aufzuholen werde ich mir jedoch auf keinen Fall zumuten! Gelänge es mir die Pace auch nur annähernd zu halten, käme ich unter 4:10 Stunden durch und wäre - alle Umstände bedenkend - auch so hochzufrieden.

Ein Waldstreifen verwehrt für eine Weile die direkte Sicht zum See. Später direkt am Ufer laufend, empfinde ich die sich westwärts erstreckende Mondlandschaft als ziemlich bedrückend. Eine Kieswüste, vielerorts mit dünnem, grünem Flaum bedeckt, weiter nichts. Mir geht die Frage durch den Kopf, wie Menschen, deren Einkommen ganz oder in Teilen auf dem Forggensee basiert, in diesem Sommer wirtschaftlich klarkommen. Wie überleben Segel- oder Surfschulen ohne Wasser? Bin auch gespannt auf die Auslastung des Campingplatzes, an dem wir in einer Viertelstunde vorbeilaufen werden …

Ich schreibe „wir“ und meine damit alle 500 Starter im Feld, auch wenn ich nach der Halbzeit und auf sich schlängelndem Uferweg nur wenige Mitläufer im Blick behalte. „Menschenleere“ stört einen Ultraläufer eigentlich nicht. Er ist an kleine Teilnehmerfelder und Stunden weitgehender Einsamkeit gewöhnt. Dumm nur, dass meistens kein Läufer in der Nähe ist, wenn die bestmögliche Perspektive zum Fotografieren auffordert. Und Fotos nehme ich heute auf reizreduziertem Kurs - keine Sonne und kein See - ohnehin nur wenige mit nach Hause.

Eigentlich trennt nur der Spazierweg, auf dem wir gerade laufen, den Campingplatz vom Badestrand am See. Camper, die in diesen Tagen baden oder bootfahren wollen, werden eine ziemliche Weile laufen oder mit dem Mountainbike fahren müssen, um genügend Wasser - wofür auch immer - zu finden. Trotzdem wirkt Platz ausgebucht, wie wohl immer um diese Jahreszeit. Ob die Camper bei der Anmeldung auf den abgestauten See hingewiesen wurden?

Der Weg am „Seeufer“ war nicht wirklich tempofördernd. Stellenweise rau, hin und wieder ein paar bucklige Meter auf und ab. Das kostete Kraft. Hinterm Zeltplatz kehren wir der trockenen Kieswanne den Rücken und kehren alsbald auf asphaltierte Wege und Sträßchen zurück. Wie so oft beim Übergang „Schotter-Asphalt“ gaukelt mein Laufgefühl mir Tempoverlust vor. Ein Kontrollblick zur Uhr belehrt mich eines Besseren. In diesen Minuten ändert die Route komplett ihren Charakter. Durfte man ihr bisher eigentlich das Prädikat „Seenlauf“ anheften - wenngleich die größere von zwei „Pfützen“ in diesem Jahr fehlte -, so begreift man nun recht bald die Herkunft des Titels „Königsschlösser Romantik Marathon“: Kilometer voraus erstreckt sich flaches Grasland, aus dem sich mehr als 2.000 Meter hohe Berggipfel jäh erheben. In ihren Flanken - aus dieser Entfernung wie Nachbildungen im Westentaschenformat anmutend - zwei unverwechselbare Schlösser: Das hellgraue Neuschwanstein und - nicht mal einen Kilometer westlich davon - das weniger bekannte, ockergelbe Hohenschwangau.

Zumindest die ortsfremden, womöglich ausländischen Mitläufer tragen ihre Köpfe in den folgenden Minuten hoch erhoben, gleichgültig wie sehr sie von den bereits gelaufenen 27, 28, 29 Kilometern erschöpft sein mögen. Selbst an einem eher grautristen Tag wie dem heutigen vermag diese Kulisse zu beeindrucken. Wer auf das Panorama mit offenen Augen zuhält, wird nie mehr fragen, warum sich die bayerischen Könige ausgerechnet die Gegend um Füssen für zwei ihrer Prachtbauten aussuchten. Wieso der weltfremde Ludwig II. sein Opern- und Märchenschloss Neuschwanstein in diese Kulisse setzen ließ. Da und dort richten Mitläufer ihr Handy gen Süden, halten die Aussicht im Bild fest. Dabei haben viele den Höhepunkt baulichen Entzückens, die Ansicht der Ansichten, noch gar nicht ausgemacht …

Das geschieht ausgerechnet auf den akustisch hässlichsten Metern der Route, dem Radweg entlang der belebten Bundestraße 17: Ein paar hundert Meter abseits, von grünen Wiesen umringt, steht die barocke Kirche „Sankt Coloman im freien Felde“. Dahinter Neuschwanstein und Hohenschwangau umfangen von schroff aufragendem Fels … Einer der Läufer verharrt andächtig, nimmt das Panorama als Bild in seinem Handy mit. Während ich an ihm vorbeitrabe übe ich ein paar Schritte weit „Fremdbedauern“: Wenn du wüsstest, welch überirdische Faszination von diesem Anblick unter blauem Himmel ausgeht! An Tagen, wenn die Sonne die Schwangauer Landschaft zum Leuchten bringt …

St. Coloman im Felde studieren wir aus der Nähe, passieren das Kirchenportal kurz hinter der 30-Kilometer-Marke. Danach steigt das Sträßchen zwischen Wiesen beinahe unmerklich an. Unmerklich aber stetig. Der Trend setzt sich fort, nachdem wir vor einem Bach rechtwinklig abbiegen und dem Wasserlauf auf einem Schotterweg folgen. Fast zwei Kilometer, die eigentlich flach aussehen, es aber nicht sind. Manch einer wähnt sich hier nahe eines Tempoeinbruchs, weil er die minimale Steigung spürt, optisch jedoch keine Erklärung dafür findet. Manch einer bricht auf diesem Abschnitt tatsächlich ein. Vermehrt überhole ich Mitkämpfer, denen die Strecke bereits den Schneid abkaufte. Obwohl ich nun auch etwas langsamer unterwegs bin, düse ich an mühsam Dahinschlappenden oder gar Gehenden raketengleich vorbei. Ein gutes Gefühl für mich, wahrscheinlich ein ziemlich mieses für die auf diese Weise Überholten …

An heißen, in Sonne gebadeten Tagen werden viele den schattigen Weg am Bach als wohltuend empfinden. Werden neuerlich nach Luft schnappen, wenn sie an dessen Ende - mit etwas Gefälle belohnt - wieder in die deckungslose Wiesenfläche geschickt werden. Eigentlich trennen uns hier nur etwa drei Kilometer Luftlinie vom Ziel, weitere neun fehlen jedoch zum Marathon. Die Route schlägt noch ein paar Haken, entfernt sich mal von der Bergkulisse, verläuft auch parallel dazu, strebt immer wieder auch zu ihr hin. Über Asphalt zunächst, dann auf Schotter. Ein Verpflegungspunkt markiert den Beginn eines maximal gedämpften, deshalb kraftraubenden Kursabschnitts: Auf Fahr- und Trittspuren überwinden wir eine Wiese.

Kilometer 36: Ein Radweg zieht sich durch den Wald. Lediglich ein Baumstreifen trennt mich von der lebhaft frequentierten Zufahrtsstraße nach Schloss Hohenschwangau. Minimal bergauf, aber nicht wirklich fordernd. Mit insgesamt nicht einmal 100 Höhenmetern darf man diesen Marathon mit Fug und Recht den flachen Laufstrecken zurechnen. An einer Stelle - und nur an dieser Stelle - lugt eine der mit Zinnennachbildungen verzierten Ecken von Schloss Hohenschwangau über die Bäume. Alsbald rechts ab vom Radweg und ebenerdig durch den Wald. Spaziergänger applaudieren und Ortsfremde werden sich fragen, wo die wohl herkommen mögen. Einen Kilometer weiter wird sie der Anblick des Schwansees überraschen. Vor meinem ersten Füssen Marathon wusste ich nicht einmal, dass es diesen See gibt. So versteckt im Wald hat Mutter Natur ihn angelegt. Abseits touristischer Magnete wie Hopfen-, Forggen-, Bannwald-, Weißen- und Alpsee findet man hier vermutlich noch Stille, wenn man sie sucht …

Halbkreis um den Schwansee. Von seiner Westseite aus gelingt ein kurzer Blick auf die beiden Königsschlösser. Heute miserable Sichtverhältnisse und Entfernung lohnen die keine Aufnahme. Am Ende der Schwanseerunde belästigt mich die bittere Erinnerung an meinen ersten hier gelaufenen Marathon: Tags zuvor war ich krank. Über Nacht scheinbar genesen überlegte ich lange, ob ich überhaupt nach Füssen fahren soll. Tat’s dann doch, fühlte mich anfangs gut, bis irgendwann hinter Kilometer 30 das Licht ausging ... Ich kämpfte mich durch, deponierte allerdings hier in der Nähe, zwischen Kilometer 38 und 39, den Inhalt meines Magens …

Ein paar Meter Wald, dann ein Parkplatz, schließlich auf den Radweg, der die Verbindungsstraße Füssen-Königsschlösser begleitet. Sommer wie Winter, zumal am Wochenende, erst recht sonntags, brummen hier Myriaden motorisierter Schlossbesucher vorbei. Lediglich eine Reihe Alleebäume und ein Streifen Gras trennen den Radweg von der Straße. Auch hier überfällt mich eine „starke“ Erinnerung. Diesmal an den zweiten Füssen Marathon und sie lässt mich schmunzeln. Seinerzeit machte ich einer Marathonnovizin aus einem meiner Kurse den Hasen. Hatte versucht sie zu Sub4Stunden zu führen, woran wir jedoch wegen der hohen Tagestemperatur scheiterten. Auch scheiterten, weil die Dame - bis heute habe ich nicht begriffen, wie „so was“ trotz massiver Schweißverluste möglich ist - mehrfach zum Austreten ausscherte. Und das jeweils kurz vorm Einnässen. Auch hier auf diesem Radweg war es wieder soweit. Rechts die Straße mit der allenfalls für Sekunden unterbrochenen Fahrzeugkolonne der Schlossbesucher, links eine eingezäunte Viehweide, dahinter ein steiler Hang. „Hier geht es nicht! Du hast nirgendwo Deckung!“ versuchte ich sie abzuschrecken. „Aber ich muss!“ bettelte sie verzweifelt. Also ließ ich sie vor einem Baumstamm in die Hocke gehen und positionierte mich als unvollkommenen Sichtschutz zwischen ihr und der Straße … Rätselhaft war mir seinerzeit nicht nur der weibliche Stoffwechsel. Ungeklärt blieb auch, wieso es auf der Straße neben uns zu keinem Auffahrunfall kam …

Fußgängerbrücke über den Lech, jenseits eine Verpflegungsstation. Anderthalb Kilometer vorm Ziel Verpflegung? Wie fertig muss man sein, um hier noch einmal anzuhalten? - Ich fühle mich zwar alles andere als frisch, im Grunde jedoch weniger „abgenutzt“ als befürchtet. Das gilt vor allem für meine Kraftreserven. Folglich hätte ich eigentlich ein paar Sekunden pro Kilometer schneller laufen können. Bin mir dennoch selbst dankbar der Versuchung Sub4Stunden widerstanden zu haben. Zur Belohnung werde ich morgen wahrscheinlich schon wieder zu einem regenerativen Training aufbrechen können … Außerdem tut mir nichts weh! Erstaunt bin ich weniger über die Tatsache an sich, als über die Selbstverständlichkeit mit der ich das hinnehme. Ein bisschen mehr Begeisterung wäre durchaus angebracht! - Gedanken, die meine letzten Schritte begleiten …

Diese letzten Schritte lenken mich am Steilufer des Lechs entlang; unterhalb einer Felsrippe, die den Weg von der Füssener Innen-/Altstadt trennt. Ein paar hundert Meter unter alten Bäumen, zuletzt durch den Füssener Stadtteil Faulenbach. Und fast zum Schluss gilt es noch eine kleine Prüfung zu bestehen: Steile zwanzig Meter empor, von Pflaster auf ein Sträßchen, einem von Felsen flankierten „Pass“ entgegen. „Gleich im Ziel! Gleich geschafft!“ ruft mir vorsichtshalber eine Passantin zu. Recht hat sie: Das Ziel liegt keine 300 Meter hinter der Felspassage, was Ortskundige wissen. Wer’s nicht weiß, überdies übel erschöpft auf dieser finalen Rampe klebt, den kann sie die ersehnte und sicher geglaubte Zielzeit kosten. Meine mehrfach überschlägig abgeschätzte Endzeit von 4:05 Stunden ist dagegen nicht in Gefahr. Erstaunlich leichtfüßig bringe ich den Buckel hinter mich, jogge jenseits entspannt hinab und dem nahen Zielkanal entgegen. So entspannt, dass sich sogar Lust auf ein Zielselfie einstellt …

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Eigentlich wollte ich diesen Lauf genießen. Petrus war dagegen. Weswegen ich eigentlich von meinem dritten Königsschlösser Romantik Marathon nichts weiter mitnehmen sollte, als die Genugtuung es einmal mehr geschafft zu haben. Dem gehäuften „eigentlich“ zum Trotz, empfinde ich aber Freude im Ziel und tiefe Befriedigung. Warum eigentlich?

Ergebnis: 4:05:13 h, Gesamt: Platz 251 von 485, M65: Platz 3 von 8

 

Fazit zur Veranstaltung

Reibungslose Organisation, ausreichend Verpflegung, relativ kurze Wege. „Alles in Butter“ sozusagen.

An sonnigen Sommertagen gehört die Route des Königsschlösser Romantik Marathons zu den schönsten deutschen Landschaftsstrecken überhaupt. Neben See- und Bergpanorama glänzt die Gegend mit dem märchenhaften Anblick der Königsschlösser. Und in Höhe der Kirche „St. Coloman im freien Felde“ fangen die Augen Bilder ein, die einem Menschen mit Sinn für Schönes wirklich den Mund offen stehen lassen. Unvergesslich!

Fazit: So nah und wunderschön - sicher nicht zum letzten Mal!

 

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