Sonntag, 15. April 2018

Hindernislauf  -  Linz Marathon 2018

Ines will Halbmarathon laufen! Ihr Entschluss reifte nicht, er stellte sich spontan ein. Wie eine seltene Blüte, die über Nacht die Knospe sprengt, um sich der aufgehenden Frühlingssonne entgegen zu recken. Leider harmonierte ihr Wunsch nicht mit meinem seit Monaten fixierten Aufbauprogramm. Also „killte“ ich kurzerhand das einzige wettkampffreie Aprilwochenende und nahm den „Linz Marathon“ in die Liste meiner Vorbereitungsläufe auf. Selbstverständlich lag mir viel daran meine Frau bei ihrem ersten Halben nach zwei Jahren zu begleiten. Auf den ersten Blick schien die Veranstaltung in Linz dafür bestens geeignet: Start von Marathon und Halbmarathon um 9:30 Uhr auf der Autobahnbrücke über die Donau, danach identische Streckenführung in der City bis kurz vorm Ziel auf dem Hauptplatz. Dort trennen sich die Wege der halben und ganzen Marathonis. Die „Halben“ genießen das Finish und die Ganzen begeben sich auf Hälfte zwei ihrer Strecke.

Bei genauerem Hinsehen galt es allerdings eine Hürde zu überwinden. Von der erfuhren wir erst durch Kraxi, meinen Freund aus der Steiermark, der als Pacemaker (Zielzeit 3:30 Stunden) angereist war. Der Linz-Vielfach-Finisher gab zu bedenken, dass „Halbe“ und „Ganze“ auf verschiedenen Seiten der Mittelleitplanke starten, weil die Route der Halbmarathonis nach etwa zwei Kilometern einen zusätzlichen Bogen beschreibt. Zur sicheren Wiedervereinigung verabredeten Ines und ich ein Stelldichein bei Kilometer „4“.

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„Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, wenn du Marathon läufst!“ meint der Mann neben mir, kurz bevor wir unsere Kleiderbeutel abgeben. Er sagt es in österreichischem Dialekt mit Blick auf die elend langen Warteschlangen nebenan, wo sich die Halbmarathonis stauen, um ihre Habseligkeiten loszuwerden. Sekunden später stehe ich neben Ines und unterstütze sie beim Warten. Kein Grund nervös zu werden, uns bleibt noch eine halbe Stunde bis zum Start. Ich schieße ein Bild von meiner geduldig wartenden Frau - zumindest versuche ich es. Die von diesem Versuch ausgelöste Meldung der Digicam verursacht die erste Panik des Tages: „Keine Speicherkarte“! Hektisch öffne ich das Kartenfach. Hätte ich mir schenken können, weil im selben Moment ein Bild vorm geistigen Auge erscheint: Die Speicherkarte steckt im SD-Slot des PC, daheim im Arbeitszimmer!

Panik muss abklingen, bevor das Denken wieder einsetzen kann. Nach ein paar Sekunden kommt mir die (hoffentlich) rettende Idee: SD-Ersatzkarte in der Kameratasche der Spiegelreflexkamera! Tasche befindet sich im Auto! Auto steht in der Tiefgarage, etwa fünf Minuten entfernt! Hin und zurück 10 Minuten! Bleiben zwanzig, um rechtzeitig am Start zu sein! Das reicht! - Fünf Minuten für den Hinweg natürlich nur, wenn ich jogge. Nach Jahren also mal wieder Warmlaufen vorm Marathon …

Gekürzte Version, ohne die dramatische Zuspitzung zu unterschlagen: Schlussendlich brauche ich eine Viertelstunde, um zur wartenden Ines zurückzukehren. In dieser Zeit verzeichne ich die zweite heftige Ausschüttung von Adrenalin des noch jungen Tages: Die Tiefgarage ist gesichert und nur mit Parkkarte zugänglich! Und die liegt im Auto!! Über den am Morgen benutzten Eingang, dessen Sicherung offenbar nicht funktioniert, bringe ich den heiß ersehnten Chip dann doch noch in meinen Besitz. Allerdings dauert es einige Zeit, bis ich auf diese Lösung verfalle und der andere Eingang ist auch weiter entfernt …

Eine Viertelstunde bleibt uns, um die etwa 700 Meter bis zur Donaubrücke und in die Startblöcke zu schaffen. Während wir langsam am Donauufer entlang joggen normalisiert sich meine Hormonlage. Sogar Selfies gönnen wir uns noch. Ein letztes kurz vor der Brücke und der beabsichtigten Trennung. Noch vier Minuten bis zum Start.

Ich schlendere zur anderen Fahrbahnseite und orientiere mich … Als mir dämmert, dass der Marathonstart ein paar hundert Meter nach hinten versetzt ist, bekommen die Hormondrüsen wieder Arbeit … Ein fulminanter Sprint bringt mich schließlich zum richtigen Startblock, den ich Sekunden vorm Start betrete … Aber natürlich bin ich noch nicht startklar: In Windeseile schnüre ich die Schuhe nach und kontrolliere ein letztes Mal den Sitz meiner Klamotten … Gottlob passt alles und dann geht’s auch schon los.

Laufen befreit den Kopf und der fängt an zu denken: Wieso wusste ich das alles nicht mehr? Okay, es ist elf Jahre her, dass ich zuletzt diese Donaubrücke unter die Sohlen nahm. Und damals verschwendete ich keinen Gedanken an den Halbmarathon. Außerdem nahm die Strecke hinter der Brücke einen anderen Verlauf … Einerlei. Stattdessen wichtig: Der zurückverlegte Marathonstart hat höchstwahrscheinlich zur Folge, dass für halbe und ganze Marathonis dieselben Kilometertafel gelten! Umso leichter wird es Ines und mir fallen unser Rendezvous nicht zu verpassen.

„Du läufst wohl auch überall!“ - Wer ist das? Kennt der mich? - Doch lediglich meine „ferne“, vom Trikot ablesbare Herkunft animierte den Mann zu seiner Äußerung. „Warum gibt es in Augsburg keinen Marathon?“ schießt er gleich die nächste Frage ab. - Nichts einfacher als ausgerechnet diese, mich Jahr für Jahr schmerzende Frage zu beantworten: „Weil Augsburg eine Sportstadt ist, mit 600 Vereinen, einem Fußballclub in der 1. Bundesliga und einem Eishockeyverein gleichfalls in der höchsten Spielklasse! Und alle prügeln sich um Sponsoren. Da bleibt für eine Marathonveranstaltung kein Geldgeber mehr übrig!“ - Tatsächlich starb der „Augsburger Friedensmarathon“ nach zwei Auflagen (2011 und 2012) hauptsächlich aus diesem Grund einen leisen, unrühmlichen Tod.

Ich verrenke mir fast den Hals, um Ines in der Menge auf der anderen Straßenseite auszumachen. Ein hoffnungsloses Unterfangen im dichten Gewimmel. Schließlich trennen sich die Fahrbahnhälften. Für zwei, drei Minuten sind wir Marathonis unter uns. Dann vereinigt sich unsere dürre mit der fetten Schlange der Halbmarathonis. Wie insgeheim erwartet, erreiche ich Kilometer „4“ früher als Ines. Ich stelle mich unter die Tafel und halte Ausschau. Höchstens anderthalb Minuten vergehen, dann erspähe ich sie im Strom der unablässig vorbei defilierenden Läufer und geselle mich zu ihr …

Auch wenn wir das infolge von mir verschuldeter Hektik nicht so recht genießen konnten, der Start auf der Brücke war spektakulär. Dem auf die Brücke folgenden Abschnitt der Strecke kann ich dieses Prädikat leider nicht verleihen - zurückhaltend ausgedrückt. Die fade Umgebung ist mir allerdings gleichgültig. Die Sonne scheint schweißtreibend warm aus blauem Himmel und ich laufe an der Seite meiner Frau. Zwei Begleitumstände, die die Bedeutung der übrigen auf Saharastaubkorngröße schrumpfen. Körner jenes Saharastaubes, der laut Wetterbericht alsbald über unseren Köpfen auftauchen und Wolken provozieren soll. Mal sehen. Einstweilen schießt mir Wasser aus allen Poren. Zwei Becher Flüssiges pro Tränke sind heute Pflicht!

Fünf, dann sechs Kilometer geschafft, ausreichend Einlaufzeit, um aus momentanem Befinden eine Prognose zu extrahieren: Ines’ Beine signalisieren Schwere, wie häufig in letzter Zeit. Die Trainingszeit von ein paar Wochen war zu kurz für einen Halbmarathon und die schwüle Wärme wird sich auch nicht gerade tempofördernd auswirken. - Mein Empfinden lässt sich am ehesten mit „gespalten“ charakterisieren. Einerseits fühle ich mich nach dem gestrigen Ruhetag (der erste seit einer Woche) durchaus leistungsfähig. Ausdauer hätte ich, vermag sie jedoch nicht zu mobilisieren. Wie bei einem Auto, das seine PS nicht auf die Straße bringt, weil die Handbremse angezogen ist. Mein Bewegungsapparat leistet hinhaltenden Widerstand. Vor einer Woche, beim Fünfziger in Ebershausen war es ähnlich. Mit dem Unterschied allerdings, dass sich die Blockade nach einigen Kilometern löste. Heute löst sich gar nix. Außerdem schmerzt die Achillessehne praktisch vom ersten Schritt an … und nicht nur die.

Ich hatte mir mehr erhofft aber nicht wirklich mehr erwartet. Wegen des Pensums, das ich mir derzeit zumute, ist Erschöpfung Dauergast. Jeden Abend falle ich halbtot ins Bett. Über eine Trainingswoche (Montag bis Sonntag) gerechnet nimmt sich mein Umfang so dramatisch nicht aus: Letzte Woche 130 und diese Woche, den heutigen Marathon bereits eingerechnet, 140 Kilometer. Ursache fürs Hinterherhinken meiner Regeneration war erstens ein Bergtraining am Mittwoch: 700 steile Höhenmeter bei 13 Kilometer Streckenlänge. Außerdem ergab eine „Querrechnung“ von Mittwoch bis Donnerstag eine in dieser Häufung unbeabsichtigte Kilometersumme von nicht weniger als 190 Kilometern!

Nach acht Kilometern traben wir über die „Nibelungenbrücke“ und damit aufs Zentrum der Linzer Altstadt auf der anderen Donauseite zu. Mit jedem Höhenmeter, den wir dem Brückenscheitel abringen, wird der Ausblick reizvoller: Flussab- und aufwärts schmücken sich die bewaldeten Hänge der Donauufer mit frischem Hellgrün im ungestüm voranschreitenden Frühling. Voraus recken die Türme der Linzer Kirchen ihre Spitzen über die Dächer der Stadt. Für eine Weile steht das Spalier der Zuschauer noch dichter als bisher schon. Es hat den Anschein, als hätten die Linzer „ihren“ Marathon auch als Zuschauer voll angenommen. Ein Eindruck, den applaudierende Zaungäste auch später, in weniger belebten Außenbezirken, immer wieder auffrischen werden.

„Die Hälfte hast du!“ sporne ich meine Frau zum wiederholen Male an, frage zugleich, wie sie sich fühlt. Ihr verbissener Gesichtsausdruck spricht Bände. Ein paar Meter weiter flüchtet sie in den Eingang eines thailändischen Restaurants, aus dem sie ein paar Minuten später befreit lächelnd wieder zurückkehrt. Es gibt Tage, da entwickelt sich ein Halbmarathon zum Hindernislauf …

Es folgen Kilometer, die man besser mit dem Betrachten innerer Bilder zubringt. Hie und da triste Siedlungen, irgendwann rechter Hand ein Gewerbegebiet, links eine Brache, hinter der Gleisanlagen, Industriebauten und sogar ein rauchender Schlot den Ton angeben. Minutenlang beidseits der Straße parkende Lkw … Mir hat der Kurs damals, vor elf Jahren, erheblich besser gefallen. Wohl nicht nur, weil ich Stadtmarathons zwischenzeitlich distanzierter gegenüberstehe und von vielen atemberaubend schönen Strecken verwöhnt wurde. Seinerzeit folgte der Kurs anfänglich und für längere Zeit dem Donauufer, bescherte dem Läufer entsprechend reizvolle An- und Aussichten.

An Ines scheint alles Unschöne abzuprallen. Meine Frau läuft und freut sich über jedes klatschende Händepaar. Hat Spaß an hundert anderen Begebenheiten rings umher, die mir nicht einmal auffallen würden. Gut so! Und ich freue mich über ihre Begleitung! Auch wenn es anders aussieht und Ines unseren Paarlauf mit Sicherheit anders versteht: Eigentlich begleitet sie mich! Auf einem Weg, der mir heute schwer fällt, in ihrer Gegenwart aber kürzer vorkommt. Immer wieder lenkt sie mich ab. Etwa wenn sie ihrer Freude über übermannshohe herzförmige Skulpturen Ausdruck verleiht, die wie Perlen an einer Schnur vor einem Bürogebäude aufgereiht wurden.

Der Kurs legt ausgedehnte Schleifen in die Straßenschluchten der Innenstadt. Rannten wir längere Zeit vor ihr davon, so halten wir seit geraumer Zeit wieder auf die Donau zu. Natürlich sind weder der Fluss noch seine grünen Uferhänge „hier unten“ zwischen Hausfassaden auszumachen. Doch dafür hat man(n) schließlich einen Orientierungssinn und eine grobe Vorstellung vom Streckenverlauf. Vorbei an Kilometer „37“: Ein unmissverständlicher Hinweis, dass ich in gut zwei Stunden diesen Teil der Route ein zweites Mal mit Füßen treten werde.

Schließlich liegen 18 Kilometer hinter uns und Ines’ Beine werden schwer - sagt sie jedenfalls. Wenn ich ihr Gesicht studiere, kann ich darin keine Schwäche erkennen. Das will nichts heißen, denn mir sieht man mit Sicherheit auch nicht an, wie elefantös sich meine Stelzen unterdessen anfühlen. Ines wird fraglos durchhalten und nur das „laufend ankommen“ zählt heute (übrigens auch für mich).

Merkwürdige Sirenengeräusche, zeitweise aussetzend, ertönen seit einiger Zeit hinter uns, nähern sich aber nur zögerlich. Ganz automatisch räumen wir die linke Straßenseite, auf der zunächst eine Polizeieskorte vorbei tuckert, drei, vier Motorräder in keilförmiger Formation. Ihnen folgen Fahrzeuge mit Fotografen, Kameramännern und Gott weiß wer sonst noch. Einen Wimpernschlag lang narrt mich die Vorstellung einer begleiteten Luxuskarosse, hinter deren dunkel getönten Scheiben man einen hochrangigen Politiker seinem Ziel entgegen chauffiert. Bis ich, mich mehrmals umwendend, den führenden Kenianer heran preschen sehe. Nähme ich es nicht mit eigenen Augen wahr, ich würde leugnen, dass die Füße des Kenianers die Erde berühren … Ein bisschen fassungslos starre ich dem leichtfüßigen Laufwunder entgegen, bewahre aber genügend Geistesgegenwart für ein Foto. Der Eindruck lautlosen Vorbeischwebens wiederholt sich in den folgenden Minuten mehrmals. Und jedes mal huscht ein Schwarzafrikaner vorbei, jagt einer für Laufnormalos unvorstellbaren Marathonzeit hinterher.*

*) Sieger des „Linz Marathon 2018“ wird Robert, Kiplimo Kipkemboi in 2:10:23 Stunden, mit einem Vorsprung von etwa einer Minute auf den Zweitplatzierten Elijah, Kiprono Kemboi, beide aus Kenia.

Ein vorletzter Schlenker, wir entfernen uns wieder vom nahen Donauufer. Gut zwei Kilometer noch, dann hat Ines ihren Halbmarathonsieg in der Tasche. Eine kurze Steigung - obschon weder heftig, noch weit - beschleunigt die Atemfrequenz. Meine jedenfalls und Ines wird es nicht anders ergehen. Ein Seitenblick beruhigt mich: Keine Überlastungssymptome wahrnehmbar und langsamer wird sie auch nicht. Zweimal rechts abbiegen, schließlich noch ein Kilometer bis zum Ziel auf dem Linzer Hauptplatz. Und dieser Schlusskilometer wurde vom Streckenregisseur mit wachsendem Spannungspotenzial in Szene gesetzt. Sein Drehbuch schickt uns schnurgeradeaus über die gepflasterte Linzer Einkaufsmeile, mit stetig wachsendem Publikumsinteresse. Ines ist jetzt in Hochstimmung, klatscht quietschfidel ein paar Kinder ab. Beifall und Anfeuerung zu Hauf schieben uns vorwärts. Zunehmend flankieren Flaggen und Werbebanner den Kurs. Ein Marathontor gilt es zu durchlaufen - noch nicht das Ziel, nur ein Vorgeschmack auf den finalen Moment. Cheerleader jubeln. Einmal, ein paar hundert Meter weiter, reckt eine zweite Truppe die Arme in die Luft. Absperrungen, noch mehr Werbebanner, weitere Fahnen und eine immer weiter anschwellende Geräuschkulisse. Ines fliegt dem Ziel entgegen und als ich abbiegen muss, nehme ich die Freude in ihren Augen mit auf meinen nun noch einmal so weiten Weg …

Sofort wird es ruhiger am Straßenrand und auf der Straße vor mir herrscht gar gähnende Leere. Vier Fünftel der Teilnehmer gehörten zum Halbmarathon. Zudem bewege ich mich mit 2:20 Stunden Durchgangszeit für die erste Streckenhälfte am ausgedünnten Ende des Marathonfeldes. Ein paar hundert Meter Fußgängerzone in der Altstadt nehme ich jetzt unter die Füße. Mittagszeit. Man sitzt draußen, genießt den warmen Frühlingstag, speist, beäugt die Läufer eher desinteressiert. Der Marathon ist hier nicht wirklich zu Hause. Ich empfinde mich als Fremdkörper in dieser Umgebung. In jeder Hinsicht unbelebte Straßen schließen sich an: Kaum Läufer vor mir, keine Zuschauer, der Autoverkehr wurde ausgesperrt. Immerhin komme ich gut voran …

… sogar schneller als vordem. 2:20 Stunden mal zwei ergäbe eine Endzeit von 4:40 Stunden. Mit dieser Endzeit könnte ich zwar „schmerzfrei“ leben, will es aber nicht. Irgendwas zwischen 4:30 und 4:20 nähme sich in meiner Läufervita hübscher aus. Derlei Denken genügt, um meine Schritte zu beschleunigen. An der „schizoiden“ Selbstwahrnehmung auf der ersten Kurshälfte hat sich nichts geändert. Wie es aussieht taugt meine Tagesform zwar für mehr Tempo, der nörgelnde Bewegungsapparat widersetzt sich jedoch weiterhin.

Eigenartigerweise reduziert die höhere Laufgeschwindigkeit nach und nach meine Beschwerden. Alsbald schweigt sogar mein übelster Widersacher, die Achillessehne. Zur Uhr blicke ich nicht. Mein Laufgefühl liefert ausreichend Indizien für eine höhere Pace und die wachsende Zahl eingesammelter Mitläufer gilt mir als „gerichtsverwertbarer Beweis“. Schritt um Schritt laufe ich mich frei von Beschwerden und verbliebener Unlust. Umso erstaunlicher, da ich nun ohne Geleitschutz durch Ines, zudem in urbaner Reizlosigkeit und seit kurzem auch noch auf schikanösem Wendezipfel unterwegs bin.

Wendestrecke. Und die dauert … Ich vertreibe mir die Zeit mit Warten auf den optimalen Fotozeitpunkt: Genau dann auslösen, wenn mehrere Vorder- und Rückfronten von Läufern Dynamik ins Bild bringen. Nicht einfach, weil sich vor mir noch immer wenig bewegt. Ein Pacemaker kommt mir entgegen. Wahrscheinlich der Hase für die Zielzeit 4:30 Stunden, den ich auf der Reststrecke gerne noch überholen möchte. Pacemaker? Wer mir da entgegen kommt ist eine „Pacemakerin“ und zwar eine, die ich kenne. Es ist Sonia, die Lebensgefährtin von Otto. Otto Pöschl war Veranstalter, zugleich Teilnehmer, der „10 Marathons in 10 Tagen“, an denen ich mich letztes Jahr in der Steiermark erfolgreich versuchte. „Hallo Sonia!“ mache ich mich über die Kette trennender Pylone hinweg bemerkbar. Ihr „Hallo!“ kommt aus überraschtem, sicher erst einmal ratlosem Gesicht: Wer ist das? Woher kenne ich den? Seit den „10in10“ ist ein Dreivierteljahr ins Land gegangen und damals nahmen wir nur am Rande Notiz voneinander …

Weiter schikanös voran, zuweilen einen Kontrahenten überholend. Drüben spärlicher Gegenverkehr. Und dann habe ich eine bunte Erscheinung: Unverkennbar Karl in farbenprächtigem Habit, der mich jedoch nicht registriert. Mit seligem Dauerlächeln im Gesicht schwebt Karl an mir vorüber. Zu spät erkannte ich ihn: Bevor ich Laut geben kann, trennen uns bereits mehrere Meter. Einerlei. Wenn ich Karl eingeholt habe, kann ich die Begrüßung nachholen.

*) Karl Erber war gleichfalls einer der Teilnehmer an den „10 Marathons in 10 Tagen“.

Immer noch schikanös voran, nun einer Straßenbiegung folgend, die mir aus einiger Entfernung die fällige Wende vorgaukelte. Den tatsächlichen Wendepunkt erreiche ich einen halben Kilometer später. Ich schlage einen 180-Grad-Haken und mache mich an die „Verfolgung“ von Karl und Sonia. Der Wunsch die beiden einzuholen macht mir Beine. Zufällig erhasche ich eine Kilometeranzeige meiner Uhr: Die abgelesenen 5:41 Minuten entsprechen meinem Empfinden weiter gesteigerter Laufgeschwindigkeit.

Ende der Schikane, weiter stadtauswärts, weg von Innenstadt und Donau, Kilometer 27, dann 28. Karl kann ich zwischen farblosen Fassaden und auf grauem Asphalt schon lange vorher ausmachen. Meter um Meter verkürze ich den Abstand und hole schließlich die Begrüßung nach. Auf die nahe liegende Frage, wie es ihm gehe, findet er eine umfassende, von einem noch intensiveren Lächeln begleitete Antwort: „Heute Linz, nächste Woche Marathon in Bratislava, und dann in …“. Wo er übernächstes Wochenende laufen wird verstehe ich nicht, wohl aber, was er mir sagen will: „Mir geht’s ganz ausgezeichnet! Ich darf tun, was ich am liebsten tue: Ich sammele Marathonläufe!“

Ich hake die Kilometer 28 und 29 ab. Sie bleiben ohne Echo. In meiner Erinnerung ebenso, wie im Speicherchip der Kamera. Die Umgebung gibt einfach nichts her, das Augen und Finger reizen könnte. Entlang Kilometer 30 ändert sich das, weil wir die bebaute Zone der City hinter uns lassen und durch ein lichtes Waldstück laufen. Gerne tausche ich die Stadt für ein paar Minuten gegen frisch sprießendes Grün der Laubbäume ein. Ein intensiv leuchtendes Grün, auch wenn sich die lange Zeit scheinende Sonne rar macht. Sie lässt mich übrigens schon seit geraumer Zeit im Stich. Kurz vor dem Halbmarathon hegte ich gar die Befürchtung aus aufziehendem, dunklem Gewölk könnte demnächst Regen fallen.

Es hat nicht geregnet und wird nicht regnen. Klatschnass bin ich trotzdem. Von innen. Weniger Wärme und Bewegung pressen Wasser aus meinen Poren. Die Schwüle des Morgens, zwischenzeitlich von etwas Wind „verweht“, hat sich in den Nachmittag gerettet. Immer wieder rinnen Schweißtropfen über Stirn und Schläfen, wollen weggewischt werden.

Der am weitesten vom Stadtkern entfernte Punkt ist erreicht, eine weit ausgreifende Wende vollzogen, Grün bleibt einstweilen die dominierende Farbe. Inzwischen habe ich Sonia mit umgeschnalltem „Pacemaker-Segel“ mehrfach, jedoch jeweils weit voraus gesichtet. Ganz allmählich, über mehrere Kilometer, verkürze ich den Rückstand. Das gegenüber der ersten Hälfte merklich höhere Tempo fällt mir nicht leicht, verschafft mir aber ein besseres Bewegungsempfinden. Ich laufe runder, vielleicht sogar lockerer, auf jeden Fall mit weniger Beschwerden.

„900.000 Quadratmeter für sauberes Trinkwasser …“ Die Tafel steht am Rand des Stadtwaldes, um und durch den sich die lockere Kette der Läufer seit längerem bewegt. Was mich angeht, beständig auf Sonias Fährte. Fast fünf Kilometer grüne Lunge, erst dann verschlucken uns wieder bebaute Straßenzüge. Bei Kilometer 35 trennen mich nur noch ein paar Meter von Sonia, die von einem Radfahrer in respektablem seitlichem Abstand begleitet wird. Unterm Radhelm und hinter einer Sportbrille vermag sich Otto bis zuletzt unkenntlich zu tarnen, schlussendlich bestätigt sich jedoch meine Vermutung: „Hallo Sonia! Hallo Otto!“

Ein paar Sätze zum Wiedersehen, weitere der Erklärung, wieso ich zu diesem Zeitpunkt überhole, dann ziehe ich von der Begegnung beflügelt davon. Nicht langsamer, sicher aber auch kaum schneller als zuvor. Deswegen trifft es mich wie aus heiterem Himmel und mit brutaler Wucht. Körperlich, mehr aber noch mental. Vielleicht war da auf den letzten fünfzig Schritten ein leichtes, kaum wahrnehmbares Ziehen in der linken Gesäßhälfte. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Keinesfalls erklärt dieses Ziehen das plötzliche Einknicken in der Hüfte, noch die zeitgleich einsetzenden Schmerzen unterhalb der Pobacke. Es ist als fehlte dem linken Bein die Kraft mich zu tragen. In Wahrheit fehlt die nervale Ansteuerung. So wie sich das anfühlt, kommt es aus dem Rücken. Irritierte Nerven! Nur selten erfasst mich solche Panik. Mit orthopädischem Ungemach, das ich kenne, kann ich umgehen. Dieses Einknicken, die Unfähigkeit weiterzulaufen, der aufschießende Schmerz - das ist neu. War’s das jetzt? Für heute und - viel schlimmer!!! - die nächste Zeit? Das Aus aller meiner Laufträume mitten in Linz? Sollte ich ausgerechnet hier zum ersten Mal scheitern?

Ich beuge den Oberkörper nach vorne, um die Beinrückseite zu dehnen. Einmal, zweimal, laufe langsam wieder an. Sobald ich mich rascher bewege knicke ich neuerlich unter Schmerzen ein. Ich gehe ein paar Schritte, schmerzfrei, erreiche damit die nächste Tränke. Lasse mir Zeit beim Trinken, dehne die linke Beinrückseite, mit der Fußspitze auf der Bordsteinkante. Bücke mich wieder und wieder, will lösen, was sich verhakt hat. Das war kein Krampf und nichts Muskuläres. Da funktioniert ein steuerndes Nervenbündel nicht, wie es soll. Ich trabe wieder an, vorsichtig, sehr langsam, ängstlich. Dass da was war, spüre ich noch, das Einknicken bleibt jedoch aus. Ich beschleunige meine Schritte ein wenig … Auch das bleibt folgenlos. Ich halte das Tempo eine Weile und Anschluss an Sonia, die mich unterdessen überholte.

36 Kilometer gelaufen, weitere sechs bis zur Erlösung. Minute um Minute trabe ich vorwärts, ohne dass das Einknicken sich wieder bemerkbar machen würde. Auch nicht als ich das Tempo abermals erhöhe und die Distanz zu Sonia und Otto wieder zu schrumpfen beginnt. Mit jedem beschwerdefreien Schritt fällt mehr des erlittenen Schreckens von mir ab. War das ein Warnschuss? Habe ich den Bogen in den letzten Tagen so sehr überspannt? Wahrscheinlich war dieser „Aussetzer“ eine Quittung für die brutale Belastung, die ich mir in den vergangenen Tagen zumutete. So wird es sein, weil es so sein muss! Ich ziehe einzig diese Erklärung in Betracht, denn sie lässt die Rückkehr optimistischer Gedanken zu.

Und doch bleibe ich für den Rest des Laufes unter dem Eindruck des gerade Erlebten, das zwischen Kilometer 35 und 36 ansatzlos und unvermittelt über mich hereinbrach. Etwas Ähnliches habe ich nur einmal erlebt, ganz zu Beginn meiner „Laufkarriere“, bei einem Halbmarathon am Chiemsee. Da schmerzte von einem Schritt zum anderen mein Hüftgelenk. So sehr, dass ich fürchtete abbrechen zu müssen. Der Schmerz verschwand jedoch binnen Minuten und meldete sich nie wieder. Genau das erhoffe ich mir auch für das Einknicken von vorhin: Bitte nie, nie wieder!

Ich arbeite bekannte Straßenzüge ab, nun natürlich weit weniger belebt als vordem. Weniger Läufer, weniger Zuschauer. Aber noch genug Beifall, um immer wieder einmal die Hand zum Zeichen des Dankes zu erheben. Ich laufe frei von Beschwerden aber noch lange nicht befreit. Eher lauernd. Wird „es“ mich noch einmal überfallen? Kilometer 38, dann 39, nichts geschieht, also entspanne ich mich weiter. Auch, weil man nach so vielen Kilometern mentale Anspannung nicht unbegrenzt lange halten kann. Spannung setzt Kraft voraus und die brauche ich, um die letzten Kilometer zu überbrücken.

Unweit des Ziels auf dem Hauptplatz entferne ich mich wieder vom Zentrum. Unweit des Ziels, deswegen bin ich nicht überrascht Ines zu treffen, die mich durch den Sucher der Kamera anvisiert und ein paar Fotos schießt. Was für eine Freude ihr zu begegnen, auch wenn mich noch ein paar Minuten vom Ziel trennen. Natürlich bleibe ich bei ihr stehen und schildere, was mir vorhin zustieß, auch wenn mich das unwiederbringlich Zeit kostet. Eine Portion verbliebener Bestürzung werde ich auf diese Weise los und starte mit neuem Mut, um die letzten beiden Kilometer hinter mich zu bringen.

Ich spüre nichts mehr, da unten, links, an der Seite. Obwohl ich natürlich alle paar Sekunden bewusst in diese Körperregion reinhorche. Es ist, als hätte es dieses Einknicken nie gegeben. Ich passiere die Tafel mit der „41“ und biege zum letzten Mal rechts ab. Ein Kilometer Zieleinlauf, wie gehabt mit szenisch wachsendem Spannungsverlauf. Fahnen, Segel, Werbebanner, ein Tor, die Cheerleader. Nun auch noch eine Moderatorin mit Mikro in der Hand, die meinen Namen in die Luft der Linzer Einkaufsmeile pustet, mich obendrein unbedingt abklatschen will. Vor mir findet sich ein weibliches Staffelquartett zum gemeinsamen Zieleinlauf. Laut jubelnd, Hand in Hand, rasen sie auf den Zielbogen zu. Die Gasse entlässt mich auf den von Sonne gefluteten Hauptplatz und anders als sonst mäßige ich meine Schritte vor der nahen Ziellinie. Fotografiere und will ein wenig der Stimmung aufsaugen, um wenigstens die letzten Meter dieses verkorksten Marathons zu genießen. Ein Selfie noch vor der Ziellinie, dann die finalen Laufschritte …

 

Ergebnis:

Ines’ Halbmarathon: 2:19:21 Stunden

Udos Marathon: 4:27:52 Stunden

 

Fazit zur Veranstaltung

Das vor elf Jahren geäußerte, positive Gesamturteil zum Linz Marathon kann ich so nicht aufrechterhalten. Die aktuelle Strecke büßte gegenüber der damaligen an Attraktivität gewaltig ein. Ein Großteil der Kilometer erstrecken sich durch beinahe reizlose, manche auch über eher hässliche Abschnitte der Stadt. Wem es um hohe Teilnehmer- und Zuschauerzahlen zu tun ist, wer eher den „Eventcharakter“ eines Marathons sucht, der ist in Linz allerdings gut aufgehoben. An der Organisation gibt es nach unserer Beobachtung nichts zu bemängeln. Von weiten Wegen einmal abgesehen, die jedoch für reine City-Marathons eher typisch und kaum zu vermeiden sind.

Typisch für Stadtmarathons sind inzwischen wohl auch die hohen Startgelder, insbesondere die wirklich hemmungslose Abzocke, die den Halbmarathonis widerfuhr. Wer sich einen Monat vor dem Lauf anmeldete, zahlte sage und schreibe 47 Euro. Dafür gibt es lediglich eine Medaille, Verpflegung und die Organisation. Im Startgeld der Marathonis war wenigstens noch ein Finisher-Shirt enthalten. Es bleibt abzuwarten, wo hinsichtlich der Startgelder jene Schmerzgrenze liegt, die die Veranstalter sicher ausreizen werden und ab der die Teilnehmerzahlen zu sinken beginnen!

Fazit: Durchaus wieder einmal, auch wenn’s eigentlich zu teuer ist.

 

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